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Wege der Bildung durch Wissenschaft Vom forschungsnahen zum forschenden Lernen an Hochschulen Ludwig Huber Gabi Reinmann

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Wege der Bildung durch Wissenschaft

Vom forschungsnahen zum forschenden Lernen an Hochschulen

Ludwig HuberGabi Reinmann

Vom forschungsnahen zum forschenden Lernen an Hochschulen

Ludwig Huber · Gabi Reinmann

Vom forschungsnahen zum forschenden Lernen an HochschulenWege der Bildung durch Wissenschaft

Ludwig HuberBielefeld, Deutschland

Gabi ReinmannUniversität Hamburg Hamburg, Deutschland

ISBN 978-3-658-24948-9 ISBN 978-3-658-24949-6 (eBook)https://doi.org/10.1007/978-3-658-24949-6

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbiblio-grafie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

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Verantwortlich im Verlag: Stefanie Laux

Springer VS ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Abraham-Lincoln-Str. 46, 65189 Wiesbaden, Germany

V

„Nein, ein Vorwort brauchen wir nicht. Alles, was wir zum Buch zu sagen haben, schreiben wir in die Einführung und in den Anhang; Vorworte sind so schwer-fällig.“ Das war Ludwig Hubers Einschätzung bei der Fertigstellung dieser Monografie und so haben wir es gemacht – in gemeinsamer Übereinkunft, was uns wichtig war, denn: Auch jedes Kapitel dieses Buches hatten wir so lange überarbeitet, bis wir beide zufrieden damit waren.

Nun aber ist ein Vorwort doch unumgänglich geworden – aus dem traurigsten Anlass, den man sich vorstellen kann. Kurz nach Abgabe des Buchmanuskriptes beim Verlag ist Ludwig Huber am 11. Mai 2019 völlig überraschend gestorben. Eine Welle der Anteilnahme und Bestürzung ging durch die Reihen der Hoch-schuldidaktikerinnen, Hochschulforscher und Wissenschaftlerinnen angrenzender Disziplinen, denn Ludwig Huber war nicht nur in hohem Maße fachlich anerkannt, sondern als Persönlichkeit ausgesprochen geschätzt.

Ich habe Ludwig Huber als einen Menschen und Wissenschaftler erlebt, der scharfsinnig und gleichzeitig liebenswürdig war, der sich produktiv und enga-giert und gleichzeitig zurückhaltend und bescheidend zeigte, der beharrlich Ziele anging und gleichzeitig auf andere zuging, der Werte bewahren und gleichzeitig das Neue begrüßen konnte. Es wird wohl kaum jemanden in der Hochschul-didaktik geben, dem Ludwig Huber nicht ein Begriff war. Und alle, die ich kenne, waren und sind ausnahmslos beeindruckt von ihm, seinen Beiträgen und seiner Haltung.

Dass ich mit Ludwig Huber noch ein Buch zum forschungsnahen und for-schenden Lernen machen konnte, ist ein großes Geschenk. Ich habe so viel wie lange nicht mehr beim Verfassen dieser Monografie gelernt – über einen Zeitraum von ziemlich genau eineinhalb Jahren.

Vorwort

VI Vorwort

Ludwig Hubers Tod ist ein großer Verlust für die Hochschuldidaktik. Seine Schriften, seine Ideen und seine weisen Abwägungen aber werden am Leben blei-ben. Ich hoffe, dass dieses Buch ein wenig dazu beitragen kann.

Gabi Reinmann

VII

Was macht den Kern von Hochschulbildung aus? Wie muss Hochschullehre gestaltet werden, um Studierende für Berufe auszubilden, die auf Wissenschaft angewiesen sind, ihnen zugleich einen Zugang zu der von ihnen gewählten Fach-wissenschaft zu ermöglichen und sie in ihrer Persönlichkeitsbildung zu för-dern? Es ist die Verbindung des Lehrens und Lernens mit der Forschung oder gar, immer wieder beschworen, die Bildung durch Wissenschaft, worin der gemeinsame Angelpunkt für diese Aufgaben und das Spezifikum der Hochschul-bildung gesucht wird. Das ist eine weit verbreitete Überzeugung, die sich aller-dings mit einem ebenso verbreiteten Zweifel paart, ob und wieweit man eine Bildung durch Wissenschaft unter den heutigen Bedingungen der Hochschulen überhaupt noch ermöglichen kann. In diesem Zusammenhang haben das Konzept des forschenden Lernens und anderer Formen forschungsnahen Lernens viele Hoffnungen geweckt und in den letzten Jahren eine Fülle an Initiativen und Pro-jekten in der Hochschullehre angeregt.

Ausdruck findet diese Bewegung in unzähligen Veröffentlichungen: Selbst, wenn man sich auf deutschsprachige Veröffentlichungen beschränkt, fällt auf, dass selten so viel zum Thema „forschendes Lernen“ an Hochschulen publiziert wurde wie in den letzten Jahren. Bei näherem Hinsehen lassen sich darin zwei Gruppen von Pub-likationen unterscheiden: auf der einen Seite eine große Menge von Beiträgen zu einschlägigen Zeitschriften, teils konzeptionelle Positionen, teils Praxisberichte prä-sentierend, und auf der anderen Seite eine dichte Folge von Buchpublikationen, die fast ausschließlich die Form von Sammelbänden haben (vgl. Obolenski und Meyer 2006; Huber et al. 2009, 2013; Roters et al. 2009; Lepp und Niederdrenk-Felgner 2014; Katenbrink et al. 2014; Tremp 2015; Schüssler et al. 2014, 2017; Kergel und Heidkamp 2016; Sabla 2017; Laitko et al. 2017; Mieg und Lehmann 2017; Bru-ckermann und Schlüter 2017; Lehmann und Mieg 2018; Ukley und Gröben 2018;

Einführung

VIII Einführung

Kaufmann et al. 2019; Reinmann et al. 2019). Der Ertrag daraus ist eine beträcht-liche Fülle von Beiträgen zu einzelnen Aspekten der Theorie oder des Konzepts des forschenden Lernens einerseits und Erfahrungs- und Auswertungsberichten aus der Praxis sowie Anregungen und Mustern für diese andererseits. Allerdings sprechen die Verfasser häufig nur aus der Sicht eines bestimmten Fachs, einer Fächergruppe oder einer Hochschule, und auch im Gebrauch der Begriffe für forschendes Lernen und seine Varianten zeigen sich, wie bei solcher Ausweitung der Diskussion kaum anders zu erwarten, erhebliche Unterschiede. Insofern herrscht, kurz gesagt, in die-ser Literatur mehr Vielfalt als Kohärenz. Die Vermutung sei gewagt, dass dies in der internationalen, vor allem angloamerikanisch geprägten Literatur, die längst unüber-sehbar geworden ist, nicht wesentlich anders ist.

Unsere IntentionWenn wir zu dieser Literatur nun noch ein Buch beisteuern, dann in der Absicht, eine Art Grundlegung für das Nachdenken über forschendes Lernen und andere Formen forschungsnahen Lernens einzubringen, das die einzelnen Aspekte und Bereiche übergreift und in einen größeren Zusammenhang stellt. So soll das Buch den Leserinnen1 helfen, sich die Verbindungen zwischen den zahlreichen theo-retischen, empirischen und praktischen Aspekten forschungsnahen Lernens und dessen Varianten zu erschließen, die auf viele und sehr verschiedenartige Texte verteilt sind. Doch reicht die Absicht noch weiter:

In die Argumente, die zur Begründung oder für die Forderung nach for-schendem Lernen vorgebracht werden, fließen Gedanken ein, die zum Teil tief in anderen Diskursen wurzeln – beispielsweise über Bildung und Ausbildung in der Hochschule, über Aktivierung und Partizipation von Studierenden, über die grundsätzlichen Vorzüge bestimmter Lernformen oder über Kompetenz-orientierung und Prüfungsgestaltung an Hochschulen –, dort aber ihrerseits viel-schichtig und oft kontrovers diskutiert werden: Wir möchten diese Herkünfte und Hintergründe, die in einzelnen Artikeln oder auch in Einführungen von Sammel-bänden naturgemäß nicht im Zusammenhang behandelt werden können, in den Blick rücken und bewusst machen, weil wir glauben, dass es sie wenigstens ansatzweise zu kennen und zu verstehen gilt.

In der Praxis zeigt sich das forschende Lernen in den verschiedenen Fächern, Ausbildungsgängen, Hochschultypen und Studienphasen erwartungsgemäß in sehr

1Wir verwenden, wo es üblich und sinnvoll ist, geschlechtsneutrale Formulierungen (z. B. Studierende, Lehrende) und wechseln ansonsten zwischen weiblichen und männlichen For-men ab.

IXEinführung

verschiedener Gestalt: In diesem Buch sollen diese zusammengestellt und in ihrer Abhängigkeit von diesen Kontexten, den dort maßgeblichen Zielen, Forschungs-formen und Handlungsmustern gesehen werden. Für die konkrete Umsetzung der vielfältigen Formen des forschungsnahen Lernens, die ja immer mit einer Menge praktischer Probleme und Schwierigkeiten konfrontiert ist, werden in der genannten Literatur auch immerhin schon eine ganze Menge nützlicher Lösungs-vorschläge und methodischer Anregungen angeboten: Diese können und wollen wir hier kaum vermehren, wohl aber die generativen Regeln zu erhellen versuchen, aus denen, immer in Ansehung der jeweiligen Rahmenbedingungen, Ideen und Problemlösungen für die Gestaltung von Lehr- und Lernformen wie auch für Prüfungsformen zum forschungsnahen Lernen entwickelt werden können.

Die wünschenswerte Weiterentwicklung des Konzepts in allen seinen Aus-prägungen und der Austausch über deren Wirkungen, deren Erforschung im Hin-blick auf viele Aspekte noch aussteht, kann unseres Erachtens nicht gedeihen, wenn es nicht gelingt, sich auf bestimmte Bezeichnungen für die in der Theo-rie gemeinten oder in der Praxis umgesetzten verschiedenen Formen zu ver-ständigen: Dazu wiederholen und bekräftigen wir hier unsere früheren Vorschläge für eine differenzierende Benennung und Beschreibung wenigstens der Haupt-typen des forschungsnahen Lernens und der Lehrformate, in denen sie auftreten.

Das Buch ist also nicht als eine unmittelbare Handlungsanleitung für eine gerade bevorstehende Lehrveranstaltung gedacht, sondern, um es zu wiederholen: Es soll eine Grundlage sein für systematisches Nachdenken über forschungsnahes Lernen, für Vergewisserung – angesichts doch immer auch wieder aufkommender Zweifel und Widerstände – über seine Begründungen und prinzipiellen Möglich-keiten und schließlich für kollegiale Verständigung darüber unter denen, die eine eingreifende Veränderung der Lehre in diesem Zeichen selbst schon betreiben oder noch betreiben wollen, oder diejenigen, wie die Hochschuldidaktikerinnen, die sie dabei professionell unterstützen.

Um diese Aufgabe in Angriff zu nehmen, dachten wir auf die Arbeiten zurück-zugreifen und sie zusammenzuführen, die wir beide schon früher, wenn auch über unterschiedlich lange Zeiten hinweg – bei Gabi Reinmann sind es gut zehn Jahre, bei Ludwig Huber ziemlich genau 50 Jahre –, aber in ähnlicher Absicht geschrieben haben. Diese Beiträge sind unterschiedlich umfänglich, lassen deut-lich die jeweilige wissenschaftliche Herkunft – bei dem einen die Allgemeine Didaktik, bei der andern die pädagogisch-psychologische Lehr- und Lern-forschung – erkennen, durch die wir uns ebenso unterscheiden wie ergänzen, und sind daher inhaltlich auch jeweils anders akzentuiert, zeugen aber auch von etli-chen ganz unabsichtlich zustande gekommenen Gemeinsamkeiten, die uns zu der Zusammenarbeit an einem Buch bewogen haben. Dennoch hätte, wie sich zeigte,

X Einführung

das bloße Zusammenschieben der Aufsätze die von uns angestrebte Kohärenz und Klarheit nicht erbracht. Stattdessen haben wir dieses Buch durchgehend neu geschrieben. Natürlich geschah dies arbeitsteilig; es wechselt daher die Haupt-verantwortung zwischen uns in den einzelnen Kapiteln bzw. Unterkapiteln (eine Tabelle im Anhang zeigt dies an). Aber immer hat, wer ein Kapitel federführend entwarf, auch die früheren Texte des anderen einbezogen (vgl. auch dazu die Tabelle im Anhang), und die Entwürfe sind zwecks Abstimmung und Korrek-tur so oft zwischen uns hin und her gegangen, dass wir uns für das Resultat als gemeinsam verantwortlich betrachten.

Aufbau des BuchesWeil es uns zunächst darum geht, was unter forschungsnahem Lernen zu ver-stehen ist, setzen wir in Kap. 1 mit dem Begriff und der Genese dieses didakti-schen Ansatzes ein. Wir liefern eine Definition des forschenden Lernens als Nukleus auch des forschungsnahen Lernens, skizzieren kurz, welche Wege das forschende Lernen seit den 1970 Jahren bis heute genommen hat, gehen aber auch noch weiter auf die Ursprünge des Konzepts und deren historischen Kontext zurück.

Wir fragen anschließend, inwiefern man forschungsnahes Lernen fordern kann und beschäftigen uns in Kap. 2 ausführlich mit den dahinterstehenden Grün-den und Zielen. Wir tun das, indem wir Argumente aus der Bildungstheorie, aus der Qualifikationsforschung, aus der Lehr-Lernforschung und aus dem Selbst-verständnis der Hochschule als Institution heranziehen – den aus unserer Sicht vier wichtigsten Begründungslinien, wobei den oft kontroversen bildungs-theoretischen Diskussionen besondere Aufmerksamkeit zuteil wird.

Spätestens dann erscheint es uns wichtig, forschungsnahes Lernen zu ent-falten. Kap. 3 widmet sich der Differenzierung und diversen Formaten, die den Ansatz so komplex machen. Mit einer Binnendifferenzierung unterscheiden wir drei Typen forschungsnahen Lernens, unter denen das forschende Lernen nur einer ist, versuchen uns sodann in einer kurzen Außendifferenzierung mittels einer Abgrenzung zu verwandten Ansätzen und geben schließlich einen Überblick über verschiedene Formate und ausgewählte Sonderformen.

Für die nachhaltige Implementation in der Hochschulpraxis ist es ent-scheidend, forschungsnahes Lernen zu verankern. Kap. 4 beleuchtet die For-men dieser Verankerung in Hochschulprogrammen und Curricula. Wir gehen dieser Frage sowohl grundsätzlich nach als auch mit Blick auf einige Besonder-heiten, indem wir zum einen die Integration vor allem forschenden Lernens in der Studieneingangsphase als auch das Potenzial forschungsnahen Lernens für den Umgang mit Diversität behandeln.

XIEinführung

Nochmals andere Fragen stellen sich, wenn forschungsnahes Lernen kon-kret zu fördern ist, wenn es also um das Gestalten und Umsetzen geht, was wir in Kap. 5 aufarbeiten. Wir bestimmen verschiedene Gestaltungsfelder und Gestaltungsbedingungen zur Förderung forschungsnahen Lernens, mit einem Fokus auf dem forschenden Lernen im engeren Sinne, bieten ein generisches Gestaltungsmodell an und liefern neben Heuristiken auch methodische Hinweise zu typischen Problemkreisen forschenden Lernens.

Da forschungsnahes Lernen nicht nur zu gestalten, sondern auch zu prüfen ist, beschäftigen wir uns in Kap. 6 mit den Grundlagen und der Praxis von Prü-fungen. Anknüpfend an den Funktionen von Hochschulprüfungen und der prin-zipiell bestehenden Anforderung an kompetenzorientiertes Prüfen schlagen wir eine Reihe generischer Formen und vielfältige Methoden zur Prüfung forschungs-nahen Lernens vor, plädieren aber auch für einen kritischen Umgang mit aktu-ellen Entwicklungen und einen eigenen Blick auf die mögliche Forschungsnähe von Prüfungsformen.

Wie forschungsnahes Lernen mit Bezug auf verschiedene Kontexte und Besonderheiten einzubinden ist, von denen ganz eigene Einflüsse ausgehen, ist Gegenstand von Kap. 7. Ausführlich thematisiert werden die fachspezifischen Forschungsformen selbst sowie Fachkulturen als wesentliche Faktoren, die auf das forschungsnahe Lernen und dessen Ausprägungen und Potenziale ein-wirken. Darüber hinaus nehmen wir als einen der Hochschultypen exemplarisch die Hochschulen für Angewandte Wissenschaften und die Lehrerbildung als besondere Bedingungskonstellationen in den Blick.

Schließen wollen wir das Buch in Kap. 8 mit einer Darstellung und Reflexion, wie forschungsnahes Lernen zu ergründen ist. Dazu stellen wir zunächst eine umfängliche Auswahl aus den vielfältigen Forschungsbefunden zum forschungs-nahen Lernen zusammen und beleuchten diese kritisch. Darüber hinaus ana-lysieren wir, wie, mit welchen Forschungsansätzen, sich forschungsnahes Lernen grundsätzlich und künftig erforschen lässt, und gehen dabei auch in aller Kürze auf die mögliche Rolle des Scholarship of Teaching and Learning2 ein.

Ungeachtet des begründeten Aufbaus des Buches und des intendierten Zusammenhangs unserer Überlegungen sollen doch die Kapitel auch je für sich gelesen werden können. Dafür haben wir begrenzte Wiederholungen einiger

2In diesem Buch schreiben wir englische Wendungen klein und kursiv, ausgenommen Begriffe wie „Scholarship of Teaching and Learning“, „Design-Based Research“, „Ser-vice Learning“ oder „Citizen Science“, die in der deutschen Fachdiskussion weitgehend so übernommen und nicht übersetzt werden, sowie inzwischen eingedeutschte Termini wie „New Public Management“, „Credit Point“ und „Diploma Supplement“.

XII Einführung

Ausführungen an mehreren Stellen in Kauf genommen. Ein jedem Kapitel voran-gestellter Überblick und eine Vorbemerkung mit einer Auflistung der wichtigs-ten Stichworte am Anfang jedes Unterkapitels sollen unseren Leserinnen und Lesern die Orientierung darüber erleichtern, was sie sich jeweils erwarten kön-nen. Über Rückmeldungen und Weiterführungen würden wir uns freuen: die Weiterentwicklung des forschungsnahen Lernens bleibt ja als vermutlich nie abgeschlossene Aufgabe bestehen.

Diese Einführung darf nicht enden ohne einen herzlichen Dank an alle, die uns bei diesem Buch geholfen haben. Für Hilfe durch Gegenlese zu einzelnen Kapiteln oder Unterkapiteln danken wir Susanne Gotzen, Helga Jung-Paarmann, Veronika Jüttemann, Frank Vohle und Barbara Wolbring; für viele Diskussionen einzelner Themen im Buch sei stellvertretend für das Forscherinnenteam am Hamburger Zentrum für Universitäres Lehren und Lernen (HUL) Eileen Lübcke und Alexa Brase gedankt. Für die Unterstützung bei der formalen Fertigstellung des Buches gilt unser besonderer Dank Daria Hoffmann.

XIII

1 Forschungsnahes Lernen verstehen: Begriff und Genese . . . . . . . . . . 11.1 Der Begriff des forschenden Lernens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2

1.1.1 Ein Vorschlag zur Definition des forschenden Lernens . . . . 31.1.2 Unterschiede zu verwandten Ansätzen. . . . . . . . . . . . . . . . . 41.1.3 Die Notwendigkeit einer Definition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9

1.2 Die Wiederentdeckungen des forschenden Lernens . . . . . . . . . . . . 101.2.1 Das Konzept der Bundesassistentenkonferenz (1970) . . . . . 101.2.2 Der politische Kontext . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141.2.3 Der Stillstand in den 1970er und 1980er Jahren . . . . . . . . . 181.2.4 Die Wiederbelebung seit den 1990er Jahren . . . . . . . . . . . . 21

1.3 Der eigentliche Ursprung der Idee des forschenden Lernens . . . . . 241.3.1 Das ursprüngliche Prinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241.3.2 Der historische Kontext . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27

2 Forschungsnahes Lernen fordern: Gründe und Ziele . . . . . . . . . . . . . 292.1 Argumente aus der Bildungstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30

2.1.1 Bildung – ein unentbehrlicher Begriff . . . . . . . . . . . . . . . . . 312.1.2 Bildung und Ausbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 382.1.3 Bildung und Allgemeine Bildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 422.1.4 Bildung durch Wissenschaft – einst und jetzt . . . . . . . . . . . 462.1.5 Einwände aus einer veränderten Hochschule . . . . . . . . . . . . 512.1.6 Folgerungen in der Praxis der Hochschullehre . . . . . . . . . . 53

2.2 Argumente aus der Qualifikationsforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 552.2.1 Schlüsselqualifikationen – ein kurzer Rückblick . . . . . . . . . 562.2.2 Problematik der Begriffe Schlüsselqualifikation und

-kompetenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58

Inhaltsverzeichnis

XIV Inhaltsverzeichnis

2.2.3 Kontroverse bildungstheoretische Bewertungen . . . . . . . . . 632.2.4 Potenziale für eine Berufsorientierung im

forschungsnahen Lernen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 652.3 Argumente aus der Lehr-Lernforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67

2.3.1 Die Sicht der Lehr-Lernforschung im kognitiven Ansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68

2.3.2 Die Sicht der Lehr-Lernforschung im situierten Ansatz . . . 712.3.3 Das Für und Wider aus der Lehr-Lernforschung . . . . . . . . . 732.3.4 Kritische Bewertung aus

pädagogisch-didaktischer Sicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 792.4 Argumente aus dem Selbstverständnis der Hochschule als

Institution . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 812.4.1 Die Einheit von Lehre und Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . 822.4.2 Unsichere Empirie und institutionelle Fiktion . . . . . . . . . . . 87

3 Forschungsnahes Lernen entfalten: Differenzierung und Formate . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 893.1 Binnendifferenzierung forschungsnahen Lernens . . . . . . . . . . . . . . 90

3.1.1 Die Phasen des Forschungszyklus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 913.1.2 Drei Typen forschungsnahen Lernens . . . . . . . . . . . . . . . . . 953.1.3 Unterschiede und Gemeinsamkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1003.1.4 Begriffe im angloamerikanischen Sprachgebrauch . . . . . . . 105

3.2 Außendifferenzierung forschungsnahen Lernens . . . . . . . . . . . . . . 1123.2.1 Gemeinsamkeiten forschenden

Lernens mit verwandten Lernformen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1133.2.2 Differenzierungen forschenden

Lernens zu verwandten Lernformen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1153.3 Formate des forschungsnahen Lernens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117

3.3.1 Eine Systematik zu Formaten forschungsnahen Lernens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118

3.3.2 Sonderformen in Verbindung mit Praktika und Service Learning . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122

4 Forschungsnahes Lernen verankern: Hochschulprogramme und Curricula . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1274.1 Verankerung an Hochschulen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128

4.1.1 Verankerung im Programm der Hochschule . . . . . . . . . . . . 1294.1.2 Verankerung im Curriculum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1314.1.3 Grundsätzliche Fragen zur Verankerung . . . . . . . . . . . . . . . 140

XVInhaltsverzeichnis

4.2 Integration in die Studieneingangsphase . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1444.2.1 Die Studieneingangsphase heute . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1454.2.2 Konzeptionen der Studieneingangsphase im Rückblick . . . 1494.2.3 Forschungsnaher Studienbeginn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1524.2.4 Beispiele forschenden Lernens von Anfang an . . . . . . . . . . 155

4.3 Potenziale für den Umgang mit Diversität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1594.3.1 Der Bedeutungsumfang von Diversität . . . . . . . . . . . . . . . . 1604.3.2 Forschungsnahes Lernen und Diversität . . . . . . . . . . . . . . . 1644.3.3 Forschendes Lernen und Diversität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167

5 Forschungsnahes Lernen fördern: Gestalten und Umsetzen . . . . . . . 1715.1 Gestaltungsfelder im Kontext forschungsnahen Lernens . . . . . . . . 172

5.1.1 Gestaltungsfelder als Grundlage eines generativen Modells . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173

5.1.2 Gestaltungsfelder und ihre Dimensionen . . . . . . . . . . . . . . . 1765.1.3 Ein generatives Gestaltungsmodell für

forschendes Lernen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1805.2 Gestaltungsbedingungen zur Förderung forschenden Lernens . . . . 185

5.2.1 Bedingungen für curricular verankertes forschendes Lernen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186

5.2.2 Bedingungen für extracurriculares forschendes Lernen . . . 1905.2.3 Ressourcen als Bedingungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191

5.3 Gestaltungspraxis der Förderung forschenden Lernens . . . . . . . . . . 1935.3.1 Heuristiken zur Nutzung des Gestaltungs- und

Bedingungsmodells . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1955.3.2 Methoden entlang von Problemkreisen . . . . . . . . . . . . . . . . 199

6 Forschungsnahes Lernen prüfen: Grundlagen und Praxis . . . . . . . . . 2096.1 Grundlagen für die Gestaltung forschungsnaher Prüfungen . . . . . . 210

6.1.1 Funktionen von Hochschulprüfungen . . . . . . . . . . . . . . . . . 2116.1.2 Anforderungen an Hochschulprüfungen . . . . . . . . . . . . . . . 2146.1.3 Anspruch und Wirklichkeit beim Prüfen . . . . . . . . . . . . . . . 218

6.2 Kompetenzorientiertes Prüfen forschungsnahen Lernens . . . . . . . . 2216.2.1 Kompetenzen und Kompetenzmodelle . . . . . . . . . . . . . . . . 2216.2.2 Kompetenzen als Ziel forschungsnahen Lernens . . . . . . . . . 2236.2.3 Folgerungen für die kompetenzorientierte

Prüfungspraxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 228

XVI Inhaltsverzeichnis

6.3 Vielfältiges Prüfen forschungsnahen Lernens . . . . . . . . . . . . . . . . . 2306.3.1 Generische Prüfungsformen als Grundlage . . . . . . . . . . . . . 2316.3.2 Typen forschungsnahen Prüfens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2366.3.3 Erwägungen für die Praxis des Prüfens

forschungsnahen Lernens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2386.4 Besondere Optionen für das Prüfen forschenden Lernens . . . . . . . . 242

6.4.1 Prüfungsanaloge Forschungsmomente . . . . . . . . . . . . . . . . 2426.4.2 Forschungskohärente Prüfungsmöglichkeiten . . . . . . . . . . . 245

7 Forschungsnahes Lernen einbinden: Kontexte und Besonderheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2497.1 Der Einfluss der Forschung auf forschungsnahes Lernen . . . . . . . . 250

7.1.1 Forschungstätigkeiten und Disziplinen . . . . . . . . . . . . . . . . 2527.1.2 Ordnung von Disziplinen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2557.1.3 Erkenntnistätigkeiten im Forschungsprozess . . . . . . . . . . . . 2607.1.4 Unterstützung von Erkenntnistätigkeiten

beim forschenden Lernen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2647.2 Fachkulturen und forschungsnahes Lernen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269

7.2.1 Der Begriff Fachkultur und seine Bedeutung in der Hochschuldidaktik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269

7.2.2 Fachkulturen im engeren Sinne und forschungsnahes Lernen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273

7.3 Forschungsnahes Lernen in Hochschulen für Angewandte Wissenschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2807.3.1 Die institutionelle Ausgangslage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2817.3.2 Spezifische Hindernisse und Chancen . . . . . . . . . . . . . . . . . 2847.3.3 Weiterentwicklung forschungsnahen Lernens an

Fachhochschulen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2867.4 Lehrerbildung als besonderer Ort für forschungsnahes Lernen . . . . 287

7.4.1 Gründe und Ziele für forschungsnahes Lernen in der Lehrerbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289

7.4.2 Erfahrungen mit „forschendem Lernen“ im Praxissemester . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 293

7.4.3 Differenzierung der Formen und Ansprüche . . . . . . . . . . . . 2957.4.4 Voraussetzungen forschungsnahen Lernens im

Praxissemester . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 298

XVIIInhaltsverzeichnis

7.5 Forschungsnahes Lernen in der wissenschaftlichen Weiterbildung für Ältere . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3007.5.1 Forschendes Lernen im Seniorenstudium . . . . . . . . . . . . . . 3017.5.2 Unterschiede und Gemeinsamkeiten zum Erststudium . . . . 3027.5.3 Anschluss- und Entwicklungsmöglichkeiten für das

Erststudium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 304

8 Forschungsnahes Lernen ergründen: Befunde und Forschungsansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3078.1 Exemplarische Forschungsbefunde zum

forschungsnahen Lernen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3088.1.1 Die Rolle der Empirie in der Erforschung

forschungsnahen Lernens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3108.1.2 Bestehende Übersichten über Befunde . . . . . . . . . . . . . . . . 3138.1.3 Ausgewählte Erkenntnisse zu Einstellungen

Lehrender und Studierender . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3178.1.4 Ausgewählte Erkenntnisse zu Anleitung und

Strukturierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3198.1.5 Ausgewählte Erkenntnisse zu Wirkungen und

Lernergebnissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3218.1.6 Kritische Bewertung der aktuellen Forschung . . . . . . . . . . . 323

8.2 Ansätze zur Erforschung forschungsnahen Lernens . . . . . . . . . . . . 3278.2.1 Forschung zur Generierung von Systemwissen . . . . . . . . . . 3288.2.2 Forschung zur Generierung von Zielwissen . . . . . . . . . . . . 3368.2.3 Forschung zur Generierung von

Transformationswissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3428.3 Scholarship of Teaching and Learning und

forschungsnahes Lernen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3478.3.1 Der Begriff des Scholarship of Teaching and Learning . . . . 3488.3.2 Reflexion und Forschung zum

forschungsnahen Lernen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 350

Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 355

Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 363

Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 369

Stichwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 421

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Forschungsnahes Lernen verstehen: Begriff und Genese

ÜberblickWie in der Einführung schon angedeutet: Das Thema „forschendes Lernen“ erlebt in diesen Jahren eine ungeahnte Konjunktur. Lang ist allein schon im deutsch-sprachigen Bereich die Liste der Bücher und Artikel in Sammelwerken und Zeitschriften, analog und digital, die dem forschenden Lernen gewidmet sind, noch größer vermutlich die Menge der in den Hochschulen unter dieser Devise laufenden Veranstaltungen, Projekte und Experimente, die nicht publiziert wer-den. Nicht wenige Hochschulen erklären sich auf ihren Web-Seiten dem Prin-zip des forschenden Lernens verpflichtet oder suchen sich in ihren Anträgen zu Wettbewerben oder Förderprogrammen mit dem Anspruch, forschendes Ler-nen zu fördern, zu profilieren. So erfreulich diese Entwicklung aus der Sicht der Anhänger dieses Ansatzes ist, so wenig erstaunlich ist es bei so ausgeweiteter Verwendung, dass der Begriff des forschenden Lernens an Klarheit und Schärfe verliert und in vielfältigen Bedeutungen gebraucht wird und dass ähnliche Begriffe mit ihrerseits unklaren Abgrenzungen neben ihm auftauchen.

Angesichts dessen unternehmen wir es in diesem ersten Kapitel zunächst, eine Definition des forschenden Lernens im engeren Sinne vorzuschlagen und zu begründen. Neben der, uns als Referenz dienenden, Definition und deren Funk-tion klärt Abschn. 1.1 die Unterschiede des forschenden Lernens zu verwandten Ansätzen und bietet notwendige Differenzierungen und Ergänzungen an.

Daran schließen wir, weil die Genese zu kennen für ein tieferes Verständnis des mit dem „forschenden Lernen“ eigentlich Gemeinten unentbehrlich ist, einen knappen Rückblick an. Dieser konzentriert sich in Abschn. 1.2 zunächst auf die jüngere Geschichte dieses Studienreformkonzepts seit 1970 und deren Ver-knüpfung mit dem politischen Kontext, und erstreckt sich bis zur Wiederbelebung seit den 1990er Jahren nach einer Phase des Stillstands.

1

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 L. Huber und G. Reinmann, Vom forschungsnahen zum forschenden Lernen an Hochschulen, https://doi.org/10.1007/978-3-658-24949-6_1

2 1 Forschungsnahes Lernen verstehen: Begriff und Genese

In Abschn. 1.3 schließlich greifen wir noch weiter zurück auf den Ursprung der hinter dem forschenden Lernen liegenden Idee in den neuhumanistischen Universitätskonzepten nach 1800. Hier nämlich stehen wir vor dem ursprüng-lichen Konzept, das sich nur im Kontext der historischen Bedingungen verstehen lässt.

1.1 Der Begriff des forschenden Lernens

VorbemerkungWann immer „forschendes Lernen“ – oder dann ähnlich auch „forschungs-basiertes“, „forschungsorientiertes“, „forschungsnahes“ oder „forschungs-bezogenes“ Lernen – beschworen wird, sind Gemeinsamkeiten in den grundlegenden Intentionen erkennbar: Einführung in und Teilhabe an Wissen-schaft, Erfahrung von Forschung in irgendeinem Grade, aktives Hinarbeiten auf ein Ergebnis und dessen Mitteilung gehören wohl in den meisten Fällen zu den Motiven. Vielen Autoren genügt eine Berufung auf so oder ähnlich formulierte lobenswerte Absichten, um ohne weitere Umstände in die Darstellung ihrer Kon-zepte oder Aktivitäten einzusteigen. Aber mit ihnen ist die spezifische Differenz des forschenden Lernens gegenüber den vielfältigen verwandten Ansätzen nicht genau genug bestimmt, um wissenschaftlich darüber sprechen zu können. Und auch wenn, selten genug, Definitionen angeboten werden, lassen sie es oft an Genauigkeit der Abgrenzung fehlen. So zum Beispiel, an prominenter Stelle, die von Reiber und Tremp (2010, S. 3): „Forschendes Lernen meint die Einführung in die Wissenschaft im Medium wissenschaftlicher Reflexion und Arbeitsformen. Gelernt wird Forschungshandwerk ebenso wie disziplinäres Wissen. Eingeübt wird eine Haltung, welche wissenschaftliches Tun auszeichnet“. Unter einer solchen Definition von forschendem Lernen sind immer noch sehr verschiedene Ansätze (von „Einführungen in wissenschaftliches Arbeiten“ bis „Methoden-kurs“) subsumierbar. Wir halten schon zur anfänglichen Orientierung eine genaue Definition für nötig, die es erlaubt, das forschende Lernen von verwandten hoch-schuldidaktischen Ansätzen abzugrenzen.

StichwörterForschendes Lernen – Forschungszyklus – problemorientiertes Lernen – projektorientiertes Lernen – unabhängiges Studium – wissenschaftliches Arbeiten

3

1.1.1 Ein Vorschlag zur Definition des forschenden Lernens

Um klar zu machen, wovon wir sprechen, greifen wir auf die Definition von Huber (2009c, S. 11) zurück:

„Forschendes Lernen zeichnet sich vor anderen Lernformen dadurch aus, dass die Lernenden den Prozess eines Forschungsvorhabens, das auf die Gewinnung von auch für Dritte interessanten Erkenntnissen gerichtet ist, in seinen wesentlichen Phasen – von der Entwicklung der Fragen und Hypothesen über die Wahl und Aus-führung der Methoden bis zur Prüfung und Darstellung der Ergebnisse in selbst-ständiger Arbeit oder in aktiver Mitarbeit in einem übergreifenden Projekt – (mit)gestalten, erfahren und reflektieren.“

Diese Definition ist seit ihrer Veröffentlichung oft übernommen worden – auch in Texten, die sich im Weiteren mit Ausprägungen des forschenden Lernens befassen, die dieser Definition nicht entsprechen (das gilt auch für manche unse-rer eigenen Texte). In den zehn Jahren seit ihrer Veröffentlichung ist vielmehr klar geworden, dass die so definierte Form des forschenden Lernens nur eine Variante neben anderen, ihr verwandten, darstellt, die, untereinander noch ein-mal verschieden, zwar einige, aber nicht alle Elemente dieser Definition ent-halten, insbesondere nicht alle Phasen des Forschungszyklus einschließen, aber doch in irgendeiner Weise an oder auf Forschung orientiert sind. Auf diese ande-ren Varianten, die dann auch eigene Namen benötigen, und deren Merkmale werden wir später eingehen und daraus einen Vorschlag für einen Oberbegriff ableiten und begründen, der auch diese umfasst: forschungsnahes Lernen (siehe Abschn. 3.1). Der Klarheit in allen nachfolgenden Ausführungen halber sei schon hier auch für diesen eine Definition eingebracht:

Forschungsnahes Lernen umfasst über forschendes Lernen im engeren Sinne, in dem Studierende einen Forschungsprozess selbst forschend vollständig durchlaufen, hinaus alle diejenigen anderen Formen des Lehrens und Lernens, welche die Stu-dierenden explizit an Forschung als Prozess heranführen, indem sie einen solchen nachvollziehbar vor- und zur Diskussion stellen oder die Studierenden Elemente daraus als Ausschnitte aus einem mitgedachten Forschungszusammenhang üben und erlernen lassen.

Hier soll nur festgehalten werden, dass wir uns in diesem Buch bemühen, von forschendem Lernen nur zu sprechen, wenn es im engeren Sinne, also im Sinne der erstgenannten Definition, gemeint ist, sonst aber den weiteren Begriff des

1.1 Der Begriff des forschenden Lernens

4 1 Forschungsnahes Lernen verstehen: Begriff und Genese

forschungsnahen Lernens gebrauchen werden. Obwohl oft genutzt, ist diese Definition in den einzelnen Bestimmungen nicht unumstritten. Darum sei kurz erörtert, was sie impliziert und wovon sie abgrenzt.

1.1.2 Unterschiede zu verwandten Ansätzen

Forschendes Lernen unterscheidet sich nach dieser Definition von anderen, durchaus verwandten Ansätzen, die auf die Förderung der Eigenaktivität bzw. Selbstständigkeit der Lernenden zielen und jeweils ihr eigenes Verdienst haben: Lerner- oder Studierendenzentrierung (learner-centered education, student-cen-tered learning), selbstständiges Lernen (self-regulated learning), unabhängiges Studium (independent learning), entdeckendes oder problemorientiertes Lernen (enquiry based learning, problem-based learning), situiertes Lernen, Projekt-arbeit oder projektorientiertes Studium (project work, project study). Forschendes Lernen – und das gilt unterschiedlich auch für die anderen Typen forschungs-nahen Lernens – hat von jedem dieser Ansätze etwas, setzt aber auch jeweils einen spezifischen Akzent.

Es gehört, idealtypisch gesehen, zweifellos zu forschendem Lernen, dass die Studierenden selbst eine sie interessierende Frage- bzw. Problemstellung ent-wickeln oder sich entscheiden, eine solche von ihren Lehrenden zu übernehmen und deren Bearbeitung (mit)gestalten dürfen. Insofern ist forschendes Lernen studierendenzentriert und mit dem seit Barr und Tagg (1995) von vielen pro-klamierten „shift from teaching to learning“ vereinbar (zur Problematik dieser Formel vgl. aber Reinmann 2018c).

Nähe und Differenz zu problemorientierten LernformenAlles hochschulische Lernen sollte von einer Frage oder einem Problem aus-gehen (Levy 2009). Beim forschenden Lernen aber liegt besonderes Gewicht auf der Entwicklung einer eigenen Fragestellung: Die Fähigkeit, überhaupt Fragen zu stellen bzw. Probleme zu definieren und zu strukturieren, bringen Studierende nicht selbstverständlich von der Schule mit, müssen sie oft vielmehr erst ler-nen, und doch gehört diese Fähigkeit zu den wichtigsten Schlüsselkompetenzen, die sie im Studium ausbilden können sollen (vgl. Pasternack 2008; siehe auch Abschn. 2.1 und 2.2).

Diese Fragestellung sollte nicht nur subjektiv bedeutsam sein, auch nicht nur als methodisches Prinzip für ein besseres eigenes Lernen eingesetzt wer-den, sondern ein Ergebnis (wenigstens) anstreben, das für Dritte von Interesse

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sein könnte. Diese Bestimmung ist besonders strittig, aber in ihr liegt eine unse-rer Einschätzung nach entscheidende Differenz zu den anderen ansonsten ver-wandten didaktischen Konzepten: Das angestrebte Ergebnis soll nicht nur als Lerngewinn für die Lernenden selbst zählen, sondern auch der Mitteilung an andere (jenseits der eigenen Lerngruppe) wert sein. Dadurch erst wird der for-schend Lernende Teil der wissenschaftlichen Gemeinschaft, deren Arbeit ja erst durch Mitteilung zu einem (vorläufigen) Ende kommt bzw. überhaupt zu Wissen-schaft wird. Das mögliche Interesse der Ergebnisse für Dritte ist im Übrigen auch für die Motivation der Studierenden zum forschenden Lernen wichtig, liegt doch darin der Unterschied zu einem Lernen nur für die Prüfung. Die hier gemeinten Dritten können neben Kommilitonen und anderen Angehörigen der Hochschule zum Beispiel Kommunen, Schulen, Verwaltungseinrichtungen, Bürgerinitiativen oder private Unternehmen sein. Angemerkt sei, dass die Formulierung „Interesse für Dritte“ insofern schon einen Kompromiss darstellt, als damit nicht postuliert wird, es müssten, damit überhaupt von forschendem Lernen gesprochen werden darf, die Ergebnisse „neu“ für das Wissenschaftssystem im Weltmaßstab sein oder die Disziplin verändern – ein Kriterium, das ja auch im Alltagsbetrieb der etablierten Wissenschaftler längst nicht immer erfüllt wird oder nicht ohne weite-res festgestellt werden kann oder gar nicht vorrangig angestrebt wird. Der Hoch-schuldidaktische Ausschuss der Bundesassistentenkonferenz (BAK, siehe dazu Abschn. 1.2) hat diese Problematik ausführlich und im Blick auf verschiedene Fächer diskutiert (BAK 1970b, Tz. 4.1) und daraufhin das Kriterium „neu“ nicht unter die konstitutiven Merkmale des forschenden Lernens aufgenommen.

Forschendes Lernen vollzieht sich in der Arbeit an Problemen, ist also natür-lich eine Form des problemorientierten Lernens. Aber nicht alles problem-orientierte Lernen ist gleichbedeutend mit forschendem Lernen. Die Entwicklung einer eigenen Fragestellung und das Anstreben eines für Dritte mitteilungs-würdigen Ergebnisses sind Merkmale, die es zum Beispiel vom problem-based learning, jedenfalls in dessen klassischer Konzeption (vgl. Boud und Feletti 1997; Savin-Baden 2000), unterscheiden, nach der die Studierenden von einer vorgegebenen Frage aus selbstständig die Methoden und Inhalte erarbeiten, die zu einem im Prinzip bekannten Ergebnis führen (siehe auch Abschn. 3.2). For-schendes Lernen hat es demgegenüber mit authentischen Fragen zu tun, in einem Erkenntnisinteresse, das an eine Sache (einen konkreten Erkenntnis- bzw. Forschungsgegenstand) gebunden ist und inhaltliche Neugier darauf richtet. Es ist insofern auch ein situiertes Lernen. Aber nicht alles situierte Lernen ist mit einem solchen inhaltlichen Erkenntnisinteresse verbunden (siehe Abschn. 2.3 und 3.2).

1.1 Der Begriff des forschenden Lernens

6 1 Forschungsnahes Lernen verstehen: Begriff und Genese

Nähe und Differenz zu Projektstudium und projektorientiertem LernenEine weitere Unterscheidung ist zwischen forschendem Lernen und Projekt-studium zu treffen. Forschung vollzieht sich nicht nur, aber doch meist in Pro-jekten, der Ausdruck „Forschungsprojekt“ ist alltäglich. Gleichwohl ist, genau besehen, „Projektstudium“ oder, abgeschwächt, „projektorientiertes Studium“ nicht identisch mit forschendem Lernen, auch wenn beide Ausdrücke häu-fig fast wie Synonyme gebraucht werden. Historisch betrachtet ist Projekt-studium sogar ausdrücklich als kritisches Konzept gegen forschendes Lernen aufgebracht und vertreten worden (siehe Abschn. 1.2). Gegenüber dem Konzept des forschenden Lernens, das die Frage des Gegenstandes völlig offen lässt und das angestrebte Ziel nur formal als eine neue bzw. auch für Dritte interessante Erkenntnis angibt, besagt das ursprüngliche Verständnis von Projektstudium, dass es ein gesellschaftlich relevantes Problem in kritischer Absicht aufgreifen und über Erkenntnis hinaus in ein „Produkt“ münden sollte, das eine Wirkung in der (Veränderung der) gesellschaftlichen Praxis entfalten könnte (vgl. Tippelt 1979; Wildt 1983 mit weiterer Literatur). Projektstudium in diesem Sinne schließt also eigenes Forschen ein, besonders in der Form der Aktionsforschung (siehe Abschn. 8.2), geht aber darin nicht auf.

Nähe und Differenz zum wissenschaftlichen ArbeitenForschendes Lernen ist schließlich gegenüber anderen Formen wissenschaft-licher Arbeit abzugrenzen. Als solche kann gelten, was Studierende in Form von Essays, Recherchen oder Referaten im Zusammenhang mit Seminar-, Haus- oder Prüfungsarbeiten leisten, wenn sie dabei logisch, systematisch, methodisch und nachprüfbar arbeiten. Zum wissenschaftlichen Arbeiten zählt ebenfalls, was Wissenschaftlerinnen in Ausarbeitungen, Gutachten usw. für praktische Zwecke oder für Arbeit- oder Auftraggeber zusammenstellen und untersuchen. Wissen-schaftliches Arbeiten will im Prinzip vorhandenes Wissen aufsuchen (recher-chieren) und unter einer bestimmten Frage- oder Problemstellung für einen bestimmten Zweck oder Zusammenhang zusammentragen, aufbereiten oder evaluieren. Soweit wissenschaftliches Arbeiten nicht von vornherein auf neue Erkenntnisse und deren Publizierung in einer weiteren Öffentlichkeit zielt, ist sie nicht als Forschung anzusehen. Allerdings sind die Grenzen fließend und je nach Fach schwer zu ziehen (siehe auch Abschn. 7.3): Unzweifelhaft können solche Arbeiten eine Vorstufe zu oder eine Phase von Forschung sein (so etwa Recherchen) oder im Verlauf doch auch zu das Wissen erweiternden Erkennt-nissen führen, und in diesem Sinne tauchen sie auch im „Zürcher Framework“ zur Verknüpfung von Lehre und Forschung (Tremp und Hildbrand 2012; siehe

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Abschn. 4.1 und 6.4.1) auf.1 Schon der Hochschuldidaktische Ausschuss der Bundesassistentenkonferenz, der sich in der Auseinandersetzung mit dem Krite-rium „neu“ darum bemüht hat, kam zu dem Schluss, dass die Unterscheidung in manchen Fächern keine prinzipielle sei (BAK 1970b, Tz. 4.1).

Nähe und Differenz zu selbstständigem und unabhängigem LernenSelbstständiges Lernen ist ein Ziel, das mit vielen Lernformen, keineswegs nur mit dem forschenden Lernen, sondern beispielsweise auch mit solchen der Aneignung von Wissen, der Anfertigung von Hausarbeiten oder der Durch-führung von Praktika verbunden werden kann. Es ist eine generelle Forderung, die vor allem aus der pädagogisch-psychologischen Lehr-Lernforschung heraus-gestellt (siehe Abschn. 2.3), zuweilen auch bildungstheoretisch begründet wird. Die Aufnahme der Bestimmung „selbstständig“ in die Definition des forschen-den Lernens entspricht jedoch auch der historischen Bedeutung, die dieses unter den Merkmalen des forschenden Lernens der Bundesassistentenkonferenz (BAK 1970b) hatte. Das Hauptmotiv seinerzeit war eher politisch als didak-tisch; es ging um auch gegenüber Professoren und Curriculum selbstständige Teilhabe der Studierenden an Wissenschaft, die ihrerseits als die entscheidende Kraft für die Aufklärung und Weiterentwicklung der Gesellschaft begriffen wurde (vgl. BAK 1968), und um die „Demokratisierung“ der Hochschule, damit diese Teilhabe möglich würde. Diese Bestimmung „selbstständig“ in die Defi-nition aufzunehmen bedeutet, die Frage immer präsent zu halten, welcher Grad von Selbstständigkeit (oder Autonomie oder Selbstorganisation2) und bezüglich welcher Entscheidungen jeweils möglichst erreicht werden soll. Er ist zum Bei-spiel geringer bei der Einbindung von Studierenden in die größeren Forschungs-projekte eines Instituts; trotzdem kann diese den Zielen des forschenden Lernens insgesamt dienen, selbst, wenn das nur durch irgendeine Teilarbeit möglich ist. Voraussetzung ist aber, dass die Studierenden Gelegenheit bekommen, den Zusammenhang des Projekts, an dem sie mitwirken, zu begreifen und zu dis-kutieren und auch den gesellschaftlichen Kontext und die Verantwortung der

1Vgl. Russell und Cortes (2012): Sie konstatieren in einschlägigen Veröffentlichungen einen verwirrenden Gebrauch von „research, academic und scientific“ für Produktionen von Studierenden, Hochschullehrenden und Professionals und setzen dann „academic“ als Terminus für studentisches, „scientific“ für professionelles Schreiben an, das durchaus sys-tematic inquiry einschließen kann, und heben „scientific research for publication“ davon ab.2Wir gehen an dieser Stelle nicht auf die bisweilen gemachten Unterschiede ein (vgl. z. B. Reinmann 2010).

1.1 Der Begriff des forschenden Lernens

8 1 Forschungsnahes Lernen verstehen: Begriff und Genese

Wissenschaft mit zu reflektieren, also nicht nur einfach als Hilfskräfte instrumen-talisiert werden.

Forschendes Lernen könnte sich zwar theoretisch auch unabhängig bzw. fern von Lehrenden und Lehrveranstaltungen – also als independent study – voll-ziehen, aber nach dem alten Ideal der Universität geht es um Eintreten in die Gemeinschaft der Lehrenden und Lernenden (vgl. Ludwig 2014; Langemeyer 2018; siehe Abschn. 2.1 und 2.4) und nach den neuen Zielsetzungen gleichzeitig um soziales Lernen zur Entwicklung sozialer Kompetenzen. Im forschenden Lernen soll Wissenschaft gerade als sozialer Prozess erfahren werden. Insofern reicht die Ermöglichung forschenden Lernens über die Einrichtung einer Lern-umgebung, in der Studierende individuell lernen und eventuell forschen, hinaus. Selbst die unabhängig von Kursen organisierten Formen des forschenden Ler-nens („Börsenformat“; siehe Abschn. 3.3) vollziehen sich in Teams und bleiben im Zusammenhang mit betreuenden Lehrenden oder größeren Arbeitszusammen-hängen, in die sie eingebunden werden.

Der Forschungszyklus als charakteristisches MerkmalSchließlich impliziert die Definition, dass im forschenden Lernen alle Phasen eines Forschungsprozesses, deren wichtigste sie nennt, durchlaufen werden. Es soll die kognitive, emotionale und soziale Erfahrung des ganzen Bogens ermög-lichen, der sich von der Neugier oder dem Ausgangsinteresse aus, von den Fra-gen und Strukturierungsaufgaben des Anfangs über die Höhen und Tiefen des Prozesses, Glücksgefühle und Ungewissheiten, bis zur selbst (mit-) gefundenen Erkenntnis oder Problemlösung und deren Mitteilung spannt. Schneider und Wildt (2009) beschreiben diesen Bogen als Forschungszyklus ausführlicher und zeigen auf, wie er sich mit dem allgemeineren grundlegenden Lernzyklus (des Lernens durch Erfahrung) verbinden lässt. Irgendeine Vorstellung von solchen Phasen liegt den meisten Konzepten und Berichten von Durchführungen for-schenden Lernens zugrunde. Pedaste et al. (2015) haben aus solchem Material die typischsten empirisch rekonstruiert. Dass ein solcher Zyklus vollständig durch-laufen werden sollte, ist angesichts der Rahmenbedingungen des Studiums nach „Bologna“ ein sehr hoher Anspruch, und in der Tat lassen sich, wie später noch zu zeigen ist, die vielfältigen vorfindlichen Gestaltungen des forschungsnahen Lernens zu Typen gruppieren, die sich danach unterscheiden, ob sie den ganzen Zyklus durchlaufen – das wäre dann als forschendes Lernen im engeren Sinne zu kennzeichnen – oder sich auf jeweils einen Teil der Phasen konzentrieren (siehe Abschn. 3.1).

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1.1.3 Die Notwendigkeit einer Definition

Was ist überhaupt der Wert einer solchen Definition? Es kann nicht ihr Zweck noch wird es jemals der Effekt sein, die Fülle der Erscheinungsformen des for-schenden Lernens gleichsam unter das Joch dieser Definition zu zwingen. Wie schon angemerkt, kommt ein Teil der Literatur ganz ohne eine solche Definition aus, ein anderer begnügt sich mit sehr allgemeinen Formulierungen. Das aber bringt es mit sich, dass unklar bleibt, wie sich die entsprechenden Versuche ver-orten, welche Ziele und Gründe sie teilen, an welchem Maßstäben sie sich mes-sen lassen wollen, mit welchen anderen Versuchen sie vergleichend betrachtet und empirisch untersucht werden könnten.

Nicht wenige Autoren arbeiten stattdessen mit einer Aufzählung von Ele-menten oder Merkmalen (so schon die BAK 1970b, siehe Abschn. 1.2.1; vgl. z. B. Euler 2005, S. 266 ff.). Das kann zunächst sogar anschaulicher sein als eine Definition. Die damit verbundenen „deskriptiven Regeln“ haben jedoch im Unterschied zu „generativen Regeln“, wie man sie gegebenenfalls aus der obigen Definition ziehen könnte (zu dieser Unterscheidung, vgl. Neuweg 2015, S. 156) den pragmatischen Nachteil, nicht so bündig zitiert werden zu können. Auch finden sich schon innerhalb solcher Listen und zwischen ihnen oft verschiedene Ebenen oder Perspektiven vermischt; kaum eine Liste ist mit einer anderen iden-tisch. Ohne Definition eines generativen Prinzips, aus dem Gestaltungsmerkmale und Bewertungskriterien entwickelt werden können, erscheinen sie daher leicht beliebig.

Man könnte unsere Definition anfechten mit dem Argument, dass die hier vor-geschlagene Formulierung einen Idealtypus von forschendem Lernen definiert, der in der Praxis nicht leicht zu erreichen ist. Das ist zuzugeben; dagegen steht, dass ein solcher Maßstab das Bewusstsein dieser Differenz zwischen Ziel und Wirklichkeit wach hält, statt sie zu übergehen, und so den Anstoß gibt, sie nach Möglichkeit zu verringern. Die Elemente dieser Definition bilden darum eine Art Checkliste, anhand derer Gestaltungen des forschungsnahen Lernens daraufhin befragt und geplant werden können, wie weit sich in ihnen, eventuell auch nur ansatzweise, forschendes Lernen oder sonst andere Typen des forschungsnahen Lernens realisieren lassen.

Bei allen Definitionsversuchen muss man allerdings vorbereitet und offen bleiben für die erheblichen Unterschiede zwischen den Fächern, die sich schon in unterschiedlichen Begriffen und Paradigmen von „Forschung“ selbst manifes-tieren (siehe Abschn. 7.2), folglich und erst recht in den Formen forschungsnahen Lernens. Die Konzepte forschungsnahen Lernens werden also unterschiedlich,

1.1 Der Begriff des forschenden Lernens

10 1 Forschungsnahes Lernen verstehen: Begriff und Genese

die Grenzen fließend bleiben; umso wichtiger sind die Gemeinsamkeiten in der grundsätzlichen Intention, Wissenschaft als immer unabgeschlossene Suche und zugleich als sozialen Prozess erfahrbar zu machen. Sie sind es auch, für welche die im Kap. 2 folgenden Begründungen für das forschungsnahe Lernen insgesamt gelten.

1.2 Die Wiederentdeckungen des forschenden Lernens

VorbemerkungDas Geburtsjahr des Konzepts des forschenden Lernens, das der heuti-gen Diskussion – und auch unserer Definition (vgl. Abschn. 1.1) – immer noch zugrunde gelegt wird, kann genau angegeben werden: Im Jahre 1969 erarbeitete der Hochschuldidaktische Ausschuss der Bundesassistenten-konferenz (BAK) die dann anfangs des Jahres 1970 veröffentlichte Denk-schrift „Forschendes Lernen – Wissenschaftliches Prüfen“ (BAK 1970b). Der Sache nach handelte es sich freilich um eine Wiederentdeckung dieser Idee (siehe Abschn. 1.3). Nach zunächst rasch aufeinander folgenden Auflagen in nach und nach zigtausend Exemplaren (die genaue Zahl ist nicht mehr fest-stellbar) war die Schrift jahrelang vergriffen (und nicht mehr gefragt), bevor sie 2009 durch einen Neudruck wieder zugänglich wurde (Bielefeld: Uni-versitätsverlag Webler). Im Folgenden wird zunächst diese Gründungsschrift selbst charakterisiert, dann der historische Kontext, in dem sie entstanden ist, vergegenwärtigt und schließlich auf die weitere Geschichte dieses Konzepts geblickt, in deren Verlauf es noch einmal zu einer Wiederbelebung kam.

StichwörterBologna-Reform – Bundesassistentenkonferenz – genetisches Lernen – Hochschuldidaktik – Hochschulpolitik – kritisches Lernen – Studenten-bewegung – Studienreformgeschichte – Wissenschaft als Prozess

1.2.1 Das Konzept der Bundesassistentenkonferenz (1970)

Der Hochschuldidaktische Ausschuss der Bundesassistentenkonferenz ver-stand sich als Teil einer hochschulpolitischen Bewegung und wollte mit seinem

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Manifest zur Studienreform beitragen, nicht eine Habilitationsschrift verfassen. Natürlich ist dies und die Entstehungszeit dem Text in seinem Duktus und sei-nen Formulierungen anzumerken (siehe unten). Die Argumentation enthält nichts-destoweniger grundsätzlich wichtige Elemente3, die bei jeder neuen Annäherung an Versuche mit forschendem Lernen bedacht, gewichtet und bewertet werden müssen.

Wissenschaft als ProzessDie Denkschrift expliziert als Anfang eine Grundauffassung von Wissenschaft als einem dynamischen, offenen und reflexiven Prozess. Laitko (2017, S. 18 f.) stellt sie deswegen in einen Zusammenhang mit einer Schwerpunktverlagerung in der Wissenschaftsreflexion und -forschung in den 1960er Jahren überhaupt: „von der zeitunabhängigen Analyse der Inhalte und Strukturen des Wissens zur Betrachtung seiner Evolution“ und in der Tätigkeit ihrer Akteure. Die Bundes-assistentenkonferenz folgert daraus Prinzipien für das Studium: „Die ihm eigen-tümlichen Verhaltensweisen und Einstellungen müssen zugleich die Ziele jeder wissenschaftlichen Ausbildung darstellen“ (vgl. Textziffer – im Folgenden: Tz. 1.2); sie sind ebenso auch für jede wissenschaftliche Berufstätigkeit in der verwissenschaftlichten Gesellschaft notwendig (vgl. Tz. 1.3, 1.5). „Wenn Wissen-schaft ein Vollzug ist, dann muß wissenschaftliche Ausbildung Teilnahme an diesem Vollzug, also dem Erkenntnisprozeß (…), nie jedoch bloße Übernahme vorliegender Ergebnisse sein“ (Tz. 1.4; Hervorhebungen im Original). Im Lichte dieser Forderung wird Kritik an der „gegenwärtigen“ Situation formuliert: an einem Studienaufbau, der die Studierenden zu Forschung, wenn überhaupt, dann erst kommen lässt, wenn sie ein immer umfangreicheres Grundlagenstudium absolviert haben; an der bloßen Addition sich verselbstständigender Kurse in Nebenfächern und Hilfswissenschaften, deren Integration den Studierenden über-lassen bleibt, und an der daraus folgenden Verstärkung einer nur noch extrinsi-schen Motivation (Tz. 2.1 bis 2.3) – eine Kritik, die leider immer noch aktuell ist.

Forschungs- und LernsituationDer Ausschuss setzt sich ausführlich mit dem Begriff der Forschung und ins-besondere dessen verschiedenen Ausprägungen in den Fächern auseinander – den

3„Praktisch alle Grundgedanken des Forschendes-Lernen-Konzepts, wie es heute vertreten wird, und alle oder fast alle wesentlichen Differenzierungen … finden sich darin bereits, und dabei nicht in einer bloßen Aufzählung von Forderungen und Behauptungen, sondern in einem elaborierten argumentativen Zusammenhang“ (Laitko 2017, S. 12).

1.2 Die Wiederentdeckungen des forschenden Lernens

12 1 Forschungsnahes Lernen verstehen: Begriff und Genese

unterschiedlichen Vorstellungen von vorgegebener oder je zu erfindender Methode, von „Neuheit“ des Ergebnisses als Kriterium, von der Stufung von Forschungstypen –, die sich entsprechend auch in fachspezifisch verschiedenen Formen des forschenden Lernens manifestieren müssen (Tz. 4). Der Bedeutung entsprechend, die er diesen Unterschieden zumisst, dokumentiert er im Anhang elf Beispiele für „Versuche“, gleichsam das spezifische Porträt möglichen for-schenden Lernens für verschiedene Fächer zu zeichnen – ein Unterfangen, das offenbar noch fast 50 Jahre später beispielhaft wirken kann, wie die Wiederauf-nahme bei Mieg und Dinter (2017, S. 39 f.) zeigt.

Entscheidend ist hier aber für den Lernenden die „strukturelle Gleichheit der Situation des Forschenden“ (Tz. 4.14). Als kennzeichnend für das forschende Lernen sieht der Ausschuss dementsprechend folgende Merkmale an (BAK 1970b, Tz. 4.21):

• selbstständige Wahl des Themas,• selbstständige „Strategie“, besonders bezüglich Methoden, Versuchsanordnungen,

Recherchen,• entsprechendes Risiko an Irrtümern und Umwegen einerseits, Chance für

Zufallsfunde, „fruchtbare Momente“ andererseits,• dem Anspruch der Wissenschaft gemäßes Arbeiten (z. B. hinreichende Prü-

fung des schon vorhandenen Wissens, Ausdauer),• selbstkritische Prüfung des Ergebnisses hinsichtlich seiner Abhängigkeit von

Hypothesen und Methoden,• Bemühen, das erreichte Resultat so darzustellen, dass seine Bedeutung klar

und der Weg zu ihm nachprüfbar wird.

Die Verfasser belassen es nicht bei diesem hohen Anspruch, sondern lassen sich auf die Mühen der Umsetzung ein. Sie stellen Situationen bzw. Formen zusammen, in denen forschendes Lernen möglich ist (Tz. 4.22; 7.), präsentieren und diskutieren ausführlich verschiedene Muster der Sequenzierung und Ver-zahnung von forschendem Lernen und Wissensvermittlung (mit rezeptivem Ler-nen, Tz. 4.4), also insgesamt der curricularen Verankerung von forschendem Lernen (siehe dazu Abschn. 4.1), und ebenso die Probleme der Arbeit in Grup-pen, deren Zusammensetzung und Anleitung (Tz. 4.6).

Genetisches und kritisches LernenWie aus dem eben Gesagten schon ersichtlich, liegt der Denkschrift nicht der Anspruch zugrunde, dass das Studium gänzlich als forschendes Lernen gestaltet werden könnte: Im Konsens als notwendig anerkanntes Voraussetzungs- oder

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Überblickswissen soll durch effiziente Wissensvermittlung oder selbstständiges Lernen angeeignet werden. Vor allem aber werden neben das forschende Ler-nen auch noch genetisches und kritisches Lernen gestellt (BAK 1970b, Tz. 3.2). Beim genetischen Lernen vollzieht der Lernende wissenschaftliche Erkenntnis-prozesse von der Ausgangsfrage bis zum Resultat nach. Genetisches Lernen sei da sinnvoll, wo forschendes Lernen zu schwierig, zeitraubend oder ressourcen-intensiv ist (Tz. 5.). Im kritischen Lernen entwickelt der Lernende eine Grund-haltung des Nachfragens – nach den wissenschaftstheoretischen Prämissen, der praktischen Relevanz, den gesellschaftlichen Voraussetzungen und Folgen wissenschaftlicher Erkenntnis, den Grenzen der Fächer usw. –, die zwar selbst noch nicht Forschung ist, aber Forschungsanstöße geben und eigenes Forschen vorbereiten kann (Tz. 6.). Beide Formen lassen es jedenfalls auch, wie forschen-des Lernen, zu, Wissenschaft als Prozess zu erfahren (Tz. 3.). In unserer Typo-logie des forschungsnahen Lernens tauchen Momente dieses genetischen Lernens im Typ forschungsorientiertes Lernen (Forschung üben), des kritischen Lernens im Typ forschungsbasiertes Lernen (Forschung verstehen) wieder auf (siehe Abschn. 3.1).

Reform der Prüfungen für forschendes LernenEs ist bemerkenswert, dass der Ausschuss der Bundesassistentenkonferenz von vornherein den Zusammenhang des hochschuldidaktischen Konzepts „forschen-des Lernen“ mit dem Prüfungssystem in den Blick rückt, und zwar zum einen formal, indem er im selben Heft als Teil II „Wissenschaftliches Prüfen“ publi-ziert, und zum anderen inhaltlich, indem er vom forschenden Lernen aus Forde-rungen an das Prüfungssystem formuliert, die erfüllt werden müssen, wenn das forschende Lernen sich entfalten können soll (siehe Kap. 6). In Teil I heißt es unter „Hochschulpolitische Folgerungen“: „Wenn es überhaupt Prüfungen geben muss, dann sind bei Betonung des Forschenden Lernens einzelne oder kollektive Forschungsarbeiten, Referate, Diplomarbeiten u. ä. ungleich höher zu bewerten als andere Leistungen“ (Tz. 8). In Teil II werden allgemein für die „Prüfung von problemlösendem Verhalten“ eine „Umwandlung der mündlichen Prüfun-gen in eine wissenschaftliche Diskussion über eingereichte Arbeiten (Thesen-verteidigung)“ oder eine Diskussion über neue Probleme in einem gewählten Spezialgebiet vorgeschlagen; eine höhere Gewichtung solcher Prüfungsformen gegenüber Wissensprüfungen wird auch im Hinblick auf allgemeine Lernziele prinzipiell für angemessen gehalten (Tz. 4.43). Insgesamt plädiert der Ausschuss damit nachdrücklich für den Gedanken, als Prüfungsleistungen Arbeiten heranzu-ziehen, die im Forschungsprozess selbst entstehen (den auch wir aufnehmen und begründen, siehe dazu Abschn. 6.3.2).

1.2 Die Wiederentdeckungen des forschenden Lernens