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    EditorialDer Mensch sucht nach Orientierung und strebt nach sinngeben-

    den Erklärungen: für seine eigene Existenz, für nichtalltäglicheErfahrungen, für die Welt als Ganzes. Ob religiöse Vorstellungen,politische Ideologien oder wissenschaftliche Paradigmen – aus die-sem menschlichen Bedürfnis haben sich im Laufe der Geschichteverschiedenste Systeme von Annahmen und Überzeugungen überdie Beschaffenheit der Welt, ihre Ordnung sowie die Position desMenschen innerhalb dieser Ordnung entwickelt, die unmittelbarauf sein Handeln in der Welt zurückwirken und Verhaltenswei-sen, Wahrnehmungs- und Deutungsmuster sowie Wertevorstel-lungen strukturieren – „Weltbilder“ im übertragenen Sinn.

    Diese hat der Mensch entsprechend seiner jeweiligen Mittelund Möglichkeiten stets auch visuell festgehalten – in tatsäch-lichen „Weltbildern“. Sowohl wissenschaftlich inspirierte, kos-mologische Modellzeichnungen als auch symbolisch aufgelade-ne Darstellungen der Schöpfung aus dem christlichen Mittelalterzeugen von den jeweils herrschenden Weltwahrnehmungen undWeltverständnissen und sind Ausdruck einer Interpretation derWirklichkeit durch den Menschen. Auch die Karten der heutigenZeit, vermeintlich objektive Abbilder der Welt, sind geprägt vonihrem zeitlichen und soziokulturellen Kontext.

    Dem Konzept des Weltbildes ist Pluralität also inhärent. Diesführt immer wieder zu heftigen Auseinandersetzungen: Mandenke etwa an den klassischen Weltbildkon ikt um das helio-zentrische Modell des Sonnensystems zu Beginn der Neuzeit,die Konfessionskriege im Europa des 16. und 17. Jahrhundertsoder den Streit zwischen „Evolutionisten“ und „Kreationisten“über den Ursprung der Menschheit und der Welt. Die Koexistenzvoneinander abweichender Deutungs- und Überzeugungssyste-me birgt stets eine Herausforderung, der wir uns auch in der heu-tigen – postkolonialen – Zeit nicht entziehen können.

    Anne-Sophie Friedel

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    Pradeep Chakkarath

    Welt- und Men-

    schenbilder: Einesozialwissenschaft-liche Annäherung

    Pradeep ChakkarathDr. phil.; Co-Direktor des HansKilian und Lotte Köhler Centrums

    für sozial- und kulturwissen-schaftliche Psychologie und

    historische Anthropologie (KKC);Wissenschaftlicher Mitarbeiteram Lehrstuhl für Sozial theorie

    und Sozialpsychologie derRuhr-Universität Bochum,Fakultät für Sozialwissen-

    schaft, Universitäts straße 150,

    44801 [email protected]

    In einem der berühmtesten philosophischenGleichnisse eines der bedeutendsten abend-ländischen Philosophen sitzen Menschen ge-

    fesselt in einer Höh-

    le vor einer Felswand.Die Fesseln hindernsie daran, sich in Rich-tung Höhleneingangumzusehen. An derWand vor ihnen erbli-cken sie Schatten, die– dank des Lichts eines

    ackernden Feuers vordem Höhleneingang –von Gegenständen undGeschehnissen außer-halb der Höhle sche-menhaft auf die Fels-wand geworfen wer-

    den. Die Schattenbilder stellen somit nur dieErscheinung der Dinge dar, die von den Gefes-selten aber – zumindest im Rahmen ihres der-art eingeschränkten Laien- und Alltagswissens– für die eigentliche Realität gehalten wird. DieProjektionsmechanik und somit die Täuschungin dieser Urbehausung des Menschen zu durch-schauen, ist nur denjenigen möglich, denen esgelingt, sich aus den Fesseln zu befreien, sichumzublicken und den Weg aus der düsterenHöhle ans Licht anzutreten.❙1

    Platon zeichnet in seinem hier nur grob skiz-zierten Höhlengleichnis nicht nur ein sehrmissliches Bild von der menschlichen Erkennt-nislage, sondern weist dem Menschen zugleichauch eine missliche Position in der Welt zu, vonder er in diesem Szenario entfernter kaum seinkann. Das Höhlengleichnis ist in einem zu-nächst sehr allgemeinen Sinne Menschenbildund Weltbild zugleich. Es beinhaltet dabei inkondensierter Form Elemente von Menschen-und Weltbildern, die sich in vielen Kulturen,

    in früheren wie späteren und auch in aktuellenWeltbildern wieder nden. So verhandelt dasHöhlengleichnis beispielsweise nicht nur dieFragen, welche die Beziehung des Menschenzur Welt ist, ob er zu objektiver Erkenntnisin der Lage ist und was er tun muss, um wah-

    res Wissen zu erlangen, sondern auch, ob derMensch frei ist, von welcher Art seine Freiheitsein kann, ob er selbst zu seiner Befreiung inder Lage ist oder der Hilfe anderer bedarf, etc.

    Ohne die Spuren auch nur ansatzweisedurch die komplette Geistesgeschichte hin-durch verfolgen zu können, sei hier nur andie vier Fragen erinnert, die Immanuel Kantüber 2000 Jahre nach Platon zu den Grund-fragen der Philosophie erklärte. Sie dürfen alsFragen gelten, die Menschen zu allen Zeiten,

    in allen Kulturen, in verschiedensten weltan-schaulichen Denk- und Überzeugungssyste-men gestellt haben und nach wie vor stellen,für die sie aber zu verschiedenen Zeiten undin verschiedenen Kulturen auch unterschiedli-che Antworten gefunden haben: Was kann ichwissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen?Was ist der (diese Fragen stellende) Mensch?❙2 Auch im Menschenbild der europäischen Auf-klärung, das Kant mit seiner De nition vonAufklärung als dem „Ausgang des Menschenaus seiner selbst verschuldeten Unmündig-keit“ nachhaltig prägte, erkennen wir nochPlatons Höhlenbewohner, der, aus seinen Fes-seln befreit, dem Ausgang zustrebt.❙3

    Es verwundert nicht, dass der Begriff „Welt-bild“, als er in seiner althochdeutschen FormEnde des 10. Jahrhunderts vermutlich erstmalsauftaucht, mit Bezug auf Platons Ideenlehreverwendet wird, um einen Unterschied zwi-schen den wahrheitsverbürgenden „Ideen“ undihren Abbildern in der bloßen Erscheinungs-welt zu behaupten. „Weltbild“ wird dabei alsein Modell gefasst, in dem die bloßen Schat-ten und Abbilder geordnet und mit Bedeutungversehen werden können.❙4 Seitdem hat der Be-

    ❙1 Vgl. Platon, Politeia, Buch VII.❙2 Immanuel Kant, Die transzendentale Logik, in:ders., Gesammelte Schriften, Bd. 3: Kritik der reinenVernunft, Berlin 1904 (17872).❙3 Ders., Beantwortung der Frage: Was ist Aufklä-rung?, in: ebd, Bd. 8: Abhandlungen nach 1781, Ber-lin 1923, S. 35.❙4 Für ausführliche Literaturangaben vgl. Horst Tho-

    mé, Weltbild, in: Joachim Ritter/Karlfried Gründer/Gottfried Gabriel (Hrsg.), Historisches Wörterbuchder Philosophie, Bd. 12, Darmstadt 2004, S. 460–463.

    mailto:[email protected]:[email protected]

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    griff jedoch einige Wandlungen durchlaufenund wird in unterschiedlichen Zusammen-hängen und auf verschiedenste Art und Weisegebraucht. Gelegentlich nden sich beispiels-weise Versuche, den Begriff des Weltbildesals einen eher naturwissenschaftlichen von

    dem der „Weltanschauung“ oder der „Welt-sicht“ als einem eher geistes- und sozial-wissenschaftlichen zu unterscheiden, wobei„Weltbild“ dann eher für kartogra sche Dar-stellungen und kosmologisch-astronomischeVorstellungen vom Universum, dem Welt-raum, der Bewegung der Planeten und derSterne vorbehalten bleiben soll. Beispielswei-se hat die geläu ge Rede von der Ablösungdes ptolemäischen geozentrischen Weltbil-des durch das kopernikanische heliozentri-sche Weltbild diesen Gebrauch des Begriffs

    beträchtlich geprägt. In der deutschsprachi-gen Gelehrsamkeit, insbesondere unter demEin uss der Philosophie des Deutschen Ide-alismus, wurde „Weltbild“ gelegentlich alsdas Ergebnis der grundsätzlichen menschli-chen Fähigkeit zur Anschauung verstandenund damit vom Akt der „Weltanschauung“unterschieden.

    Der Begriff ist jedoch längst nicht mehrgelehrten Traktaten vorbehalten. Wenn wirbeispielsweise alltagssprachlich von einemMenschen sagen, dass er ein „verschrobenesWeltbild“ habe, dann meinen wir in allerRegel, dass sein Weltbild eher eigentümlichgeordnet ist und dass die Bedeutungen, diebestimmten Dingen und Geschehnissen da-rin gegeben werden, eher befremdlich sind,also von einem in der Gemeinschaft eta-blierten und vertrauten Bild von den Ver-hältnissen abweichen. Dies ist jedoch eineFeststellung, die durchaus ihr oben bereitsangeklungenes akademisches Pendant hat:Etablierte Weltbilder haben eine wichti-ge soziale Funktion, die darin besteht, denMitgliedern einer Gemeinschaft ein Mo-dell anzubieten – gelegentlich auch aufzu-zwingen –, durch das sie die Dinge und Er-eignisse der Welt betrachten, deuten undsinngebend erklären und verstehen kön-nen beziehungsweise sollen. Insofern alsWeltbilder die Anschauungen größerer undkleinerer Gruppen über die Welt und denMenschen prägen, soll der Begriff „Welt-bild“ im Folgenden in starker Nähe zumBegriff „Weltanschauung“ und vornehm-lich in sozialwissenschaftlicher Perspektiveerörtert werden, ohne damit abweichenden

    Verständnissen ihren jeweiligen ideenge-schichtlichen, kontextuellen und termino-logischen Nutzen absprechen zu wollen. ❙5

    Bilder, Weltbilder und SpracheNachdem wir mit Platons zu philosophischenZwecken verfasstem Bild von ktiven Höh-lenmenschen begonnen haben, wollen wirnun einen Blick auf sozial- und kulturwis-senschaftlich bedeutsameempirische Befun-de werfen, uns dabei aber zunächst weiter inHöhlen aufhalten. Zwar dürfen wir in Bestat-tungen beziehungsweise Artefakten wie Grä-bern und Grabbeigaben, die teilweise über100 000 Jahre alt sein dürften, weitaus frühe-re Hinweise auf weltanschauliche Annahmen

    unserer Vorfahren vermuten, doch wollen wir,um die Beziehung von „Bild“ und „Weltbild“wie auch „Menschenbild“ zumindest ein we-nig näher zu beleuchten, nicht die frühestenBestattungsstätten, sondern die etwas jünge-ren frühesten Bilder in den Blick nehmen.

    Nach heutigem wissenschaftlichen Kennt-nisstand begannen Menschen, vielleicht auchschon ihre unmittelbaren Vorfahren – die Ne-andertaler – vor spätestens etwa 40 000 Jahrendamit, Höhlenwände zu bemalen. Die bislangältesten Nachweise dafür nden sich in derCueva de El Castillo an der nordspanischenKüste und am Felsen von Castanet in Südfrank-reich. Zu den frühesten dort und anderswo be-zeugten Abbildungen gehören Handabdrü-cke; darüber hinaus nden sich teils geritzte,teils gemalte abstrakte Symbole, größtenteilsdeutlich später entstandene Darstellungen vonTieren und Menschen, manchen Interpretatio-nen nach ndet sich auch die Darstellung dermenschlichen Vulva. Das human- und sozial-wissenschaftliche Interesse an diesen prähis-torischen Dokumenten ist vor allem auf denSymbolismus gerichtet, der uns in Form die-ser Zeichnungen und Gemälde vor Augen tritt.Wir sehen in diesen und noch weit früher, viel-fach in Afrika gefertigten Artefakten – etwa inSchmuckstücken, bemalten Eierschalen, Mu-scheln und Steinen – frühe Hinweise darauf,

    ❙5 Zu dieser Thematik vgl. ebd. sowie ders., Weltan-schauung, in: ebd., S. 454–460. Für eine ausführlichereund betont psychologische Perspektive auf die funktio-

    nale Nähe dieser Termini siehe Mark E. Koltko-Rivera,The Psychology of Worldviews, in: Review of GeneralPsychology, 8 (2004) 1, S. 3–58.

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    dass die artspezi sche geistige Entwicklungunserer Vorfahren sich als Entwicklung zu ei-nem besonderen, auch ästhetische Bedürfnisseartikulierenden Symbol- und damit zu einembesonderen Kulturwesen vollzog.❙6

    Entwicklungsgeschichtlich sowie human-und kulturwissenschaftlich ist ebenso bemer-kenswert, dass die Phase, in der Menschendazu übergingen, Werkzeuge und Materiali-en zu nutzen, um sich mitsamt ihren ästheti-schen Bedürfnissen und ausgewählten Welt-ansichten in Bildern zu dokumentieren, denhomo faber (den werkzeuggebrauchendenMenschen) zumhomo pictor (dem bildneri-schen Menschen) erweiterte und damit dieEntwicklung zu unserer Spezies, demhomosapiens (dem vernunftbegabten Menschen),

    einleitete.❙7

    Letzterem steht mit seiner Spra-che und der dadurch ermöglichten Abstrak-tionsfähigkeit das komplexeste uns bekannteund sich stetig weiter entwickelnde Symbol-system als Grundlage seiner Denk- und Ent-faltungsmöglichkeiten zur Verfügung. Dieenge Beziehung zwischen der jeweiligen Spra-che einer Sprachgemeinschaft und ihrem de-terminierenden – folglich stets einschränken-den – Ein uss auf unser Denken und somitunsere „Weltsicht“ hat in philologisch undphilosophisch ausgearbeiteter Form insbe-sondere Wilhelm von Humboldt hervorgeho-ben.❙8 In der Mitte des 20. Jahrhunderts fanddiese Annahme ihren Niederschlag vor allemin den kulturanthropologischen und kultur-relativistischen Arbeiten von Benjamin LeeWhorf und Edward Sapir beziehungsweiseder sogenannten Sapir-Whorf-Hypothese. ❙9

    Die Frage, inwieweit Weltbilder von jewei-ligen Sprachen dermaßen geprägt sein könn-ten, dass sie für Angehörige anderer Sprach-gemeinschaften nicht vollständig verstehbarsind und von ihnen mitunter sogar als irratio-nal abgelehnt werden, hat nach wie vor einigeBrisanz. Bestimmte Weltbilder einer Sprach-

    ❙6 Vgl. Ernst Cassirer, An Essay on Man, Yale 1944.❙7 Vgl. Hans Jonas, Homo pictor und die differentiades Menschen, in: Zeitschrift für philosophische For-schung, 15 (1961) 2, S. 161–176.❙8 Vgl. Wilhelm von Humboldt, Über die Verschie-denheit des menschlichen Sprachbaues und ihrenEin uß auf die geistige Entwicklung des Menschen-geschlechts, Paderborn 1998 (1836).❙9

    Vgl. Benjamin Lee Whorf, Sprache, Denken, Wirk-lichkeit. Beiträge zur Metalinguistik und Sprachphi-losophie, Hamburg 200825.

    gemeinschaft gegenüber Weltbildern eineranderen Sprachgemeinschaft als rationalerauszuzeichnen, wird schlichtweg schwierig.Interkulturelle Kon ikte, die in der Mensch-heitsgeschichte häu g als Kon ikte um Welt-und Menschenbilder auftraten, können als

    Ergebnisse von sprachbasierten ethnozentri-schen Befangenheiten erklärt werden, die abervor dem Hintergrund der Sprachabhängig-keitsthese kaum überwindbar scheinen. Lud-wig Wittgensteins bekannte Feststellung, wo-nach die Grenzen meiner Sprache die Grenzenmeiner Welt bedeuten, würde selbstverständ-lich auch unsere Bilder von der Welt betref-fen.❙10 Davon ist auch die Art und Weise be-rührt, in der sich die Wissenschaft mitsamtihren jeweiligen Wissenschaftssprachen Bil-der vom Menschen und seinen Weltbildern

    macht – und bekanntermaßen entwerfen bei-spielsweise Biologie, Neurologie, Theolo-gie, Ethnologie, Literaturwissenschaften undPsychoanalyse keineswegs ein- und dieselbenBilder vom Menschen und seiner Welt.

    Die vorangegangenen Hinweise auf die Be-deutung von frühen Bildzeugnissen für un-ser Verständnis vom Menschen markieren imWesentlichen einen historischen Zeitpunktin der frühen Vergangenheit unserer Spezi-es, wobei diese historische Markierung unteranderem den Zweck hat, unsere Spezies vonVorgängerversionen zu unterscheiden undden Auftritt des „eigentlichen“ Menschen insrechte Bild zu setzen. In diesen ersten Hin-weisen wird allerdings nicht nur ein ungefäh-rer historischer Zeitpunkt markiert, sondernes klingt in ihnen auch an, aus welchen Grün-den Menschen sich Bilder von ihrer Umwelt,ihrer Welt und sich selbst machen. Interessan-terweise klingt es insbesondere in der Art undWeise an, in der wir heutigen Menschen ver-suchen, uns Bilder davon machen, was es mitdiesen viele Jahrtausende alten Bildartefaktenunserer Vorfahren auf sich haben mag.❙11

    Einige exemplarische Fragen mögen dasverdeutlichen: Sind zum Beispiel die frü-hen Handabdrücke an Höhlenwänden Do-

    ❙10 Vgl. Ludwig Wittgenstein, Logisch-philosophi-sche Abhandlung – Tractatus logico philosophicus,Kritische Edition, Frankfurt/M. 1998 (1918).❙11 Exemplarisch für unzählige entsprechende Studi-en vgl. Jan F. Simek et al., Sacred Landscapes of the

    South-Eastern USA. Prehistoric Rock and Cave Artin Tennessee, in: Antiquity – A Review of World Ar-chaeology, 87 (2013) 336, S. 430– 446.

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    kumente eines Besitzanspruches, der frem-den Eindringlingen klar machen sollte, dassdie Höhle bereits vergeben war? Oder sindsie eine weit darüber hinaus gehende Arti-kulation von persönlicher Identität, gewis-sermaßen der persönliche Handabdruck als

    prähistorischer Vorgänger des modernenFingerabdrucks, vielleicht der individuellenHandschrift? Wurden die Tierzeichnungenim Rahmen religiöser schamanistischer Ri-tuale angebracht, die dazu dienten, die Jä-ger mental auf eine erfolgreiche Jagd einzu-stimmen? Oder halten diese Zeichnungen dieästhetisierend bewundernde Verehrung derSchönheit und Stärke der abgebildeten Tierefest? Und wie ist es mit den geritzten Zeich-nungen, die den meisten Betrachterinnenund Betrachtern wahrscheinlich rätselhaft

    erscheinen, von manchen Anthropologinnenund Archäologen aber sehr konkret als weib-liche Geschlechtsteile gedeutet werden?

    Erfolgen all diese Deutungen unbefangen,also unbeein usst von Bildern, die wir heu-tigen Menschen von unserer Umwelt, vonKunst, Religion, Kosmologie, von Mann undFrau, Materie und Geist und von uns selbsthaben? Anders gefragt: Verweist die Art undWeise, in der wir Spuren uns weitgehend un-bekannter Zeiten, Welten, Menschen und Er-eignisse zu verstehen und einzuordnen ver-suchen, nicht zugleich auch darauf zurück,von welcher Art diejenigen aktuellen Welt-und Menschenbilder sind, in deren Rahmenwir diese Deutungs- und Einordnungsver-suche unternehmen? Auffällig ist jedenfalls,dass die üblichen wissenschaftlichen Inter-pretationen selbst simpelste prähistorischeFelszeichnungen nicht einfach als Kritzeleienaus reiner Langeweile während Schlechtwet-terphasen verstanden wissen wollen, sondernihnen eine tiefere Bedeutung geben möchten,die derjenigen entspricht, die Bilder – auchWelt- und Menschenbilder – ganz generellfür die Spezies Mensch haben. Oft prägt un-ser Bild von uns selbst als Teil unserer mo-dernen Weltbilder offenbar auch in den Wis-senschaften das Bild, das wir von unserenVorfahren und deren Hinterlassenschaftenhaben beziehungsweise haben möchten.

    Es nden sich viele Beispiele dafür, dass un-terschiedliche Bedürfnisse, die Welt und denMenschen zu sehen, auch in ein- und dersel-ben Sprachgemeinschaft zu unterschiedlichenund gelegentlich miteinander in Kon ikt ste-

    henden Welt- und Menschenbildern führenkönnen. Voneinander abweichende Gottes-und Religionsvorstellungen, Rassentheori-en, konkurrierende politische Ideologien undaus all diesen Elementen zusammengesetz-te Überzeugungssysteme haben die gesamte

    Menschheitsgeschichte hindurch zu blutigenKon ikten enormen Ausmaßes geführt. Den-ken wir hier nur an die Frage nach der Her-kunft des Menschen und seiner Stellung in derWelt: Ist er ein höheres Säugetier, das sich sehrspät nach der Entstehung des Lebens auf derErde, vor etwa 200 000 Jahren aus der Linie derMenschenaffen – spezi scher aus der Unter-ordnung der Trockennasenaffen – entwickelthat? Ist er also ein Naturprodukt? Oder wurdeer von einem übermächtigen Gott im Rahmengöttlicher Weltschöpfung vor rund 10 000 Jah-

    ren als die Kreatur geschaffen, wie wir sie heu-te kennen, damit er gottähnlich über Tiere undP anzen herrsche, über die gesamte Schöp-fung wache und sie im Sinne Gottes, quasi alsWerkzeug des Schöpfers, fortentwickle?

    Ob man eher zur ersten (evolutionstheore-tischen) oder zur zweiten (kreationistischen)Annahme neigt, hängt in starkem Maße da-von ab, ob man die Beantwortung dieser Frageeher in einem wissenschaftlich geprägten odereher in einem religiös geprägten Welt- undMenschenbild eingeordnet wissen möchte. ❙12 Zwar könnten all diese Anschauungen prinzi-piell friedlich nebeneinander existieren, dochführen sie faktisch auch immer wieder zu Ver-suchen, die eigenen Verständnisse als die ein-zig akzeptablen notfalls gewaltsam durchzu-setzen. Das auch in der Gegenwart immer malwieder zu beobachtende öffentliche Verbren-nen von Biologie-Lehrbüchern, die DarwinsEvolutionstheorie, nicht aber die christlicheSchöpfungsgeschichte enthalten, ist dabei kei-neswegs der gewaltsamste Ausdruck, den der-artige Kon ikte annehmen können.❙13

    ❙12 Siehe auchSilke Gülkers Beitrag in dieser Ausgabe(Anm. d. Red.).❙13 Die Zerstörung nicht nur von Texten, sondern auchvon Bildnissen (Ikonoklasmus) begleitet häu g denVersuch, ganze Welt- und Menschenbilder vergessenzu machen. Historische Belege dafür sind zahlreich,darunter unter anderem die Zerstörung von Herr-schaftsbildnissen im alten Ägypten, im revolutionärenFrankreich und im Ausklang sozialistischer Regime,der reformatorische Bildersturm in Europa, die Ver-

    nichtung der Buddha-Statuen von Bamiyan durch dieTaliban sowie auch die aktuellen Vernichtungszügedurch den sogenannten Islamischen Staat.

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    Formen, Elemente undFunktionen von Weltbildern

    Versuchen wir, einige der bisherigen Hinwei-se und Überlegungen zu einer komprimierten

    Charakterisierung von Weltbildern zusam-menzuführen. Unter dem Begriff „Weltbild“fassen wir unterschiedliche systematisier-te Sichtweisen auf die Welt zusammen, diein den meisten Fällen ein ganz bestimmtesMenschenbild mittransportieren oder sogarin den Mittelpunkt stellen. Weltbilder sagenhäu g etwas über die Position des Menschenin der Welt und damit – wie etwa in PlatonsHöhlengleichnis – über seinen Zugang undseine Beziehung zur Welt aus. Dies betrifftdurchaus auch naturwissenschaftlich ausge-

    richtete Bilder vom Kosmos, wie etwa dasgeozentrische und das heliozentrische Welt-bild. Der wichtigste Grund für die katholi-sche Kirche, Kopernikus’, Keplers und Ga-lileis heliozentrische Lehren so vehementzu bekämpfen, lag darin, dass es gemäß ih-res eigenen Weltbildes einer Schmähung desMenschen gleichkam, als Krone göttlicherSchöpfung aus dem ruhenden Mittelpunktdes Universums in bedrohlicher Rotation anseine unbedeutenden Ränder geschleudert zuwerden. ❙14

    Der mittlerweile gebräuchliche und kei-neswegs eindeutig bestimmte Begriff desWeltbildes subsumiert unterschiedlichsteFormen von Weltanschauungen beziehungs-weise Ordnungsvorstellungen und Überzeu-gungssystemen. So werden zum Beispiel po-litisch-ökonomischen Anschauungen wieKommunismus, Faschismus, Konservatis-mus, Kapitalismus und Imperialismus je-weils zugehörige Welt- und Menschenbilderzugeordnet; dasselbe gilt für wissenschaftli-che Anschauungen wie Geozentrismus, He-liozentrismus, Materialismus, für die soge-nannte marxistische Wissenschaft in einigen

    ❙14 Sigmund Freud bezeichnete diese Schmähung alsdie erste von drei Kränkungen, die seiner Meinungnach zu den größten Erschütterungen im mensch-lichen Selbstverständnis geführt haben: 1) die kos-mologische Kränkung durch Kopernikus, 2) diebiologische Kränkung durch Darwin und 3) die psy-chologische Kränkung durch Freuds Psychoanaly-se mitsamt ihrer Libidotheorie; vgl. Sigmund Freud,

    Eine Schwierigkeit der Psychoanalyse, in: Imago.Zeitschrift für Anwendung der Psychoanalyse aufdie Geisteswissenschaften, 5 (1917) 1, S. 1–7.

    kommunistischen Ländern oder auch für diesogenannte völkische Wissenschaft im deut-schen Nationalsozialismus. Als die histo-risch überdauerndsten und ein ussreichstenWeltbilder haben sich Überzeugungssys-teme aus den großen religiösen oder religi-

    onsähnlichen Traditionen erwiesen. Bei derpräziseren Bestimmung einer Religion zei-gen sich sprachtheoretische Problematiken,auf die bereits hingewiesen wurde. Da derBegriff „Religion“ europäischen Ursprungsist und seit der Aufklärung unter anderemdazu benutzt wurde, die christlichen vonnichtchristlichen Überzeugungssystemenabzuheben beziehungsweise ihre Gemein-samkeiten aufzuzeigen, handelt es sich umeinen stark eurozentrisch geprägten Be-griff, der es erschwert, nichteuropäische Re-

    ligionsverständnisse angemessen zu erfassenund einzuordnen. ❙15 Nichtsdestotrotz wei-sen als Religionen bezeichnete Denktradi-tionen einige Merkmale auf, die sie mit an-deren Überzeugungssystemen gemeinsamhaben. Drei dieser Merkmale sollen hier be-sondere Erwähnung nden: Mythen, Ritua-le und Utopien.

    Unter Mythen werden vorwissenschaftli-che Erzählungen verstanden, die hinsichtlichihrer wichtigsten Inhalte Autorität, höhereWahrheit und zeitüberdauernde allgemeineRelevanz beanspruchen. Sie handeln häu-

    g (wie zum Beispiel im Prometheus-My-thos, im hinduistischen Purusha-Mythos,in der biblischen Schöpfungsgeschichte oderin Herrschaftsmythen) von den Ursprüngender Welt, des Menschen, natürlicher Phäno-mene (Erdbeben, Blitze, Gestirne) oder kul-tureller Errungenschaften. Damit liefernMythen eine Erklärung dafür, wie die Ge-genwart in der Vergangenheit begründet istund geben beidem dadurch Sinn. SigmundFreud und C. G. Jung sehen in Mythen Pro- jektionen menschlicher Erfahrungen, Pro-bleme und Schwächen auf übermenschlicheWesen, zum Beispiel Götter, und prähisto-rische Begebenheiten. ❙16 Den PhilosophenArnold Gehlen und Hans Blumenberg zu-

    ❙15 Vgl. Joachim Matthes/Pradeep Chakkarath, Re-ligionssoziologie, in: Günther Endruweit/GiselaTrommsdorff (Hrsg.), Wörterbuch der Soziologie,Stuttgart 2002, S. 449–454.❙16 Vgl. Sigmund Freud, Gesammelte Werke, Bd. 9:To-

    tem und Tabu (1913), Frankfurt/M. 1986; C. G. Jung,Gesammelte Werke, Bd. 9.1: Über die Archetypendes kollektiven Unbewussten (1933–50), Zürich 1976.

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    folge drücken sich im Mythos existenziel-le Grunderfahrungen (zum Beispiel derSchuld, Scham, Angst und Hoffnung) aus,die den Menschen überlasten. Der Mythoslehre einen Umgang mit diesen Situationenund stelle somit eine „Entlastungsfunkti-

    on“ für den Menschen dar. Dabei lasse sichder Mythos nicht in klare, explizite Spracheüberführen, sondern bleibe stets metapho-risch. Gerade seine Mehrdeutigkeit macheseine Interpretierbarkeit und Anwendbar-keit in unterschiedlichsten Krisen undüber historisch lange Zeitspannen hinwegmöglich. ❙17

    Rituale sind menschliche Handlungen, diedurch festgelegte Abläufe und Mittel alltäg-liche Lebensbereiche in einen höheren, oft

    spirituellen und kosmischen Zusammen-hang einordnen. Von dieser Einbindungmenschlicher Verhältnisse in eine höhe-re Ordnung werden die Stabilisierung oderWiederherstellung der (sozialen und emoti-onalen) Ordnung und damit Sicherheit undSinngebung erwartet. Da Rituale wie zumBeispiel Beschneidung, Kommunion oderGelöbnisfeiern sich häu g auf mythischeÜberlieferungen einer Kultur beziehen, stel-len auch sie die Gegenwart in eine (bewähr-te) Tradition und tragen damit zur Sinnge-bung sowohl der Vergangenheit als auch derGegenwart bei. Sie berühren Grundfragender Existenz und orientieren dadurch dasmenschliche Miteinander. Sie vermögen dieWelt einfacher und handhabbarer zu ma-chen und erleichtern in schwierigen LagenEntscheidungen. Rituale dienen in diesenZusammenhängen auch der Strukturierungund der Rhythmisierung biologischer undsozialer Abläufe, wie sich das etwa in Initi-ationsritualen und festgelegten Abläufen inPolitik, Wissenschaft und Religion zeigt.

    Utopien verweisen auf Wunsch- und Ziel-vorstellungen, deren Verwirklichung nichtunbedingt erwartet, aber als motivierendesIdeal verfolgt wird. Meist sind Utopien zu-kunftsgerichtet und entwerfen eine Welt,die auf gesellschaftl icher, individueller unduniversaler Ebene besser ist als die gegen-wärtige. Dadurch stellen sie die gegenwär-tigen Verhältnisse zwar immer infrage,

    ❙17

    Vgl. Arnold Gehlen, Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt, Berlin 1940; Hans Blumen-berg, Arbeit am Mythos, Frankfurt/M. 1979.

    ordnen diese aber in eine Fortschrittslinieein, die auch der Gegenwart zum Beispielals einer notwendigen EntwicklungsstufeSinn verleiht. Die Sinngebung betrifft da-mit auch ein utopisches Menschenbild, so-wohl einer Gesellschaft als auch ihrer Indi-

    viduen (beispielsweise die Verwirklichungeines paradiesischen Gottes- oder Arbei-terstaates, einer reinrassigen Volksgemein-schaft, einer vollständig wissenschaftlichbeherrschten Welt oder die Erlangung spi-ritueller Erleuchtung). Utopien sind Be-standteil vieler Weltbilder und begründenoft, warum die weltanschaulichen Ideale(noch) nicht vollkommen verwirklicht sindund warum es lohnt, diese Ideale weiter zuverfolgen und das gesellschaftliche wie auchpersönliche Denken und Verhalten daran

    zu orientieren.Kulturell seit langer Zeit etablierte My-

    then, stetig aktualisierte Rituale mitsamt an-haltend vergegenwärtigten, vorwärtsgerich-teten Utopien integrieren Vergangenheit,Gegenwart und Zukunft und tragen so inerheblichem Maße dazu bei, dass Weltbilderihren sozialen und psychologischen Funk-tionen für Gemeinschaften und Individuengerecht werden können. Weltbilder lassensich vor dem Hintergrund der obigen Aus-führungen als Ausdruck des gesellschaftli-chen und individuellen Bedürfnisses verste-hen, dem eigenen Dasein, der Erfahrung desNichtalltäglichen sowie der Welt als Gan-zem einen Sinn zu geben, der die begrenz-te biologische Lebensspanne und gegenwär-tige Kontexte weit überschreitet. ❙18 JeweiligeWeltbilder haben damit großen Anteil ander jeweiligen Konstitution von Kultur alseinem Handlungsfeld, das bestimmte Zielemitsamt bestimmter Mittel zur Erreichungbestimmter Ziele erlaubt, andere einschränktoder verbietet. ❙19 Auch Denk- und Attributi-onsweisen sowie gesellschaftliche Ordnun-gen, Erziehungsvorstellungen und die Rolle

    ❙18 Vgl. Pradeep Chakkarath, Zur kulturpsychologi-schen Relevanz von Religionen und Weltanschauun-gen, in: Gisela Trommsdorff/Hans-Joachim Kornadt(Hrsg.), Kulturvergleichende Psychologie, Bd. 1,Göttingen 2007; Pradeep Chakkarath, World Views,in: Kenneth D. Keith (Hrsg,), Encyclopedia of Cross-Cultural Psychology, Hoboken 2013, S. 1363 ff.❙19 Zur Kennzeichnung von Kultur als einem Hand-

    lungsfeld vgl. Ernst E. Boesch, Kultur und Hand-lung. Einführung in die Kulturpsychologie, Bern1980.

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    des Individuums in der Gesellschaft und derWelt (einschließlich seiner Geschlechterrol-le) sind in Weltbildern mit angelegt. Zugleichhalten Welt- und Menschenbilder Bewer-tungs- und Bewältigungsstrategien (inklusi-ve Therapien) für existenzielle Erfahrungen

    und Versagenserlebnisse bereit oder schrei-ben solche Strategien wie zum Beispiel As-kese, Beichte, Gebet, Reue, Sühne, Geiße-lung, Märtyrertum, Yoga oder Pilgerreisenauch explizit vor.

    AusblickMag die Thematisierung und Untersuchungvon Weltbildern in den Sozial- und Kultur-wissenschaften durchaus eine gewisse Tradi-

    tion haben, so steckt die gründlichere, nichtnur theoretisch, sondern vor allem auch em-pirisch fundierte wissenschaftliche Beschäf-tigung mit Welt- und Menschenbildern im-mer noch in den Anfängen. Dies hat nichtzuletzt auch damit zu tun, dass sich – wiezuvor bereits angedeutet – in den Wissen-schaften selbst Bilder vom Menschen und derWelt etabliert haben,❙20 die teilweise erstaun-lich ethnozentrisch sind und an Stereotypi-sierungen und Vorurteilen mitarbeiten, diezwar charakteristische Elemente von Welt-bildern sind, aber gerade von den Sozial- undKulturwissenschaften angemessener erkanntund re ektiert werden sollten.

    ❙20 Prominente Beispiele dafür sind die Theorie derKulturdimensionen von Geert Hofstede sowie diepolitische Kulturtheorie von Samuel. P. Huntington;vgl. beispielsweise Geert Hofstede, Culture’s Conse-quences. Comparing Values, Behaviors, Institutionsand Organizations across Nations, Thousand Oaks20012; Samuel P. Huntington, The Clash of Civiliza-tions and the Remaking of World Order , New York

    1998.

    Silke Gülker

    Wissenschaft

    und Religion:Getrennte Welten?

    Silke GülkerDr. phil, geb. 1971; Mitarbei-

    terin in der ForschungsgruppeWissenschaftspolitik undProjektleiterin zum ThemaWissenschaft und Religion amWissenschaftszentrum Berlin fürSozialforschung (WZB), Reich-pietschufer 50, 10785 [email protected]

    N eues vom Gottes-Teilchen“ titelte die„Frankfurter Allgemeine Zeitung“ im Juni 2014, nachdem das ForschungszentrumCERN wieder neueDaten aus der Elemen-tarteilchenphysik ver-

    öffentlicht hatte.❙1

    Wis-senschaftlerinnen undWissenschaftler leh-nen den Begriff „Got-tes-Teilchen“ oft ab.Für populärwissen-schaftliche Darstellun-gen scheint es jedochgeeignet, dieses Bildvon einer Wissenschaft, die Gott sucht und

    ndet. Dieses Bild entspricht eigentlich nichtdem dominanten Diskurs und macht damitgleichzeitig die Komplexität und Unklarheitdeutlich, die mit dem Verhältnis von Wissen-schaft und Religion verbunden sind.

    Generell ist in Deutschland wie auch an-dernorts das Einvernehmen groß darüber,dass Wissenschaft und Religion zwei sub-stanziell unterschiedliche Weltbilder zugrun-de liegen: Religion basiert auf Glauben, Irra-tionalität und Unsicherheit, Wissenschaft aufWissen, Rationalität und sicheren Belegen.Im Rahmen eines Interviews hat eine Stamm-zellforscherin das Verhältnis von Wissen-schaft und Religion für sich so auf den Punktgebracht: „Als Wissenschaftler kann man janicht an alles glauben, was die Kirche einemerzählt.“❙2 Das Einvernehmen über diese ge-

    ❙1 Manfred Lindinger, Neues vom Gottes-Teilchen.Das Higgs gewinnt an Kontur, in: Frankfurter All-gemeine Zeitung vom 26. 6. 2014.❙2 Aussage einer Stammzellforscherin in einem In-

    terview im Rahmen des DFG-Projekts „Wissenschaftund Religionskultur. Identitätskonstruktionen in derStammzellforschung in Deutschland und in den USA“.

    Für wertvolle Kommentare zu einer früheren Fassungdanke ich Jan-Christoph Rogge.

    mailto:[email protected]:[email protected]

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    trennten Welten ist in Deutschland so groß,dass nur selten öffentlich darüber diskutiertwird – im Unterschied etwa zu den angel-sächsischen Ländern. Dort hat der Streit zwi-schen sogenannten Evolutionisten (Vertei-digern der biologischen Evolutionslehre zur

    Erklärung der Entstehung der Welt) und so-genannten Kreationisten (Verteidigern derchristlichen Schöpfungslehre zur Erklärungder Entstehung der Welt) viele Facetten undwird mit breiter öffentlicher Aufmerksam-keit ausgetragen.

    Sei es im Einvernehmen oder im offenenKon ikt: Wissenschaft und Religion scheinenauf zwei nicht zu vereinbarenden oder jeden-falls zueinander in Spannung stehenden Welt-bildern zu fußen. Woher kommt diese klare

    Einschätzung und was ist davon zu halten?Dieser Frage widme ich mich zunächst histo-risch, dann konzeptionell und schließlich mitBlick auf aktuelle empirische Beispiele.

    Kon ikterzählungenEiner der prominentesten Erzähler zum Kon-

    ikt zwischen Wissenschaft und Religion warsicherlich der französische Philosoph undhäu g als Gründungsvater der Soziologie be-titelte Auguste Comte (1798–1857). Nach sei-nem „Dreistadiengesetz“ durchlaufen Indivi-duen sowie die Menschheit als Ganzes eineFortschrittsentwicklung vom theologischenüber das metaphysische zum positiven Stadi-um. Anstatt metaphysische Ursachen für (zu-nächst) Unerklärbares anzunehmen, geht fürdie positive wissenschaftliche Methode „ihrewissenschaftliche Wirksamkeit (…) stets aus-schließlich aus ihrer mittelbaren oder un-mittelbaren Übereinstimmung mit den be-obachteten Phänomenen hervor“. ❙3 Erst impositiven Stadium wird damit „ein völlig nor-maler Geisteszustand herbeigeführt“. ❙4

    Comtes Philosophie ist zugleich politischesProgramm. Seine „Rede über den Geist desPositivismus“ enthält die zu dieser Zeit üb-lichen Rassismen, wenn er sich etwa darüberauslässt, welche der „drei großen Rassen“ inwelchem Stadium verharren. ❙5 Es geht ihm

    ❙3 Auguste Comte, Rede über den Geist des Positivis-

    mus, Hamburg 1956 (1844), S. 16.❙4 Ebd.❙5 Ebd., S. 7.

    programmatisch darum, die Welt in das po-sitive Stadium zu überführen: Die herkömm-liche Religion soll durch die positive Wis-senschaft abgelöst werden. In der Spätphaseseines Wirkens bezeichnet er dann den Posi-tivismus selbst als „Menschheitsreligion“; in

    mehreren Ländern werden sogenannte Tem-pel der Humanität errichtet, Comte insze-niert sich als Stifter einer säkularen Religion.❙6

    Der Weg in diese säkulare Religion wur-de nicht von allen Positivismus-Anhängernmitgegangen. Inhaltlich aber war die Missionüberaus erfolgreich: Wer fortan in der Wis-senschaft ernst genommen werden wollte,musste sich an positivistischen Prämissen ori-entieren – und sich gegenüber religiösen Be-kenntnissen eindeutig abgrenzen. Der Kon-

    ikt zwischen Wissenschaft und Religion istzu einem Kontinuum in der Wissenschafts-geschichte geworden. 1873 veröffentlich-te der Philosoph und Naturwissenschaft-ler John William Draper sein viel beachtetesWerk „History of the Con ict between Re-ligion and Science“ mit der Kernthese, dassWissenschaft und Religion zwangsläu g imKon ikt zueinander stehen müssen, denn„(…) faith is in its nature unchangeable, sta-tionary; Science is in its nature progressive“.❙7 Wer also für den Fortschritt ist, kann nichtfür Religion sein. Diese Überzeugung hatbeispielsweise auch noch während der Grün-dungsphase der amerikanischen Soziologiezu Beginn des 20. Jahrhunderts dazu geführt,dass religiös motivierte Soziologinnen undSoziologen aktiv aus der Fachgemeinschaftausgeschlossen wurden, um die Etablierungals ernst zu nehmende Disziplin nicht zu ge-fährden. ❙8

    Historisch wurden die Kon ikterzählun-gen inzwischen vielfältig infrage gestellt.Insbesondere die Interpretationen der soge-nannten wissenschaftlichen Revolution ha-ben sich verändert – der Zeit also von etwa1500 bis 1700, die Autoren wie dem zitiertenDraper als Inbegriff des Siegeszuges der mo-

    ❙6 Vgl. Wolf Lepenies, Auguste Comte. Die Machtder Zeichen, München 2010.❙7 Zit. nach: www.gutenberg.org/ les/1185/1185-h/ 1185-h.htm (8. 4. 2015).❙8 Vgl. Michael S. Evans, De ning the Public, De-ning Sociology: Hybrid Science – Public Relations

    and Boundary-Work in Early American Sociolo-gy, in: Public Understanding of Science, 18 (2009) 1,S. 5–22.

    http://www.gutenberg.org/files/1185/1185-h/1185-h.htmhttp://www.gutenberg.org/files/1185/1185-h/1185-h.htmhttp://www.gutenberg.org/files/1185/1185-h/1185-h.htmhttp://www.gutenberg.org/files/1185/1185-h/1185-h.htmhttp://www.gutenberg.org/files/1185/1185-h/1185-h.htmhttp://www.gutenberg.org/files/1185/1185-h/1185-h.htm

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    dernen Wissenschaft über die Religion gal-ten. Aktuellere historische Forschung stelltheraus, wie komplex gerade in dieser Zeit dieInteraktionen zwischen Wissenschaft undReligion sowohl institutionell als auch fürdie individuellen Wissenschaftler waren. Ein

    Blick ins Innere der Institutionen zeigt etwa,dass Galileo Galilei durchaus auch innerhalbder katholischen Kirche Fürsprecher und Be-wunderer hatte, nicht zuletzt den KardinalMaffeo Barberini und späteren Papst UrbanVIII selbst. ❙9 Große Wissenschaftler der Zeitwie beispielsweise Robert Boyle und IsaacNewton haben ihre naturwissenschaftlicheArbeit explizit aus der religiösen Motivati-on heraus betrieben, mit der Erforschung vonUrsachen und Wirkungszusammenhängendie Existenz Gottes gerade zu beweisen. ❙10

    Die Verhältnisse waren also komplexer, alsviele Historikerinnen und Historiker wohlauch in der Euphorie des erstarkenden Po-sitivismus zunächst angenommen haben.Aber wo stehen wir heute? Offensichtlich hatComte mit seiner These von der Ablösungder Religion durch die Wissenschaft nichtRecht behalten. Alltagsbeobachtungen wieauch zahlreiche Studien zeigen, dass die Be-deutung von Religion auch in modernen Ge-sellschaften weiterhin groß ist. Dies gilt aller-dings ebenso für die Wissenschaft – sie wirdvielfach als der entscheidende Wachstums-motor in modernen „Wissensgesellschaften“beschrieben. Abgelöst wurde also weder daseine noch das andere. Aber was bedeutet das?Was genau steht sich da eigentlich gegenübermit Religion auf der einen und Wissenschaftauf der anderen Seite?

    De nitionssache Religion

    „Als Wissenschaftler kann man ja nicht analles glauben, was die Kirche einem erzählt.“Diese eingangs bereits zitierte Äußerung isteine Antwort auf die Frage: „Würden Sie sichselbst als religiös beschreiben?“ In der Re-aktion der interviewten Stammzellforsche-rin spiegelt sich eine spontane De nition von

    ❙9 Vgl. John Henry, Religion and the Scienti c Re-volution, in: Peter Harrison, The Cambridge Com-panion to Science and Religion, Cambridge 2010,

    S. 39–58.❙10 Vgl. John Hedley Brooke, Science and Religion.Some Historical Perspectives, New York u. a. 1991.

    Religiosität: Es geht um den Glauben an das,„was die Kirche einem erzählt“. Religion isthier erstens eine Institution und zweitenseine solche, die Wahrheitsansprüche vertritt.Diese Religionsde nition liegt wohl auchden meisten Auseinandersetzungen zugrun-

    de, in denen aktuell öffentlich über das Ver-hältnis zwischen Wissenschaft und Religiongestritten wird. So gilt auch der Kampf derEvolutionisten in den angelsächsischen Län-dern den religiösen Organisationen und ih-rem Anspruch, Wahrheiten über die Verfasst-heit der Welt zu kennen. Solchen Ansprüchenmuss die Forscherin schon qua Identität ent-gegenstehen: Als Wissenschaftlerin kannsie solchen Erzählungen gar nicht glauben,schließlich ist es ihr Beruf, die Naturgeset-ze zu erforschen, die die Verfasstheit der Welt

    erklären können.„Da ist schon so ein bisschen was, an das

    ich glaube“, antwortet sie weiter, „da ist mitSicherheit irgendwas, aber ich denke, dass dasvielleicht auch eher so etwas ist, an dem manin schlechten Zeiten gerne mal dran festhält.“Die Befragte unterscheidet hier also zwischenunterschiedlichen Inhalten, die mit Religio-sität gemeint sein können. Religion als insti-tutionalisierten Wahrheitsanspruch lehnt sieab, den Glauben an „irgendetwas“, das „inschlechten Zeiten“ möglicherweise Halt gibt,kann sie für sich aber als sinnvoll akzeptieren.Damit nimmt sie eine Differenzierung vor, diesich auf zahlreiche religionssoziologische Au-torinnen und Autoren beziehen kann.

    Religion zu de nieren ist kompliziert, weildas Wort für unterschiedliche Religionen inunterschiedlichen Kontexten Unterschied-liches bedeuten kann. So wird auch in derReligionssoziologie nicht mit einem einheit-lichen Begriff dessen gearbeitet, was Religi-on substanziell ausmacht. Die Forschung istvielmehr vor allem daran interessiert, welcheFunktionen Religion in unterschiedlichenGesellschaften erfüllt. Der US-amerikani-sche Soziologe Charles Y. Glock hat schon inden 1950er Jahren eine ideologische, eine ri-tualistische, eine erfahrungsbezogene, eineintellektuelle und eine handlungspraktischeDimension von Religion unterschieden. ❙11 BeiAuseinandersetzungen zum Kon ikt zwi-

    ❙11

    Vgl. Charles Y. Glock, Religion in SociologicalPerspective. Essays in the Empirical Study of Religi-on, Belmont 1973.

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    schen Religion und Wissenschaft fällt auf,dass hier einseitig ideologische und intellek-tuelle Dimensionen betont werden – es gehtum konkurrierende Wahrheitsansprüche vonReligion und Wissenschaft. Die Bedeutungvon Ritualen, Erfahrungen oder ethischen

    Konsequenzen einer Religionszugehörigkeitstehen dagegen außerhalb eines potenziellenKon ikts zwischen wissenschaftlichen undreligiösen Lehrsätzen.

    Mit einer anderen De nition lässt sich Re-ligion auch als Mittel zur Krisenbewältigungdeuten. Der deutsche Soziologe Ulrich Oever-mann sieht ihre Funktion darin, die mensch-liche Fundamentalkrise im Sinne eines Be-währungsproblems zu bearbeiten.❙12 Einfachausgedrückt: Menschen wissen um ihre End-

    lichkeit und müssen doch permanent, mit je-der kleinen und großen Entscheidung, davonausgehen, dass ein erfülltes Leben möglich ist. Je deutlicher die eigene Endlichkeit wahrge-nommen wird, desto wichtiger wird eine Uto-pie von einem Jenseits, in dem Erfüllung undHeil möglich sind – Religion also zur Bewäl-tigung „in schlechten Zeiten“.

    Religion und Wissenschaft müssen sichalso, je nach Lesart, gar nicht in die Querekommen. Und dies ist auch die gängige Auf-fassung in den westlichen Sozialwissenschaf-ten. Der deutsche Soziologe und National-ökonom Max Weber (1864–1920) hat in den1920er Jahren die dazugehörige differenzie-rungstheoretische Großthese angelegt: Reli-gion und Wissenschaft hat er als komplemen-täre Wertsphären konzipiert; Religion wäredemnach für Fragen des Sinns in Form au-ßerweltlicher Erlösung zuständig, Wissen-schaft auf die Erforschung des innerwelt-lich Erkennbaren spezialisiert.❙13 Sofern siesich jeweils auf diese Funktionen beschrän-ken – also Religion keine umfassende Welter-klärung und Wissenschaft keine moralischenImperative entwickelt – ist eine friedlicheKoexistenz möglich. ❙14

    ❙12 Vgl. Ulrich Oevermann, Strukturmodell von Re-ligiosität, in: Karl Gabriel (Hrsg.), Religiöse Indivi-dualisierung oder Säkularisierung. Biographie undGruppe als Bezugspunkte moderner Religiosität,Gütersloh 1996, S. 29–40.❙13 Vgl. Max Weber, Gesammelte Aufsätze zur Religi-onssoziologie, Bd. 1, Tübingen 1988 (1920), S. 564 ff.❙14

    Vgl. Friedrich H. Tenbruck, Wissenschaft und Re-ligion, in: Jakobus Wössner (Hrsg.), Religion im Um-bruch, Stuttgart 1972, S. 217–244.

    De nitionssache WissenschaftAuffällig ist nun an dieser Auffassung vonReligion und Wissenschaft als trennbare Wel-ten, dass der spezi sche Gehalt von Wissen-schaft praktisch nicht thematisiert wird. Auf-

    fällig ist dies, weil ansonsten die gängige Ideevon Wissenschaft als rein rationale, objekti-ve Wahrheitssuche längst vielfach infrage ge-stellt wurde. Die Wissenschaftssoziologie hates sich gerade zur Aufgabe gemacht, die so-ziale Konstruiertheit von wissenschaftlichemWissen herauszustellen. WissenschaftlicheErgebnisse werden hier als das Produkt einessozialen Prozesses angenommen und nichtals substanziell für immer und überall gültigeFakten. Mit dieser Grundannahme ist nichtsdarüber ausgesagt, ob diese Ergebnisse rich-

    tig oder falsch sind. Sie betont „nur“, dass je-weils raum-zeitlich besondere soziale Bedin-gungen einen Ein uss darauf haben, warumaus der unendlichen Vielfalt möglicher Frage-stellungen, Hypothesen und Ergebnisinter-pretationen genau diese oder jene ausgewähltwurden. Mit dieser Perspektive liegt es nunnahe, auch religiöse Weltbilder – oder breiter:eine spezi sche religionskulturelle Umge-bung – als beein ussende soziale Bedingun-gen anzunehmen.

    Öffnet man außerdem dieblack box wis-senschaftlicher Wissensproduktion, dannstößt man auch auf erstaunliche Parallelenzwischen Wissenschaft und Religion. Tat-sächlich ist nämlich dieser Produktionspro-zess ebenfalls in erster Linie ein Umgangmit permanenter Unsicherheit. Schon derpolnische Naturwissenschaftler und Er-kenntnistheoretiker Ludwik Fleck (1896–1961) hat eindrücklich beschrieben, wiesehr die gemeinschaftlichen Rituale soge-nannter wissenschaftlicher Denkkollektivedenen religiöser Gemeinschaften ähneln. ❙15 Erst in der gemeinschaftlichen Bestätigungwird eine Hypothese zu einem wissen-schaftlich validierten Ergebnis. Fleck stellthier auch eine Nähe her zu Emile Durk-heims (1858–1917) Verständnis von Religi-on und Wissenschaft als gleichursprüng-lich: Dem französischen Soziologen zufolgesind nämlich Stammesgemeinschaften dieQuelle religiöser Erfahrung und schaffen

    ❙15

    Vgl. Ludwik Fleck, Entstehung und Entwicklungeiner wissenschaftlichen Tatsache. Einführung in dieLehre vom Denkstil und Denkkollektiv, Basel 1935.

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    zugleich (wenn auch nur vorläu ge) Verbin-dungen zwischen Dingen zur Erklärung bisdahin unerklärter Phänomene. ❙16

    Sind Wissenschaft und Religion am Endedann also ein und dasselbe? Auch dafür mag

    es je nach De nition sinnvolle Argumentegeben. Ich beziehe mich hier lieber auf eineUnterscheidung des französischen Wissen-schaftssoziologen Bruno Latour, der Wis-senschaft und Religion als unterschiedlicheKommunikationsmodelle charakterisiert. ❙17 Der Glaube entspricht demnach dem Ge-spräch in einer Liebesbeziehung: Der oderdie Gläubige (wie der oder die Liebende)fragt nicht nach Beweisen; die Basis der Be-ziehung ist Vertrauen, das durch die Fragenach Beweisen zerstört wird. In der Wissen-

    schaft wird hingegen nach Beweisen gefragt.Allerdings liegen auch diese nicht einfachauf der Hand. Ein präsentiertes wissen-schaftliches Resultat ist vielmehr das Ergeb-nis zahlreicher Transformationsschritte, dielängst nicht alle kommunizierbar sind, son-dern auf dem impliziten Wissen Einzelnerberuhen. Auch die Akzeptanz eines wissen-schaftlichen Ergebnisses hat also mit Glau-ben zu tun.

    Eine Nähe von Wissenschaft und Religi-on lässt sich schließlich auch aus funktiona-listischer Perspektive herleiten. Je nach Per-spektive können beide ähnliche Funktionenin Gesellschaften erfüllen. So kann auch dieWissenschaft dabei helfen, das oben auf -geführte, von Oevermann so bezeichne-te Bewährungsproblem zu bearbeiten. Mitwissenschaftlichen Experimenten könnenmenschliche Grenzen überwunden werden –man könnte auch sagen, Endlichkeit trans-zendiert werden. Wissenschaft wird dann zueinem neuen Heilsversprechen.

    Wissenschaft und Religion voneinander zutrennen ist also nicht so einfach und selbstver-ständlich, wie manche Debatten es nahelegen.Das gilt sowohl für den Entstehungsprozess,also die Produktion von wissenschaftlichemWissen, als auch für dessen gesellschaftlicheAkzeptanz. Ich will dies an einigen empiri-schen Beispielen weiter illustrieren.

    ❙16 Vgl. Emile Durkheim, Die elementaren Formen

    des religiösen Lebens, Frankfurt/M. 1981 (1912),S. 283 ff.❙17 Vgl. Bruno Latour, Jubilieren, Berlin 2011.

    Wissensproduktion und EthikMit Blick auf die Produktionsseite wissen-schaftlichen Wissens geht es um die Fra-ge, ob und inwiefern die religionskulturel-le Umgebung einer Forschungsarbeit deren

    Fortgang beein ussen kann. Dieser Fra-ge hat sich der US-amerikanische Soziolo-ge Robert K. Merton bereits in den 1970er Jahren gewidmet. Er beschreibt einen en-gen Zusammenhang zwischen dem Puri-tanismus im England des 17. Jahrhundertsund der Entwicklung der modernen Natur-wissenschaften. ❙18 Aus heutiger Perspektiveliegt insbesondere nahe, forschungsethi-sche Themen im Zusammenhang mit reli-giösen Weltbildern zu denken. Vor einigen Jahren fand zu diesem Thema eine De-

    batte zwischen dem damaligen Kardinal Joseph Ratzinger und dem Philosophen Jürgen Habermas statt. Ratzinger sprachvon „gegenseitiger Begrenzung“ von Glau-ben und Vernunft, um für sich genommenunheilvollen Machtansprüchen sowohl vonReligion als auch von Wissenschaft zu be-gegnen. ❙19 Ganz aktuell hat sich auch PapstFranziskus in einer Enzyklika über die auschristlicher Sicht ethisch gebotenen Gren-zen wissenschaftlichen Fortschritts geäu-ßert. ❙20 Die Grundidee, dass eine größereNähe von Religion und Wissenschaft zueiner ethisch besseren, weniger utilitaris-tischen Wissenschaft führen würde, n-det sich auch bei zahlreichen theologischenAutoren sowohl der christlichen als auchder islamischen Welt. ❙21

    Kon ikte um die Grenzen wissenschaft-lichen Fortschritts nden wir heute insbe-sondere im Feld der Lebenswissenschaften.In Debatten um das Klonen von Menschen,

    ❙18 Vgl. Robert K. Merton, Science, Technology andSociety in Seventeenth-Century England, New York1972 (1938).❙19 Vgl. Joseph Ratzinger, Was die Welt zusammen-hält. Vorpolitische moralische Grundlagen eines frei-heitlichen Staates, in: Jürgen Habermas/Joseph Rat-zinger, Dialektik der Säkularisierung, Freiburg/Br.2005, S. 39–60.❙20 Vgl. Francis, Encyclical Letter Laudato si’ of theHoly Father Francis, Vatikanstadt 2015.❙21 Vgl. Andrew G. van Melsen, Science and Religi-on, in: Jan W. Fennema/Iain Paul (Hrsg.), Scienceand Religion. One World – Changing Perspectives on

    Reality, Dordrecht–Boston–London 1990, S. 27–34;Seyyed H. Nasr, Ideal und Wirklichkeit des Islams,München 1993.

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    um die Forschung an embryonalen Stamm-zellen oder in jüngerer Zeit um die Entwick-lung von Mensch-Tier-Mischwesen ❙22 wer-den Ängste vor einer grenzenlosen, „Gottspielenden“ Wissenschaft deutlich. Interes-sant ist nun, wie diesen (religiös geprägten)

    Vorbehalten auch institutionell Raum gege-ben wird. In Deutschland wie in vielen an-deren Ländern sind religiöse Organisatio-nen wichtige Akteure bei der Entwicklungvon Regulierungspolitiken. Die evangeli-sche und die katholische Kirche sind tra-ditionell im Deutschen Ethikrat vertreten,seit 2012 ist auch ein muslimischer Wissen-schaftler Mitglied dieses Gremiums. Dass inDeutschland beispielsweise im Bereich derembryonalen Stammzellforschung strenge-re Gesetze gelten als in vielen anderen Län-

    dern, lässt sich unter anderem auf den Ein-uss dieses Gremiums zurückführen. ❙23 Damit ist also ein Zusammenhang zwischenreligionskultureller Umgebung und For-schungspraxis geradezu institutionell orga-nisiert – in Deutschland werden Dinge nichtgetan, die in anderen Ländern erlaubt sind.Und dies wiederum ist nicht unabhängig vonder inhaltlichen Entwicklung in diesem For-schungsfeld: Sicherlich auch aufgrund derbesonderen Restriktionen in Bezug auf dieNutzung embryonaler Stammzellen wird inDeutschland besonders intensiv an der Er-forschung von (ethisch weniger umstritte-nen) adulten Stammzellen gearbeitet. ❙24

    Akzeptanzkon ikteWie sich auf der einen Seite die Produkti-on wissenschaftlichen Wissens nicht einfachlosgelöst von der religionskulturellen Um-gebung denken lässt, so ist auf der anderenSeite auch die gesellschaftliche Akzeptanzwissenschaftlicher Ergebnisse in diese Um-gebung eingebettet. Die Frage ist hier, wasund wem warum geglaubt wird. Oder so-

    ❙22 Vgl. Deutscher Ethikrat, Mensch-Tier-Mischwe-sen in der Forschung. Stellungnahme, Berlin 2011.❙23 Vgl. Alexandra Schwarzkopf, Die deutscheStammzelldebatte. Eine exemplarische Untersu-chung bioethischer Normenkon ikte in der politi-schen Kommunikation der Gegenwart, Göttingen2014.❙24 Vgl. Deutscher Ethikrat, Öffentliche Anhörung

    zur Forschung mit adulten Stammzellen. Wortpro-tokoll, Berlin 2006,www.ethikrat.org/dateien/pdf/wortprotokoll-2006-07-27.pdf (11. 9. 2015).

    zialwissenschaftlich ausgedrückt: WelchesWissen erhält unter welchen BedingungenAkzeptanz?

    Dass wissenschaftliches Wissen nicht unterallen Bedingungen unangefochten Autorität

    beanspruchen kann, wurde bereits mit Hin-weis auf den Streit zwischen Kreationistenund Evolutionisten angedeutet. Regional wardieser Streit zunächst auf die USA und Groß-britannien beschränkt und hat dann eineAuseinandersetzung zwischen islamischenund christlichen Kreationisten nach sich ge-zogen. ❙25 In diesem Streit handelt es sich aller-dings offenbar nicht allein um konkurrieren-de Wahrheitsangebote, die Debatten habenvielmehr ideologischen Charakter. Von deneinen wird die Evolutionslehre gleichgesetzt

    mit amoralischem Materialismus, von denanderen wird Religion als „irrationale Weiseder Weltdeutung“ abgelehnt. ❙26

    Dass diese Debatten in Deutschland kaumgeführt werden, bedeutet auch hier nicht,dass wissenschaftliche Wahrheitsangebotestets unangefochten Autorität beanspruchenkönnten. Als Beispiel sei etwa auf die auch inDeutschland steigende Popularität von Al-ternativmedizin wie beispielsweise Ayurvedahingewiesen. Zunehmend viele Patientinnenund Patienten ziehen offenbar (jedenfalls inbestimmten Situationen) eine sich auf religiö-se Traditionen berufende Heilslehre dem reinschulmedizinischen, auf wissenschaftlicherMethode basierenden Wissen vor – Medizinals „spirituelles Sinnangebot“.❙27

    Wissenschaftliche und religiöse Wahr-heitsangebote konkurrieren miteinander –und sind nicht immer klar voneinander zutrennen. Dazu ein anderes aktuelles Beispiel:Unter dem Titel „Transhumanismus“ organi-

    ❙25 Vgl. Salman Hameed, Evolution and Creationismin the Islamic World, in: Thomas Dixon/GeoffreyCantor/Stephen Pumfrey (Hrsg.), Science and Reli-gion. New Historical Perspectives, Cambridge 2010,S. 133–152.❙26 Monika Wohlrab-Sahr/Tom Kaden, Struktur undIdentität des Nicht-Religiösen: Relation und sozialeNormierungen, in: Christof Wolf/Matthias Koenig(Hrsg.), Religion und Gesellschaft, Wiesbaden 2013,S. 183–209.❙27 Anne Koch, Wie Medizin und Heilsein wieder

    verwischen. Ethische Plausibilisierungsmuster desAyurveda im Westen, in: Zeitschrift für Medizini-sche Ethik, 52 (2006) 2, S. 169–182.

    http://www.ethikrat.org/dateien/pdf/wortprotokoll-2006-07-27.pdfhttp://www.ethikrat.org/dateien/pdf/wortprotokoll-2006-07-27.pdfhttp://www.ethikrat.org/dateien/pdf/wortprotokoll-2006-07-27.pdfhttp://www.ethikrat.org/dateien/pdf/wortprotokoll-2006-07-27.pdf

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    siert sich in den vergangenen rund 15 Jahreneine Bewegung, die nun in erste Parteigrün-dungen in den USA und auch in Deutschlandmündet. Erklärtes Ziel der Bewegung ist es,die biologisch gegebenen Begrenztheiten desMenschen durch die Nutzung von Wissen-

    schaft und Technik zu überwinden – undden Menschen damit schließlich unsterb-lich zu machen. Solche Ideen sind als Sci-ence Fiction nicht neu. Dass sie in jüngererZeit zunehmend neue Anhängerinnen undAnhänger nden, hängt wesentlich mit wis-senschaftlichen Entwicklungen zusammen.Raymond Kurzweil, ein Kopf der Bewegungund leitender Entwickler bei Google, hatseine futuristischen Szenarien zur Abschaf-fung des Todes vor allem auf Entwicklungenin der Computertechnologie gestützt. ❙28 Die

    „inef ziente Programmiererin“ Evolutionsoll durch ef ziente Rechner ersetzt werden.Während seine Vorstellung voraussetzt, dasssich alle menschlichen Fähigkeiten nach ei-nem digitalen Code programmieren lassen,werden die Szenarien dann komplexer, wennauch die Entwicklungen in den Lebenswis-senschaften in die Zukunft gedacht werden.So stützen sich viele Anhänger transhuma-nistischer Ideen auf die Vorstellung, dasssich künftig alle Prozesse im menschlichenKörper auch biochemisch im Labor herstel-len lassen. ❙29

    Was ist das für eine Bewegung? Schaut manauf ihre Webseiten und Texte, dann drän-gen sich schnell Parallelen zu frühen posi-tivistischen Ideen auf: Wissenschaft bietetHeilsvisionen, die offenbar in bestimmtenKontexten Akzeptanz nden – der Trans-humanismus als neue „Menschheitsreligion“.Protagonisten beschreiben ihre Ideen selbstals eine Philosophie für Atheisten – ganz imSinne Oevermanns hilft hier der Glaube andie Wissenschaft dabei, das menschliche Be-währungsproblem zu bearbeiten.

    Gleichzeitig macht dieses Beispiel ein-mal mehr deutlich, wie Wahrheitsansprü-che eingebettet sind in konkrete Macht-und Interessenkonstellationen. Dies gilt fürWahrheitsansprüche von religiösen Organi-

    ❙28 Vgl. Ray Kurzweil, The Age of Spiritual Machi-nes, New York 1999.❙29

    Vgl. Sascha Dickel, Enhancement-Utopien. So-ziologische Analysen zur Konstruktion des NeuenMenschen, Baden-Baden 2011.

    sationen, aber nicht weniger für Wahrheits-ansprüche der Wissenschaft. Ein ussreicheTeile der Transhumanismus-Bewegung sindeng verknüpft mit Unternehmensnetzwerkenim Silicon Valley, die Heilssuche von Trans-humanisten ist verbunden mit lukrativer Pro-

    duktentwicklung. ❙30

    AusblickWissenschaft und Religion sind historischenger miteinander verknüpft, als das gängi-ge Narrativ nahelegt. Je nach De nitionsper-spektive sind beide Bereiche zudem theore-tisch nur schwer eindeutig voneinander zuunterscheiden. Die Produktion wissenschaft-lichen Wissens ist stets in eine soziokulturel-

    le und so auch religionskulturelle Umgebungeingebettet. Welche Wahrheitsangebote ge-sellschaftlich akzeptiert werden, hängt eben-falls von dieser Umgebung ab. Für die For-schung heißt dies umgekehrt, dass empirischeAnalysen zum Verhältnis zwischen Wissen-schaft und Religion zentrale Erkenntnisseüber die normativen Grundlagen in moder-nen Gesellschaften versprechen.

    Wie sind religiöse Organisationen in dieRegulierung von Forschung eingebunden?Welche Rolle spielen religiöse Argumentein öffentlichen Debatten zu Forschung undTechnik? Was ist Glauben und was ist Wis-sen im Forschungsprozess? Internationalvergleichende Analysen zu Fragen wie diesenkönnen Säkularisierungsthesen neu auf denPrüfstand stellen. Das Thema ist im Rahmenvon Säkularisierungstheorien der vergange-nen Jahrzehnte nämlich aus dem Blickfeldgeraten – wohl auch eine Konsequenz der er-folgreichen Erzählung von getrennten Wel-ten. Es ist an der Zeit für eine umfassendeNeubetrachtung.

    ❙30 Vgl. Thomas Wagner, Robokratie. Google, Face-book, das Silicon-Valley und der Mensch als Auslauf -

    modell, Köln 2015.

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    Sebastian Conrad

    Die Weltbilder

    der Historiker:Wege aus demEurozentrismus

    Sebastian ConradDr. phil., geb. 1966; Profes-

    sor für Neuere Geschichte ander Freien Universität Berlin,Friedrich-Meinecke-Institut,

    Koserstraße 20, 14195 [email protected]

    Die Kritik am Eurozentrismus der Ge-schichtsschreibung gehört heute be-reits zum guten Ton. Seit den 1970er Jahren

    ist auch im „Westen“die Forderung nacheiner „Überwindungdes Eurozentrismus“und einer gleichbe-rechtigten Einbezie-hung der „Völker ohneGeschichte“ nach undnach zu einem Be-

    standteil des Mainstreams geworden. In ande-ren Teilen der Welt, vor allem in kolonisiertenGesellschaften, ist diese Kritik wesentlich äl-ter und geht bis in das 19. Jahrhundert zurück.In den vergangenen Jahrzehnten haben Ansät-ze wie die Transnationale Geschichte, die post-colonial studies und die Globalgeschichte dazubeigetragen, Wege zu einer nichteurozentri-schen Geschichtsschreibung auszuloten. ❙1

    Worin besteht der Eurozentrismus, undwas ist daran so problematisch? In vielenDarstellungen werden zwei Ebenen ver-mischt, die sinnvollerweise auseinanderge-halten werden sollten. Auf der einen Seitesteht der Eurozentrismus als Sichtweise, alsDeutungsmuster; auf der anderen Seite stehtdie Frage nach Europas Rolle in der Ge-schichte. Beide Aspekte sind natürlich engmiteinander verbunden, aber aus heuristi-schen Gründen ist es hilfreich, zwischen ih-nen zu unterscheiden.

    Eurozentrismus und EuropazentriertheitAls Perspektive erscheint der Eurozentris-mus wiederum in unterschiedlichen For-men. Auch hier ist es hilfreich, die zwei

    wichtigsten Richtungen auseinanderzuhal-ten: Die erste bezieht sich auf die Idee vonEuropa als Ursprung des historischen Fort-schritts, von Europa als Triebkraft der Mo-derne. Die zweite Richtung hat vor allemmit den Normen, den Begriffen und Nar-

    rativen zu tun, mit denen Historikerinnenund Historiker die Vergangenheit mit Be-deutung versehen – und zwar selbst dann,wenn von Europa gar nicht die Rede ist.Hier geht es also weniger um den histori-schen Prozess selbst, sondern um die Per-spektive, mit der dieser Prozess in den Blickgenommen wird. ❙2

    Um mit der ersten Richtung des Eurozen-trismus zu beginnen: Die Stilisierung deshistorischen Prozesses als von Europa domi-

    niert hat der Historiker Robert Marks fol-gendermaßen zusammengefasst: „Die eu-rozentrische Weltsicht betrachtet Europaals den einzig aktiven Gestalter der Weltge-schichte, gewissermaßen als ihren ‚Urquell‘.Europa handelt, während der Rest der Weltgehorcht. Europa hat gestaltende Kraft, derRest der Welt ist passiv. Europa macht Ge-schichte, der Rest der Welt besitzt keine, biser mit Europa in Kontakt tritt. Europa ist dasZentrum, der Rest der Welt seine Peripherie.Nur Europäer sind in der Lage, Wandlungenoder Modernisierung einzuleiten, der Restder Welt ist es nicht.“ ❙3

    Lange Zeit war eine solche Sichtweise inder Weltgeschichtsschreibung ein gängigesMuster. ❙4 Inzwischen sind Historiker be-

    ❙1 Vgl. Sebastian Conrad/Shalini Randeria (Hrsg.), Jenseits des Eurozentrismus: Postkoloniale Perspek-tiven in den Geschichts- und Kulturwissenschaften,Frankfurt/M. 2002; Eric R. Wolf, Die Völker ohneGeschichte. Europa und die andere Welt seit 1400,Frankfurt/M. 1986.❙2 Eine Typologie unterschiedlicher Formen des Eu-rozentrismus ndet sich bei John M. Hobson, TheEurocentric Conception of World Politics: WesternInternational Theory 1760–2010, Cambridge 2012.❙3 Robert B. Marks, Die Ursprünge der modernenWelt. Eine globale Weltgeschichte, Darmstadt 2006,S. 20 f.❙4 Prominente Beispiele sind William McNeill, TheRise of the West: A History of the Human Commu-nity, Chicago 1963; Eric Jones, The European Mi-racle: Environments, Economies and Geopolitics inthe History of Europe and Asia, Cambridge 1981;

    David Landes, The Wealth and Poverty of Nations:Why Some Are so Rich and Some so Poor, NewYork 1999.

    mailto:[email protected]:[email protected]

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    müht, die Vielschichtigkeit der Vergangen-heit stärker zur Geltung zu bringen. So ge-währen sie nichtwestlichen Gesellschaften inihren Darstellungen mehr Raum und zielendabei auf eine paritätischere Verteilung desbehandelten Stoffes und eine Einbeziehung

    von Akteuren und Gesellschaften in vielenRegionen der Welt. Die Zeiten, in denen derHistoriker Arnold Toynbee dafür kritisiertwurde, in seiner Weltgeschichte England nurein Sechstel des Raumes zu widmen, den erfür Ägypten reserviert hatte – Toynbee kon-terte, ein Sechzigstel wäre angemessen gewe-sen – sind vorbei. ❙5

    Dieses Bemühen um Inklusion zielt inletzter Instanz nicht nur auf geogra scheGerechtigkeit, sondern darauf, das vorherr-

    schende Narrativ der westlichen Dominanzzu hinterfragen und zu unterminieren. Inder Tat hat die neuere Forschung deutlichgemacht, dass die teleologische Sicht älte-rer Darstellungen – der zufolge eine euro-päische Überlegenheit tief in der Weltge-schichte angelegt sei – nicht zu halten ist.Von einer europäisch-amerikanischen He-gemonie kann man vor dem frühen 19. Jahr-hundert kaum sprechen. Die Entstehungder modernen Welt war das Ergebnis viel-fältiger Interaktionen. Was lange Zeit alseinzigartige europäische Errungenschaftgegolten hatte, beruhte häu g auf komple-xen Austauschprozessen, zu denen Akteu-re in unterschiedlichen Regionen beigetra-gen hatten. ❙6

    An dieser Stelle ist es sinnvoll, kurz aufdas Verhältnis zwischen Eurozentrismusund Europazentriertheit einzugehen. Ge-wiss ist es wichtig, die ganze Bandbreitehistorischer Erfahrung in ihrer regionalenVielfalt zu rekonstruieren. Aber zugleichbesteht die Herausforderung darin, nichtins andere Extrem zu verfallen und die Rol-le von Machtstrukturen unter einem bun-ten Flickenteppich lokaler Geschichten ver-schwinden zu lassen. Die Überwindung des

    ❙5 Arnold J. Toynbee, A Study of History, Bd. 12: Re-considerations, London 1961, S. 630.❙6 Vgl. etwa Robert Bartlett, The Making of Euro-pe. Conquest, Colonization and Cultural Change950–1350, Princeton 1994; Jack Goody, The East in

    the West, Cambridge 1996; John M. Hobson, TheEastern Origins of Western Civilisation, Cam-bridge 2004.

    Eurozentrismus sollte nicht mit einer Mar-ginalisierung Europas (und der Vereinig-ten Staaten) einhergehen. Wenn Historikerdie neuere Weltgeschichtsschreibung dafürpreisen, dass sie „ein besonders geeignetesInstrument ist, die Beiträge aller Völker

    zu der gemeinsamen Geschichte der Weltanzuerkennen“, dann klingt das vor allemnach guten Absichten – und birgt zugleichdie Gefahr, Machtstrukturen und politischeHierarchien zu vernachlässigen. ❙7 Alterna-tive Interpretationen der Weltgeschichtesollten nicht die Situationen verschleiern, indenen Euro-Amerika eine dominante Rol-le spielte.

    Es gibt einen wichtigen Unterschied zwi-schen der Betonung der Europazentriertheit

    einer historischen Situation und ihrer eu-rozentrischen Deutung: Zu sagen, dass dieIndustrialisierung sich zuerst in Englandereignete, ist nicht eurozentrisch; anzuneh-men, dass sie nur dort auftreten konnte, hin-gegen schon. Als viele Gesellschaften im19. Jahrhundert damit begannen, nach West-europa und Nordamerika zu schauen, wennes um Vorbilder für ein modernes Schulwe-sen ging, war das ein Ausdruck der Tatsache,dass das geopolitische Terrain sich zuguns-ten des Westens verändert hatte. Eurozent-risch wäre zu behaupten, dass moderne In-stitutionen nur im Westen hätten entstehenkönnen und nicht anderswo. Auch wennbeide Dimensionen zusammenhingen, kannman doch die Evaluierung der historischenRolle Europas – im Grunde eine empirischeFrage – von dem Problem des Eurozentris-mus in heuristischer Absicht trennen; dasist umso wichtiger, da eurozentrische Deu-tungsmuster häu g auch dann Verwendung

    nden, wenn es gar nicht um Europa oderden „Westen“ geht.

    Das bringt uns zurück zu der Frage des Eu-rozentrismus als Deutungsmuster und leitetzu einem zweiten Aspekt dieser Problema-tik über, dem begrif ichen Eurozentrismus.Die Schwierigkeiten, sich von der eurozent-rischen Meistererzählung zu emanzipieren,sind besonders anregend von dem HistorikerDipesh Chakrabarty erörtert worden. SeineThese lautet, dass „im akademischen Diskurs

    ❙7

    Jerry H. Bentley, Shapes of World History inTwentieth-Century Scholarship, Washington D. C.1996, S. 4 f.

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    keit und zum Teil auch in der WissenschaftResonanz. Ihr verstärktes Auftreten kannauch als Teil einer Kommodi zierung vonDifferenz verstanden werden: als Verwand-lung der Diversität in ein marktfähiges Gut.Dieser Trend wurde durch die Politik der

    Weltbank, die 1997 die Forschung zu indige-nem Wissen of ziell zum Programm erhob,noch verstärkt. Und die Schockwellen des11. September 2001 haben der Tendenz, sepa-rate kulturelle Sphären zu postulieren, weite-ren Vorschub geleistet.

    Die Lingua franca dieser neuen Zentrismenist die Sprache der „Zivilisation“. Das Zivi-lisationskonzept ist nicht neu und kann aufeine lange Geschichte zurückblicken. Aberseit den 1990er Jahren und dem Zusammen-

    bruch der bipolaren Welt hat es ein erstaun-liches Comeback erlebt. Man ndet es gegen-wärtig beinahe überall, wenn auch in jeweilslokalen Ausprägungen. In Teilen Afrikas,aber auch in den Vereinigten Staaten sind af -rozentrische Diskurse sehr populär gewor-den, die das Bild einer homogenen afrikani-schen Zivilisation zeichnen, die moralischund kulturell dem Westen überlegen ist. InSüdafrika hat die Regierung 2004 im Namendes Projekts „Afrikanische Renaissance“ dieFörderung indigenen Wissens beschlossenund institutionalisiert. Die Betonung regio-naler Besonderheit und kultureller Spezi k

    ndet sich in Lateinamerika etwa in Plädo-yers für die Regeneration von Aymara- oderMaya-Wissen ebenso wie in Indien, im Na-hen Osten oder in Südostasien.

    Die wohl ein ussreichste Version einesalternativen Zentrismus ist der Sinozent-rismus. Der Hauptgrund dafür ist Chinasprominente Rolle auf der Weltbühne sowiedie ökonomische und zum Teil auch poli-tische Herausforderung, die der AufstiegChinas für die internationale Ordnung dar-stellt. Wie in anderen Zentrismen auch, ge-hen sinozentrische Perspektiven von einerkulturellen Substanz aus, die dem „Westen“entgegengesetzt ist (hier häu g der Konfu-zianismus). Politisch relevant wurden die-se Diskurse durch Schlagworte wie das der„asiatischen Werte“, mit denen beispielswei-se Mahathir Mohamad und Lee Kuan Yew,die Premierminister Malaysias und Singa-purs, operierten. ❙14

    ❙14 Vgl. D. Sachsenmaier (Anm. 10).

    Diese populären Diskurse nden inzwi-schen ihr akademisches Pendant im Comebackund der Institutionalisierung der „Chinastu-dien“ ( guoxue). Alle großen und prestigerei-chen Universitäten haben inzwischen Collegesund Forschungseinrichtungen für „Chinastu-

    dien“ eingerichtet, während die gebildete Öf -fentlichkeit mit Büchern, Sonderheften, imFernsehen übertragenen Vorträgen und Som-merschulen beschallt wird. Auf der einen Sei-te bezeugt dieser Trend eine verbreitete Nos-talgie für die chinesische Geschichte und ihreKultur in der Zeit vor der Revolution. Hin-ter der Faszination für die Taten und Leis-tungen vergangener Dynastien steht auf deranderen Seite aber die grundsätzliche Frage,inwiefern es möglich sein kann, chinesischeTraditionen des Wissens, die von den moder-

    nen Wissenschaften verdrängt wurden, wie-der zugänglich und fruchtbar zu machen.❙15

    Der Aufstieg Chinas hat aber nicht nur si-nozentrische Perspektiven populär gemacht,sondern – ironischerweise – auch dem in dieDefensive geratenen Eurozentrismus neu-es Leben eingehaucht. Das mag auf den ers-ten Blick angesichts der sowohl in Europaals auch in den Vereinigten Staaten heftigenKritik an eurozentrischen Begriffen undNarrativen verwundern. Aber dessen un-geachtet erfreuen sich eurozentrische Deu-tungsmuster seit der Jahrtausendwende er-neuter Beliebtheit. Insbesondere nach denAnschlägen des 11. September 2001, die demSlogan vom „Kampf der Kulturen“ neuePlausibilität verliehen, entsprach eine Reihevon Historikern der öffentlichen Nachfragenach einer „westlichen“ Identität mit Nar-rativen über die autonome, selbstgenerier-te Entwicklung Europas. ❙16 Zwar sind diese

    ❙15 Vgl. John Makeham, Disciplining Tradition in Mo-dern China: Two Case Studies, in: History and The-ory, 51 (2012) 4, S. 89–104; Min OuYang, There is noNeed for Zhongguo Zhexue to Be Philosophy, in:Asian Philosophy, 22 (2012) 3, S. 199–223; Arif Dir-lik, Guoxue/National Learning in the Age of GlobalModernity, in: China Perspectives, 1 (2011), S. 4–13.❙16 Vgl. etwa Michael Mitterauer, Warum Europa?Mittelalterliche Grundlagen eines Sonderwegs, Mün-chen 2003; John M. Headley, The Europeanization ofthe World: On the Origins of Human Rights and De-mocracy, Princeton 2008; Anthony Pagden, Worldsat War: The 2,500-Year Struggle between East andWest, Oxford 2008; Toby E. Huff, Intellectual Cu-

    riosity and the Scienti c Revolution: A Global Per-spective, Cambridge 2010; Ricardo Duchesne, TheUniqueness of Western Civilization, Leiden 2011.

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    Werke häu g in einem triumphierenden Tonverfasst; gleichzeitig erwecken sie jedochden Eindruck, in einer belagerten Burg ge-schrieben worden zu sein, und zeugen vonder Sorge, „dass wir nun das Ende der fünf -hundertjährigen Vorherrschaft des Westens

    erleben“. ❙17

    Inhaltlich handelt es sich dabeium eine Wiederau age des Eurozentrismus,der nun allerdings nicht mehr so selbstge-wiss daherkommt. Der neue Eurozentris-mus ist nicht länger das Fundament euro-amerikanischer Hegemonie, sondern nurnoch ein Ethnozentrismus unter vielen.

    Die weltweite Konjunktur des Zivilisati-onskonzepts bezieht einen Teil seiner At-traktivität aus dem Versprechen, einfacheAntworten auf komplexe globale Heraus-

    forderungen zu liefern. Es ermöglicht eineKritik an der angeblich bevorstehendenHomogenisierung der globalisierten Weltund an den Effekten globaler Migrationund der Hegemonie der USA. Stattdessenpostuliert es autonome kulturelle Sphärenals Hort reiner Traditionen und Garanteneiner jeweils besonderen, eigenständigenEntwicklung. Auch inhaltlich gibt es vieleGemeinsamkeiten. Die verschiedenen For-men des Zentrismus tragen weitgehend die-selben Kleider.

    Die starke Vermehrung der zentristischenDiskurse ist häu g das Werk von Gruppen,die man als „nativistische Unternehmer“ be-zeichnen könnte – Mitglieder lokaler Eli-ten, die häu g eng mit den Institutionen desStaates in Verbindung stehen. Mit ihrer Be-schwörung einer je indigenen Moderne in-tervenieren sie in Kon ikte in den eigenenGesellschaften, und das Beharren auf indi-genen Kosmologien ist dann ein Argumentin einer politischen Auseinandersetzung.

    Zum Teil konkurrieren sie jedoch auch aufinternationalem Parkett, in Auseinanderset-zung mit Vertretern der Eliten in anderenLändern. Dort erheben sie Ansprüche aufeine alternative Moderne, die nicht von dereuropäisch-amerikanischen Kultur abgeleitetist, sondern als Produkt indigener Traditio-nen präsentiert wird. Die nativistischen Un-ternehmer operieren hier vor allem mit geopo-litischem Machtinteresse und innerhalb von

    ❙17 Niall Ferguson, Civilisation: The West and theRest, New York2011, Vorwort zur UK-Ausgabe.

    Strukturen eines globalen Marktes, in demAnsprüche auf kulturelle Diversität prämiertwerden – und reagieren weniger auf den Rufder Traditionen, der aus der Vergangenheit zuihnen schallt. In Lebensstil und Weltanschau-ung sind diese Eliten ihren Wettbewerbern in

    anderen Ländern häu g näher als den brei-ten Bevölkerungsgruppen, für die sie zu spre-chen vorgeben – und erst recht näher als denVorfahren, deren Traditionen sie vermeintlichaufrechterhalten. In vielen Fällen gleiten dieForderungen nach alternativen Wissensord-nungen leicht in einen kulturellen Essenzia-lismus und in Identitätspolitik ab.

    Positionalität frei vonkulturellem Essenzialismus

    Die Suche nach indigenen Epistemologi-en basiert auf einem kulturellen Verständ-nis von Vielfalt und Diversität. Aber vieledieser „Kulturen“ sind infolge einer lan-gen Geschichte der Austauschbeziehun-gen und der Einbindung in größere Prozes-se gar nicht mehr zu rekonstruieren. Stattalso nach rein „nigerianischen“ und „viet-namesischen“ Stimmen zu fahnden, müsstees darum gehen, die Machtbeziehungen zuuntersuchen, die sich auf die jeweiligen Po-sitionierungen ausgewirkt haben. Dies istder Punkt, an dem diedritte Strategie derHinterfragung des Eurozentrismus ansetzt.Sie beruht darauf, an Positionalität festzu-halten, ohne zugleich in kulturelle Essenzi-alismen zu verfallen.

    Die Ethnologen Jean und John Comaroffgehören zu denjenigen, die die Erfahrun-gen und strukturellen Ungleichheiten imglobalen Süden zum Ausgangspunkt neh-men, um alternative theoretische Entwürfeauszuloten. Ihr Konzept der „Theory fromthe South“ basiert dabei jedoch nicht aufeiner Verabsolutierung kultureller Diffe-renz. Die Comaroffs beharren darauf, dasses bei ihrem Projekt „nicht um die Theori-en von Menschen geht, die ganz oder zumTeil aus dem Süden kommen (…) vielmehrgeht es um den Effekt des Südensselbst aufdie Theorie.“ ❙18 Mit anderen Worten: Alter-

    ❙18 Jean Comaroff /John Comaroff, Theory from

    the South: A Rejoinder, in: Cultural AnthropologyOnline, 25. 2. 2012,http://culanth.org/ eldsights/273- theory-from-the-south-a-rejoinder (10. 9. 2015).

    http://culanth.org/fieldsights/273-theory-from-the-south-a-rejoinderhttp://culanth.org/fieldsights/273-theory-from-the-south-a-rejoinderhttp://culanth.org/fieldsights/273-theory-from-the-south-a-rejoinderhttp://culanth.org/fieldsights/273-theory-from-the-south-a-rejoinderhttp://culanth.org/fieldsights/273-theory-from-the-south-a-rejoinderhttp://culanth.org/fieldsights/273-theory-from-the-south-a-rejoinder

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    native Positionen nehmen unterschiedlichehistorische Erfahrungen zum Ausgangs-punkt – aber sie gehen nicht davon aus, dassWissenschaftler diese Erfahrungen selbstvoll und ganz durchlebt haben müssen. Vomglobalen Süden aus zu schreiben, bezeichnet

    dann nicht in erster Linie eine geogra scheoder ethnische, sondern eine epistemologi-sche Position. ❙19

    Das gilt umso mehr, als die Geschichteder Welt – wie überhaupt wissenschaftlicheTexte – in erster Linie von Mitgliedern derintellektuellen und urbanen Mittelschichtenverfasst werden. Es wäre daher irreführendanzunehmen, dass zivilisatorische oder na-tionale Besonderheiten das zentrale Unter-scheidungskriterium darstellen. Der ein-

    ussreiche Kulturdiskurs der Gegenwartsuggeriert, dass Ungleichheit und konkur-rierende Positionen in der globalisiertenWelt vor allem auf nationale oder gar kul-turelle Differenzen zurückgeführt werdenkönnten. Eine solche Annahme verschleiertdie materiellen und strukturellen Faktoren,die die globale politische Ökonomie heutedominieren. ❙20

    ❙19 Vgl. dies., Der Süden als Vorreiter der Globali-sierung. Neue postkoloniale Perspektiven, Frank-furt/M. 2012.❙20 Vgl. Arif Dirlik, Culture and History in Post-Re-volutionary China: The Perspective of Global Mo-

    dernity, Hong Kong 2011.

    Gert Krell · Peter Schlotter

    Weltbilder undWeltordnung inden InternationalenBeziehungen

    Gert KrellDr. phil., geb. 1945; Professorem. für Internationale Bezie-hungen im Fachbereich Ge-sellschaftswissenschaften derGoethe-Universität Frankfurtam Main, Theodor-W.-Adorno-Platz 6, 60323 Frankfurt/M. www.gert-krell.de

    Peter SchlotterDr. phil., geb. 1945; Professor

    für Internationale Beziehun-gen am Institut für PolitischeWissenschaft der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg, Berg-heimer Str. 58, 69115 [email protected]

    Dass die Welt, in der sie lebten, eine be-stimmte Ordnung hatte, haben dieMenschen zu allen Zeiten angenommen. Indie frühen Vorstellun-

    gen von Weltordnungwar stets der Kosmoseinbezogen, spieltenandere Akteure als dieMenschen, also Tiere,Fabelwesen, Geisterund vor allem Göt-ter eine wichtige Rol-le. Die mythisch oderreligiös geprägten his-torischen Weltbilderhaben sich im Verlaufder Moderne säkulari-siert und wurden vonpolitischen Ideologienabgelöst, wobei teil-weise heilsgeschicht-liche Traditionen inrationalistischer Ver-kleidung überlebten.Die konservativen („realistischen“❙1), libera-len, marxistischen, neuerdings auch feminis-tischen Weltbilder in den Internationalen Be-ziehungen – groß ächige Deutungsmusterdes „Wesens“ der Weltpolitik❙2 – sind eng ver-bunden mit Vorstellungen von Weltordnung,ihren Möglichkeiten und Grenzen.

    Weltordnungskonzepte befassen sich da-mit, wie die Welt organisiert oder struk-turiert ist beziehungsweise wie sie es seinsollte. Dabei steht immer auch die Frage imRaum, was eine „gute“ (Welt-)Ordnung ist.Das reicht von Minimalbedingungen für Ko-existenz bis zu einer Ordnung, die Koope-ration institutionalisiert und Kon ikte soeinhegt, dass alle Nationen und ihre Bevöl-kerungen in Frieden und Wohlstand leben,

    http://www.gert-krell.de/mailto:[email protected]:[email protected]:[email protected]:[email protected]://www.gert-krell.de/

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    die Nachhaltigkeit verbessern und Minimal-standards für Menschenwürde einhalten. ImFolgenden betrachten wir einige ausgewähl-te Weltordnungskonzepte, die auf unter-schiedliche Denktraditionen aufbauen, undspannen dabei den Bogen von souveränitäts-

    basierten, also staatenzentrierten Vorstellun-gen zu überstaatlichen Weltordnungen undModellen globaler Vergesellschaftung undWeltstaatlichkeit.

    StaatenkonkurrenzSeit dem Aufkommen der Hochkulturen inOstasien, im Zwei-Strom-Land und in Ägyp-ten nden wir staatsähnlich organisierte Ge-sellschaften: Die Antike kannte die griechi-

    sche Polis, die hellenistischen Monarchien,die römische Republik und das Imperium Ro-manum – nach Max Webers Typologie „tra-ditionale Staaten“. Aber erst mit Beginn derNeuzeit entwickelte sich als Ergebnis langerpolitischer, gesellschaftlicher und wirtschaft-licher Auseinandersetzungen in Europa das,was wir heute unter „Staat“ verstehen. Durchden europäischen Staatenbildungsprozessentstanden verfasste Gesellschaften, die ih-ren Bürgerinnen und Bürgern Sicherheit undOrdnung, vor allem Schutz vor Bürgerkrieg,prospektiv auch Wohlstand versprechen, undin denen ihre Existenz zentral durch das Le-ben in einem Staat bestimmt ist.

    Im Zuge des Kolonialismus und Imperi-alismus wurde diese Idee von Staatlichkeitals Instrument der Sicherheits- und Wohl-standsgewährleistung universalisiert. Es gibtheute auf der Erde keine staatsfreien Räumemehr in dem Sinne, dass nicht jeder Winkelder Welt staatlich verfasst wäre oder zumin-

    ❙1 Im Fachgebiet der Internationalen Beziehungen(IB) entspricht der sogenannte Realismus dem Kon-servativismus in der allgemeinen politischen Theorie.❙2

    Gert Krell, Weltbilder und Weltordnung. Einfüh-rung in die Theorie der internationalen Beziehungen,Baden-Baden 20094.

    Dieser Beitrag basiert auf einem längeren Forschungs-bericht, vgl. Gert Krell/Peter Schlotter, ZwischenStaatenwelt und Weltstaat. Zur Diskussion überWeltordnung und Weltfrieden, PRIF Working Pa- per 21/2014, www.hsfk.de/ leadmin/downloads/ PRIF_WP_21.pdf (15. 9. 2015); sowie dies., Welt-ordnungskonzepte, in: Carlo Masala/Frank Sau-er (Hrsg.), Handbuch der Internationalen Bezie-hungen, Wiesbaden 2015 (i. E.),link.springer.com/ book/10.1007/978-3-531-19954-2 (15. 9. 2015).

    dest von irgendeinem Staat beansprucht wür-de. Das seit dem 17. Jahrhundert parallel zurHerausbildung der Westfälischen Ordnungentwickelte Völkerrecht ist im Kern ein Staa-tenverkehrsrecht. Die UNO ist ein Staaten-bund; staatenlose Völker haben es schwer, in

    der Welt Gehör zu nden. Staaten erlangenerst dann äußere Souveränität, wenn sie vonanderen Staaten anerkannt werden.

    In diesem Modell wird von dem fundamen-talen Tatbestand ausgegangen, dass eine Lö-sung des Problems der menschlichen Unsi-cherheit, wie sie im innergesellschaftlichenBereich möglich ist, nämlich eine souverä-ne Staatsgewalt zu installieren, sich auf zwi-schenstaatlicher Ebene nicht realisieren lässt.Wie kann es dennoch Ordnung geben, denn

    auch die Welt der Staaten ist ein Ordnungs-modell? Die Theorien des Realismus gehendavon aus, dass die Konkurrenz um Sicher-heit und Macht prinzipiell nicht überwindbarist und deshalb Frieden nie mehr sein kann alsein instabiler Waffenstillstand zwischen Staa-ten, die zu ihrer Sicherheit und bei Strafe desUntergangs auf Machtpolitik setzen müssen.Dass dennoch nicht ständig Krieg herrscht,liegt an zwei Mustern, die die Weltpolitik be-stimmen. Zum einen pendelt sich gewisser-maßen hinter dem Rücken der Staaten immerwieder ein Machtgleichgewicht ein, das siezu einem vorsichtigen Verhalten veranlasst;zum anderen kann Hegemonie, also die füh-rende Stellung eines Staates, Kooperation inForm von Bündnissen oder internationalenRegelwerken ermöglichen.❙3 Die Sicherheits-gewährleistung durch militärische Rückver-sicherung bleibt jedoch Grundlage der inter-nationalen Politik.

    Liberale FriedensordnungenSeit der Aufklärung, vor allem jedoch im19. Jahrhundert kamen Weltordnungskonzep-te auf, die zwar auch von der Souveränität derEinzelstaaten ausgehen, sie aber mit Friedens-ideen verbinden. Trotz Staatenkonkurrenzsind für die liberale Tradition Kooperationund (Welt-)Frieden realisierbare Perspektiven.Der Liberalismus setzt dabei unter anderemauf Freihandel und Demokratie.

    ❙3

    Vgl. Ulrich Menzel, Die Ordnung der Welt. Impe-rium oder Hegemonie in der Hierarchie der Staaten-welt, Berlin 2015.

    http://www.hsfk.de/fileadmin/downloads/PRIF_WP_21.pdfhttp://www.hsfk.de/fileadmin/downloads/PRIF_WP_21.pdfhttp://link.springer.com/book/10.1007/978-3-531-19954-2http://link.springer.com/book/10.1007/978-3-531-19954-2http://link.springer.com/book/10.1007/978-3-531-19954-2http://link.springer.com/book/10.1007/978-3-531-19954-2http://www.hsfk.de/fileadmin/downloads/PRIF_WP_21.pdfhttp://www.hsfk.de/fileadmin/downloads/PRIF_WP_21.pdf

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    Die Hoffnungen des deutschen Philoso-phen Immanuel Kant (1724–1804) auf die po-sitiven Wirkungen des Handels für den Fort-schritt der Menschheit wurden zunächstvon vielen Aufklärern und vor allem von derFreihandelsbewegung des 19. Jahrhunderts

    geteilt. Die Handelsfreiheit, wie es in denzeitgenössischen Texten heißt, fördere denWohlstand; sie führe im Grunde nur zu einererweiterten Form der Arbeitsteilung, von deralle pro tierten. Ha