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RICHARD ALBRECHT VOM ROMAN DER XII ZUM KOLLEKTIVROMAN WIR LASSEN UNS NICHT VERSCHAUKELN: ASPEKTE LITERARISCHER GEMEINSCHAFTS- PRODUKTIONEN IN DER DEUTSCHEN LITERATUR DES 20. JAHRHUNDERTS Als vor Jahren in der BRD im Zusammenhang von )>Rezep- tionsiisthetik<< in einem Beitrag zum Krirninalroman im Deutsch- unterricht (Sekundarstufe I) eine Unterrichtseinheit nach Erprobung vorgestellt wurde, handelte es sich um Anregungen zum produk-tiven und insofern auch kreativen Umgang mit dem Genre. Herauskam auch eigene kleine Krimiproduktionvon Schiilern, die ihre Kurzkrimi einzeln und individuell, abet auch gemeinsam in Arbeitsgruppen schufen.1 Parallel zu diesem Versuch, schulische Rezeption von Unterhaltungsliteratur an- zuregen, erschien gleichzeitig ein erkennbar von Lehrer und Schiilern gemeinsam produzierter Kriminalroman, z der sich auch als Variation auf didaktische Bemtihungen lesen lal3t und ins Feld der literarischen Produktion riickverweist. Gemein ist beiden Ansatzen ein kreativer und dazu gemeinschaftlicher Zu- gang zum Text: sei es der Arbeit am Text (Textproduktion), sei es der Arbeit mit dem Text (Textrezeption) Die Beispiele m6gen verdeutlichen, dab beide Seiten des titerarischen Prozesses sich durchdringen (k6nnen). Wenn derzeit sowohl im Bereich literarischer Produktion von Texten als auch im Feld des literarischen Marktes - der Distribution - der Aspekt von literarischer Kreativit~t, der mit kollektiver Textproduktion bezeichnet wird, fehlt oder nicht getibt wird, sollte das nicht stSren. Sondern kSnnte eher AnlaB 1vgl. Wilma Albrecht, )>Verbrechensliteratur [...](~, in: Diskussion Deutsch, 9. Jg. 1978, H. 41, S. 274-293. vgl. Paul Henricks, Eine MaJ3nahme geyen Franz (Reinbek, 1977). Neohelicon XlV[1 Akaddmiai Kiad6, Budapest John Benjamins B. V., Amsterdam

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R I C H A R D A L B R E C H T

VOM ROMAN DER XII ZUM KOLLEKTIVROMAN

WIR LASSEN UNS NICHT VERSCHAUKELN:

ASPEKTE LITERARISCHER GEMEINSCHAFTS-

PRODUKTIONEN IN DER DEUTSCHEN LITERATUR

DES 20. JAHRHUNDERTS

Als vor Jahren in der BRD im Zusammenhang von )>Rezep- tionsiisthetik<< in einem Beitrag zum Krirninalroman im Deutsch- unterricht (Sekundarstufe I) eine Unterrichtseinheit nach Erprobung vorgestellt wurde, handelte es sich um Anregungen zum produk-tiven und insofern auch kreativen Umgang mit dem Genre. Herauskam auch eigene kleine Krimiproduktionvon Schiilern, die ihre Kurzkrimi einzeln und individuell, abet auch gemeinsam in Arbeitsgruppen schufen. 1 Parallel zu diesem Versuch, schulische Rezeption von Unterhaltungsliteratur an- zuregen, erschien gleichzeitig ein erkennbar von Lehrer und Schiilern gemeinsam produzierter Kriminalroman, z der sich auch als Variation auf didaktische Bemtihungen lesen lal3t und ins Feld der literarischen Produktion riickverweist. Gemein ist beiden Ansatzen ein kreativer und dazu gemeinschaftlicher Zu- gang zum Text: sei es der Arbeit am Text (Textproduktion), sei es der Arbeit mit dem Text (Textrezeption)

Die Beispiele m6gen verdeutlichen, dab beide Seiten des titerarischen Prozesses sich durchdringen (k6nnen).

Wenn derzeit sowohl im Bereich literarischer Produktion von Texten als auch im Feld des literarischen Marktes - der Distribution - der Aspekt von literarischer Kreativit~t, der mit kollektiver Textproduktion bezeichnet wird, fehlt oder nicht getibt wird, sollte das nicht stSren. Sondern kSnnte eher AnlaB

1 vgl. Wilma Albrecht, )>Verbrechensliteratur [...](~, in: Diskussion Deutsch, 9. Jg. 1978, H. 41, S. 274-293.

vgl. Paul Henricks, Eine MaJ3nahme geyen Franz (Reinbek, 1977).

Neohelicon XlV[1 Akaddmiai Kiad6, Budapest John Benjamins B. V., Amsterdam

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sein, dartiber nachzudenken, warum auch die, die vor einem runden Dutzend Jahren als ~)Literaturproduzenten~ (Frank Benseler/Hannes Schwenger) neue Ufer erreichen wollten, heute im Riickzug ins Geh/iuse literarischer Innerliehkeit ihren Weg machen (wollen); was, literatursoziologisch gesehen, gewil3 nicht als blanke Neuauflage bekanntem/isthetisierendem Geniekult wilhelminischer Zeiten entspricht, abet doch jenseits aller historischer Kosttimierung(en) einer Haltung innerhalb eines Segments yon literarischer Kultur im allgemeinen und ~)Literatenliteratur~ (Robert Prutz) im besonderen entspricht, die auf die gesellschaftliehen Verh~iltnisse rfickschliel3en liel3e.

Im Zusammenhang mit aktuellen und aktuellsten Hervor- bringungen des Literaturwarenmarktes mag denn auch alles, was an die besondere Form kreativer Textarbeit, die mit wie immer organisierter und durchgefiihrter gemeinschaftlicher - mithin kollelctiver - Arbeit am Text erinnert, fast schon vom fObel erscheinen. Damit auch mein Beitrag, der unter Aus- blendung entsprechender ~Versuehe~ (etwa zu Beginn des 19. Jahrhunderts im literarischen Salon Karl August Varnhagen von Enses) an diese Arbeitsformen in der deutschen Literatur des 20. Jahrhunderts beschreibend erinnert. (vgl. Die Ver- sucke und Hindernisse Karls, Berlin-Leipzig 1808; sowie Der Doppelroman der Berliner Romantik, 2 B~inde, Leipzig 1926.)

Und manches scheint daftir zu sprechen, dab gemeinschaft- liche kreative Arbeit mehrerer - oder vieler - Autoren am Roman-Text zu Recht vergessen wie verachtet ist: war doch solche Arbeit, wenn auch in deformierter Weise, erstes Charak- teristikum sich entwickelnder kapitalistischer Literaturware und ihrer Produktion. Der Graf yon Monte Christo und Die drei Musketiere - noch heute als ~)Abenteuerromane~ beliebter Lesestoff und mehrfach als ~)Kostiimfilm~ Vorlage(n) zur Ver- breitung in einem Massenmedium - freilich sind nur scheinhaft kollektiv erarbeitet worden: auch wenn Alexandre Dumas bis zu dreiundsiebzig Mitarbeiter besch~ftigt haben soll, die Lite- ratur zur massenhaften Unterhaltung und Unterhaltung von

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Massen nach entsprechendem Preistarif schablonenhaft auf Terrninbasis lieferten3

Diese Arbeitsweise hat sich gewiB bis heute erhalten und diirfte namentlich der Biicherproduktion Prominenter zuzu- schreiben sein, die ihren - wirklichen oder vermeintlichen - Medien-Ruhm auch noch rasch in Buchhonorare und damit in bare Zahlung verwandelt sehen wollen: aber auch diese greifba- ren Ergebnisse des Prominentisierungseffekts unserer Zeit 4 sind wie die historischen Romane genannter friihen Bestsellerfabrik alles Andere als kreative Textarbeit. Denn wie fiirs allgemeinste Gesetz kapitalistischer Warenproduktion gilt, dab ~rein Neger ein Neger [ist]~ und erst ~in bestimmten Verh/iltnissen zum Sklaven wird~, 5 so bleibt ein literarischer ~Neger~ immer ein Schattenautor , ~>Fiillfederhalter~ oder auch - amerikanisiert - ein ~ghost-writer~, der nach entsprechendem Preistarif vor- gegebene Muster termingerecht schreibend bearbeitet.

So sehr beide Varianten ~kollektiver Textproduktion~ auch heute bei einem weitverbreiteten bundes-deutschen Schreiber kombiniert und somit auch auf die Spitze getrieben sein mf- gen, 6 so wenig interessieren sie hier. Denn mir geht es um eine Skizze gemeinschaftlich-kreativer Arbeit am Text und mit dem Text, die in unserem Jahrhundert, also auch auf der Folie eines roll herausgebildeten literarischen Marktes, bisher auf den verschiedenen Niveaus yon Literatur hervorgebracht wurden.

3 vgl. Arnold Hauser, Sozialgeschichte der Kunst Bd. II, (Miinchen, 1958, S. 253-54; den zuerst 1844/45 im Pariser ))Journal des d6bats, als Fortsetzungsroman publizierten Der Graf yon Monte Christo unter- sucht kritisch jetzt Volker Klotz, Abenteuer-Romane (Mtinchen, 1979), S. 59-85.

a vgl. jetzt Albrecht Lehmann, ~Prominente Zeitgenossen. Ein Identi- fikationsangebot fiir GroBst~idter~, in: Hermann Bausinger/Konrad KSstlin (Hrg.), Heimat und ldentitiit (Neumtinster, 1980), S. 53-63.

Karl Marx, ~)Lohnarbeit und Kapital(q in: Marx-Engels-Werke, Bd. 6, (Berlin [DDR] 1962), S. 407 [zuerst in ~)Neue Rheinische Zeitung~, 1849].

6 vgl. Heinz G. Konsalik -- Leben und Werk eines Bestseller Autors. (Mfinchen, 1981).

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DaB diese Hinweise nicht alle so produzierten und ver6ffent- lichten Texte enthalten (k6nnen), mag sein. Die folgend vor- gestellten Arbeiten sind also gewil3 Auswahl. Sie m6gen aber trotzdem insofern ,repr~tsentativ' sein, well ein Spektrum deut- lich wird, das nicht zuletzt zeigen kann, welche M6glichkeiten diese kreative Form von Textarbeit berfihrt hat. In Kauf ge- nommen werden mug dabei, dab folgend genannte Texte (mit Ausnahme der beiden Beispiele aus der Bundesrepublik) der- zeit nicht tiber den Btichermarkt verffigbar sind. Denn bundes- deutsche Buchmacher zogen es vor - sei's aus Unkenntnis, sei's aus Befremdung - , einen ebenfalls ~)historischen(~ Kollek- tivroman der frfihen sowjetischen Literatur des Jahres 1927, nicht aber vergleichbare Werke der deutschen Literatur, auf den Markt zu werfen. 7

Der soziale Tatbestand des Vergessens kollektiv-kreativ produzierter Romane in der deutschen Literatur des 20. Jahr- hunderts ist, obgleich literaturhistorisch kein angemessenes Kriterium, gewil3 auch ihrer Nichtverfiigbarkeit fiber den Btichermarkt geschuldet. Anders gesagt: h~itte sich etwa Tho- mas Mann an dem ersten Kollektivroman, der 1909 noch in der wilhelminischen Epoche publiziert wurde und nach der Zahl seiner Beitrt~ge(r)einfach D e r R o m a n der X I I heiBt, 8 mit einem Kapitel beteiligt, ware dieses Werk gewiB der Aufmerksamkeit akademischer Literaturwissenschaft nicht entgangen. Thomas Mann jedoch lieB Verleger, der ~)eines Tages ganz plftzlich~t auf die ~)Ideet~ gekommen sein will (zugleich freilich auf ein tthnliches literarisches ~)Experiment~ durch Lektiire des ~)New York Heral&~ aufmerksam wurde), h6flich wissen, dab er sich nicht auf diesen literarischen ~)Scherz~ einlassen wollte:

vgl. 25 Autoren, Die #roflen Brginde (Berlin [West], 1981) [zuerst 1927 als Fortsetzungsroman in der Zeitschrift ~Ogonjok~].

s Der Roman der XI1 (Berlin, 1909 [1-5. Tsd.]), mit einem Vorwort von Konrad H. Mecklenburg.

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Ihr Einfall ist ausgezeichnet, und aufrichtig bedaure ich, dab es mir ganz und gar an Zeit fehlt, reich an der Ausftihrung zu betei- ligen. Aber das liegt an mir! Der Scherz wird gelingen; und niemand freut sich mehr auf den ~Roman der XIIt~ als Ihr sehr ergebener Thomas Mann. a

Auch Gerhart Hauptmann empfand die Einladung zur Mit- arbeit an diesem Kollektivroman als ~literarischen Scherz~ - so dab die ~verriickte Idee~ 1~ denn von einem Dutzend anderer, weniger oder mehr seinerzeit literarisch durchgesetzter, Schrift- steller exekutiert werden muBte. 11

Der Roman zog ein Preisausschreiben des Verlags nach sich: die Kapitel waren den Autoren zuzuordnen, was gewiB durch die angeh~ngten Portraits und Silhouetten der XI112 leicht 16s- bar gemacht wurde.

Sicherlich ist das, was denn im ~Roman der X I h zwischen ~>Pr/iludium~ und ~Finale~, dem Ende, zwischen Buchdeckel kam, heute zu Recht vergessen: das irgendwo im Niemands- land zwischen trivialer ~Gartenlauben~-Variation und Autoren- Selbstreflexion angesiedelte Unternehmen bleibt aber gleich- wohl, trotz der erkennbaren Marketing-Effekte des Unterneh- mens, als soziale Ta tsache bermerkenswert. Denn allein sein Zustandekommens zeigt, dab nicht nur die unmittelbar beteilig- ten Produzenten, sondern auch die historische literarische t3ffentlichkeit ein (wie man damals gesagt hiitte: ~diebisches~) Vergniigen am R o m a n der X I I und seinen Beziehungen gehabt haben mochte.

Unter dem Blickwinkel kollektiv-kreativer Textproduktion diirfte denn auch vor allem dieses Moment - aufgespeichert

9 Brief Thomas Manns an Konrad W. Mecklenburg vom 2. Dezember 1908; unveriJffentlicht, zitiert mit freundlicher Genehmigung des Kestner- Museums Hannover [Autographensammlung, Sign. 1946. 6'].

lo Der Roman der Xll , Vorwort des Verlegers, S. 5-8. 11 beteiligte Autoren: Hermann Bahr, Otto Julius Bierbaum, Otto

Ernst, Herbert Eulenberg, Hanns Heinz Evers, Gustav Falke, Georg Hirschfeld, Felix Hollander, Gustav Meyrinck, Gabriele Reuter, Olga Wohlbriick und Ernst yon Wolzogen.

12 Der Roman der XII, S. 407--431.

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in den Metaphern ,ausgezeichneter Scherz~ (Thomas Mann) und ~>verriickte Idee~ (Hanns Heinz Ewers) -- entscheidend sein. Es kennzeichnet zugleich jedoch auch ein allgemeines Motiv fiir kollektive Textarbeit fiberhaupt: das Element der besonderen Erfahrung yon Kreativit6t ffir Autoren, das im hier eingeforderten Bezug auf andere in demselben Werk liegt.

lJber die Entstehungsgeschichte eines der beiden literari- schen Kollektivproduktionen aus der Sp/itphase der Weimarer Republik wissen wit deshalb einiges, weil einer der beiden Autoren inzwischen seine ~)Memoiren~ ver6ffentlichte) ~ Jtirgen Kuczynski der noch immer streitbare Marxist der DDR, hat in dieser Zeit nicht nur als einer der beiden Autoren den Ende 1931 als Fortsetzungsroman im >>Zentralorgan<~ der Weimarer K. P. D. - ~)Die Rote Fahne~ - abgedruckten Text von K. Olectiv: ~>Die letzten Tage y o n . . . ~ geschrieben, sondern auch einen wohl gleichermaBen publizistisch ausgerichteten und tagesak- tuell angelegten Roman fiber ~>Die Krise~. 1~ Die Arbeitsweise des ganz aufs Jetzt einer hoffnungsvoll erwarteten proletari- schen Machtergreifung als Voraussetzung zur Errichtung eines Sowjetdeutschland von K. Olectivs ~>Die letzten Tage~? ~ mit seinen typisierten proletarischen Protagonisten K/ithe und Fritz ist freilich fiber die Erinnerungen des J. K. hinaus auch im Text selbst reflektiert. Und mehr noch: offensichtlich ver- suchten die Autoren Mani Bruck und Jiirgen Kuczynski, sich einer Anordnung der Parteileitung fiber einen Handlungsappell an die Leser zu widersetzen; doch obwohl man sich - dies die Selbsteinsch/itzung in der 32. Fortsetzung - redaktionell ~)dartiber einig wurde, dab der Roman ein wichtiger Versuch

lz vgl. Jiirgen Kuczynski, Memoiren. Die Erziehun# des J. K. zum Kommunisten und Wissenschaftler (Berlin [DDR] 1973), S. 232-234.

14Kuczynski, Memoiren, S. 216. is vgt. K. Olectiv, >>Die letzten Tage y o n . . . ~ ; in: Die Rote Fahne

[Berliner Ausgabe], Nr. 182/31 vom 16. Oktober 1931 bis Nr. 223/31 vom 4. Dezember 1931 [42 Folgen in 32 Kapitel].

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auf dem Gebiete der proletarisch-revolution~ren Literatur sei(~, 16 gait schlieBlich ein Thftlmann-Wort mehr, wenngleich es nicht ~die ungeteilte Zustimmung~ der Zeitungsredaktion fand und die Autoren ihre Leser gegen die ~Anordnung des Genossen Th~lmann~ 17 so mobilisierten:

Nun, warten wir ab! Erst sollen K/ite und Fritz einmal ihre Meinung sagen. Und die anderen Leser, die nicht im Roman vorkommen, haben schlieBlich auch ein W~rtchen mitzuren- den. TM

Wenngleich dieser groBe Rest der Partei gegen ihren Fiihrer machtlos war und der Fortsetzungsroman dann auch in der 42. Folge und im 32. Kapitel mit dem larmoyanten Hinweis aufs erzwungene Schweigen infolge briiningscher ~)Notverordnung~ unaufgel6st ausklang, 19 so/ indert das iiberhaupt nichts an dem kreativen Moment , das sich auch in diesem Kollektivroman spiegelt: nicht nur , weil sich einer der beiden Autoren noch gut vierzig Jahre sp~iter an die ~)Freude, die alle an der Sache hatten~, erinnert, 2~ sondern weil hier versucht wurde, die sonst immer abstrakt bleibende Figur des Lesers unmittelbar in den tagesaktuell angelegten Kollektivroman einzubeziehen.

Zugleich trifft sicherlich zu, dab der Roman in Fortsetzungen des Jahres 1931 - t rotz des Beerbungsversuchs dutch studen- tenbewegte Raubdrucker, die ihn 1972 als ~)Arbeiterroman 1~ wiederver6ffentlichten 21 - als publizistischer Versuch im Sinne eines nicht nur unmittelbaren, sondern dartiber hinaus tages- politischen ~)eingreifenden Denkens~ (Brecht) ganz aliterarisch

16 ebenda, 24. Kapitel [32. Folge]; vgl. Kuczynski, Memoiren, S. 234. 17 ebenda, S. 232. 18SchluB des 24. Kapitels [32. Fortsetzung]; vgl. Kuczynski, Me-

moiren, S. 234. laK. Olectiv, ~)Die letzten Tage von.. .~; in: Die Rote Fahne, Nr.

223/31 vom 4. Dezember 1931 [Schlul3: 32. Kapitel]. 20 Kuczynski, Memoiren, S. 232. 21 vgl. K. Olectiv, Die letzten Tage y o n . . . (Mtlnster, 1972), [1-2.

Tsd.; 3-4. Tsd.]

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bestimmt sein mul3te. Das schlieBt nattirlich nicht die Lust an dieser Variante kollektiv-kreativer Textproduktion aus, rela- tiviert sie nur - und verweist letzlich auf die weitergehende Frage, ob denn das historische E x p e r i m e n t in der Weimarer Sp~itphase als bestimmte Form ktinstlerischer Verarbeitung aktueller Tagesereignisse iiberhaupt als solches ~sthetisch sinn- rol l sein konnte.

Wahrscheinlich war der loarz darauf verSffentlichte unter- haltungsliterarische Versuch kollektiv-kreativer Textproduktion in Form eines Fortsetzungskrimi unter dem Titel ~Die ver-

schlossene Tiir~ in der ~)Literarischen Welt~ 2z auch der Anregung K. Olectivs geschuldet. Dieser das klassische Muster des locked-

room-mys te ry aufnehmende und zahlreich tiberraschend und alogisch variierende kollektive Fortsetzungsroman, der wahrscheinlich von Frank Arnau (hier Autor der Rahmenkapi- tel) organisiert wurde, 23 steht jedoch in einem alten und einem neuen weiteren Zusammenhang: einmal wird wieder ein Preis- ausschreiben veranstaltet - bier mit Aufforderung zur Beant- wortung der Frage nach dem T/iter sowie sp/iter erfolgter VerSffentlichung der Teilnehmer - , zum anderen 1/iBt sich das

-~ ~)Die verschlossene Tfir~q in: Die literarische Welt, Nr. 24-25/1932 bis Nr. 32/1932; SchluB [,X. Ende(d ebenda, Nr. 35/1932. Dieser deut- sche Kollektivkrimi ist inzwischen in kleiner Auflage wieder erschienen: Die verschlossen Tar, Bonn 1984, hrgg. v. Armin Arnold, der in seinem Nachwort S. 69-89 auch auf britische Kollektivkrimi der 20er Jahre als Vorbilder verweist.

2a Frank Arnau war seinerzeit ein gut verk~tuflicher Krimiautor: der Kriminalroman Kiimpfer im Dunkel (Leipzig, 1929) ershien 1930 im 25. Tsd., ))Die groBe Mauer~ (Leipzig, 1931) wurde noch 1931 sieben Mal aufgelegt; vgl. Donald Ray Richard, The German Bestseller in the 20th Century (Bern, !968); der Roman Der geschlossene Ring (Baden-Baden 1929) wurde 1931 yon Carl Heinz Wolff unter dem Titel Tater gesucht verfilmt; Arnaus Kriminalromane wurden auch in~)Die Literarische Welt~ besprochen, vgl. ebenda, 5. 1929/13-14, S. 8, 5. 1929/50, S. 26; 7. 1931/21, S. 6 und 8. 1932/31, S. 6. -- Zur Person vgl. die Autobiografie: Gelebt -- Geliebt -- Gehaflt. Ein Leben ira 20. Jahrhundert (Mfinchen, 1972) sowie als Auswahl aus dem Werk die Anthologie Tiitern auf det Spur (Berlin [DDR], 1974 u. 1978~).

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Experiment dieses KoUektivkrimi und der an ihm beteiligten prominenten Autoren 24 durchaus auch als unterhaltungsliterari- sche Antwort auf den sich schon damals abzeichnenen ,Welt- ruhm' des britischen Krimiautors Edgar Wallace lesen. 2~

Die recht belanglose Handlung kann heute zu Recht verges- sen werden. Nicht abet die Form der schlieglichen wenigstens teilweisen Entwirrung der im Text zahlreich entwickelten F~hrten und Spuren sich zunehmend aufeinander beziehender Autoren und ihre Selbst- und Gattungsreflexionen - gewig kreatives ProduzentenvergniJgen und als unterhaltungsliterari- sches Experiment von J[nteresse. Arnau selbst braucht denn auch statt des urspriinglich vorgesehenen SchluBkapitels derer zwei - u m die preisr/itselnden Leser nicht ganz und gar verwir- rend zu entmutigen. 26

Auch )~Die verschlossene Tiir(~ zeigt damit ein verbindendes Moment aller kollektiv-kreativen Textproduktion: dies ist der Aspekt von literarischer Kreativit/it yon Autoren, die sich auch in ihren individuellen Kapiteln auf einen gemeinschaftlich her- gestellten und organisierten Arbeitsprozefl beziehen, der (auch wenn er im einzelnen sicherlich nicht konsequent durchgehalten wird) doch die herk6mmliche individuelle, ja isolierte Textpro- duktion des Schriftstellers ~7 kontrastiert, jedenfalls tiber sie vom Anspruch her hinausgeht und insofern auch Experimentier- charakter aufweist.

Dariiber hinaus mSgen die Autoren mit ihrem unterhaltungs- literarischen Versuch sicherlich auch gehofft haben, durch An-

2a Frank Arnau, Richard Huelsenbeck, Gabriele Tergit, Alfred DiSb- lin, Manfred Hausmann, Kurt Heuser, Edlef Koeppen, Erich Ebermayer (zugleich Kapitelreihenfolge I-VIII).

25 vgl. z.B. Wolf Donner, ~Literarisches Gespr/ich mit Edgar Wallace(c, in: Die Eiterarische Welt, 6. 1930) 5, S. 1.

26 Preistr/iger in: Die Literarische Welt, Nr. 39/1932. 27 vgl. die Obersichten yon Werner Mahrholz, r)Die Wesensztige des

schriftstellerischen Schaffensprozesses((; in: Ludwig Sinzheimer (Hrg.), Die geisti#en Arbeiter, Bd. I. (Mfinchen-- Leipzig, 1922), S. 58-73 ; Bernd Jiirgen Warneken, r)AbriB einer Analyse literarischer Produktion(~ in: J~as Argument, 14. Jg. 1972, H. 72, S. 207-232.

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wendung der Muster eines popul6ren Genres - des britischen Kriminalromans ~s - d a s erreichen zu k6nnen, was Bertolt Brecht als die Breite der literarischen ~)Marktpl~itze~ bezeichne- te. In dieser Hinsicht freilich diirften sie ihr Wirkungsziel nicht erreicht haben - zumal (wie bekannt) die Machthaber folgen- der deutscher Epoche 1933 bis 1945 gegen die unterhaltungslite- rarische ~kaltschn~iuzige Versportlichung der unsozialen Tat~ als und im Kriminal roman polemisieren liel3en, 29 dabei jedoch we- der seinen gesellschaftlichen Produktionsmechanismus a~ noch die~) Tathsachen,~ die die Existenz auch dieser Literatursorte erst erm6glichen, ~)sowenig wegschaffen als wegleugnen~ konnten. 31

Der erste bundes-deutsche Kollekt ivroman - Das Giistehaus - i s t in den friihen sechsziger Jahren am (west-) Berliner Literarischen Colloquium unter Anleitung Walter H611erers- entstanden und 1965 als Buch publiziert worden. 32 Entspre- chend der Zielsetzung des Arbeitsprojekts, das der Herausgeber als dritten Versuch der neueren deutschen Literatur im AnschluB an ~Die Versuche und Hindernisse Karls~ (1808) und ~Der Roman der XII~ (1909) pr~isentiert, gemeinschaftfich literari- sche Texte zu produzieren, konnte es den ftinfzehn Autoren dieser Gemeinschaftsproduktion 33 weniger um ein literarisches

28 vgl. Gerd Egloff Detektivroman und englisches Biirgertum. Kon- struktionsschema und Gesellschaftsbild bei Agatha Christie (D/isseldorf, 1974).

~9 Peter yon Werder, Literatur im Bann der Verst~idterung. Eine kul- turpolitische Untersuchung (Leipzig, 1943), S. 115.

3~ Karl Marx, ))Abschweifung (fiber produktive Arbeit((; in: Marx-Engels-Werke, Bd. 26/1, S. 365-366.

31 Robert Prutz, ,Clber die Unterhaltungsliteratur, insbesondere der Deutschen(q in: Kleine Schriften. Zur Politik und Literatur. Bd. II; Merseburg 1847, S. 168

3~ Das Giistehaus (Berlin [West], 1965) 33 Peter Biehsel, Walter HiSllerer, Klaus Stiller, Peter Heyer, Hubert

Fichte, Wolf Semeret, Elfriede Gerstl, Jan Huber, Hans Christoph Buch, Wolf D. Rogosky, Martin Doehlemann, Corinna Schabel, Nicolas Born, Joachim Neugr~schel und Herman Peter Piwitt [zugleich Kapitelfolge].

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als vielmehr um ein soziales Experiment gehen. Denn sie waren, wie H611erers Nachwort z~ erkl/irt, ihren je verschiedenen all- t~glichen Milieus entkommen und lebten im Westberliner Gdstehaus als Stipendiaten ein halbes Jahr lang zusammen, urn, als seinerzeit ,junge, unbekannte Autoren', am Text und mit dem Text arbeiten zu kSnnen und literarisches Schreiben zu iiben.

Zumindest nach unterhaltungsliterarischen MaBst~ben be- urteilt ist ~)Das G/istehaus~ als Roman so verwirrend wie kom- plex. Es geht entsprechend der vom Herausgeber vorgegebenen r)G/istehaus(~-Thematik (und insoweit auch selbstreflexiv) im Entwicklungsfaden einerseits um die am Schicksal der wohl zentralen Figur Elmsh~iuser als outsider-Existenz mobilisierte dramaturgische Energie des Autorenensembles einerseits und andererseits doch um die sich im Text selbst jeweils als indivi- duelle Autoren vergegenst~indlichenden Schriftsteller.

H611erer grenzt denn auch den Versuch: Das Giistehaus im Nachwort (trotz seines Verweises auf einen Teil des Traditions- strangs kollektiv-kreativer Textproduktion in der neueren deut- schen Literatur) gleich von kollektiven schriftstellerischen Arbeitsformen ab, die ihm als ~uniform-kollektiv~ gelten. ~

Gewil3 mag die im Roman selbst immer mit den jeweiligen individuellen Autorenerfahrungen und erprobten Schreibweisen erkennbar vermittelte und zu erz~ihlende Geschichte um Elms- h~iusers schillernde - um nicht zu sagen: dubiose - Existenz das, was als ~)moderner Roman(~ (HSllerer) gilt, darstellen: freilich um den Preis der gerade die kollektiv-kreative literari- sche Textproduktion als besonderes ~sthetisches und Produ- zentenvermSgen kennzeichnenden Ent/iul]erungsweise und Ar- beitsform und zugleich auch jener Lust, die gleichermaBen in den bisher skizzierten drei Kollektivromanen durchscheinen wievon den Beteiligten an diesen literarischen Versuchen be- richter werden.

3~ Das G?istehaus, S. 2 3 1 - - 2 3 4 an ebenda, S. 231

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In diesem Sinn scheint mir Das Giistehaus als literarischer Text gewil3 nicht uninteressant - vor allem etwa unter speziel- let literatur-soziologischer Fragestellung einer an den Texten, hier Kapiteln, selbst ausgerichteten ,Soziologie der Schreibweise', die vordringlich kommunikations~sthetische Probleme auf- kl~iren will 36 - angesichts so verschiedener, in einem Roman dialektisch verbundener Texte, Autoren und ihrer Schreibwei- sen - ; aber als Versuch, ein literarisches Verfahren experimen- tell weiterzuentwickeln, diirfte dieser kollektiv produzierte Roman relativ bedeutungslos sein.

Der letztvorzustellende Kollektivroman entstammt einer inzwischen weitgehend wieder vernachl~ssigten Entwicklungs- phase bundes-deutscher Werkst~itten im 'Werkkreis Literatur der Arbeitswelt' :87 es ist der bisher ausgreifendste Versuchin, der deutschen Literatur des 20. Jahrhunderts, soziale und lite- rarische Erfahrung vergemeinschaftlicht als kollektiv-kreative Arbeit am Text zu verbinden.

Insofern entspricht der Kollektivroman als ~Kurzroman(~ mit dem aktionistischen Titel Wit lassen uns nicht verschaukeln 38 denn der zweiten yon drei im ~Werkkreis~ diskutierten Varian- ten ,~kollektiver Gestaltung~, die der damalige Sprecher der

36 vgl. Peter V. Zima, Kritik der Literatursoziologie (Frankfurt/Main, 1978), S. 233-255; ders., Textsoziologie. Eine kritische Einfiihrun# (Stutt- gart, 1980)

37 vgl. zusammenfassend Ulla Hahn, Literatur in Aktion. Zur Ent- wicklun9 operativer Literaturformen in der Bundesrepublik (Wiesbaden 1978); Horst Hensel, Werkkreis oder Organisierung politischer Literatur- arbeit. Die Entstehun9 des Werkkreises Literatur der Arbeitswelt als Modell kultureller Emanzipation yon Arbeitern. (K~51n, '1980); zuletzt kritisch Richard Albrecht, ~)Zehn Jahre Werkkreis Literatur der Arbeits- welt: zu Stand, Problemen und Perspektiven<~; in: Studi Germanici, 1983/2

as Werkkreis Literatur der Arbeitswelt (Hrsg.), Wir lassen uns nicht verschaukeln. Biirgerinitiativen: Kurzroman und Textmontaoen (Frank- furt/Main, 1978), S. 85-187

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KOLLEKTIVROMAN 281

progressiven literatur-politischen Organisation, Jiirgen Alberts, im Mai 1977 im ~>politischen Referat<~ zur (achten) Delegierten- konferenz so kennzeichnete: ~)Wir nehmen uns ein politisch- relevantes Thema und diskutieren gemeinsam Gestaltungsm6g- lichkeiten, wie k6nnte man es machen.<~ 39

Der Anfang 1978 ver6ffentlichte ~>Kurzroman~ der Diisseldor- fer Werkstatt im >>Werkkreis<~ ist Gemeinschaftsarbeit yon fiinf Autoren 4~ Er thematisiert und gestaltet (vorwiegend dokumen- tarliterarisch) einen exemplarischen Mieterkampf Mitte der siebziger Jahre in der deutschen Bundesrepublik in einem Diissel- doffer Stadtteil, in dem ,kleine Leute' - genauer: Arbeiter und AngesteUte - wohnen, in Form einer Chronologie yon Ereig- nissen: yon Abwehrkgmpfen im Reproduktionsbereich, deren Verlauf und Substanz zugleich auf den monopolistisch struktu- rierten Produktionsbereich riickverweist 41.

Dabei handelt es sich um eine in diesem ~)Kurzroman<~ an- gebotene L6sung der Genrem6glichkeiten entsprechend der unterliegenden kollektiven Arbeitsformen au f allen Stufen des literarischen Produktionsprozesses nicht nur um einen einleitend skizzierten, sondern auch um einen in einer 1/ingeren reflexiven Passage der politisch-literatis.chen Arbeitsbedingungen selbst reflektierten (>)Die Werks ta t t hat Kopfschmerzen<~ 4~) selbst- thematisierten Prozess, der auch einen zun/ichst gescheiterten Anspruch einl6st: n/tmlich den, wo immer und wie m6glich die dokumentar-literarischen Tex te in Zusammenarbei t mit ,Betrof- fenen' zu erarbeiten 43.

39 Margen Alberts, Arbeiter6ffentlichkeit und Literatur. Zur Theorie des Werkkreises Literatur der Arbeitswelt. Mit einem Nachwort yon Horst Hensel. (Hamburg, 1977).

4o Martin Johnscher, Gerd Muschner, Ursula Reic.hel, Erasmus SchS- fer und Hermann Spix

41 Stadtteil Dtisseldorf-Reisholz -- Mannesmann-RiShrenwerke AG [Diisseldorf]

~2 vgl. Wir lassen uns nicht verschaukeln, S. 156--165 48 vgl. Hermann Spix, Elephteria oder die Reise ins Paradies. Betriebs-

roman (Frankfurt/Main 1975); vgl. auch die verOffentlichen Innenan- sichten Erasmus Sch/Sfers, ~>Elephteria oder die Reise ins Paradies --

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Da mich auch hier bei dieser kollektiv-kreativen literarischen Textproduktion die traditionelle soziologische Fragestellung - inwieweit ein literarischer Text eine ~)bessere synthetische Vorstellung [einer Zeit oder eine Epoche] vermittelt als direkte, vielf~ltige und verwirrende Zeitzeugnisse~ 4~ - nicht interessiert, bleibt wieder der Produk t ionsaspek t zu diskutieren: es handelt sich im besonderen um die Wahrnehmung des durchaus nicht ,von Moskau ' (oder were auch immer) aul3engeleiteten und gesteuerten sozio-politischen Auftrag des ~)Werkkreis[es](~ als ~Darstellung der Situation abh~ingig Arbeitender, wornehmlich mit sprachlichen Mitteln<~, a m schliel31ich ~)die gesel lschaft t ichen

Verhiil tnisse im Interesse tier Arbei tenden zu ver~nderm 4~.

Uber diesen Gesichtspunkt hinaus und ganz unabhangig von seinem plakativen wie optimistischen Ausklang im vorliegenden ~)Kurzroman(~ freilich ist das Werk der Dtisseldorfer Werkstat t unter einem weiteren - zugegeben: subkutanen - Blickwinkel gewig ftir eine Analyse kreativer Aspekte literarischer Arbeit durchaus bedenkenswert: denn der einzig professionelle Autor des Werkstatt-Kollektivs, der sozialistische Schriftsteller Eras- mus Sch6fer, ist als individueller A u t o r auf die in der Gemein- schaftsproduktion verarbeitete Erfahrung selbst produktiv in seinem Szenarium )rVerfolgung(~ zuriickgekommen ~6.

Erfahrung des Lektoratsbeauftragten~q in : die horen, 20. Jg. 1975, H. 99, S. 74--77; ders., ~Schriftsteller im Kollektiv. Erfahrungen aus der Praxis der Werkkreisarbeit~; in: L. 76, 1978, H. 6, S. 36-45

4~ Vilfredo Pareto, Trattato di sociologia generale. Volume I; Firenze 1923 ~ [19161], S. 181]182

4s Programm des aWerkkreis[es] Literatur der Arbeitswelt(q zitiert nach Peter Kfihne, ,4rbeiterktasse undLiteratur. Dortmunder Gruppe 61. Werkkreis Literatur der Arbeitswett. Mit einem Essay yon Urs Jaeggi (Frankfurt/Main, 1972), S. 251

~ vgl. Erasmus Sch~Sfer, Bitter Pillen -- Verfolgung -- Die Itgtte gehOrt uns. Texte far Theater, Film, Funk. Mit einem Nachwort yon Horst Angermiiller (Berlin [DDR], 1978), S. 69-146; bundes-deutsche Lizenzausgabe u.d.T. Machen wir heute, was morgen erst sch6n wird. 3 Stficke. M.e. Nachwort v. Agnes Hiifner (Fischerhunde, 1978), S. 69-146

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Speziell der en-d~tail-Vergleich beider literarischer Texte mag - so scheint mir - bedeutsamen AufschluB fiber Unter- schiedlichkeit und Einheitlichkeit der herk6mmlichen individu- ellen und der kollektiv-kreativen Arbeitsweise erm6glichen; und damit auch in Form vonAneignun#sarbeit am Text selbst die differentia speci fica kollektiver Textarbeit herausfinden.

Diese groB-flachige Ubersicht konnte - und wollte ~7 - weder die vorgestellten kollektiv-kreativ produzierten Werke umfas- send wiirdigen noch in ihrer sozialen und ~thetischen Bedeutung werten. Sondern allein auf real-existierende literarische Versuche und Experimente in der bfirgerlichen GeseUschaft unseres Jahrhunderts in Deutschland aufmerksam machen.

Ungerkl~irt ist natiirlich die Frage, ob denn gemeinschaftliche literarische Arbeit an einem Werk (sei es einer Erzahlung, sei es einem Roman, sei es einem Drama) nicht nur/isthetisch sinnvoll, sondern auch kiinstlerisch m6glich ist.

Diese meines Erachtens durchaus entscheidende Fra#e wollte ich in dieser Obersicht, die sich auf kreative Aspekte literarischer Produktion in Form von kollektiver Romanproduktion be- schr/inkte, denn auch nicht diskutieren. Was oft als soziale Funktion von Literatur - wenn natiirlich nicht von jedem einzelnen Werk, so doch von fiktionalen Texten infolge ihrer besonderen Aneignungs- und DarsteUungsweise, mithin vom Corpus Literatur - als ,koUektives Ged~ichnis' ausgemacht wird, so gilt dies gewiB nicht fiir all "ene die sich sei's professio- nell sei's aus Interesse mit der deutschen Romanliteratur unseres Jahrhunderts beschffftigen ftir die hier angesprochenen kollektiv- kreativ erarbeiteten Romane. Diese Versuche oder Experirnente scheinen vielmehr vergessen und verdr/ingt.

Das gilt - durchaus verwunderlicherweise - auch ftir jene beiden Versuche kollektiver Romanproduktion, die das litera-

~7 So erschien Anfang der 80er Jahre in der B R D der gemeinsam von Werner Hilsing und Hannes Schwenger geschriebene satirische Roman: Die Ente vom zw61ften Julei (Frankfurt/Main-- Berlin [West] -- Wten 1981).

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rische System der Bundesrepublik bisher hervorgebracht hat - also ~)Das Ggistehaus~ (1965) und ~)Wir lassen uns nicht verschau- kelm~ (1978); Organisatoren und Autoren riickbeziehen sich, sieht man von Randbemerkungen H611erers in den Erl/iuterun- gen zum Westberliner Versuch ab, nicht einmal in ihren Texten selbst fragmentarisch auf ihre Vorl/~ufer. Beginnen insofern wieder einmal in statu nascendi - was auch meint: dab die meines Erachtens entscheidende Frage nach kollektiven Arbeits- mb'glichkeiten an einem einzelnen literarischen Werk und damit in einem einzelnen dsthetischen Feld wieder unausgesprochen bleibt. DaB die Autoren das gleichwohl aufgeworfene Problem - nun freilich ~)hinter dem Riicken~ (Marx) - vom Punkt Null aus 16sen wollen und sich jeweils auf einen - ihren - Roman wer- fen, entbehrt damit nicht der literargeschichtlichen Tragik.

Auch im Sinn einer Erinnerungsarbeit mag denn vorstehender Bericht fiber bisherige Versuche kollektiver und kreativer Ro- manproduktion in der deutschen Literatur des 20. Jahrhunderts trotz seiner bewuBten Beschfiinkung auf ein /isthetisches Feld

- Literatur - und ein Genre - Roman - etwas beschreibend einholen, was einerseits mit kritisch-systematischer Beschafti- gung mit Literatur erinnernd zusammenNingt und was anderer- seits bisher noch auf allen Stufen des literarischen Prozesses und zugleich der verschiedensten Niveaus literatischer Produk- tion und Rezeption selbst vers~iumt wurde.

Die Bewertung der skizzierten Versuche und Experimente muB natiirlich den Widerspruch im Material selbst nicht wegleug- hen: denn gewiB erscheinen auch mir diese Resultate kollektiv- kreativer Textarbeit in der deutschen Literatur des 20. Jahrhun- derts literarisch wenig ambitioniert (was nicht heil3t, das sie zu Recht vergessen sind). Sie demonstrieren aber doch zugleich, dab es diese Experimente und Versuche gegeben hat und bis in unsere Zeit in verschiedensten Varianten und unter differenzier- ter Arbeitsperspektive gibt. DaB damit auch die Grenzen der ,biirgerlichen' literarischen Form: Roman angesprochen sind: wenngleich diese auch in den vofliegenden Versuchen bei allem erkennbaren produktiven Produzentenvergnfigen nicht - litera-

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risch tragf~hig - iiberwunden werden konnten und grundsRtz- lich offenbleiben muB, ob dies denn iiberhaupt in den Grenze n eines Werks und ~isthetischen Feldes liSsbar ist.

Mit Blick auf meinen Ausgangspunkt in diesem Beitrag jedoeh - also gerade unter literaturdidaktischer Perspektive - halte ich die kollektiv-kreativen Aspekte aller ~isthetischer Arbeit, damit auch der Arbeit mit dem Text und am Text, die die ge- nannten Versuche anzeigen, ftir anregend. Nicht zuletzt wegen des ihnen allen innewohnenden Widerspruchs. Wobei ich sicher bin, dab dieser besondere Widerspruch - kollektiv-kre- ative Textarbeit als wiehtiges und anregendes Moment yon lite- rarischer Arbeit und Textproduktion einerseits, literarisch relativ bedeutungslose Ergebnisse und Werke andererseits - nicht zuletzt im literaturdidaktischen Feld, so jedenfalls nahege- legt von den beiden eingangs genannten didaktisch-operativen Versuchen unserer Zeit, unter dem Primat eigner kleiner Text- produktion anregend und insofern auch produktiv wirken kann. Und ich sehe mich in dieser Wertung auch best~itigt durch eine von zwei Literaturwissenschaftlern ffir Schfiler/innen und Studenten/innen eingerichtete Schreibwerkstatt in Berlin [West], in der der experimentelle Spielcharakter der gemeinschaftlichen Textproduktion dominiert ~8 - auch wenn ich das Motto der Veranstalter (~Schreiben kann jeder~) nicht uneingeschr~inkt teilen kann.

~sVgl. die Erfahrungsberichte der Worshop-Leiter: Gundel Mat- tenklott, Im Labyrinth der Begegnungen. Die Entstehung eines Grup- penromans. In: Neue Sammlung, 24 (1984) 3, S. 262--280; Heinz Blu- mensath, Der Berliner Workshop ~Schreiben~. In: Dietrich Boneke/ Norbert Hopster (Hrg.), Schreiben -- Schreiben lernen. Tfibingen 1985, S. 80--91.