41
Weimarer Klassik 9 Faust II, Rezeption der Faustdichtung Helmut Galle [email protected] Sala 34 Plantao 4ª feira 11.00-12.00 e 18.00 -19.00 Departamento de Letras Modernas

Weimarer Klassik 2 Goethes Anfänge

  • Upload
    others

  • View
    13

  • Download
    0

Embed Size (px)

Citation preview

Page 1: Weimarer Klassik 2 Goethes Anfänge

Weimarer Klassik

9 Faust II, Rezeption der Faustdichtung

Helmut Galle [email protected] Sala 34 Plantao 4ª feira 11.00-12.00 e 18.00 -19.00 Departamento de Letras Modernas

Page 2: Weimarer Klassik 2 Goethes Anfänge

Faust. Der Tragödie zweiter Teil in fünf Akten

• Arbeit am Text ca. 20 Jahre (1805-1831, systematisch: 1827-1831)

• Nach Abschluss Versiegelung des Manuskripts

• Publikation posthum 1832

• Komposition: 5 Akte, jeweils in sich geschlossene Einheiten

• Ästhetik:

• Epischer Grundzug: Reihung selbstständiger Teile Allegorik tritt zur Natursymbolik Auflösung des Subjektiv-Individuellen Metamorphosen Objektive Welt: Historisches und Universales Dialektik von Romantik und Klassik

• Goethe: „Schwammfamilie“, „inkommensurabel“, nicht „die magere Schnur einer einzigen durchgehenden Idee“

• Künstlichkeit: Opernhaftigkeit

• Kompendium der Versformen

Page 3: Weimarer Klassik 2 Goethes Anfänge

Faust II: Handlung

• Handlung: Fausts Weg über „Stationen“: Am Kaiserhof; Suche nach Helena; Karriere als Unternehmer

• Fahrt durch die „Große Welt“

– Politisch und sozial: Ebene des Kaisers und des Reichs, Weltpolitik

– Geographisch: von den Hochgebirgen bis ans Meer

– Naturgeschichte

– Historisch: vom archaischen Griechenland durch die Klassik und das Mittelalter bis in die Gegenwart der Moderne

– Philosophisch: alle Sphären menschlichen Denkens, der Wissenschaft und der Kultur umfassend

Page 4: Weimarer Klassik 2 Goethes Anfänge

1. Akt: „Anmutige Gegend“: Fausts Heilschlaf; „Kaiserliche Pfalz“: Karneval, Papiergeld, Beschwörung Helenas

2. Akt: „Hochgewölbtes, enges gotisches Zimmer“; „Laboratorium“: Homunkulus; „Klassische Walpurgisnacht“

3. Akt: „Vor dem Palaste des Menelas“; „Innerer Burghof“; „Arkadien“: Faust und Helena, Euphorion

4. Akt: „Hochgebirg“; „Auf dem Vorgebirg“; „Des Gegenkaisers Zelt, Thron“: Krieg und Umsturz

5. Akt: „Offene Gegend“: Philemon und Baucis; „Palast. Weiter Ziergarten; großer Kanal“: Kolonisation; „Mitternacht“: Sorge; „Großer Vorhof des Palasts“: Ende Fausts; „Grablegung“: Mephisto verliert den Kampf um Faust; „Bergschluchten, Wald, Fels. Einöde“: Anachoreten, Engel, Heilige

Page 5: Weimarer Klassik 2 Goethes Anfänge

Zeitalter Themen

1. Akt Spätmittelalter ständische Gesellschaft Finanzwelt Medien

2. Akt 19. Jahrhundert Zukunft mythische Vorzeit

Subjektphilosophie Künstlicher Mensch Natur / Geist

3. Akt Antike / Moderne Klassik und Romantik, Kunst

4. Akt Neuzeit: Krise des Feudalismus

Krieg, Revolution, Herrschaft

5. Akt Neuzeit: Bürgerliche Gesellschaft ---- Ewigkeit

Kapitalismus, Arbeit, Imperialismus Naturbeherrschung Mensch im Kosmos

Page 6: Weimarer Klassik 2 Goethes Anfänge

Darstellung und implizite Kritik von zivilisatorischem Fortschritt und Technik

• Moderne Finanzsysteme: Papiergeld und Anleihe (1. Akt)

• Repräsentation von Simulakren (1. Akt)

• Erschaffung des Künstlichen Menschen (2. Akt)

• Unbedingtheit des romantischen Subjekts (3. Akt)

• Bürgerkrieg und Krieg als Zerstörung von politischen und sozialen Strukturen (4. Akt)

• Kolonisierung, Ausbeutung und Zerstörung von Natur (5. Akt)

• Zerstörung traditioneller Lebensformen (5. Akt)

• Vernichtung von Menschen um des Fortschritts willen (5. Akt)

Page 7: Weimarer Klassik 2 Goethes Anfänge

1. Akt, „Saal des Thrones“ MEPHISTOPHELES. Wo fehlt's nicht irgendwo auf dieser Welt? Dem dies, dem das, hier aber fehlt das Geld. Vom Estrich zwar ist es nicht aufzuraffen; Doch Weisheit weiß das Tiefste herzuschaffen. In Bergesadern, Mauergründen Ist Gold gemünzt und ungemünzt zu finden, Und fragt ihr mich, wer es zutage schafft: Begabten Manns Natur- und Geisteskraft. [...] KANZLER der langsam herankommt. Beglückt genug in meinen alten Tagen. – So hört und schaut das schicksalschwere Blatt, Das alles Weh in Wohl verwandelt hat. Er liest. »Zu wissen sei es jedem, der's begehrt: Der Zettel hier ist tausend Kronen wert. Ihm liegt gesichert, als gewisses Pfand, Unzahl vergrabnen Guts im Kaiserland. Nun ist gesorgt, damit der reiche Schatz, Sogleich gehoben, diene zum Ersatz.« KAISER. Ich ahne Frevel, ungeheuren Trug! Wer fälschte hier des Kaisers Namenszug? Ist solch Verbrechen ungestraft geblieben?

SCHATZMEISTER. Erinnre dich! hast selbst es unterschrieben; Erst heute nacht. Du standst als großer Pan, Der Kanzler sprach mit uns zu dir heran: »Gewähre dir das hohe Festvergnügen, Des Volkes Heil, mit wenig Federzügen.« Du zogst sie rein, dann ward's in dieser Nacht Durch Tausendkünstler schnell vertausendfacht. Damit die Wohltat allen gleich gedeihe, So stempelten wir gleich die ganze Reihe, Zehn, Dreißig, Funfzig, Hundert sind parat. Ihr denkt euch nicht, wie wohl's dem Volke tat. Seht eure Stadt, sonst halb im Tod verschimmelt, Wie alles lebt und lustgenießend wimmelt! Obschon dein Name längst die Welt beglückt, Man hat ihn nie so freundlich angeblickt. Das Alphabet ist nun erst überzählig, In diesem Zeichen wird nun jeder selig. KAISER. Und meinen Leuten gilt's für gutes Gold? Dem Heer, dem Hofe gnügt's zu vollem Sold? So sehr mich's wundert, muß ich's gelten lassen.

Page 8: Weimarer Klassik 2 Goethes Anfänge

2. Akt, „Laboratorium“ WAGNER ängstlich. Willkommen zu dem Stern der Stunde! Leise. Doch haltet Wort und Atem fest im Munde, Ein herrlich Werk ist gleich zustand gebracht. MEPHISTOPHELES leiser. Was gibt es denn? WAGNER leiser. Es wird ein Mensch gemacht.[209] MEPHISTOPHELES. Ein Mensch? Und welch verliebtes Paar Habt ihr ins Rauchloch eingeschlossen?

WAGNER. Behüte Gott! wie sonst das Zeugen Mode war, Erklären wir für eitel Possen. Der zarte Punkt, aus dem das Leben sprang, Die holde Kraft, die aus dem Innern drang Und nahm und gab, bestimmt sich selbst zu zeichnen, Erst Nächstes, dann sich Fremdes anzueignen, Die ist von ihrer Würde nun entsetzt; Wenn sich das Tier noch weiter dran ergetzt, So muß der Mensch mit seinen großen Gaben Doch künftig höhern, höhern Ursprung haben.

Page 9: Weimarer Klassik 2 Goethes Anfänge

Goethe: Satyrn (1790)

Page 10: Weimarer Klassik 2 Goethes Anfänge

Versuchte Synthese von Klassik und Romantik

• Der Helena-Akt als Begegnung von Antike und Moderne in Gestalt von Helena und Faust, ihren beiden zentralen Mythen

• Synthese in Gestalt der Anverwandlung der poetischen Formen: aus jambischen Trimetern werden Reimverse

• Aus der Liebe von Faust und Helena geht ein wunderbares Kind hervor (Euphorion), das aber nicht wirklich lebensfähig ist

Page 11: Weimarer Klassik 2 Goethes Anfänge

Helenas Auftrittsmonolog Helena tritt auf und Chor gefangener Trojanerinnen. Panthalis, Chorführerin. HELENA. Bewundert viel und viel gescholten, Helena, Vom Strande komm' ich, wo wir erst gelandet sind, Noch immer trunken von des Gewoges regsamem Geschaukel, das vom phrygischen Blachgefild uns her Auf sträubig-hohem Rücken, durch Poseidons Gunst Und Euros' Kraft, in vaterländische Buchten trug. Dort unten freuet nun der König Menelas Der Rückkehr samt den tapfersten seiner Krieger sich. Du aber heiße mich willkommen, hohes Haus, Das Tyndareos, mein Vater, nah dem Hange sich Von Pallas' Hügel wiederkehrend aufgebaut Und, als ich hier mit Klytämnestren schwesterlich, Mit Kastor auch und Pollux fröhlich spielend wuchs,

Page 12: Weimarer Klassik 2 Goethes Anfänge

Vor allen Häusern Spartas herrlich ausgeschmückt.

Gegrüßet seid mir, der ehrnen Pforte Flügel ihr!

Durch euer gastlich ladendes Weit-Eröffnen einst

Geschah's, daß mir, erwählt aus vielen, Menelas

In Bräutigamsgestalt entgegenleuchtete.

Eröffnet mir sie wieder, daß ich ein Eilgebot

Des Königs treu erfülle, wie der Gattin ziemt.

Laßt mich hinein! und alles bleibe hinter mir,

Was mich umstürmte bis hieher, verhängnisvoll.

Denn seit ich diese Schwelle sorgenlos verließ,

Cytherens Tempel besuchend, heiliger Pflicht gemäß,

Mich aber dort ein Räuber griff, der phrygische,

Ist viel geschehen, was die Menschen weit und breit

So gern erzählen, aber der nicht gerne hört,

Von dem die Sage wachsend sich zum Märchen spann.

Page 13: Weimarer Klassik 2 Goethes Anfänge

Helena Bühnenbild von Goethe (1830)

Page 14: Weimarer Klassik 2 Goethes Anfänge

5. Akt, „Tiefe Nacht“: Der Untergang der Alten Welt

LYNKEUS DER TÜRMER auf der Schloßwarte, singend. Zum Sehen geboren, Zum Schauen bestellt, Dem Turme geschworen, Gefällt mir die Welt. Ich blick' in die Ferne, Ich seh' in der Näh' Den Mond und die Sterne, Den Wald und das Reh. So seh' ich in allen Die ewige Zier, Und wie mir's gefallen, Gefall' ich auch mir. Ihr glücklichen Augen,

Was je ihr gesehn, Es sei wie es wolle, Es war doch so schön! Pause. Nicht allein mich zu ergetzen, Bin ich hier so hoch gestellt; Welch ein greuliches Entsetzen Droht mir aus der finstern Welt!

[…] Lange Pause, Gesang. Was sich sonst dem Blick empfohlen, Mit Jahrhunderten ist hin.

Page 15: Weimarer Klassik 2 Goethes Anfänge

MEPHISTOPHELES UND DIE DREIE unten.

Da kommen wir mit vollem Trab;

Verzeiht! es ging nicht gütlich ab.

Wir klopften an, wir pochten an,

Und immer ward nicht aufgetan;

[…]

In wilden Kampfes kurzer Zeit

Von Kohlen, ringsumher gestreut,

Entflammte Stroh. Nun lodert's frei,

Als Scheiterhaufen dieser drei.

FAUST.

Wart ihr für meine Worte taub?

Tausch wollt' ich, wollte keinen Raub.

Dem unbesonnenen wilden Streich,

Ihm fluch' ich; teilt es unter euch!

Page 16: Weimarer Klassik 2 Goethes Anfänge

Fausts letzte Worte FAUST. Ein Sumpf zieht am Gebirge hin, Verpestet alles schon Errungene; Den faulen Pfuhl auch abzuziehn, Das Letzte wär' das Höchsterrungene. Eröffn' ich Räume vielen Millionen, Nicht sicher zwar, doch tätig-frei zu wohnen. Grün das Gefilde, fruchtbar; Mensch und Herde Sogleich behaglich auf der neusten Erde, Gleich angesiedelt an des Hügels Kraft, Den aufgewälzt kühn-emsige Völkerschaft. Im Innern hier ein paradiesisch Land, Da rase draußen Flut bis auf zum Rand, Und wie sie nascht, gewaltsam einzuschießen, Gemeindrang eilt, die Lücke zu verschließen. Ja! diesem Sinne bin ich ganz ergeben, Das ist der Weisheit letzter Schluß: Nur der verdient sich Freiheit wie das Leben,

Der täglich sie erobern muß. Und so verbringt, umrungen von Gefahr, Hier Kindheit, Mann und Greis sein tüchtig Jahr. Solch ein Gewimmel möcht' ich sehn, Auf freiem Grund mit freiem Volke stehn. Zum Augenblicke dürft' ich sagen: Verweile doch, du bist so schön! Es kann die Spur von meinen Erdetagen Nicht in Äonen untergehn. – Im Vorgefühl von solchem hohen Glück Genieß' ich jetzt den höchsten Augenblick. Faust sinkt zurück, die Lemuren fassen ihn auf und legen ihn auf den Boden.

Page 17: Weimarer Klassik 2 Goethes Anfänge

Die Schlussszene

„In diesen Versen [(11934–11941)]“, sagte er [(Goethe)], „ist der Schlüssel zu Fausts Rettung enthalten. In Faust selber eine immer höhere und reinere Tätigkeit bis ans Ende, und von oben die ihm zu Hilfe kommende ewige Liebe. Es steht dieses mit unserer religiösen Vorstellung durchaus in Harmonie, nach welcher wir nicht bloß durch eigene Kraft selig werden, sondern durch die hinzukommende göttliche Gnade.“ (Eckermann)

Engel schwebend in der höheren Atmosphäre, Faustens Unsterbliches tragend.

Gerettet ist das edle Glied

Der Geisterwelt vom Bösen,

Wer immer strebend sich bemüht,

Den können wir erlösen.

Und hat an ihm die Liebe gar

Von oben teilgenommen,

Begegnet ihm die selige Schar

Mit herzlichem Willkommen.

Page 18: Weimarer Klassik 2 Goethes Anfänge

CHORUS MYSTICUS.

Alles Vergängliche

Ist nur ein Gleichnis;

Das Unzulängliche,

Hier wird's Ereignis;

Das Unbeschreibliche,

Hier ist's getan;

Das Ewig-Weibliche

Zieht uns hinan.

Finis.

Page 19: Weimarer Klassik 2 Goethes Anfänge

Aufführungen

• Der Faust galt als auf dem Theater unspielbar

• Seit 1819 kam es zu Aufführungen einzelner Szenen von Faust I

• 1829 die erste fast vollständige Aufführung in Braunschweig (ohne Vorspiele, „Abend“ und „Walpurgisnacht“)

• 1829 Aufführung am Weimarer Hoftheater (zensurbedingte Streichungen aller religionskritischen Passagen)

• 1876/76 Uraufführung des 2. Teils in Weimar

• 1909 / 1933 / Inszenierungen Max Reinhardts

• 1932 Gründgens als Mephisto im Preußischen Staatstheater

• 1938 Dornach, Goetheanum: beide Teile ungekürzt: anthroposophisches Weihespiel

• 1952 Berliner Ensemble (Brecht): Urfaust

• 1956/57 Hamburger Schauspielhaus: Gründgens

• 2000 Peter Stein: beide Teile ungekürzt (DVD-Fassung) 15 Stunden

Page 20: Weimarer Klassik 2 Goethes Anfänge

Peter Cornelius:

Garten-häuschen

Page 21: Weimarer Klassik 2 Goethes Anfänge

Moritz Retzsch 1836: Homunkulus

Page 22: Weimarer Klassik 2 Goethes Anfänge

Hans Barlach: Faust und Mephisto

Page 23: Weimarer Klassik 2 Goethes Anfänge

Max Beckmann:

Faust

Page 25: Weimarer Klassik 2 Goethes Anfänge

Berlioz: La Damnation

de Faust (1846)

https://www.youtube.com/watch?v=n

RrkkPzhgmc

Page 26: Weimarer Klassik 2 Goethes Anfänge

Liszt: Faust-Symphonie (1857) https://www.youtube.com/watch?v=3ZUQ7yZTFco

Page 28: Weimarer Klassik 2 Goethes Anfänge

Friedrich Murnau: Faust. Eine Volkssage (1926)

Page 29: Weimarer Klassik 2 Goethes Anfänge

Will Quadflieg + Gustav Gründgens (1960) https://www.youtube.com/watch?v=u6Fjm01aULA

Page 30: Weimarer Klassik 2 Goethes Anfänge

Peter Stein: Faust I und II https://www.youtube.com/watch?v=TY2k7em45l4

Page 31: Weimarer Klassik 2 Goethes Anfänge

Sokurov: Faust (2011)

Page 32: Weimarer Klassik 2 Goethes Anfänge

Zitate zum Faust

Friedrich Schlegel: (Über das Studium der griechischen Poesie)

Ja wenn der »Faust« vollendet wäre, so würde er wahrscheinlich den »Hamlet«, das Meisterstück des Engländers, mit welchem er gleichen Zweck zu haben scheint, weit übertreffen. Was dort nur Schicksal, Begebenheit - Schwäche ist, das ist hier Gemüt, Handlung - Kraft. Hamlets Stimmung und Richtung nämlich ist ein Resultat seiner äußern Lage; Fausts ähnliche Richtung ist ursprünglicher Charakter. - Die Vielseitigkeit des darstellenden Vermögens dieses Dichters ist so gränzenlos, daß man ihn den Proteus unter den Künstlern nennen, und diesem Meergotte gleichstellen könnte (...)

Page 33: Weimarer Klassik 2 Goethes Anfänge

Arthur Schopenhauer (Die Welt als Wille und Vorstellung):

Von dieser durch großes Unglück und die Verzweiflung an aller Rettung herbeigeführten Verneinung des Willens hat uns eine deutliche und anschauliche Darstellung, wie mir sonst keine in der Poesie bekannt ist, der große Goethe, in seinem unsterblichen Meisterwerke, dem »Faust«, gegeben, an der Leidensgeschichte des Gretchens. Diese ist ein vollkommenes Musterbild des zweiten Weges, der zur Verneinung des Willens führt, nicht, wie der erste, durch die bloße Erkenntniß des Leidens einer ganzen Welt, das man sich freiwillig aneignet; sondern durch den selbstempfundenen, eigenen, überschwänglichen Schmerz.

Und andererseits, was treiben und singen, in Goethes »Faust«, Teufel und Hexen auf ihrem Sabbath? Unzucht und Zoten. Was docirt eben daselbst (in den vortrefflichen Paralipomenis zum Faust), vor der versammelten Menge, der leibhaftige Satan? - Unzucht und Zoten; nichts weiter. - Aber einzig und allein mittelst der fortwährenden Ausübung einer so beschaffenen Handlung besteht das Menschengeschlecht.

Page 34: Weimarer Klassik 2 Goethes Anfänge

Karl Marx (Ökonomisch-philosophische Manuskripte aus dem Jahre 1844,): Das Geld, indem es die Eigenschaft besitzt, alles zu kaufen, indem es die Eigenschaft besitzt, alle Gegenstände sich anzueignen, ist also der Gegenstand im eminenten Sinn. Die Universalität seiner Eigenschaft ist die Allmacht seines Wesens; es gilt daher als allmächtiges Wesen... Das Geld ist der Kuppler zwischen dem Bedürfnis und dem Gegenstand, zwischen dem Leben und dem Lebensmittel des Menschen. Was mir aber mein Leben vermittelt, das vermittelt mir auch das Dasein der andren Menschen für mich. Das ist für mich der andre Mensch. -

»Was Henker! Freilich Hand' und Füße Und Kopf und Hintre, die sind dein! Doch alles, was ich frisch genieße, Ist das drum weniger mein? Wenn ich sechs Hengste zahlen kann Sind ihre Kräfte nicht die meine? Ich renne zu und bin ein rechter Mann Als hätt' ich vierundzwanzig Beine.« Goethe, »Faust« (Mephisto)

Page 35: Weimarer Klassik 2 Goethes Anfänge

Friedrich Engels (Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft)

Sein »wirklich kritischer Standpunkt« gegenüber andern Leuten besteht darin, ihnen beharrlich Dinge unterzuschieben, die sie nie gesagt, und die Herrn Dührings eigenstes Fabrikat sind. Seine breiten Bettelsuppen über Spießbürgerthemata, wie der Wert des Lebens und die beste Art des Lebensgenusses, sind von einer Philisterhaftigkeit, die seinen Zorn gegen Goethes Faust erklärlich macht. Es war allerdings unverzeihlich von Goethe, den unmoralischen Faust zum Helden zu machen und nicht den ernsten Wirklichkeitsphilosophen Wagner.

Benedetto Croce:

„Wir müssen zugeben, dass wenige Werke so viele poetische Schönheiten enthalten, wie dieses Ungeheuer.“

Lew Tolstoi:

„der wortreichste Blödsinn von allem Blödsinn, der jemals geschrieben wurde“

Page 36: Weimarer Klassik 2 Goethes Anfänge

Sören Kierkegaard (Entweder-Oder): Faust und Don Juan sind Titanen und Giganten des Mittelalters, welche, was die Großartigkeit ihres Strebens und Ringens betrifft, von denen in der mythischen Vorzeit sich nicht unterscheiden, wohl aber darin, daß sie isoliert dastehen, keine Vereinigung von Kräften darstellen, welche erst durch Vereinigung zu himmelstürmenden werden; vielmehr ist alle Kraft in diesem einen Individuum konzentriert. Friedrich Nietzsche (Unzeitgemäße Betrachtungen): Goethe selbst hat in seiner Jugend mit seinem ganzen liebereichen Herzen an dem Evangelium von der guten Natur gehangen; sein Faust war das höchste und kühnste Abbild vom Menschen Rousseaus, wenigstens soweit dessen Heißhunger nach Leben, dessen Unzufriedenheit und Sehnsucht, dessen Umgang mit den Dämonen des Herzens darzustellen war. (...) Wenn der Deutsche aufhört, Faust zu sein, ist keine Gefahr größer als die, daß er ein Philister werde und dem Teufel verfalle - nur himmlische Mächte können ihn hiervon erlösen.

Page 37: Weimarer Klassik 2 Goethes Anfänge

Das „Faustische“

• Julius Langbehn: Rembrandt als Erzieher. 1890.

• Wiedergeburt des Deutschen aus dem Geiste Fausts.

• Oswald Spengler Der Untergang des Abendlands. 1918

• Abendländische Kultur der germanischen Völker, seit dem 9. Jahrhundert ist „faustisch“ (vs. „apollinisch“ und „magisch“): dynamisch, ins Unendliche strebend, historisch denkend

Page 38: Weimarer Klassik 2 Goethes Anfänge

T.W. Adorno (Noten zur Literatur: Zur Schlußszene des Faust): Dem heute unversöhnlich klaffenden Widerspruch zwischen der dichterisch integren Sprache und der kommunikativen sah bereits der alte Goethe sich gegenüber. Der zweite Teil des Faust ist einem Sprachverfall abgezwungen, der vorentschieden war, seitdem einmal die dinghaft geläufige Rede in die des Ausdrucks eindrang, die jener darum so wenig zu widerstehen vermag, weil die beiden feindlichen Medien doch zugleich eins sind, nie ganz gelöst voneinander. Was an Goethes Altersstil für gewaltsam gilt, sind wohl die Narben, die das dichterische Wort in der Abwehr des mitteilenden davontrug, diesem selber zuweilen ähnlich. Denn tatsächlich hat Goethe keine Gewalttat an der Sprache begangen. Er hat nicht, wie es am Ende unvermeidlich ward, mit der Kommunikation gebrochen und dem reinen Wort eine Autonomie zugemutet, wie sie, durch den Gleichklang mit dem vom Kommerz besudelten, allzeit prekär bleibt. Sondern sein restitutives Wesen trachtet, das besudelte als dichterisches zu erwecken. Wesentlich ist der großen Dichtung das Glück, das sie vorm Sturz bewahrt. Das Archaische der Silbe jedoch teilt sich mit, nicht als vergeblich romantisierende Beschwörung einer unwiederbringlichen Sprachschicht, sondern als Verfremdung der gegenwärtigen, die sie dem Zugriff entzieht. Dadurch wird sie zum Träger jener ungeselligen Moderne, von der Goethes Altersstil bis heute nichts einbüßte.

Page 39: Weimarer Klassik 2 Goethes Anfänge

André Gide (Tagebuch 26. Juni 1940! nach dem Blitzkrieg – am 16. Juni wird die Pétain-Regierung gebildet!):

„Nachdem ich mich lange von Faust II genährt habe, nehme ich den ersten Teil wieder vor, den ich offenbar weniger gut kannte, obgleich ich ihn viele Male gelesen hatte. Welche Schönheit, entdecke ich auch hier noch! Welche Überfülle! Hier ist alles von Leben gesättigt. Nie ist der Gedanke abstrakt, nie das Gefühl vom Gedanken abgelöst, so daß auch das Besondere noch mit allgemeinen Bedeutungen geladen und sozusagen beispielhaft ist. Goethe nähert sich den höchsten Regionen mit so viel Natürlichkeit, daß man sich mit ihm sofort dort sicheren Fußes bewegt.“

Harold Bloom (O Cânone ocidental)

Não me lembro de qualquer outro poeta que tenha herdado tanto do cânone ocidental quanto Goethe.

Page 40: Weimarer Klassik 2 Goethes Anfänge

Bibliographie

ADORNO, Theodor W. Zur Schlußszene des Faust (1959). Noten zur Literatur, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1998, p. 129–138.

BINSWANGER, Hans Christoph. Geld und Magie: Eine ökonomische Deutung von Goethes Faust. 2. ed. Hamburg: Murmann, 2005.

BLASCHKE, Bernd. Faust als Wagender, Faust als Wagnis. Goethes riskantes Werk über riskante Unternehmungen. In: Schmitz-Emans, M.; Braungart, G.; Geisenhanslüke, A.; Lubkoll, C. (Org.). Literatur als Wagnis / Literature as a Risk, Berlin, New York: de Gruyter, 2013, p. 678–701.

EIBL, Karl. Das monumentale Ich. Wege zu Goethes Faust. Frankfurt a. M.: Insel, 2000.

EMRICH, Wilhelm. Die Symbolik von Faust II. Königstein: Athenäum, 1981.

ENGELHARDT, Michael von. Der plutonische Faust. Eine motivgeschichtliche Studie zur Arbeit am Mythos in der Faust-Tradition. Frankfurt a. M.: Stroemfeld / Roter Stern, 1992.

GAIER, Ulrich. Fausts Modernität. Essays. Stuttgart: Reclam, 2000.

JAEGER, Michael. Fausts Kolonie. Goethes kritische Phänomenologie der Moderne. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2005.

Page 41: Weimarer Klassik 2 Goethes Anfänge

JAEGER, Michael. Global Player Faust oder Das Verschwinden der Gegenwart. Zur Aktualität Goethes. Berlin: wjs, 2008.

JAEGER, Michael. Global Player Faust oder Das Verschwinden der Gegenwart. Zur Aktualität Goethes. Berlin: wjs, 2008.

JAEGER, Michael. Wanderers Verstummen, Goethes Schweigen: Versuch über die andere Moderne. Würzburg: Königshausen u. Neumann, 2014. 600 S. ;

MATTENKLOTT, Gert. Faust II. In: Buck, T. (Org.). Goethe Handbuch Bd. 2 Dramen, Stuttgart: Metzler, 1997, p. 391–477.

MAZZARI, Marcus; Mazzari, Marcus V. Alegoria e símbolo em torno do Fausto de Goethe. Estudos Avançados, v. 29, n. 84, p. 277–304, 2015

SCHLAFFER, Heinz. Faust Zweiter Teil. Die Allegorie des 19. Jahrhunderts. Stuttgart: Metzler, 1981.

SCHMIDT, Jochen. Goethes Faust. Erster und Zweiter Teil. Grundlagen - Werk - Wirkung. München: Beck, 1999.Sudau, Ralf. Faust I und Faust II. München: Oldenbourg, 1998.

WELLBERY, David E. Faust and the Dialectic of Modernity. In: Wellbery, D. E.; Ryan, J. (Org.). A New History of German Literature, Cambridge, Massachussetts: Harvard University Press, 2004, p. 546–550

ZABKA, Thomas. Faust II - das Klassische und das Romantische. Berlin, New York: de Gruyter, 1993.