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Schweizerische Zeitschrift für Volkswirtschaft und Statistik Revue suisse d'Economie politique et de Statistique Nr. 4 103. Jahrgang 103 e année Dezember 1967 Décembre 1967 Von der politischen Arithmetik zur Wirtschafts- und Sozialmathematik Antrittsvorlesung, gehalten an derETH am l.Juli 1967 von Ernst Kaiser, Bern Am Titel dieser Vorlesung sind zwei verschiedene Begriffsgruppen deutlich erkennbar : die Politik, die Wirtschaft und das Soziale auf der einen Seite, die Arithmetik und die Mathematik auf der andern. Somit wird hier angewandte Mathematik getrieben, und unsere erste Aufgabe dürfte wohl sein, uns über die Wesenszüge des Anwendungsgebietes Rechenschaft zu geben. Bei der Politik handle es sich um die Geschäfte, die die Erhaltung und Höherführung des den Staat bildenden Volkes zum Inhalt habe, so lesen wir in einem Wörter- buch der philosophischen Begriffe. Die Politik will demnach das Volk in eine wohlgeordnete Gesellschaft überführen. Dabei sucht diese Gesellschaft ihr Wohlergehen, das spirituelle und das materielle. Zunächst wird sie Mass- nahmen treffen, um zwischen Produktion und Konsum der Güter und Dienst- leistungen das notwendige Gleichgewicht zu wahren, womit das Wesen der Wirtschaft mit ihrem Ziel des primären materiellen Wohlergehens knapp umschrieben ist. Was aber, wenn dieses wirtschaftliche Gleichgewicht zu- sammenbricht durch Eintritt eines störenden Ereignisses, wie Krankheit, Unfall, Alter oder gar Tod? Dann wird dieselbe geordnete Gesellschaft nach Massnahmen zur Verwirklichung des sekundären materiellen Wohlergehens suchen, und dieser Kampf gegen Notlagen kennzeichnet im wesentlichen das Soziale. Schon aus diesen einleitenden Betrachtungen scheint sich eine Definition der Wirtschafts- und Sozialmathematik abzuzeichnen: Gegenstand dieses Wissenszweiges ist die mathematische Erforschung der wirtschaftlichen und sozialen Vorgänge innerhalb des Gesellschaftskörpers. Zu einem Körper wird die menschliche Gesellschaft jedoch erst dann, wenn sie wohlgeordnet ist, wenn also die politischen Massnahmen ihre Wirkung erzielt haben. Die mathema- 437 30

Von der politischen Arithmetik zur Wirtschafts- und ... · Mathematik getrieben, und unsere erste Aufgabe dürfte wohl sein, uns über die Wesenszüge des Anwendungsgebietes Rechenschaft

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Schweizerische Zeitschrift für Volkswirtschaft und Statistik Revue suisse d'Economie politique et de Statistique

Nr. 4 103. Jahrgang 103e année Dezember 1967 Décembre 1967

Von der politischen Ari thmet ik zur

Wirtschafts- und Sozialmathematik

Antrittsvorlesung, gehalten an derETH am l.Juli 1967

von Ernst Kaiser, Bern

Am Titel dieser Vorlesung sind zwei verschiedene Begriffsgruppen deutlich erkennbar : die Politik, die Wirtschaft und das Soziale auf der einen Seite, die Arithmetik und die Mathematik auf der andern. Somit wird hier angewandte Mathematik getrieben, und unsere erste Aufgabe dürfte wohl sein, uns über die Wesenszüge des Anwendungsgebietes Rechenschaft zu geben. Bei der Politik handle es sich um die Geschäfte, die die Erhaltung und Höherführung des den Staat bildenden Volkes zum Inhalt habe, so lesen wir in einem Wörter­buch der philosophischen Begriffe. Die Politik will demnach das Volk in eine wohlgeordnete Gesellschaft überführen. Dabei sucht diese Gesellschaft ihr Wohlergehen, das spirituelle und das materielle. Zunächst wird sie Mass­nahmen treffen, um zwischen Produktion und Konsum der Güter und Dienst­leistungen das notwendige Gleichgewicht zu wahren, womit das Wesen der Wirtschaft mit ihrem Ziel des primären materiellen Wohlergehens knapp umschrieben ist. Was aber, wenn dieses wirtschaftliche Gleichgewicht zu­sammenbricht durch Eintritt eines störenden Ereignisses, wie Krankheit, Unfall, Alter oder gar Tod? Dann wird dieselbe geordnete Gesellschaft nach Massnahmen zur Verwirklichung des sekundären materiellen Wohlergehens suchen, und dieser Kampf gegen Notlagen kennzeichnet im wesentlichen das Soziale.

Schon aus diesen einleitenden Betrachtungen scheint sich eine Definition der Wirtschafts- und Sozialmathematik abzuzeichnen: Gegenstand dieses Wissenszweiges ist die mathematische Erforschung der wirtschaftlichen und sozialen Vorgänge innerhalb des Gesellschaftskörpers. Zu einem Körper wird die menschliche Gesellschaft jedoch erst dann, wenn sie wohlgeordnet ist, wenn also die politischen Massnahmen ihre Wirkung erzielt haben. Die mathema- 437 30

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tischen Aspekte dieser Massnahmen bildeten aber den Inhalt der schon vor ei­nem Jahrhundert begründeten politischen Arithmetik. So sei gleich vorweg­genommen: Politische Arithmetik sowie Wirtschafts- und Sozialmathema-tik sind ein und dieselbe Wissenschaft. Die zweiterwähnte Bezeichnungsweise darf füglich als eine Präzisierung der erstgenannten angesprochen werden, und zwar in doppelter Hinsicht. Erstens wird «Arithmetik» durch «Mathe­matik » ersetzt, und damit wird ausgedrückt, dass die Erforschung der Gesell­schaftsvorgänge sich nicht mit den einfachen Methoden der Schularithmetik begnügen kann, sondern immer mehr alle Zweige der Mathematik bean­spruchen muss. Zweitens tritt «Wirtschaft und Soziales» an die Stelle von « Politik » 5 zu Recht, glauben wir, denn die Politik sollte nicht nur die mate­rielle, sondern auch die spirituelle Entwicklung eines Volkes bezwecken, wo­gegen der Akzent des Wirtschaftlichen und Sozialen eindeutig auf dem materiellen Wohlergehen liegt.

Eine umfassende chronologische Schau soll das Leitmotiv unserer Antritts­vorlesung bilden. Probleme von gestern mit ihren geschichtlichen Phasen und mit den Beiträgen der schweizerischen Wissenschaft führen über zu den Problemen von heute, als deren Vertreter wir die globale und sektorielle Analyse der sozialen Ökonometrie sowie die Harmonisierung der wirtschaft­lichen und sozialen Dynamik ausgewählt haben. Schliesslich sind es Probleme von morgen mit ihren theoretischen und praktischen Aspekten, denen wir abschliessend unsere wissenschaftliche Neugier zuwenden möchten.

I. Probleme von gestern

1. Geschichtliche Hauptphasen

Id. Um die Ursprünge unseres Wissenszweiges zu erkennen, müssen wir 10000 Jahre zurückblicken. Damals begann die Eisdecke über unserer nörd­lichen Hemisphäre zu schmelzen, und so änderte sich auch die Einstellung der Menschen zur Natur. Bis dahin war ihre Einstellung rein passiv; die damaligen Nomaden mussten sich auf das Sammeln der Nahrung beschränken. Nun war aber der Weg zum aktiven Verhalten offen, das Sammeln konnte dem Produ­zieren der Nahrung Platz machen, der Weg zur sesshaften Landwirtschaft war frei.

Bald rief die landwirtschaftliche Tätigkeit nach anderer mikroökonomi­scher Aktivität, Kleingewerbe und Kleinhandel traten auf den Plan und damit auch das Abzählen von Gegenständen mit den Fingern, das räumliche Messen,

438 z. B. mittels Gefässen, und das Messen der Zeit durch Beobachtung von Mond,

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Sonne und Sternen. Die grundlegenden Variablenräume unserer angewandten Wissenschaft waren geboren. Das Stadium der makroökonomischen Tätigkei­ten liess auch nicht allzu lange auf sich warten. Die Koordination der Produk­tion räumlich verhältnismässig weit auseinanderliegender Gebiete gab Anlass zur Schaffung des Beamtentums, dessen Vertreter zur Lösung spezifischer Probleme, wie Anlage von Vorräten und Einzug von Steuern, die Kunst des Rechnens und Messens weiterentwickelten.

Die Ablösung der Bronzezeit durch die Eisenzeit vor etwa 3000 Jahren brachte eine allgemeine wirtschaftliche Neubelebung. Ein neuer Menschentyp der Handelskaufmann, trat in Erscheinung, und diesem Typ entstammte denn auch der traditionelle Vater der griechischen Mathematik, Thaies von Milet. Die folgenden wirtschaftlichen Impulse gingen vom Gebrauch der Maschine aus, und damit dürfte der grosse Name von Archimedes unzertrennbar ver­bunden sein. Vor allem eines möchten wir mit diesen Hinweisen belegen : Die Mathematik ist ein Kind der Wirtschaft $ bevor sie reine Mathematik war, war sie Wirtschaftsmathematik.

1.2. Um mit Stephan Zweig zu sprechen, hat auch unser Wissenszweig seine Sternstunden gehabt. Sie folgten einer das ganze Mittelalter anhaltenden tausendjährigen Stagnation der exakten Wissenschaften. Um so eindrucks­voller leuchtet dann die Trilogie der Sternstunden der Wirtschafts- und Sozial-mathematik, welche uns in folgenden wissenschaftlichen Errungenschaften entgegentritt :

— Die Wahrscheinlichkeitsrechnung, deren geldspielerische Ursprünge auf einen Briefwechsel aus dem Jahre 1654 zwischen den beiden französischen Philosophen-Mathematikern Pascal und Fermât zurückgeführt werden.

— Die Finanzmathematik, deren Vater kein geringerer als das deutsche Univer­salgenie Leibniz ist. Schon 1666 spricht er in seinem Werk « Dissertatio de arte combinatoria» vom «Interusurium», dem Zins, und schafft die Grundlagen der Zinseszins- und Rentenrechnung. Hat nicht auch er auf die ständige Geldentwertung hingewiesen und gar als Vorläufer des nach­stehenden französisch-englischen Dreigestirns den Gedanken zur Errich­tung einer staatlichen Versicherungsanstalt vorgebracht? Fürwahr, bereits ein vollständiger Wirtschafts- und Sozialmathematiker !

— Die Lebensversicherungstheorie, deren mathematische Fundierung dem nach England ausgewanderten Franzosen A. de Moivre, seinem englischen Schüler James Dodson sowie seinem englischen Kollegen Thomas Simpson zugeschrieben werden kann, wobei die letztgenannten als Begründer des individuellen Äquivalenzprinzips auftreten, und zwar um das Jahr 1762. 439

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l.ß. Kaum sind diese Grundlagen gelegt, entfaltet sich eine ungestüme Weiterentwicklung in den drei genannten Gebieten, aber auch in vier anderen Fachrichtungen. Wir können sie nur kurz in ihren Anfängen andeuten :

- Die Bevölkerungsstatistik, in der sich als Vorläufer schon der Astronome E. Halley hervorgetan hat. Als zweiten Namen möchten wir in diesem Zu­sammenhang denjenigen von Leonhard Euler unterstreichen mit seinem 1767 erschienenen Werk: «Recherches générales sur la mortalité et la multiplication du genre humain», welches das bekannte Exponenti algesetz für die Bevölkerungsentwicklung enthält und die kritische Haltung von Malthus hervorrief, der es einer nur linear zunehmenden Nahrungsmenge gegenüberstellt. Sodann sei der Name von A. Quetelet erwähnt mit seiner bahnbrechenden «Physique sociale» aus dem Jahre 1869.

- Die mathematische Schule der Volkswirtschaft, welche 1896 von Vilfredo Pareto mit seinem grossangelegten Werk «Cours d'économie politique» begründet wurde. Die eigentliche Ökonometrie dagegen wurde erst 1930 in den USA ins Leben gerufen, wobei besonders der Name von Irving Fisher bekannt sein dürfte.

- Die stochastischen Wissenszweige, besonders die Spieltheorie und die Unternehmensforschung, sind ebenfalls amerikanischen Ursprungs, und ihre Anfänge liegen nur wenige Jahrzehnte zurück. Heute erfahren diese Zweige eine Blütezeit. Die Spieltheorie kann im wesentlichen / . von Neu­mann und O. Morgenstern zugeschrieben werden, und die drei ersten Haupt­vertreter der Unternehmungsforschung heissen Churmann, Ackoff und Arnoff.

- Die mathematische Lehre der sozialen Sicherheit ist ebenfalls eine Erschei­nung der Mitte dieses Jahrhunderts. Ihre Geschichte beginnt mit dem Buch, das Lucien Féraud im Auftrag des Internationalen Arbeitsamtes geschrieben hat: «Technique actuarielle et organisation financière des assurances sociales» (Genève 1940).

2. Beiträge der schweizerischen Wissenschaft

2.1. Treten wir unseren Gang durch die intellektuellen Hauptzentren der Schweiz an, so dürfen wir füglich mit Basel beginnen. Ist dort nicht die Ge­burtsstätte des Gesetzes der grossen Zahlen, das Jakob Bernoulli (1654—1705) in seiner posthum im Jahre 1713 veröffentlichten «Ars conjectandi» erstmals vorgebracht hat? Man bemerke die Entwicklung -, von der «ars computandi», der Kunst des Rechnens, macht J. Bernoulli den Schritt zur « ars conjectandi »,

440 der Kunst des Vermutens. Überdies darf einer seiner beiden Neffen, Daniel

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Bernoulli (1700-1784), als Vater der heute vielgebrauchten Nutzenfunktion in die Geschichte eingehen. Sein klassisches Beispiel ist wohl die erste Diffe­

rir rentialgleichung der Wirtschaftsmathematik und lautet dy = k , worin dy

der aus einem Vermögenszuwachs dx resultierende personelle Vorteil bedeutet, welcher Vorteil ( = Nutzen oder moralischer Wert) dem Vermögenszuwachs proportional, dem Vermögen x jedoch umgekehrt proportional ist. Die Nutzenfunktion ist als Lösung dieser Gleichung offenbar vom Typ y = k In x. Der dritte grosse Basler Name wurde im Zusammenhang mit der Bevölke­rungstheorie schon genannt und heisst LeonhardEuler (1707-1783). Aus den neueren Basler Errungenschaften möchten wir besonders das Lehrbuch über Versicherungsmathematik von E. Zwinggi gebührend erwähnen.

2.2. Die Universität Lausanne ist die eigentliche Wiege der mathematischen Schule der Volkswirtschaft, wovon mit dem Namen von Vilfredo Pareto schon die Rede war. Seine Denkrichtung fand u. a. ihren Niederschlag in sei­ner hyperbolischen Verteilungsfunktion, welche sich zur Darstellung der Verteilung der Steuerzahler nach ihrem Einkommen eignet.

2.3. Gehen wir weiter nach Bern, so dürfen wir dort vor allem die Gründung des ersten schweizerischen Versicherungsmathematischen Seminars aus dem Jahre 1902 hervorheben. Zwei grosse Namen bleiben mit diesem Institut dauernd verbunden : Christian Moser und Werner Frieda, der erstgenannte als Schöpfer der Erneuerungstheorie und der letztgenannte u. a. mit seiner Veröffentlichung «Intensitätsfunktionen und Zivilstand» aus dem Jahre 1926. Heute ist es besonders Walter Wegmüller, der sich in der mathemati­schen Statistik einen Namen gemacht hat.

2.4. In Zürich treffen wir vorerst mit Ferdinand Gonseth auf die erkenntnis­theoretische Schule. Dieser bedeutende Philosoph und Axiomatiker scheute sich nicht, mit seinem grossen Wissen auch die wirtschaftliche Theorie des Neuenburgers Ed. Guillaume zu bereichern. In Analogie zur «Mécanique rationelle» wird von «Economie rationnelle» gesprochen. Diese Denkrich­tung wurde von Gonseths Schülern P. Nolfi und H. Wyss weitergepflegt. So­dann verdanken wir es einem weiteren Vertreter der reinen Mathematik, Walter Saxer, die mathematische Fundierung der Versicherungslehre vertieft zu haben. Sein zweibändiges Lehrbuch über Versicherungsmathematik be­schreitet diesbezüglich ausgesprochenes Neuland und wird heute im deut­schen Sprachbereich als Standardwerk konsultiert. Gegenwärtig ist Zürich in der Schweiz auch führend in der Verfahrensforschung und der Spieltheorie ; Namen wie z. B. H. P. Künzi und H. Bühlmann dürften als Beleg genügen.

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Überdies hat sich H. Ammeter in der Risikotheorie internationalen Ruf ver­schafft.

2.5. Man wird nicht wenig erstaunt sein, den Namen Genf hier zunächst in Verbindung mit demjenigen des Reformators Jean Calvin zu hören. Tatsäch­lich war er der erste bedeutende Theologe, der das Zinsnehmen als moralisch erklärt und damit der Kapitalwirtschaft ungeahnten Auftrieb verliehen hat, wogegen noch Martin Luther in vollem Einklang mit den katholischen Theo­logen das gleiche Zinsnehmen entschieden verworfen hatte. Der Name von Genf hat aber vor allem internationalen Klang. So waren am Sitze des ehe­maligen Völkerbundes beachtliche Wissenschaftler tätig, z. B. Tinbergen, welcher der Ökonometrie weiteren Auftrieb gab. Vor allem möchten wir Genf als Wiege der Sozialmathematik nennen. Von Lucien Féraud war unter 1.3. im Zusammenhang mit dem Internationalen Arbeitsamt bereits die Rede, und mit dieser Organisation sind auch Namen wie A. Zelenka und P. Thullen un­zertrennlich verbunden. Heute liegt das Schwergewicht der sozialmathemati­schen Forschung bei der Internationalen Vereinigung für Soziale Sicherheit (IVSS). Verschiedene Forschungsequipen, deren Tätigkeit von Lucien Féraud koordiniert wird, unterziehen gegenwärtig das Problem des Verhältnisses zwischen Volkswirtschaft und sozialer Sicherheit einer eingehenden Prüfung, von deren ersten Ergebnissen wir unverzüglich einige Muster geben möchten. Wenn wir drei Namen in diesem Zusammenhang nennen dürfen, so sind es M. A. Coppini (Rom), R. Consael (Bruxelles) und K. H. Wolff (Wien).

IL Probleme von heute

3. Globalanalyse der sozialen Ökonometrie

3.1. Die Geburtszeit der sozialen Ökonometrie lässt sich genau festlegen. Es war im Oktober 1966 in Paris, anlässlich der IV. Internationalen Konferenz der Versich erungsmathematiker und Statistiker der sozialen Sicherheit, wo zum erstenmal die Beziehungen zwischen Volkswirtschaft und sozialer Sicherheit systematisch behandelt wurden.

Betrachten wir zunächst folgende sechs Globalsektoren der Volkswirtschaft, welche gebührend numeriert seien und deren Nummern nachstehend in einer Matrix verwendet werden sollen :

(1) Unternehmungen, (4) Haushalte, (2) Staat (öffentlicher Sektor), (5) Rest der Welt, (3) Soziale Sicherheit (6) Saldosektor.

442 (evtl. gesamter Versicherungssektor),

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Ausgehend von diesen Sektoren, lässt sich nun eine Globalmatrix der Volkswirtschaft definieren, welche allen wichtigen Problemen der sozialen Ökonometrie als Ausgangspunkt dienen kann. Die Elemente dieser Matrix heissen At- und stellen den Wert des Geldstroms vom Sektor (z) zum Sektor (/) dar. Für den Sektor (z) bedeutet dieser Strom eine Ausgabe, für den Sektor (/) eine Einnahme, so dass in einer bestimmten Zeile (z) sämtliche Ausgaben des Sektors (z) an die Sektoren (j^i) auftreten und in einer bestimmten Spalte (/) sämtliche Einnahmen des Sektors (j) seitens der andern Sektoren (z=£/) erschei­nen. Folgende Beispiele mögen den konkreten Sinn dieser Elemente illustrie­ren:

A12 die Steuern der Unternehmungen, An staatliche Subventionen an die Unter-A13 die Beiträge der Unternehmungen an nehmungen,

die soziale Sicherheit, Au Leistungen der sozialen Sicherheit an Au Entschädigungen der Unternehmun- die Haushalte,

gen sowohl an die von den Haushalten AZ6 das Versicherungssparen, zur Verfügung gestellten Kapitalien AAl die Ausgaben für den Konsum, als auch an die geleistete Arbeit, A51 die Einnahmen der Unternehmun-

A1Q das Unternehmersparen gen aus dem Export, (unverteilte Gewinne), A61 die Investitionen.

3.2. Für den Moment handelt es sich um eine reine Ordnungsmatrix, welche nichts anderes ist als eine vereinfachte Darstellung des üblichen Schemas der nationalen Buchhaltung bzw. des Kreislaufschemas. Durch Zergliederungen und Einführung geeigneter Verhältniszahlen lassen sich aus dieser Ordnungs­matrix wichtige operationeile Matrizen herleiten, welche dem Matrizenkalkül zugänglich sind. Vorderhand erlaubt die Ordnungsmatrix, die fundamentalen Gleichgewichtsbeziehungen der Volkswirtschaft ohne Mühe hinzuschreiben. Für jeden Sektor (z) gilt nämlich das oberste Gesetz: «Einnahmen = Ausga­ben » und kann für den Zeitpunkt t wie folgt formuliert werden, wobei gleich einige Bemerkungen angeschlossen seien:

2^(0 = 2 ^ 0 - (D - Von den sechs möglichen Gleichungen sind nur deren fünf unabhängig,

denn jedes Element kommt einmal auf der Einnahmenseite und einmal auf der Ausgabenseite vor, so dass die Summe der sechs Gleichungen auf die Resultante 0 = 0 führt (geschlossenes System), was gestattet, eine der Gleichungen mit Hilfe der fünf anderen zu bestimmen.

— In der Regel wird eine der Gleichungen durch die Definitionsgleichung des Sozialproduktes U, das wichtigste charakteristische Aggregat der Volks­wirtschaft, ersetzt, was denn auch gestattet, U-bezogene Relativgleichungen aufzustellen. 443

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- Des weiteren kann die Kapitalansammlung Kis eines Sektors in die Glei­chung eingehen, da offensichtlich gilt, Ai6 = K'i%, was das algebraische Gleichungssystem allenfalls in ein Differentialsystem überführt.

- Überdies kann so die wirtschaftliche Aussagekraft des Gleichungssystems erhöht werden durch Definition einer Produktionsfunktion U =f(K), z.B. jene von Cobb-Douglas.

3.3. Es sind zwei Problemkreise, welche hier im Vordergrund stehen. Erstens gilt es, den EinfLuss der Wirtschaft auf die soziale Sicherheit zu analysieren 5 die Unbekannten des Gleichungssystems sind dann die Elemente der sozialen Sicherheit. Zweitens soll umgekehrt der Einfluss der sozialen Sicherheit auf die Volkswirtschaft untersucht werden; die Unbekannten sind dann volkswirt­schaftliche Elemente wie z. B. die relative Veränderungsintensität r\ des Sozialproduktes Z7oder auch die Kapitalveränderung K\

Als Beispiel des soeben Gesagten sei die fundamentale Finanzierungsglei­chung der sozialen Sicherheit aufgeführt, welche sich durch einige Transforma­tionen der Formel (1) für i = 5 ergibt. Dabei gelte folgende Symbolik, in welcher alle Elemente Funktionen der Kalenderzeit t seien :

b Beitragssatz im Verhältnis zu £/, ip relative Veränderungsintensität des a Ausgabensatz (Umlagebeitrag), ebenso mittleren Lohnniveaus je Person,

auf U bezogen, n relative Veränderungsintensität des k Versicherungsreserve in Vielfachen Preisniveaus,

von U, x mittlerer Anpassungssatz aller Renten r\ relative Veränderungsintensität von U, (Alt- und Neurenten). ô Zinsintensität,

Die Gleichung lautet dann wie folgt, wobei sofort erwähnt sei, dass der effektive Umlagesatz als Produkt eines theoretischen Satzes a(ip) mit dem Entwertungs­faktor exp j dargestellt ist. Für den theoretischen Satz a gilt eine volle Auf­wertung aller Renten an das Lohnniveau, welche durch den Entwertungs­faktor auf eine Aufwertung der Neurenten gemäss Lohnniveau und der lau­fenden Renten gemäss Preisniveau zurückgeführt wird.

t

b = a(ip) exp j (x — ip) dr 4- (ff — ô) k + k! 5 (1')

die massgebenden Entwicklungsintensitäten sind dann so miteinander ver­

bunden :

x(x) = [y(0-n(t)](l-*'(?)]+ n(r), (1*)

wobei C = T—\_x(r)—-Ti] den — einem geeignet ermittelten Durchschnitts-444 alter x aller Rentenbezüger entsprechenden - durchschnittlichen Zeitpunkt des

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Rentenbeginns im festen Alter x1 darstellt. Eine effektive Rentenentwertung gegenüber den Löhnen tritt ein, sofern

w(T) -» ( f ) [1 -x\r)} < w(r)-y>(0 [1 - * ' ( r ) ] , (1**)

welche Bedingung seit einigen Jahrzehnten erfüllt wurde. Falls die Gleichung (1 ') isoliert betrachtet wird, erlaubt sie zunächst eine

objektive Analyse der wirtschaftlichen Verwendungskomponenten des Bei­tragssatzes der verschiedenen Finanzierungsverfahren, zeigt aber auch die Reaktion des sozialen Elementes b auf die wirtschaftlichen Veränderungen. Umgekehrt kann sie in bezug auf die wirtschaftliche Unbekannte k als lineare Differentialgleichung erster Ordnung aufgefasst werden, sofern alle anderen Grössen - insbesondere das mittels direkter Bestimmungsmethoden voraus­berechnete b — in ihrer Entwicklung als bekannt vorausgesetzt werden.

In der Regel ist es jedoch ratsam, diese Finanzierungsgleichungen nicht isoliert, sondern im Zusammenhang mit den übrigen Gleichungen des Systems (1) zu betrachten und sie so in die gesamtwirtschaftlichen Zusammenhänge hineinzustellen. Es dürfte aber auch zweckmässig sein, die übrigen Glei­chungen (1) auf die Form(l ' ) zurückzuführen ; sie sind ja die Finanzierungs­gleichungen der übrigen Sektoren. Die Lösungsergebnisse werden sich der-massen öfters rascher auffinden lassen.

4. Sektorenanalyse der sozialen Ökonometrie

4.1. Die Sektorenanalyse beruht im wesentlichen auf der Input-Output-Matrix von Leontieff, auch Matrix der zwischenindustriellen Beziehungen genannt. Diese ist nichts anderes als die unter Ziffer 3.1. beschriebene Global­matrix, bei welcher der Globalsektor (1) der Unternehmungen in seine Komponenten der Erwerbszweige, wie Landwirtschaft, die verschiedenen Industrien, Handel usw., aufgeteilt wird. Diese verfeinerte Matrix weist ent­sprechend mehr Zeilen und Spalten auf, so dass nun die Geldströme Xrs

zwischen den Erwerbszweigen ebenfalls in Erscheinung treten. Auch hier gilt für jeden Erwerbszweig und jeden der übrigen Sektoren

grundsätzlich eine Gleichgewichtsbeziehung vom Typus (1), die allerdings bedeutend mehr Elemente aufweist und zu einem umfangreicheren Glei­chungssystem führt. Eine solche Matrix ist äusserst reichhaltig; auf ihr be­ruhen die systematischen Untersuchungen, welche gegenwärtig im Rahmen der EWG und der IVSS durchgeführt werden.

4.2. An dieser Stelle möchten wir lediglich ein Beispiel skizzieren, welches gestattet, den Einfluss einer Leistungsverbesserung der sozialen Sicherheit auf die Preise der verschiedenen Einzelsektoren der Wirtschaft richtig zu eruieren. 445

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Dabei ha l t en w i r uns an die diesbezüglichen Gedankengänge Coppinis u n d

füh ren folgende Symbolik e in :

P — (Pr) Vektor ( = einspaltige Matrix), dessen Komponenten jeweils den Wert der vom Einzelsektor r produzierten Güter und Dienste darstellen. Dieser Wert ergibt sich aus dem Produkt «Menge x Preis».

q = (qr) Vektor, dessen Komponenten alle übrigen vom Sektor r bezahlten Werte um­fassen, wie Entschädigungen an Kapital und Arbeit, Steuern, Beiträge an die soziale Sicherheit usw.

93 = (brs) Verteilungsmatrix, deren Elemente den relativen Anteil der Einkäufe des Sektors r bei den übrigen Sektoren 5 darstellen, wobei brs = Xrs : p5 mit Xr5

als entsprechenden Geldstrom.

Gesucht w e r d e n zunächst die Komponen ten p r , welche als U n b e k a n n t e in

e in lineares Gleichungssystem e ingehen , dessen vektorielle Dars te l lung wie

folgt auss ieht :

p = 93p + q. (2)

Die für die elektronischen Computer besonders geeignete Lösungstechnik

der inversen Matrix ergibt die gesuchten Komponen ten gemäss d e m Lösungs­

system :

wor in die E inhe i t smat r ix 3 erscheint . Es genüg t n u n , die R e c h n u n g e inmal

mi t dem u n v e r ä n d e r t e n Leis tungssystem u n d das andere Mal mi t den ver­

besser ten Sozialleistungen durchzuführen . Die beiden Folgen der so erha l te ­

n e n pr lassen aber direkt auf die Preise schliessen, da die G ü t e r m e n g e in beiden

Fäl len die gleiche bleibt .

5. Harmonisierung der ökonomischen und sozialen Dynamik

5.1. Diese Harmonis ie rungsprobleme sind i m Z u s a m m e n h a n g m i t den

F inanz ierungsver fahren zu be t rachten , weshalb einige Wor t e zu dieser Theo­

r ie . I n der sozialen Ren tenve r s i che rung unterscheiden wi r eine zweifach­

unendliche Mannigfaltigkeit von Finanzierungsverfahren, welche jeweils durch

zwei Pa rame te r , a u n d â, gekennzeichnet werden können : a als Redukt ions­

faktor der Kapitalisationsdauer der Beiträge u n d â als Entkapital isationsdauer

der R e n t e n . F ü r beide P a r a m e t e r gilt der Variationsbereich [0,1] 5 be im U m ­

lageverfahren sind näml ich Kapitalisations- u n d Entkapi tal isat ionsdauern = 0,

wogegen sie be im anwartschaft l ichen Deckungsverfahren d e m zwischen zwei

Zah lungen l iegenden Altersunterschied entsprechen u n d die beiden P a r a m e t e r

den Höchstwer t von 1 (keine Redukt ion der Dauern) erreichen.

Die Beitragssätze ß (a, â) we rden gemäss e iner verfahrensspezifischen

446 Äquivalenzgleichung berechnet . Die Berechnung des Beitragssatzes k a n n

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gemäss zwei verschiedenen Entwicklungshypothesen erfolgen. Wird a priori mit einer vorgegebenen Veränderung des allgemeinen Lohnniveaus und der Preise sowie mit entsprechenden Rentenanpassungen gerechnet, spricht man von einer dynamischen Berechnungsweise,• werden stabile Verhältnisse ange­nommen, so führt dies auf die statische Berechnungsweise. Im folgenden wollen wir die Bedingungen für die Beitragsinvarianz gegenüber einer dynamischen Entwicklung in Kürze darlegen und gelangen so zu verschiedenen Invarianz­gleichungen. Wir beschränken uns dabei auf das Problem des Einbaues von Lohnerhöhungen in den versicherten Verdienst, weshalb lediglich der Para­meter a in Erscheinung tritt. Die Fragen betreffend die Anpassung der Neu­renten und laufenden Renten führen übrigens zu ähnlichen Invarianzbezie­hungen, diesmal mit Hilfe des Parameters â. In diesen Invarianzeigenschaften erblicken wir die einzige Möglichkeit einer Harmonisierung zwischen wirt­schaftlicher und sozialer Dynamik.

5.2. Die Invarianz erster Art möge dadurch ausgezeichnet sein, dass die dyna­misch und statisch berechneten Beitragssätze des gleichen Verfahrens einander gleichgesetzt werden. Es seien

%p(t) die Entwicklungsintensität des allgemeinen Lohnniveaus, 6(t) die Entwicklungsintensität des versicherten Verdienstes innerhalb der

Spanne 0 < ö < y>.

Die Gleichsetzung der beiden Beitragssätze heisst nun:

ß{ahd^y>) = ß(a;ip = 0). (3)

Mit Hilfe der Äquivalenzgleichungen geschrieben, erscheint so 0 als unbe­kannte Funktion einer nichtlinearen entarteten Integralgleichung. Unter gewis­sen Bedingungen existiert eine einzige Lösung 0(t). Bei Annahme stabiler Modelle mit konstanten Entwicklungsintensitäten ergibt sich als Lösung der einfachste Fall :

6 = {\-a)W. (5')

Die Interpretation des Resultates ist einfach, besonders für die beiden Extremfälle. Für a = 0 (mit â = 1) handelt es sich um das Rentenwertumlage­verfahren, welches einen vollständigen Einbau der Lohnerhöhungen 0 = y) ohne Erhöhung des statischen Beitragssatzes erlaubt. Mit a = 1 wird das anwartschaftliche Deckungsverfahren gekennzeichnet, bei welchem ein Ein­bau ohne Erhöhung des statischen Beitragssatzes nicht möglich ist. Ver­gessen dürfen wir aber nicht, dass das statisch berechnete ß mit abnehmendem a wächst. Ebensowenig dürfen wir vergessen, dass für y)">ô (Zinsintensität) ß (a = 1-,yi) > ß (a = 0 -,yi) gilt. Solche Vergleiche sind lediglich zulässig, sofern die betrachteten Versicherungssysteme in offener Kasse mit garantiertem Neu- 447

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Zugang verwaltet werden dürfen. In der sozialen Rentenversicherung ist eine derartige finanzielle Verwaltung unbestritten.

5.3. Wir sprechen von Invarianz zweiter Art, sofern dynamisch unterschiedlich berechnete Beitragssätze zweier verschiedener Verfahren einander gleichgesetzt werden. Am besten lässt sich der Sinn einer solchen Gleichsetzung an einem wichtigen Spezialfall illustrieren, für welchen gilt : ß{a -, 0<S \p) = ß(a = 0 -,y) = 0). Diesmal wird in zwei verschiedenen Verfahren der gleiche Beitragssatz ver­langt, und zwar jener des Rentenwertumlageverfahrens, der bezüglich des Einbaues von Lohnerhöhungen invariant bleibt. Welcher Einbau kann mit dem gleichen Satz innerhalb eines anderen Verfahrens erreicht werden? Im einfachsten Fall, d. h. bei stabilen Entwicklungsverhältnissen, führt die ent­sprechende Integralgleichung auf folgende Lösung :

0 = a(ò — v) + (l—a)ip, (5")

worin auch die Zinsintensität ô sowie die Veränderungsintensität v des Ver­sichertenbestandes auftritt. Das keine Beitragserhöhung benötigende 0 ergibt sich als gewichtetes Mittel zwischen (ô — v) und ip.

Wiederum geben die beiden Spezialfälle a= 0 und a=\ die beste Interpreta­tion der Invarianzbeziehung. Das Rentenwertumlage verfahr en ( a = 0 ) führt erwartungsgemäss auf 0 = ip, wogegen diesmal beim anwartschaftlichen Deckungsverfahren (a=l) ein nachzahlungsfreier Einbau im Ausmass von 0 = ô—v ermöglicht wird. Ein solcher Vergleich ist zweifellos korrekt, wird doch in beiden Fällen mit der gleichen Beitragssubstanz gerechnet 5 (3') darf deshalb wohl als Verständigungsgleichung in der Kontroverse « Umlage — Kapitalisa-tion» angesprochen werden. Jedes der beiden Systeme hat seine spezifischen Vor- und Nachteile : Das Rentenwertumlageverfahren ermöglicht zwar einen unbeschränkten Einbau der Lohnerhöhungen, jedoch ohne Möglichkeit der Auszahlung von Abfindungen an die Aktiven bei allfälliger Kassenliquidation. Beim anwartschaftlichen Deckungsverfahren wird der nachzahlungsfreie Ein­bau auf ô—v (im allgemeinen < y ) beschränkt, die Liquidationsmöglichkeit ist jedoch unter Einhaltung aller Verpflichtungen auch gegenüber den Akti­ven gewährleistet.

I I I . Probleme von morgen

6. Theoretische Fragen

6.1. Ein Rückblick auf das bisher Gesagte belegt eindrücklich, dass die Struk-448 tur der in unserem Wissensgebiet sich stellenden Probleme fortwährendem

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Wandel unterworfen war. Besonders intensiv vollzieht sich der Strukturwandel in der Gegenwart und geht auch nicht ohne Wachstumskrise ab. Daher eine erste theoretische Frage für die Zukunft : Welches ist die Zielsetzung für die Strukturgestaltung der Wirtschafts- und Sozialmathematik ? Nur wer das anzu­strebende Ziel klar vor Augen hat, wird Wandlungskrisen ohne zu grossen Kräfteverschleiss meistern können. Vor allen darf der Blick aufs Ganze nicht verlorengehen, die Probleme müssen einer wissenschaftlichen Gesamtkonzep­tion einverleibt werden. Die Struktur dieser Gesamtkonzeption sehen wir in der Trilogie folgender Arten der Kunst des Messens, d. h. in den Metriken:

— Demometrie: Mathematik der Strukturen und der Entwicklung eines Volkes, besser gesagt der geordneten Gesellschaft, auch in ihrer wirtschaftlichen und sozialen Zusammensetzung.

— Ökonometrie: Mathematik der wirtschaftlichen Strukturen und Prozesse, einschliesslich Geldverkehr und Beziehungen zum Sozialen.

— Sekurimetrie: Mathematik der Sicherungsmassnahmen gegenüber sozialen Notlagen, und zwar Massnahmen sowohl der Privatassekuranz als auch der staatlich geregelten sozialen Sicherheit.

6.2. Wer die Zielsetzung erkannt hat, wird sich auch Rechenschaft geben müssen über die zu verwendenden mathematischen Methoden, heisst es denn nicht in jedem der drei erwähnten Fachgebiete «Mathematik der. . .»? Die Methoden selber sind aber nicht Gegenstand der Wirtschafts- und Sozial­mathematik, sondern sind mathematische Disziplinen für sich, welche auch in anderen Anwendungsgebieten, z. B. in der Physik, ihre befruchtende Ver­wendung finden. Ein brauchbarer Wirtschafts- und Sozialmathematiker hat sich denn auch in den folgenden Methoden zurechtzufinden :

— Methoden der mathematischen Analysis im weitesten Sinne des Wortes, ein­schliesslich Theorie der mathematischen Strukturen.

— Methoden der Stochastik und Statistik, wobei mathematische Statistik, Spiel­theorie und Unternehmungsforschung im Vordergrund stehen.

— Methoden der numerischen Analysis mitden elektronischen Methoden an der Spitze.

6.3. Innerhalb der verschiedenen Gebiete hat sich insbesondere die Art der Probleme laufend gewandelt. In der Zukunft dürfte man sich wohl noch in vermehrtem Masse als heute nachstehenden Fragenkreisen zuwenden, bei wel­chen auch die erkenntnistheoretische Seite nicht mehr wegzudenken ist :

— Zusammenhänge zwischen dem ökonomischen sowie sozialen Makrokosmos und dem entsprechenden Mikrokosmos. Wieweit beeinflussen z. B. die 449

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mikrokosmischen Vorgänge Gestalt und Wandlung der makrokosmischen Erscheinungen, und wie weit geht eine allfällige Neutralisation?

- Anwendung der stochastischen Methoden im Rahmen der grossen Wirt­schafts- und Sozialräume. Kann z. B. die Spieltheorie im makrokosmischen Raum mittels kollektiv definierter Nutzenfunktionen ebenso befruchtend wirken wie im mikrokosmischen; oder auch: Kann die Anwendung stocha-stischer statt deterministischer Entwicklungsmodelle im makrokosmischen Raum praktisch verwendbaren Erfolg zeitigen und so die kausalen Zusam­menhänge besser untermauern?

- Sinn des makroökonomischen und makrosozialen Planens. Soll nicht eher auf die relativen Entwicklungen als auf die absoluten frankenmässigen abge­stellt werden? Bei den relativen Modellen wäre nämlich dank unsern Inva­rianzgleichungen eine gewisse « Entstochastisierung » der wirtschaftlichen Einflüsse denkbar. Zeigt z. B. nicht die Entwicklung der AHV, dass trotz gewaltigem Anstieg der jährlichen Einnahmen und Ausgaben ihre relative Bedeutung in der Volkswirtschaft verhältnismässig stabil geblieben ist? Somit erhellt, dass lediglich bei den relativen Modellen Entwicklungsinva­rianzen richtig in Erscheinung treten können. Dank der Planung der sozia­len Sicherheit mittels unserer Invarianzgleichungen ist z. B. gar eine gewisse relative Entstochastisierung der Entwicklungsmodelle gegenüber den wirtschaftlichen Einflüssen denkbar. Es gibt auch eine wirtschaftliche Relativität !

7. Praktische Aspekte

7.1. Das erste praktische Problem dürfte wohl in der gegenwärtig ungenü­genden interdisziplinarischen Fühlungnahme liegen. Die Stellung des Wirt­schafts- und Sozialmathematikers ist irgendwie ungemütlich. Die Vertreter der reinen Mathematik anerkennen ihn nicht als Mathematiker, und für die Ver­treter der Volkswirtschaft ist er kein Fachmann auf ihrem Gebiete. Irgendwie bleibt er an der Oberfläche beider Gebiete und sollte eigentlich in beiden einen gewissen Tiefgang mitmachen können. Aus eigener Kraft wird ihm dies nicht gelingen, und nur ein dauerndes Zwiegespräch mit den Fachkollegen der reinen und der praktischen Richtung wird ihm helfen können. Die von diesen Kollegen aufgebrachte Mühewaltung dürfte sich aber immer bezahlt machen, nicht nur für den Wirtschafts- und Sozialmathematiker, auch für seine Ge­sprächspartner. Hat nicht die angewandte Mathematik den Vertretern der reinen Mathematik immer wieder neue Problemkreise aufgedeckt und ihre Forschung befruchtet, und wird nicht die Wirtschafts- und Sozialwissenschaft

450 vom Wirken der mathematischen Methoden tiefgehend bereichert? Wir sind

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alle aufeinander angewiesen, besonders im Zeitalter der kollektiven For­schungsgemeinschaften.

7.2. Das zweite praktische Problem wird sich in einem Notschrei für die Nachwuchsbildung äussern. Ganz kürzlich, im vergangenen Monat, kam ein doppelter Notschrei zu unseren Ohren : einmal aus schweizerischen, dann aber auch aus internationalen Kreisen. Namhafte leitende Persönlichkeiten der schweizerischen Privatassekuranz beklagen sich immer mehr über den Mangel an Versicherungsmathematikern, und mit nicht minderem Nachdruck hat David Morse, der Generaldirektor des Internationalen Arbeitsamtes, auf die schwierige Lage aufmerksam gemacht, welche aus dem geradezu katastropha­len Mangel an mathematisch geschulten Planungsleuten resultiert, vor allem in den Entwicklungsländern. Genau die gleiche Erfahrung machen wir im Gebiete der sozialen Sicherheit, auch im eigenen Lande. Die angehenden Mathematiker sollten in zweifacher Hinsicht aufgeklärt werden : erstens über die Reichhaltigkeit der sich hier bietenden Problemkreise und zweitens über die materiellenEntwicklungsmöglichkeiten, die heute jenen der «Modefächer» wie Nuklearphysik, Raumforschung und Elektronik kaum mehr nachstehen. Dabei hängen auch die Entwicklungsmöglichkeiten dieser «Modefächer» von einer wissenschaftlich einwandfreien Steuerung des Wirtschaftlichen und Sozialen ab. Ohne materielle Sicherung gibt es auch keine anderweitige For­schung ; in einem kranken Gesellschaftskörper gibt es überhaupt in keinem Gebiete gesunde Entfaltungsmöglichkeiten.

* Vor 10000 Jahren habe die Entwicklung der Wirtschafts- und Sozialmathe­

matik eingesetzt, so sagten wir zu Beginn. Wie es aber in weiteren 10000 Jah­ren auf diesem Gebiete aussehen kann, können nur überaus kühne Geister ahnen. Solch kühne Geister hat es immer gegeben. Hiessen sie in der Geschich­te der Neuzeit nicht Galilei und Darwin, und heissen sie heute nicht etwa Bourbaki und Teilhard de Chardin ? Die beiden letztgenannten sind für unse­ren Wissenszweig, eine Anwendung der Mathematik auf die Gesellschaft, richtungsweisend :

Der moderne Impuls der Mathematik ging tatsächlich von der neunköpfigen Forschungsequipe Bourbaki im Institut Henri-Poincaré in Paris aus, in welcher sich der geistige Samen David Huberts voll entfaltet hat. Ist es diesen For­schern schon gelungen, aus dem gegenwärtig einzig erforschten «Tal» der Mathematik, jenem der hypergeometrischen Funktionen, in andere noch unerforschte «Täler» vorzudringen, in welchen auch für die Anwendungs­zweige heute noch ungeahnte Entwicklungsmöglichkeiten liegen ?

Der moderne Impuls zur Kenntnis der künftigen Gesellschaft ist aber zweifel­los dem französischen Jesuitenpater Pierre Teilhard de Chardin zuzuschreiben. 451

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Die von Darwin aufgezeigte individuelle Entwicklung wird weitergehen, und zwar in der kollektiven Richtung. Die Equipenarbeit aller denkenden Indivi­duen wird in der Verwirklichung der Noosphäre kulminieren, in welcher der ganze Erdball durch die Intensität des kollektiven Denkens des künftigen Ge­sellschaftskörpers in Intelligenz gleichsam erstrahlen wird. Dabei wird es aber nicht bleiben, aus der auf unserem Erdball lebenden Gemeinschaft kann sich eine interplanetare, wenn nicht eine, interstellare Gesellschaft entwickeln. Durch das Zusammenwirken der Entwicklung der Mathematik mit jener des Gesellschaftskörpers steht unser Wissenszweig am Anfang einer sich dauernd erneuernden Blütezeit.