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Verallgemeinerte Lösungen der E RICKSEN –L ESLIE-Gleichungen zur Beschreibung von Flüssigkristallen vorgelegt von Robert Lasarzik, M. Sc. geboren in Neubrandenburg von der Fakultät II – Mathematik und Naturwissenschaften der Technischen Universität Berlin zur Erlangung des akademischen Grades Doktor der Naturwissenschaften – Dr. rer. nat. – genehmigte Dissertation Promotionsausschuss: Vorsitzender: Prof. Dr. Martin Henk Gutachter: Prof. Dr. Etienne Emmrich Gutachter: Prof. Dr. Petra Wittbold Gutachter: Prof. Dr. Fredi Tröltzsch Tag der wissenschaftlichen Aussprache: 15. September 2017 Berlin 2017

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  • Verallgemeinerte Lösungen der

    ERICKSEN–LESLIE-Gleichungen

    zur Beschreibung von Flüssigkristallen

    vorgelegt von

    Robert Lasarzik, M. Sc.

    geboren in Neubrandenburg

    von der Fakultät II – Mathematik und Naturwissenschaften

    der Technischen Universität Berlin

    zur Erlangung des akademischen Grades

    Doktor der Naturwissenschaften

    – Dr. rer. nat. –

    genehmigte Dissertation

    Promotionsausschuss:

    Vorsitzender: Prof. Dr. Martin HenkGutachter: Prof. Dr. Etienne EmmrichGutachter: Prof. Dr. Petra WittboldGutachter: Prof. Dr. Fredi Tröltzsch

    Tag der wissenschaftlichen Aussprache: 15. September 2017

    Berlin 2017

  • Vorwort

    Flüssigkristalle zählen zu unseren täglichen Begleitern: Ob offensichtlich verbaut in Displays von elek-tronischen Geräten wie Smartphones und Tablets oder versteckt in unserem Nervengewebe, unserer DNAoder dem Actin und Myosin unserer Muskelfibrillen. Die vielseitigen Anwendungen und das mannigfaltigeAuftreten dieser Flüssigkeiten mit richtungsabhängigen (anisotropen) physikalischen Eigenschaften kannauf ihre komplexe nichtlineare Struktur zurückgeführt werden. Diese eingehend zu verstehen, macht einenschnell wachsenden Anteil der aktuellen mathematischen Forschung1 aus, zu der auch diese Arbeit einenBeitrag leisten soll.

    Gegenstand dieser Arbeit ist die Analyse von Evolutionsgleichungen, den ERICKSEN–LESLIE-Gleich-ungen, zur Beschreibung nematischer Flüssigkristalle. Dabei werden die Existenz verallgemeinerter Lösun-gen sowie Resultate zur Einzigkeit und stetigen Abhängigkeit von den Anfangsdaten für bestimmte Klassenvon Lösungen gezeigt. Die bekannte Lösungstheorie des ERICKSEN–LESLIE-Modells kann so auf phy-sikalisch sinnvollere Annahmen erweitert werden. Insbesondere steht die freie Energie im Fokus, die inbisherigen mathematischen Veröffentlichungen stark vereinfacht wurde.

    Nach einer Einleitung zu Flüssigkristallen und deren Modellierung wenden wir uns der schwachen Lö-sungstheorie zu und beweisen die globale Existenz schwacher Lösungen für eine große Klasse von freienEnergien, welche viele physikalisch relevante Beispiele enthält. Ferner wird eine neuartige maßwertige Lö-sungstheorie eingefürt und die globale Existenz von Lösungen des ERICKSEN–LESLIE-Modells, ausgestat-tet mit der OSEEN–FRANK-Energie, gezeigt. Für die beiden vorgestellten Lösungskonzepte wird außerdemdie Eigenschaft der schwach-starken beziehungsweise maßwertig-starken Einzigkeit bewiesen.

    Die hier präsentierten Forschungsergebnisse sind entstanden als Teil des, von der Deutschen Forschungs-gemeinschaft geförderten, Sonderforschungsbereichs „Control of self-organizing nonlinear systems: Theo-retical methods and concepts of application“.

    An dieser Stelle möchte ich mich bei meinem Betreuer Herrn Prof. Dr. Etienne Emmrich für die ste-tige Unterstützung und die vielen Hinweise bedanken. Für konstruktive Diskussionen danke ich HerrnProf. Dr. Andreas Prohl, Herrn Prof. Dr. François Murat und Frau Prof. Dr. Sabine H. L. Klapp sowie mei-nen Kollegen Aras Bacho, Dr. Christian Kreusler, Dr. Raphael Kruse und Dr. Dimitri Puhst. Darüber hinausdanke ich Monika Eisenmann und André Eikmeier zusätzlich für hilfreiche Korrekturen der verschiedenenVersionen dieser Arbeit. Prof. Dr. Petra Wittbold und Prof. Dr. Fredi Tröltzsch danke ich dafür, dass Siezustimmten diese Arbeit zu begutachten.

    Mein Dank gilt nicht zuletzt meiner Familie, die mir fortwährend Unterstützung in vielfältiger Art zu-kommen ließ. Im Besonderen trifft dies auf meine liebevolle Frau zu, die ein besonderer Rückhalt für michist und die unserer Diskussionen nicht müde wurde, auch wenn sie während der Erstellung dieser Arbeit einviel bedeutenderes Projekt zu meistern hatte.

    1Laut MathSciNet stieg die Zahl der Artikel, welche liquid crystals erwähnen von 8 in den Jahren 1970–1975, über 302 in denJahren 2005–2010 bis zu 540 in den Jahren 2011–2016.

    ε

  • Inhalt

    Vorwort ε

    1 Einleitung 11.1 Flüssigkristalle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.2 Modellierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51.3 Gegenstand der Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211.4 Notation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26

    2 Existenz schwacher Lösungen 312.1 ERICKSEN–LESLIE-Gleichungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 342.2 Schwache Lösungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 442.3 GALERKIN-Approximation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 482.4 A-priori-Abschätzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 522.5 Konvergenz der Lösungen der Ersatzprobleme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 632.6 Energieungleichungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69

    3 Existenz maßwertiger Lösungen 733.1 Verallgemeinerte YOUNG-Maße . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 733.2 Verallgemeinerte Gradienten-YOUNG-Maße . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 803.3 Maßwertige Lösungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 923.4 Ersatzprobleme und deren Konvergenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 943.5 Energieungleichungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102

    4 Schwach-starke und maßwertig-starke Einzigkeit 1054.1 Einzigkeitsaussagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1054.2 Modelle und geeignete Lösungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1074.3 Eigenschaften geeigneter Lösungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1094.4 Abschätzung der relativen Energie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116

    A Anhang 139A.1 Vektor- und Tensorrechnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139A.2 Fortsetzungsoperator . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143A.3 Ungleichungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144

    Literatur 157

  • Kapitel 1

    Einleitung

    1.1 Flüssigkristalle

    „Fliessende Krystalle! Ist dies nicht ein Widerspruch in sich selbst“ schreibt Otto LEHMANN1 in seinem1889 erschienen Artikel [102], in dem er den Begriff des Flüssigkristalls einführt. Dieser Begriff beschreibteinen Aggregatzustand zwischen dem Festen und dem Flüssigen, welcher die Konsistenz von Flüssigkei-ten, aber auch anisotrope2 Eigenschaften von Kristallen aufweist. Diese Materialien bestehen aus stab- oderscheibenförmigen Molekülen, welche nicht in der für Festkörper üblichen Gitterstruktur angeordnet sind,sondern weniger positionelle Ordnung ausbilden und daher ein fließendes Verhalten aufweisen. Die Mole-küle entwickeln zudem eine gemeinsame Orientierung, wie es in Kristallen der Fall ist (siehe Abbildung 1.1).

    Molekulare Struktur von Flüssigkristallen

    isotropeFlüssigkeit

    nematischerFlüssigkristall

    kristallinerFeststoff

    Abbildung 1.1: Die Anordnung der Moleküle in einem Flüssigkristall im Vergleich zu isotropen Flüssigkei-ten und Kristallen.

    1Otto LEHMANN (1855–1922) war ein deutscher Physiker und gilt heute als geistiger Vater der Flüssigkristall-Forschung.2 Ein Material wird isotrop genannt, falls die Materialeigenschaften in alle Richtungen gleich sind. Solche Materialien sind symme-

    trisch bezüglich aller Rotationen und Spiegelungen. Ein Material ist demnach anisotrop, falls es diese Eigenschaft nicht aufweist.

    1

  • 1.1. Flüssigkristalle

    Flüssigkristalle kommen in verschiedenen Mesophasen vor: nematischen, smektischen sowie chiralen,auch cholesterische genannt3. Diese Phasen treten bei thermotropen Flüssigkristallen als Funktion der Tem-peratur und bei lyotropen als Funktion der Konzentration in einer Lösung auf (siehe Abbildung 1.3). Dabeiweisen die Phasen bei niedriger Temperatur oder höherer Konzentration zusätzliche positionelle Ordnungauf. Diese entwickelt sich von gleichverteilten Molekülen (isotrop und nematisch), über bewegliche undstarre Schichten (smektisch) bis zu einer festen Gitterstruktur (kristallin).

    Die Massepunkte der Moleküle in der nematischen Phase sind gleichmäßig verteilt und damit ist dieseden isotropen Flüssigkeiten am ähnlichsten. Im Unterschied zu diesen isotropen Fluiden weisen die Molekü-le in nematischen Flüssigkristallen eine gemeinsame Orientierung auf, das heißt, die stabförmigen Molekülesind in gleicher Richtung angeordnet. Diese Ausrichtung wird durch den Vektor ddd = ddd(xxx, t) beschrieben, densogenannten Direktor.

    Typische sichtbare topologische Defekte in nematischen Fluiden gleichen langen Fäden, die sich durchdie Flüssigkeit ziehen. Dies erklärt die Bezeichnung nematisch, denn sie stammt von dem griechischen Wortfür Faden, νηµα , wovon sich auch das deutsche Wort nähen ableitet.

    Wenn die stabförmigen Moleküle einiger Flüssigkristalle einem elektromagnetischen Feld ausgesetztwerden, bilden sie Dipole aus, welche sich entlang der Feldlinien ausrichten. Dadurch kann das anisotropeVerhalten kontrolliert werden, wie zum Beispiel die Lichtdurchlässigkeit, welche viel größer in die Richtungdes Direktors ddd als senkrecht zu diesem ist. Dies beschreibt grob die Funktionsweise eines Flüssigkristall-bildschirmes4 und bildet die Grundlage weiterer Anwendungen.

    Molekulare Struktur der verschiedenen smektischen Mesophasen

    smektisch A smektisch C smektisch B

    ddd dddzzz zzz ddd zzz

    Abbildung 1.2: Die molekulare Struktur der verschiedenen smektischen Mesophasen im Vergleich.

    Die smektischen Flüssigkristalle treten im Vergleich zu nematischen bei geringeren Temperaturen bezie-hungsweise höheren Konzentrationen im Lösungsmittel auf und zeichnen sich durch zusätzliche positionelleOrdnung aus. In dieser Phase weist die Materialdichte Wellen in eine Richtung auf, das heißt, die Moleküleordnen sich in Schichten an. Diese gleiten beinahe ohne Reibung übereinander, wodurch die Namensge-bung motiviert wird. Denn smektisch stammt von dem griechischen Wort für Seife, σµηγµα . In der Phasesmektisch A weist der Direktor ddd in die Richtung des Normalenvektors der Schichten zzz und in der Phasesmektisch C in eine andere konstante Richtung (siehe Abbildung 1.2). Sowohl die smektisch A als auch die

    3englisch: nematic, smectic, chiral, cholesteric4englisch: liquid crystal display (LCD)

    2

  • Kapitel 1. Einleitung

    nematische Phase im Gleichgewicht nennt man uniaxial, da das anisotrope Verhalten nur in eine Richtungauftritt. Im Gegensatz dazu weisen biaxiale Phasen eine Anisotropie in zwei verschiedenen Richtungen auf,wie die Flüssigkristalle der Phase smektisch C. In Flüssigkristallen der Phasen smektisch A und smektischC gleicht jede Schicht einem zweidimensionalen Fluid. In Flüssigkristallen der Phase smektisch B ähnelndie Schichten eher zweidimensionalen Feststoffen. Die scheibenförmigen Moleküle sind in starren Schich-ten angeordnet (siehe Abbildung 1.2). Falls ein Material alle genannten Phasen ausbildet, geschieht dies inder in Abbildung 1.3 gezeigten Reihenfolge, entweder als Funktion der Temperatur oder der Konzentration(vgl. DE GENNES [32, Section 1.4.3]).

    Mesophasen als Funktion der Temperatur oder Konzentration

    fallende Temperatur (thermotrop)

    isotrop nematisch smektisch A smektisch C smektisch B kristallin

    steigende Konzentration in einer Lösung (lyotrop)

    Abbildung 1.3: Die verschiedenen Mesophasen als Funktion der Temperatur beziehungsweise der Konzen-tration in einer Lösung.

    Die chiralen oder cholesterischen Flüssigkristalle gleichen einer deformierten nematischen Phase. Dennlokal weisen die Massepunkte der Moleküle keine positionelle Ordnung aber eine präferierte Orientierungauf. Die Ausrichtung ist im Unterschied zur nematischen Phase jedoch nicht konstant im Raum, der Direktorddd beschreibt eine spiralförmige Helix (siehe Abbildung 1.4).

    Diese Anordnung führt dazu, dass das entstehende Material nicht mehr spiegelsymmetrisch ist. Es gibtalso keine Ebene im Material, an der die Struktur gespiegelt werden kann und ein identisches Bild ergibt.Das motiviert den Namen chiral, welches ein von dem griechischen Wort für Hand, χειρ , abgeleitetesKunstwort ist. Dieses kann mit Händigkeit übersetzt werden und beschreibt ebensolche Materialien ohnejegliche Spiegelsymmetrie. Diese Form des Flüssigkristalls mit der spiralförmigen Ausrichtung ist in rei-nem Cholesterinester nachgewiesen worden, einer chemischen Verbindung aus Cholesterin und Fettsäuren,woher die zweite Bezeichnung cholesterisch stammt. Dieser Überblick genügt für die vorliegende Arbeit.Eine lesbare detaillierte Klassifizierung von Flüssigkristallen und deren verschiedenartige Phasen kann beiERMAKOV, BELETSKII, EISMONT & NIKOLAEV [52, Chapter 2] gefunden werden. Die Vielseitigkeit vonFlüssigkristallen ist ein Grund, warum diese Materialien heute von solch großem Interesse für Anwendungund Forschung sind. Dieses Interesse wurde jedoch vergleichsweise spät geweckt.

    1.1.1 Historischer Überblick

    Flüssigkristalle wurden vor über 150 Jahren erstmals beobachtet, aber erst 100 Jahre später begann manihre Relevanz und Bedeutsamkeit zu erkennen. Schon im Jahre 1850 entdeckten H. HEINZ [85, 86] undP. DUFFY [43], dass das tierische Fett Stearin unterschiedliche Schmelzpunkte aufweist, und beobachteten

    3

  • 1.1. Flüssigkristalle

    Molekulare Struktur von chiralen Flüssigkristallen

    Abbildung 1.4: Die Pfeile symbolisieren den Direktor ddd, welcher in eine Raumrichtung eine Helix be-schreibt.

    damit die ersten thermotropen Flüssigkristalle. Die erste Beobachtung von lyotropen Flüssigkristallen gehtauf den deutschen Arzt Rudolf VIRCHOW5 [168] zurück. Im Jahre 1854 entdeckte er eine „eigenthümlicheSubstanz“ bei der pathologischen und chemischen Untersuchung von Organextrakten und Nervengeweben,welche sich durch einen „matten Glanz“ und „sonderbare Figuren“ wie „Fäden“ und „Knäuel [...] ungleich-mäßig dicker Bänder“ auszeichnete.6 Der Frankfurter Arzt Carl VON METTENHEIMER7 [132, 163] bemerktedann 1858 die „krystallinische“ und „tropfbar flüssige“ Form dieses Stoffes und beschrieb so das erste Maldie typischen Charakteristika von Flüssigkristallen.

    Eine weitere Untersuchung geht auf den österreichischen Botaniker Friedrich REINITZER [155] zurück.Im Jahre 1888 entdeckte er eher zufällig, dass das von ihm untersuchte Material (Cholesteryl Benzoate)ein ihm bisher unbekanntes Verhalten beim Erhitzen aufweist. Die Substanz schmilzt bei 145,5◦C in eine„trübe durchscheinende Flüssigkeit“ und „die Trübung verschwindet“ bei einer Temperatur von 178,5◦C.Im selben Jahr unterrichtete er den deutschen Physiker Otto LEHMANN1 über seine Beobachtung und die-ser identifizierte das auftretende Phänomen erstmals als neuen Aggregatzustand und sorgte mit dem Artikel„Über fließende Krystalle“ [102] auch für die Namensgebung. Die erste synthetische Herstellung von Flüs-sigkristallen gelang 1890 GATTERMANN & RITSCHKE [73]. Daniel VORLÄNDER [169] und später GeorgesFRIEDEL [68] arbeiteten an der Synthese, Untersuchung und Einteilung von Flüssigkristallen, wobei dienoch heute gebräuchlichen Bezeichnungen der Mesophasen als nematische, smektische und cholesterischeFlüssigkristalle auf FRIEDEL [68] zurückgehen.

    Der schwedische Physiker Carl OSEEN8 [141] erforschte die elastischen Eigenschaften von Flüssig-kristallen und Frederick FRANK [66], ein theoretischer Physiker aus Großbritanien, nutzte diese Erkennt-nisse um eine elastische Theorie herzuleiten. Der norwegische Physiker Lars ONSAGER [140] untersuchteim Jahre 1949 den Übergang von der nematischen Phase in isotrope Flüssigkeiten und beschrieb diesentheoretisch. Ein weiterer Meilenstein in der Beschreibung von Flüssigkristallen markierte die Doktorar-

    5Rudolf Ludwig Karl VIRCHOW (1821–1902) war ein deutscher Mediziner, Pathologe und Prähistoriker.6Diese Substanz nannte VIRCHOW Myelin, es handelt sich dabei um eine Membranstruktur, die in Nervenzellen vorkommt.7Carl Friedrich Christian VON METTENHEIMER (1824–1898) war ein deutscher Mediziner, Naturwissenschaftler und Komponist.8Carl Wilhelm OSEEN (1879–1944) war ein schwedischer theoretischer Physiker in Uppsala und Direktor des Nobel-Instituts für

    Theoretische Physik in Stockholm.

    4

  • Kapitel 1. Einleitung

    beit von Alfred SAUPE aus dem Jahre 1958, welche er unter der Betreuung von Wilhelm MAIER abschloßund damit den Grundstein für eine mikroskopische Beschreibung von Flüssigkeiten, die bekannte MAIER–SAUPE-Theorie [127], legte. In den 1960er Jahren entwickelten Jerald ERICKSEN9 [50], [51] und FrankLESLIE10 [107] eine instationäre Theorie zur Beschreibung von Flüssigkristallen, die seitdem großen Ein-fluß auf Anwendung und Forschung ausübt und Gegenstand der Untersuchungen dieser Arbeit ist.

    Der französische Physiker Pierre-Gilles DE GENNES11 erweiterte die LANDAUsche Theorie zu Phasen-übergängen auf Flüssigkristalle und erhielt dafür 1991 den NOBEL-Preis für Physik. Die erste Flüssigkris-tallanzeige wurde 1964 von einem Team um George HEILMEIER [84] erfunden. Seitdem entwickelten sichdiese zu einem unverzichtbaren Teil unseres täglichen Lebens. Doch Flüssigkristallbildschirme sind nur eineder mannigfaltigen Anwendungen von Flüssigkristallen.

    1.1.2 Anwendungen

    Die durch die Ausrichtung der Moleküle im Flüssigkristall beeinflussbare Lichtdurchlässigkeit wird nichtnur in Bildschirmen genutzt, sie findet auch Anwendung in sogenannten Smart Glass Systems. Diese Gläsererlauben es zu steuern, ob sie durchsichtig oder eher blicksicher sind (vgl. WANG [173]). Eine weitere tech-nische Anwendung ist zum Beispiel der Einsatz von Flüssigkristallen als Schmiermittel. Am FrauenhoferInstitut in Freiburg wird im Bereich von tribologischen12 Anwendungen geforscht, um die Reibung rotie-render Teile in Motoren und Maschinen zu verringern (siehe POGODINA, AMANN, DOLD, METWALLI,MÜLLER-BUSCHBAUM, KAILER & FRIEDRICH [151]).

    Schon VIRCHOW erkannte (siehe Abschnitt 1.1.1), dass Zellmembranen Flüssigkristalle enthalten (sie-he PALFFY-MUHORAY [147]). Dies legt nahe, dass verschiedene biologische Systeme durch das Wissenüber Flüssigkristalle besser analysiert werden können. Zum Beispiel kann das Zytoskelett und die darin auf-tretenden Bewegungen zwischen Actin und Myosin durch Modelle zur Beschreibung von Flüssigkristallencharakterisiert werden (siehe AHMADI, MARCHETTI & LIVERPOOL [2]). Dadurch werden Flüssigkristal-le zunehmend wichtiger in der Medizintechnik, beispielsweise wird an künstlichen Organimitaten basierendauf Flüssigkristallen geforscht, die für Medikamentenexperimente genutzte werden können. So sollen mithil-fe von Methoden in vitro Tests in vivo reduziert werden (siehe CAPLIN, GRANADOS, JAMES, MONTAZAMI& HASHEMI [24]). Außerdem wird zur Thermographie, einem bildgebenden Verfahren zur Bestimmungder Oberflächentemperatur, ein System genutzt, das auf Flüssigkristallen basiert (siehe OLIVER, SANDERS,JANG, POY & VAN HEUVELEN [138]).

    Für all diese Anwendungen ist die exakte Beschreibung und Vorhersage des Verhaltens des betrachtetenMaterials außerordentlich wichtig. Dazu ist eine mathematische Modellierung und Analyse unerlässlich.

    1.2 Modellierung

    Es gibt verschiedenste Modelle, die Flüssigkristalle in unterschiedlichen Fällen beschreiben. Hier sollen dreiinstationäre Theorien vorgestellt werden, welche die Bewegung des Fluids und die Anisotropie im Flüssig-kristall modellieren. Am weitesten verbreitet sind wohl das DOI–HESS-, das QQQ-Tensor- und das ERICKSEN–LESLIE-Modell. Alle drei koppeln die nichtlinearen NAVIER–STOKES-Gleichungen auf nichtlineare Wei-

    9Jerald Laverne ERICKSEN (geboren 1924) ist ein US-amerikanischer Ingenieurwissenschaftler für Mechanik und angewandterMathematiker.

    10Frank Matthews LESLIE (1935–2000) war ein schottischer theoretischer Physiker.11Pierre-Gilles DE GENNES (1932–2007) war ein französischer Physiker, 1991 erhielt er aufgrund seiner herausragenden Forschung

    im Bereich der Flüssigkristalle den NOBEL-Preis für Physik.12Tribologie die Wissenschaft von Reibung, Verschleiß und Schmierung gegeneinander bewegter Körper.

    5

  • 1.2. Modellierung

    se mit einer Evolutionsgleichung zur Beschreibung des jeweiligen Ordnungsparameters. Die zugehörigenDifferentialgleichungssysteme dienen der Beschreibung ausgerichteter, positionell ungeordneter Systeme.Das DOI–HESS-Modell nutzt eine Verteilungsfunktion, um Polymere aus stabförmigen Makromolekülenmikroskopisch genau zu beschreiben, während das QQQ-Tensor-Modell alle verschiedenen Mesophasen vonFlüssigkristallen makroskopisch durch fünf Freiheitsgrade modelliert. Das ERICKSEN–LESLIE-Modell be-sitzt nur zwei Freiheitsgrade zur Beschreibung der Anisotropie und ist damit geeignet, nematische Flüssig-kristalle zu beschreiben. Im Folgenden werden die drei Modelle eingeführt, ihre Zusammenhänge verdeut-licht und ein Literaturüberblick gegeben.

    1.2.1 DOI–HESS-Modell

    Das DOI–HESS-Modell (siehe DOI & KUZUU [40] und HESS [87] und BERIS & EDWARDS [15, S. 463]) istein mikroskopischer Modellierungsansatz und damit relativ genau auf der molekularen Ebene. Der zugehöri-ge Ordnungsparameter besteht aus einem Wahrscheinlichkeitsmaß in jedem Punkt. Die Wahrscheinlichkeit,dass ein Molekül zur Zeit t am Punkt xxx in die Richtung ddd zeigt, ist gegeben durch die nichtnegative Dichtef = f (xxx,ddd, t). Dies muss im Hinblick auf die zugrundeliegende Kontinuumshypothese interpretiert werden,welche das Material modelliert, als befände sich in jedem Punkt des Gebietes ein Molekül.

    Da ddd eine Richtung in R3 repräsentiert, kann es als ein Element der Einheitskugel in R3, der SphäreS2, angesehen werden, sodass |ddd| = 1 gilt. Es sei darauf hingewiesen, dass ddd in diesem Fall die Richtungder einzelnen Moleküle beschreibt und nicht die Mittlung über die Ausrichtung der Moleküle wie in derERICKSEN–LESLIE-Theorie (siehe Abschnitt 1.2.3). Zusätzlich ist die Dichte f als Wahrscheinlichkeitsmaßnormiert, also wird

    S2f (xxx,ddd, t)dddd = 1 für alle xxx ∈ Ω und t ≥ 0 (1.1)

    gefordert, wobei Ω ⊂ R3 das Gebiet bezeichne, welches durch das flüssigkristalline Material ausgefülltwird. Diese Normierung symbolisiert, dass die Wahrscheinlichkeit, dass ein Molekül in einem Punkt in einebeliebige Richtung zeigt, Eins ist.

    Da die beiden Enden der stabförmigen Moleküle nicht unterscheidbar sind, kann zwischen ddd und −dddnicht differenziert werden. Es wäre möglich, diese Symmetrie über die betrachtete Mannigfaltigkeit einflie-ßen zu lassen, indem die projektive Ebene im R3, die Menge RP2, anstatt der Sphäre S2 betrachtet wird.Da diese Mannigfaltigkeit jedoch nicht orientierbar ist, wird stattdessen die Wahrscheinlichkeitsdichte f miteiner Symmetrie-Voraussetzung versehen:

    f (xxx,ddd, t) = f (xxx,−ddd, t) für alle (xxx,ddd, t) ∈ Ω×S2 × [0,∞).

    Das DOI–HESS-Modell berücksichtigt Interaktionen der Moleküle sowie den Einfluss durch Bewegung desFluids als auch durch die BROWNsche Bewegung. Wie schon in Abschnitt 1.1.1 erwähnt, untersuchte ON-SAGER bereits 1949 den Übergang von der nematischen Phase in isotrope Flüssigkeiten [140]. Er beschreibtdas Phänomen, dass das betrachtete System eine nematische Phase ausbildet, falls die Wechselwirkungskräf-te im Verhältnis zur BROWNschen Bewegung groß sind oder die Konzentration der Moleküle ausreichendhoch ist. Ist dies nicht der Fall, dann sind die Richtungen der Moleküle gleichverteilt und es bildet sich einisotroper Zustand aus.

    Eine Differentialgleichung, die diese verschiedenen Effekte berücksichtigt, ist gegeben durch (siehe DOI

    6

  • Kapitel 1. Einleitung

    & EDWARDS [40])

    ∂t f +(vvv ·∇) f =ε2

    De∇·

    ((D∗‖ddd⊗ddd+D∗⊥ (III−ddd⊗ddd)

    )(∇ f + f ∇F)

    )

    +1

    DeR · (R f + fRF)−R · (ddd×∇vvvddd f ) ,

    (1.2)

    wobei die Argumente (xxx,ddd, t) der Wahrscheinlichkeitsdichte f der Lesbarkeit halber nicht mitgeschriebenwurden. Die nichtnegative Konstante De ist die DEBORAH-Zahl und beschreibt das Verhältnis aus Größen-ordnung der Diffusion in der Orientierung und der Konvektion. Die Konstante ε beschreibt das Verhältnisder typischen Längenskalen der Moleküle und der charakteristischen Länge der Strömung13. Die Konstan-ten D∗‖ und D

    ∗⊥ sind von der Form der Moleküle abhängige Translationskonstanten, welche die Diffusion

    parallel und orthogonal zur Richtung ddd beschreiben. Da D∗‖ > D∗⊥ gilt, bewegen sich die Moleküle leichter

    in die Richtung ddd als orthogonal dazu, was mit der intuitiven Vorstellung übereinstimmt.Die Diffusion der Orientierung der Moleküle wird durch den Term 1DeR ·R f modelliert. Dabei hängt

    der Rotationsdifferentialoperator R von der Richtung ddd ab und ist definiert als

    R := ddd× ∂∂ddd

    .

    Dies ist die Restriktion des Gradienten auf die Sphäre S2 und die Komposition R ·R ist der LAPLACE-Operator auf der Sphäre, der sogenannte LAPLACE–BELTRAMI-Operator (vgl. ZHANG & ZHANG [187]).Da ddd ein Einheitsvektor ist, gilt

    R ·R f (xxx,ddd, t) =− ∂∂ddd

    ·(

    ddd×ddd× ∂∂ddd

    f (xxx,ddd, t)

    )= ∆

    dddf (xxx,ddd, t)− 2ddd · ∂

    ∂dddf (xxx,ddd, t)− (ddd⊗ddd) : ∇2ddd f (xxx,ddd, t) ,

    wobei ∆ddd

    den LAPLACE-Operator und ∇2ddd die HESSE-Matrix bezüglich ddd bezeichnen.Die Variable F in der Gleichung (1.2) steht für ein Potential F = F(xxx,ddd, f (xxx,ddd, t)). Es werden verschie-

    dene Potentiale in der Literatur untersucht. KUZUU & DOI [97] betrachten ein Potential, welches sich auszwei Teilen zusammensetzt, F =FHHH +FIW . Dabei modelliert FHHH den Einfluss eines elektromagnetischen Fel-des und FIW die intermolekularen Wechselwirkungen. Analog zu dem Standardwerk von DE GENNES [32,Section 3.2.1] wird von KUZUU & DOI [97] das Potential FHHH untersucht. Dieses Potential ist gegeben durch

    FHHH(xxx,ddd) =−12(χ‖− χ⊥)(ddd ·HHH(xxx))

    2 , (1.3)

    wobei HHH =HHH(xxx) das angelegte elektromagnetische Feld ist sowie χ‖ und χ⊥ die Koeffizienten der elektroma-

    gnetischen Suszeptibilität14 des Materials parallel beziehungsweise orthogonal zur Richtung ddd bezeichnen.Das Potential der intermolekularen Wechselwirkung ist gegeben durch

    FIW (xxx,ddd, f (xxx,ddd, t)) =

    S2

    1L3

    ρ

    (xxx− x̂xx

    L

    )β (ddd,d̂dd) f (x̂xx,d̂dd, t)d d̂dd dx̂xx .

    13Die charakteristische Länge einer Strömung bezeichnet die makroskopischen Abmessungen der um- oder durchströmten Objekte(vgl. GERTHSEN & VOGEL [76, Abschnitt 3.3.5]).

    14Die elektromagnetische Suszeptibilität ist eine einheitenlose physikalische Größe, welche die Magnetisierbarkeit von Materie ineinem externen Magnetfeld angibt (siehe GERTHSEN & VOGEL [76, Abschnitt 7.4.1]).

    7

  • 1.2. Modellierung

    Dabei ist ρ der übliche zentrierte Glättungskern15 mit Masse Eins und L der Interaktionsradius der Mole-küle. Der Integralkern β modelliert die Interaktionen zwischen zwei Molekülen, welche in die Richtung dddbeziehungsweise d̂dd zeigen. Es gibt wiederum verschiedene Integralkerne β , die in der Literatur betrachtetwerden. In der grundlegenden Arbeit von 1946 betrachtete ONSAGER [140] den Integralkern

    β (ddd,d̂dd) = α |ddd× d̂dd|= α|sin θ | , (1.4)

    wobei θ der zwischen ddd und d̂dd eingeschlossene Winkel ist und α ∈ R eine positive Konstante, welchedie Stärke der intermolekularen Wechselwirkung angibt und von den mikroskopischen Eigenschaften derMoleküle abhängt (vgl. KUZZU & DOI [97] und DE GENNES [32, Section 2.2.1]). Ein weiterer wichtigerKern geht auf MAIER und SAUPE zurück (vgl. Abschnitt 1.1.1 und DE GENNES [32, Section 2.2.2]),

    β (ddd,d̂dd) =−α(ddd · d̂dd)2 =−α cos2 θ . (1.5)

    Der letzte Term auf der linken Seite von (1.2) modelliert den Einfluss der Bewegung des Fluids auf dieAusrichtung der Moleküle. Unter der Voraussetzung |ddd|= 1 kann dieser Term umgeschrieben werden zu

    R ·(

    ddd ×∇vvvddd f)=−

    (∂

    ∂ddd×ddd

    )· (ddd×∇vvvddd f )

    =∂

    ∂ddd·((

    |ddd|2III −ddd⊗ddd)

    ∇vvvddd f).

    (1.6)

    Eine Energie zur Gleichung (1.2) wurde von WANG, E, LIU & ZHANG [174] mittels

    F ( f ) =∫

    S2

    (f (xxx,ddd, t)(ln f (xxx,ddd, t)− 1)+ 1

    2FIW (xxx,ddd, f ) f (xxx,ddd, t)+FHHH(xxx,ddd) f (xxx,ddd, t)

    )dddd dxxx (1.7)

    eingeführt. Die variationelle Ableitung (vgl. FURIHATA & MATSUO [70, Section 2.1]) von F , welche oftchemisches Potential µ genannt wird, ist gegeben durch

    µ :=δF ( f )

    δ f= ln f +F( f ) .

    Die Differentialoperatoren ∇ beziehungsweise R angewandt auf das chemische Potential µ ergeben

    (∇µ) f = ∇ f + f ∇F beziehungsweise (Rµ) f = R f + fRF . (1.8)

    Die Gleichung (1.2) kann somit umgeschrieben werden zu (vgl. WANG, E, LIU & ZHANG [174])

    ∂t f +(vvv ·∇) f =ε2

    De∇·

    ((D∗‖ddd⊗ddd+D∗⊥ (III−ddd⊗ddd)

    )· (∇µ) f

    )

    +1

    DeR · ( fRµ)−R · (ddd×∇vvvddd f ) .

    Diese Gleichung wird mit einer Evolutionsgleichung zur Beschreibung des Geschwindigkeitsfeldes vvv und ei-ner Inkompressibilitätsbedingung (Divergenzfreiheit des Geschwindigkeitsfeldes vvv) gekoppelt. Dies ist ein

    15Die Funktion ρ ist definiert mittels ρ(xxx) := cexp(− 1

    1−|xxx|2)

    falls |xxx|< 1 und 0 sonst, wobei c so gewählt ist, dass ∫Rd

    ρ(xxx)dxxx = 1.

    8

  • Kapitel 1. Einleitung

    NAVIER–STOKES-ähnliches System mit zusätzlichem Spannungstensor TTT und einer speziellen Volumen-kraft bbb,

    ∂tvvv+(vvv ·∇)vvv+∇p = ∇·TTT +bbb ,∇·vvv = 0 . (1.9)

    Dabei beschreibt p den Druck (bis auf eine additive Konstante). Die erste Gleichung wird aus der Impulser-haltung und die zweite aus der Massenerhaltung hergeleitet.

    Der Spannungstensor TTT besitzt eine komplexere Struktur als im Fall der NAVIER–STOKES-Gleichungen,für die TTT = 2ν(∇vvv)sym gilt. In dem betrachteten anisotropen Fall kann TTT aufgeteilt werden in die Summeaus einem viskosen und einem elastischen Teil,

    TTT = TTT viskos +TTT elastisch .

    Der viskose Anteil hat die Form (siehe DOI & EDWARDS [40, Section 8.6] für eine Herleitung)

    TTT viskos = 2ν(∇vvv)sym +12

    ξr

    S2

    ((∇vvv)sym : ddd ⊗ddd

    )ddd⊗ddd f (·,ddd, ·)dddd , (1.10)

    wobei ν die Viskosität des Fluids und ξr die Rotationsreibung der Moleküle beschreibt. Diese summierensich zur Inversen der REYNOLDS-Zahl16. In einer isotropen Flüssigkeit tritt keine Rotationsreibung auf. Derviskose Spannungstensor vereinfacht sich in diesem Fall und es entsteht die bekannte Form der NAVIER–STOKES-Gleichungen mit ν = Re−1 beziehungsweise ∇·TTT viskos = 2ν ∇·(∇vvv)sym = ν∆vvv (vgl. TEMAM [166,Section 2.1.2]). Der zweite Term in (1.10) modelliert die anisotropen Eigenschaften des Materials und damitdie zusätzliche Reibung im Fluid durch die Ausrichtung der Moleküle.

    Der elastische Spannungstensor TTT elastisch und die Volumenkraft bbb sind gegeben durch (vgl. WANG, E,LIU & ZHANG [174])

    TTT elastisch =−∫

    S2(ddd × (R µ))⊗ddd f (·,ddd, ·)dddd, bbb =

    S2∇µ f (·,ddd, ·)dddd .

    Das System (1.2), (1.9) ist Gegenstand verschiedener Publikationen. ZHANG & ZHANG [188] beweisendie lokale Existenz starker Lösungen genauso wie die globale Existenz starker Lösungen bei genügendkleiner DEBORAH-Zahl und REYNOLDS-Zahl. E & ZHANG leiten durch eine asymptotische Analysis dasERICKSEN–LESLIE-Modell aus dem System (1.2), (1.9) für verschwindende DEBORAH-Zahl her.

    Vereinfachtes System

    In der Literatur wird ebenfalls ein vereinfachter Fall mit D∗‖ = D∗⊥, D = D

    ∗‖ε

    2/De und konstantem Potential Fbetrachtet. Die Gleichung (1.2) wird dann mit der Rechnung (1.6) zu (vgl. OTTO & TZAVARAS [144])

    ∂ f

    ∂ t+(vvv ·∇) f =− ∂

    ∂ddd· ((∇vvvddd− (ddd ·∇vvvddd)ddd) f )+D∆ f + 1

    DeR ·R f .

    Außerdem wird der viskose Spannungstensor TTT viskos vereinfacht, indem die Rotationsreibungskonstante ξrvernachlässigt wird, ξr = 0. Der elastische Spannungstensor TTT elstisch und die Volumenkraft bbb verändern

    16Die REYNOLDS-Zahl ist eine dimensionslose Kennzahl, die das Verhältnis von Trägheit und Reibung in einem Fluid angibt (sieheGERTHSEN & VOGEL [76, Abschnitt 3.3.5]).

    9

  • 1.2. Modellierung

    ihre Gestalt durch die Annahme, dass das Potential F konstant ist. Mit (1.8) und (1.1) verschwindet dieVolumenkraft bbb,

    bbb =

    S2∇µ f dddd =

    S2∇ f dddd = ∇

    S2f dddd = 0 .

    Der elastische Spannungstensor vereinfacht sich durch (1.8), einige Vektoridentitäten (vgl. Abschnitt A.1)und eine partielle Integration:

    TTT elastisch = −∫

    S2(ddd × ( fRµ))⊗ddd dddd =−

    S2(ddd ×ddd× ∂ f

    ∂ddd)⊗ddd dddd

    =

    S2((|ddd|2III −ddd⊗ddd)∂ f

    ∂ddd)⊗ddd dddd =−

    S2f

    ∂ddd· (ddd⊗ (|ddd|2III−ddd⊗ddd))dddd

    = −∫

    S2(III − 3ddd⊗ddd) f dddd = 3

    S2(ddd ⊗ddd− 1

    3III) f dddd .

    Diese Version des elastischen Spannungstensors gleicht der des Q-Tensors (siehe (1.12)). Zusammengenom-men entsteht das vereinfachte System

    ∂t f +(vvv ·∇) f =−∂

    ∂ddd· ((∇vvvddd− (ddd ·∇vvvddd)ddd) f )+D∆ f + 1

    DeR ·R f , (1.11a)

    ∂tvvv+(vvv ·∇)vvv =∇·TTT viskos −∇p+ 3∇·(∫

    S2(ddd⊗ddd− 1

    3III) f dddd

    ), (1.11b)

    ∇·vvv =0 . (1.11c)Dieses oder leicht abgewandelte Gleichungen waren Gegenstand verschiedener Untersuchungen.

    OTTO & TZAVARAS [144] beweisen die Existenz starker Lösungen, für den Fall dass die NAVIER–STOKES-ähnlichen Gleichungen durch das stationäre STOKES-Problem mit zusätzlichem elastischen Span-nungstensor ersetzt wird, also die linke Seite von Gleichung (1.11b) durch Null ersetzt wird. LIONS &MASMOUDI [122] untersuchen das Modell mit D = 0 auf einem Torus beliebiger Dimension und beweisendie Existenz schwacher Lösungen. BAE & TRIVISA [7] beweisen für das System (1.11) die Existenz globa-ler schwacher Lösungen auf einem beschränkten Gebiet und konnten dieses Resultat auch auf kompressibleStrömungen verallgemeinern [6].

    Ähnliche Modelle zur Beschreibung von Polymeren, deren Moleküle nicht als stabförmig angenommenwerden, sondern lange Ketten bilden, werden von BARRETT, SCHWAB & SÜLI [12] untersucht. Ihnen ge-lingt es, die globale Existenz schwacher Lösungen zu zeigen. Regularitätsresultate zu diesem Modell werdenvon CONSTANTIN [28] sowie CONSTANTIN, FEFFERMAN, TITI & ZARNESCU [29] bewiesen. Einige nume-rische Experimente für das DOI–HESS-Modell (1.2) und (1.9) für COUETTE- und POISEUILLE-Strömungenwerden von YU & ZHANG [185] sowie WANG [172] durchgeführt. Für eine umfassende numerische Be-trachtung dieser Modelle sei auf LE BRIS & LELIÈVRE [101] verwiesen.

    1.2.2 QQQ-Tensor-Modell

    Im Folgenden wird ein makroskopischer Ansatz beschrieben, welcher auf der Darstellung der anisotropenOrdnung im Flüssigkristall durch einen Tensor beruht. Die Wahl dieses Ordnungsparameters geht auf DEGENNES zurück (siehe DE GENNES [32, Section 2.1.2]), welcher die LANDAUsche17 Theorie der Phasen-übergänge auf die verschiedenen Mesophasen der Flüssigkristalle verallgemeinerte. Insbesondere die Dar-stellung der freien Energie als Polynom im Ordnungsparameter (vgl. (1.21b)) geht auf DE GENNES zurück.

    17Lew Dawidowitsch LANDAU (1908–1968) war ein russischer Physiker, der 1962 den NOBEL-Preis für Physik erhielt.

    10

  • Kapitel 1. Einleitung

    Sei f wie im vorherigen Abschnitt eine symmetrische Wahrscheinlichkeitsdichte auf der Sphäre, sodass∫

    S2f (xxx,ddd, t)dddd = 1 , f (xxx,ddd, t)≥ 0 , f (xxx,ddd, t) = f (xxx,−ddd, t)

    für alle (xxx,ddd, t) ∈ Ω × S2×[0,∞) gilt. Aufgrund der Symmetrie von f verschwindet ihr Erwartungswertbeziehungsweise das erste Moment,

    S2ddd f (·,ddd, ·)dddd = 0.

    Das zweite Moment wird genutzt, um den QQQ-Tensor zu definieren:

    QQQ(xxx, t) :=∫

    S2

    (ddd⊗ddd− 1

    3III

    )f (xxx,ddd, t)dddd . (1.12)

    Durch die Subtraktion der Einheitsmatrix wird garantiert, dass die Spur des Tensors verschwindet. Es gilttrQQQ =

    ∫S2(|ddd|2 − 1) f dddd = 0.

    Da QQQ reell und symmetrisch ist, existiert eine Orthonormalbasis aus Eigenvektoren eeei zu reellen Eigen-werten λi (i = 1,2,3). Für einen beliebigen Vektor zzz ∈R3 gilt die Darstellung

    zzz = z1eee1 + z2eee2 + z3eee3 , zi = eeei ·zzz für i ∈ {1,2,3}

    und somitQQQzzz = λ1z1eee1 +λ2z2eee2 +λ3z3eee3 =

    (λ1eee1 ⊗eee1 +λ2eee2 ⊗eee2 +λ3eee3 ⊗eee3

    )zzz .

    Also existiert eine Spektralzerlegung von QQQ (vgl. MAJUMDAR [128]),

    QQQ = λ1eee1 ⊗eee1 +λ2eee2 ⊗eee2 +λ3eee3 ⊗eee3 . (1.13)

    Da die Spur der Matrix QQQ verschwindet, erfüllen die Eigenwerte von QQQ die Beziehung

    trQQQ = λ1 +λ2 +λ3 = 0 . (1.14)

    Der dritte Eigenwert ist also schon durch die zwei anderen gegeben.Wie schon in Abschnitt 1.1 erwähnt, kann ein Flüssigkristall entweder isotrop, uniaxial oder biaxial

    sein, auch wenn man üblicherweise im isotropen Fall nicht von Flüssigkristallen spricht. Mithilfe der Ei-genwerte von QQQ kann charakterisiert werden, welchem dieser drei Zustände die betrachteten Flüssigkristallezuzuordnen sind. In der isotropen Phase sind die Moleküle nicht orientiert, weshalb alle Richtungen mit glei-cher Wahrscheinlichkeit angenommen werden. Die Wahrscheinlichkeitsdichte f ist somit konstant, f ≡ 1/4π(vgl. MAJUMDAR [128]). Für den QQQ-Tensor kann durch Integration über die Sphäre mithilfe von Kugelko-ordinaten erkannt werden, dass

    QQQ =

    S2

    14π

    (ddd⊗ddd− 1

    3III

    )f dddd

    =1

    ∫ π

    0

    ∫ 2π

    0

    sinθ cosϕsinθ sinϕ

    cosθ

    sinθ cosϕsinθ sinϕ

    cosθ

    − 1

    3III

    sinθ dϕ dθ

    =1

    ∫ π

    0

    π sin2 θ 0 0

    0 π sin2 θ 00 0 2π cos2 θ

    − 2π3

    III

    sin θ dθ =

    0 0 00 0 00 0 0

    .

    11

  • 1.2. Modellierung

    Der QQQ-Tensor verschwindet somit in isotropen Flüssigkeiten und alle drei Eigenwerte sind Null.Betrachten wir nun die nichtisotropen Fälle. Wenn zwei der Eigenwerte von QQQ übereinstimmen, spricht

    man von einem uniaxialen, bei drei unterschiedlichen Eigenwerten von einem biaxialen Flüssigkristall(vgl. MOTTRAM & NEWTON [135]). Diese Namensgebung kann durch eine andere Dekomposition desQQQ-Tensors motiviert werden. In dieser Darstellung werden nur zwei Eigenvektoren eee1 und eee2 mit den zuge-hörigen Eigenwerten λ1 und λ2 und zwei skalare Ordnungsparameter benötigt (vgl. MAJUMDAR [128]):

    QQQ = s

    (eee1 ⊗eee1 −

    13

    III

    )+ r

    (eee2 ⊗eee2 −

    13

    III

    ). (1.15)

    Dabei ist der Zusammenhang zwischen den Darstellungen (1.13) und (1.15) gegeben durch

    s = λ1 −λ3 = 2λ1 +λ2, r = λ2 −λ3 = 2λ2 +λ1 ,da die Eigenvektoren {eeei} mit i ∈ {1,2,3} eine Orthonormalbasis bilden und deshalb die Einheitsmatrixdurch III = eee1 ⊗eee1 +eee2 ⊗eee2 +eee3 ⊗eee3 dargestellt werden kann. Ohne Beschränkung der Allgemeinheit kannnun angenommen werden, dass im uniaxialen Fall r = 0 gilt und der Tensor QQQ somit effektiv nur von einemEigenvektor abhängt (vgl. MAJUMDAR & ZARNESCU [129]). Dies motiviert die Namensgebung uniaxialund biaxial, da der Tensor QQQ von einem beziehungsweise zwei Vektoren abhängig ist.

    Für die Eigenwerte λi gilt (vgl. WILKINSON [182])

    −13≤ λi = eeei ·Qeeei =

    S2(eeei ·ddd)2 f (xxx,ddd, t)dddd−

    13≤ 2

    3, i ∈ {1,2,3} , (1.16)

    da die Vektoren eeei mit i ∈ {1,2,3} normiert sind und f eine Wahrscheinlichkeitsdichte ist. Diese Beschrän-kung der Eigenwerte des QQQ-Tensors wird oft physikalische Nebenbedingung genannt. Eine instationäre Theo-rie sollte diese Bedingung erfüllen und bewahren.

    Instationäre Gleichungen

    Eine Evolutionsgleichung zur Beschreibung des dynamischen Verhaltens von Flüssigkristallen mithilfe desQQQ-Tensors wurde in der Monographie von BERIS & EDWARDS [15, Section 11.5] eingeführt, außerdemsei auf TÓTH, DENNISTON & YEOMANS [34] verwiesen. Die Evolutionsgleichungen zur makroskopischenBeschreibung von Flüssigkristallen durch den Tensor-Ordnungsparameter QQQ und das Geschwindigkeitsfeldvvv sind gegeben durch

    ∂tQQQ+(vvv ·∇)QQQ−SSS(QQQ,∇vvv) =− γδ F

    δQQQ, (1.17a)

    ∂tvvv+(vvv ·∇)vvv+∇p−ν∆vvv =∇·TTT , (1.17b)∇·vvv =0 .

    Die Evolution des QQQ-Tensors wird durch die Evolutionsgleichung (1.17a) beschrieben. Die ersten beidenTerme sind die Zeitableitung und der Konvektionsterm und damit die materielle Ableitung des QQQ-Tensors.Die Variable SSS modelliert den Einfluss des Geschwindigkeitsfeldes auf den Tensor QQQ. Die Drehungen undTranslationen werden durch den symmetrischen beziehungsweise schiefsymmetrischen Anteil des Gradien-ten des Geschwindigkeitsfeldes beschrieben,

    SSS(QQQ,∇vvv) :=((∇vvv)skw + ξ (∇vvv)sym)

    (QQQ+

    13

    III

    )−(

    QQQ+13

    III

    )((∇vvv)skw − ξ (∇vvv)sym)

    − 2ξ(

    QQQ+13

    III

    )tr(QQQ∇vvv) .

    (1.18)

    12

  • Kapitel 1. Einleitung

    Der Rotationsparameter ξ hängt von den molekularen Eigenschaften des Materials ab. Die linke Seite derGleichung (1.17a) ist dem Modell der OLDROYD-Fluide sehr ähnlich und der dort auftauchenden materiel-len Ableitung (vgl. LIONS & MASMOUDI [121]). Das OLDROYD-Modell beschreibt visco-elastische Ma-terialien, indem es die NAVIER–STOKES-Gleichungen mit einer zusätzlichen Evolutionsgleichung für denSpannungstensor koppelt. Die sogenannte OLDROYD-Ableitung ergibt sich, wenn auf der linken Seite vonGleichung (1.17a) QQQ+ 1/3III durch den Spannungstensor ersetzt und die zweite Zeile von (1.18) weggelassenwird.

    Die rechte Seite der Gleichung (1.17a) modelliert die Relaxation18 des Ordnungsparameters zur Lö-sung des stationären Problems (vgl. TÓTH, DENNISTON & YEOMANS [34]). Dabei ist γ die Rotations-Diffusionskonstante und δ F/δQQQ die variationelle Ableitung der freien Energie F . Die freie Energie be-schreibt das Zielfunktional, dessen Minimierer Lösungen des zugehörigen stationären Problems sind. Siewird über ein Potential F = F(QQQ,∇QQQ) mittels

    F (QQQ) :=∫

    ΩF(QQQ(xxx, t),∇QQQ(xxx, t))dxxx

    definiert. Diese freie Energie modelliert verschiedene Einflüsse: die Verzerrungen im Flüssigkristall auf-grund der anisotropen Struktur sowie den Einfluss von Temperaturänderungen oder auch elektromagne-tischen Feldern. Auf ihre genaue Definition wird weiter unten eingegangen.

    Die variationelle Ableitung von F ist gegeben durch

    δ F

    δQQQ=

    (∂F

    ∂QQQ−∇· ∂F

    ∂∇QQQ

    )

    sym− 1

    3III tr

    (∂F

    ∂QQQ−∇· ∂F

    ∂∇QQQ

    ). (1.19)

    Dies ist die Variation bezüglich der symmetrischen spurfreien Matrizen und deshalb auch der symmetrischespurfreie Anteil der variationellen Ableitung (vgl. HUANG & DING).

    Die Gleichung (1.17b) beinhaltet die NAVIER–STOKES-Gleichungen für isotrope Flüssigkeiten auf derlinken Seite und den zusätzlichen Spannungstensor TTT zur Modellierung der anisotropen Eigenschaften desFlüssigkristalls auf der rechten Seite. Der Spannungstensor wird aufgeteilt in einen elastischen und einenviskosen Anteil und letzterer weiter in einen symmetrischen und einen schiefsymmetrischen,

    TTT = TTT viskos +TTT elastisch = TTT sym +TTT skw +TTT elastisch.

    Die Tensoren sind definiert mittels

    TTT sym :=−ξ(

    QQQ+13

    III

    )δ F

    δQQQ− ξ δ F

    δQQQ

    (QQQ+

    13

    III

    )+ 2ξ

    (QQQ+

    13

    III

    )tr

    (QQQ

    δ F

    δQQQ

    )

    und

    TTT skw :=QQQδ F

    δQQQ− δ F

    δQQQQQQ , TTT elastisch :=−∇QQQ :

    ∂F

    ∂∇QQQ, (1.20a)

    wobei δ F/δQQQ durch (1.19) gegeben ist und der elastische Spannungstensor komponentenweise definiert istals

    (∇QQQ :

    ∂F

    ∂∇QQQ

    )

    i j

    :=3

    ∑k,l=1

    ∂xxxiQQQkl∂F

    ∂ (∂xxx jQQQkl).

    Die partielle Ableitung bezüglich xxxi wird mit ∂xxxi bezeichnet. Der Spannungstensor hängt von der speziellenWahl der freien Energie ab, auf welche wir nun näher eingehen werden.

    18Als Relaxation bezeichnet man den Übergang eines physikalischen Systems in einen Gleichgewichtszustand nach einer Verände-rung des Systems (vgl. GERTHSEN & VOGEL [76, Abschnitt 4.3.6]).

    13

  • 1.2. Modellierung

    LANDAU–DE GENNES-Energie

    Das Potential der freien Energie des Systems ist, in der Abwesenheit von Oberflächeneffekten, gegebendurch (vgl. BALL & MAJUMDAR [9] sowie TÓTH, DENNISTON & YEOMANS [167])

    FLG(QQQ,∇QQQ) :=FB(QQQ)+FHHH(QQQ)+FE(QQQ,∇QQQ) . (1.21a)

    Die freie Energie setzt sich dabei aus drei Teilen zusammen: der thermotropen Energiedichte19 FB, demEinfluss des elektromagnetischen Feldes FHHH und der elastischen Energiedichte FE . Die thermotrope Ener-giedichte ist ein Polynom in den rotationsinvarianten skalaren Termen des Ordnungsparameters QQQ (vgl. DEGENNES [32])

    FB(QQQ) :=a(T )

    2tr(QQQ2

    )− b

    3tr(QQQ3)+

    c

    4

    (tr(QQQ2

    ))2. (1.21b)

    Die Koeffizienten a, b und c sind Materialkonstanten, wobei a von der vorgegebenen Temperatur abhängt.Die Funktion FB bestimmt, ob die Mesophase des Flüssigkristalls isotropes, uniaxiales oder biaxiales Ver-halten aufweist. Der Anteil zur Modellierung des Einflußes eines elektromagnetischen Feldes HHH ist ähnlichzu (1.3) gegeben durch (vgl. TÓTH, DENNISTON & YEOMANS [167])

    FHHH(QQQ) :=− mini∈{1,2,3}

    13|λi(QQQ)|

    (χ‖− χ⊥)HHH ·(

    QQQ+13

    III

    )HHH ,

    wobei die Bezeichnungen wie in (1.3) gewählt sind, also χ‖ und χ⊥ die elektromagnetische Suszeptibilitätparallel beziehungsweise orthogonal zur vorherrschenden Orientierung charakterisieren. Die in QQQ konstantenTerme haben wir dabei vernachlässigt20. Die elastische freie Energiedichte

    FE(QQQ,∇QQQ) := L1|∇QQQ|2 +L23

    ∑i=1

    tr(∇QQQi∇QQQi)+L3|∇·QQQ|2 +L43

    ∑i=1

    tr(∇QQQiQQQ(∇QQQi)

    T)

    (1.21c)

    bestimmt die vorherrschenden elastischen Verzerrungen im Material, wobei L1, . . . ,L4 Materialkonstantensind (vgl. BALL & MAJMUNDAR [9]). In der vorangegangenen Definition bezeichnet QQQi die i-te Zeiledes QQQ-Tensors aufgefasst als ein Spaltenvektor. Die elastische Energiedichte vereinfacht sich zur bekann-ten stationären OSEEN–FRANK-Energie (siehe BAUMAN, PARK & PHILLIPS [13] oder MAJUMDAR &ZARNESCU [129] sowie Gleichung (1.31) weiter unten). Oftmals wird eine Ein-Konstanten-Approximation(vgl. MAJUMDAR [128]) mit L2 = L3 = L4 = 0 betrachtet.

    Der elastische Spannungstensor TTT elastisch hängt von der Wahl der freien Energie ab (vgl. (1.20a)). In demFall der Ein-Konstanten-Approximation erhält der elastische Spannungstensor die Form

    (TTT elastisch)i j :=

    (∇QQQ :

    ∂FE∂∇QQQ

    )

    i j

    =

    (∇QQQ :

    ∂ (L1|∇QQQ|2)∂∇QQQ

    )

    i j

    = 2L1

    3

    ∑k,l=1

    ∂xiQQQkl∂x jQQQkl . (1.22)

    19englisch: bulk energy density20Man beachte, dass sich diese Energie für den uniaxialen Fall, in dem λ1 =−2λ2 =−2λ3 gilt, bis auf eine von dem elektromagne-

    tischen Feld HHH abhängige Konstante zum Potential des elektromagnetischen Anteils der freien Energie im ERICKSEN–LESLIE-Systemvereinfacht: FHHH (QQQ) =− 12 (χ‖− χ⊥)

    [(HHH ·eee1)2 − (1/3− 2/9λ1)|HHH|2

    ], wobei eee1 der Eigenvektor zum Eigenwert λ1 ist (siehe (1.15) sowie

    (1.32)).

    14

  • Kapitel 1. Einleitung

    Es verbleibt also, die variationelle Ableitung von F zu berechnen. Für die LANDAU–DE GENNES-Energiemit der Ein-Konstanten-Approximation und verschwindendem elektromagnetischen Feld HHH ≡ 0 ist die zu-gehörige variationelle Ableitung geben durch

    δ F LGδQQQ

    = a(T )QQQ− b(

    QQQ2 − 13

    III tr(QQQ2

    ))+ cQQQ tr

    (QQQ2

    )− 2L1∆QQQ . (1.23)

    Die ersten drei Terme auf der rechten Seite der Gleichung (1.23) sind die Anteile der thermotropen Energie-dichte FB und der letzte Term tritt aufgrund der Verzerrungsenergie FE auf.

    Das System nichtlinearer partieller Differentialgleichungen, bestehend aus (1.17), (1.18), (1.20), (1.22)und (1.23), wird von PAICU & ZARNESCU auf Wohlgestelltheit untersucht. In ihrer ersten Arbeit [146]betrachten sie den vereinfachten Fall ξ = 0 und beweisen die Existenz globaler schwacher Lösungen desCAUCHY-Problems in zwei und drei Dimensionen und zusätzlich schwach-starke Einzigkeit in zwei Dimen-sionen. In ihrer zweiten Arbeit [145] erweitern die Autoren diese Resultate auf das System mit hinreichendkleinem ξ . Die zugehörigen DIRICHLET- und NEUMANN-Probleme auf beschränkten Gebieten werden vonABELS, DOLZMANN & LIU [1] betrachtet und es gelingt ihnen, die Existenz globaler schwacher und loka-ler starker Lösungen zu zeigen. Für das CAUCHY-Problem, ausgestattet mit einer verallgemeinerten freienEnergie mit der Dichte (1.21), wobei zusätzliche Annahmen an die Materialkonstanten Li mit i ∈ {1, . . . ,4}in (1.21c) gelten, zeigen HUANG & DING [92] Wohlgestelltheit für kleine Daten und die stetige Abhängig-keit von den Anfangsdaten.

    BALL–MAJUMDAR-Energie

    Die freie Energiedichte (1.21b) verletzt die Eigenwertrestriktion aus (1.16) in dem Temperaturregime umden Phasenübergang vom nematischen Flüssigkristall in den isotropen Zustand (vgl. MOTTRAM & NEW-TON [135]). Sie führt demnach zu unphysikalischen Vorhersagen. Um diese Problematik zu umgehen, kannwie in der DOI-Theorie die freie Energie mithilfe der Wahrscheinlichkeitsdichte f dargestellt werden. Be-trachten wir dazu die freie Energie (1.7) ohne elektromagnetische Felder, HHH = 0, und versehen diese mit derintermolekularen Wechselwirkung nach MAIER–SAUPE (1.5). Nach einer kurzen Rechnung, unter Vernach-lässigung der Abhängigkeit in xxx und t, erkennen wir für den Anteil der intermolekularen WechselwirkungFIW , dass

    −∫

    S2

    S2(ddd · d̂dd)2 f (ddd) f (d̂dd)dddd dd̂dd =−

    (∫

    S2ddd ⊗ddd f (ddd)dddd

    ):

    (∫

    S2d̂dd⊗ d̂dd f (d̂dd)d d̂dd

    )

    =−(∫

    S2

    (ddd⊗ddd− 1

    3III

    )f (ddd)dddd

    ):

    (∫

    S2

    (d̂dd ⊗ d̂dd− 1

    3III

    )f (d̂dd)dd̂dd

    )

    +13

    S2d̂dd · d̂dd f (d̂dd)dd̂dd+ 1

    3

    S2ddd ·ddd f (ddd)dddd− 1

    9

    =−|QQQ|2 + 59.

    Die freie Energie (1.7) vereinfacht sich also zu

    FMS( f ) ∼∫

    S2f (ddd)(ln f (ddd)− 1)dddd−α|QQQ|2 +α 5

    9, (1.24)

    wobei QQQ der zu einer Dichte f gehörende QQQ-Tensor gemäß Definition (1.12) ist. Die Konstante α ist wiein (1.4) eine Konstante zur Beschreibung der molekularen Interaktion. Das Zielfunktional (1.24) wird von

    15

  • 1.2. Modellierung

    BALL & MAJUMDAR [9] genutzt, um eine freie Energie zu definieren, welche die Nebenbedingung (1.16)an die Eigenwerte des QQQ-Tensors erhält. Dabei wird die Energie FMS (siehe (1.24)) über alle Wahrschein-lichkeitsdichten f zu einem gegebenem Tensor QQQ minimiert. Die addierten Konstanten

    ∫S2

    f (ddd)dddd = 1 und(5α)/9 können bei dem zu minimierenden Zielfunktional (1.24) vernachlässigt werden. Die Menge der zumgegebenen Tensor QQQ gehörenden Wahrschenlichkeitsdichten ist gegeben durch

    AQQQ :=

    {f : S2→R, f ≥ 0,

    S2f (ddd)dddd = 1; QQQ =

    S2

    (ddd⊗ddd− 1

    3III

    )f (ddd)dddd

    }.

    Zu dieser Menge AQQQ

    wird das zugehörige Minimierungsproblem des Zielfunktionals (1.24) betrachtet unddie Funktion

    g(QQQ) :=

    {minf∈A

    QQQ

    ∫S2

    f (ddd) ln f (ddd)dddd , falls − 13 ≤ λi(QQQ)≤ 23 ,

    ∞ , sonst

    definiert. Dabei bezeichnet λi(QQQ), i ∈ {1,2,3} die Eigenwerte des QQQ-Tensors. Die Funktion g ist somitnur endlich, falls die Eigenwerte von QQQ die physikalische Nebenbedingung (1.16) erfüllen (siehe BALL &MAJUMDAR [9]).

    Im Vergleich zu der LANDAU–DE GENNES-Energie (1.21), wird die veränderte Energiedichte FB defi-niert als

    FB(QQQ) = Tg(QQQ)−α|QQQ|2 , (1.25)wobei T wiederum die absolute Temperatur bezeichnet. BALL & MAJUMDAR [9] beweisen einige analy-tische Eigenschaften der so definierten freien Energie, wie Regularität, Konvexität, Isotropie, Beschränktheitnach unten sowie logarithmische Singularitäten an den Rändern des Bereichs physikalischer Nebenbedin-gungen (vgl. (1.16) sowie WILKINSON [182]). Dies ermöglicht sowohl eine weitere Untersuchung des sta-tionären als auch des instationären Problems versehen mit der veränderten freien Energie. Im Vergleich zurfreien Energie (1.21) wird die Energiedichte FB durch die Energiedichte in (1.25) ersetzt und zusätzlich wirddie Ein-Konstanten-Approximation der elastischen Energie betrachtet:

    FBM(QQQ) :=∫

    ΩL1|∇QQQ|2 +FB(QQQ)dxxx .

    Die zugehörige variationelle Ableitung ist im Vergleich zu (1.23) gegeben durch

    δ F BMδQQQ

    :=−2L1∆QQQ+T(

    ∂g

    ∂QQQ(QQQ)− 1

    3tr

    (∂g

    ∂QQQ(QQQ)

    )III

    )−αQQQ . (1.26)

    Für das zugehörige System bestehend aus (1.17), (1.18), (1.20), (1.22) und (1.26) beweist WILKINSON [182]die globale Existenz schwacher Lösungen in zwei und drei Dimensionen mit zusätzlichen Regularitätsaus-sagen für den zweidimensionalen Fall. Der Vorteil des BALL–MAJUMDAR-Potentials (1.25) gegenüber demLANDAU–DE GENNES-Potential (1.21) liegt darin, dass auch die Lösungen zum zugehörigen instationärenSystem (1.17) die physikalischen Nebenbedingungen (1.16) erfüllen.

    FEIREISL, ROCCA, SCHIMPERNA & ZARNESCU [64] betrachten den nichtisothermen Fall des Sys-tems (1.17) mit einer zusätzlichen Gleichung für die Temperatur sowie einer Entropieungleichung und be-weisen ebenfalls die Existenz globaler schwacher Lösungen.

    Numerische Simulationen für das instationäre QQQ-Tensormodell, ohne jedoch die Konvergenz des Al-gorithmus zu zeigen, wurden unter anderem von der Gruppe um YEOMANS vorgenommen (vgl. TÓTH,DENNISTON & YEOMANS [167], DENNISTON, MARENDUZZO, ORLANDINI & YEOMANS [34] sowieDENNISTON, ORLANDINI & YEOMANS [35]).

    16

  • Kapitel 1. Einleitung

    1.2.3 ERICKSEN–LESLIE-Modell

    Die erste instationäre Theorie zur Beschreibung von Flüssigkristallen, insbesondere von nematischen, gehtauf ERICKSEN [50, 51] und LESLIE [107, 108, 106] zurück. Sie betrachten einen Vektor in der SphäreS2 als anisotropen Ordnungsparameter, wie es vor ihnen schon OSEEN und FRANK zur Beschreibung desstationären Falls taten. Da dieser Vektor nur eine Anisotropie in eine Richtung darstellen kann, ist diesesModell nur in der perfekt ausgerichteten nematischen Phase anwendbar. In diesem uniaxialen Fall, nähmeder QQQ-Tensor die Gestalt

    QQQ = s

    (ddd⊗ddd− 1

    3III

    )(1.27)

    an (vgl. (1.15)). Dabei ist ddd der normierte Eigenvektor zum betragsmäßig größten Eigenwert von QQQ. Die-ser Eigenvektor ist, bis auf das Vorzeichen, eindeutig bestimmt, da der zugehörige Eigenwert algebraischeVielfachheit Eins hat. Man beachte, dass es sich um eine uniaxiale Phase handelt und der betragsmäßigkleinere Eigenwert aufgrund der Bedingung (1.14) die algebraische Vielfachheit zwei hat. Der anisotropeOrdnungsparameter in der ERICKSEN–LESLIE-Theorie ist dieser normierte Eigenvektor zum betragsmäßiggrößten Eigenwert (1.27), der sogenannte Direktor. Das ERICKSEN–LESLIE-Modell weist, zumindest indem Bereich niedriger Molekulargewichte, große Übereinstimmungen mit Experimenten auf (vgl. BERIS& EDWARDS [15, Section 11.1, S.463]). Das ERICKSEN–LESLIE-System setzt sich, genau wie das DOI–HESS- oder das QQQ-Tensor-System, aus einer Evolutionsgleichung für den anisotropen Ordnungsparameter,in diesem Fall für den normierten Vektor ddd, und den inkompressiblen NAVIER–STOKES-Gleichungen miteinem zusätzlichen Spannungstensor zusammen (vgl. LESLIE [107]),

    ρ1d2 ddddt2

    −∇·(

    ∂F

    ∂∇ddd

    )+

    ∂F

    ∂ddd−λ1

    (∂tddd+(vvv ·∇)ddd − (∇vvv)skwddd

    )+λ2(∇vvv)symddd = ρ1 fff , (1.28a)

    ρ∂tvvv+ρ(vvv ·∇)vvv+∇p−∇·TTT = ρggg, (1.28b)∇·vvv = 0 , (1.28c)|ddd|2 = 1 . (1.28d)

    Der erste Term der ersten Gleichung (1.28a) ist die materielle Ableitung zweiter Ordnung, wobei die ersterOrdnung definiert ist als dd t := ∂t +(vvv ·∇). Wie in den vorherigen Abschnitten bezeichnet vvv das Geschwindig-keitsfeld, p den Druck, F = F(ddd,∇ddd) das Potential der freien Energie und fff sowie ggg sind externe Volumen-kräfte, die auf den Direktor beziehungsweise das Geschwindigkeitsfeld wirken. Die Variable ρ bezeichnetdie Dichte des Fluids und ρ1 die Trägheitskonstante der rotierenden Moleküle, wobei ρ1 = ρr

    2 gilt und rvon der Größenordnung der Länge der Moleküle ist.

    Der Spannungstensor TTT kann aufgeteilt werden in einen elastischen Anteil, den ERICKSEN-Spannungs-tensor TTT E , und einen viskosen Anteil, den LESLIE-Spannungstensor TTT L, sodass TTT = TTT E +TTT L, wobei diesegegeben sind durch

    TTT E := −∇dddT ∂F∂∇ddd

    ,

    TTT L := µ1(ddd · (∇vvv)symddd)ddd⊗ddd+ µ2ddd⊗(

    ∂ddd

    ∂ t+(vvv ·∇)ddd +(∇vvv)skwddd

    )

    + µ3

    (∂ddd

    ∂ t+(vvv ·∇)ddd+(∇vvv)skwddd

    )⊗ddd+ µ4(∇vvv)sym + µ5ddd⊗ddd(∇vvv)sym + µ6(∇vvv)symddd⊗ddd.

    (1.29)

    17

  • 1.2. Modellierung

    Die verschiedenen Konstanten in den Gleichungen (1.28) und dem Tensor (1.29) sind verbunden durch(vgl. LESLIE [107]):

    λ1 = µ2 − µ3, λ2 = µ5 − µ6 .

    Außerdem wird oftmals (siehe LIN & LIU [116] oder PARODI [148]) die auf PARODI zurückgehende Be-ziehung

    λ2 + µ2 + µ3 = 0 (1.30)

    vorausgesetzt. Diese folgt aus der ONSAGERschen Reziprozitätsbeziehung21 (siehe ONSAGER [139]). UnterAnnahme der Beziehung (1.30) können die dissipativen Terme, also

    TTT L und λ1(∂tddd+(vvv ·∇)ddd− (∇vvv)skwddd)+λ2(∇vvv)symddd

    als variationelle Ableitungen einer Dissipationsmetrik geschrieben werden (vgl. WU, XU & LIU [183]).Wie schon in den vorherigen beiden Abschnitten modelliert die freie Energie verschiedene anisotrope Ef-

    fekte und ihre Minimierer sind Lösungen des stationären Problems. Um die molekularen Wechselwirkungenund somit die Verzerrungen im Fluid zu modellieren, betrachtete schon LESLIE [107] die freie Energiedichtenach OSEEN [143] und FRANK [67], die OSEEN–FRANK-Energiedichte

    FOF :=k12(∇·ddd)2 + k2

    2(ddd ·∇×ddd + q)2 + k3

    2|ddd×∇×ddd|2 + α

    2

    (tr(∇ddd)2 − (∇·ddd)2

    ). (1.31)

    Um den Einfluss eines externen elektromagnetischen Feldes HHH auf die Moleküle zu modellieren, wird in derMonographie von DE GENNES [32] die Energiedichte

    FH(ddd) =−χ⊥2|HHH|2 −

    (χ‖− χ⊥)2

    (ddd ·HHH)2 =−χ⊥2|ddd×HHH|2 −

    χ‖2(ddd ·HHH)2 , (1.32)

    die sich nur durch eine Konstante von der DOI–HESS-Theorie unterscheidet (siehe (1.3)), angegeben. Dabeisind die Konstanten χ‖ und χ⊥ wiederum die Konstanten der magnetischen Suszeptibilität parallel bezie-hungsweise orthogonal zum Direktor ddd. Für die Umformung in (1.32) wird die algebraische Nebenbedin-gung (1.28d) vorausgesetzt (vgl. Abschnitt 1.4). Auf der rechten Seite dieser Gleichung ist die Aufteilungdes elektromagnetischen Feldes in den orthogonalen beziehungsweise parallelen Anteil sehr gut erkennbar.Für weitere mögliche freie Energien sei auf den Abschnitt 2.1.2 verwiesen.

    Literaturübersicht zum ERICKSEN–LESLIE-Modell

    Dieses System aus nichtlinear gekoppelten nichtlinearen partiellen Evolutionsgleichungen mit zusätzlichenalgebraischen Nebenbedingungen (1.28)-(1.31) wirft aus analytischer Sicht viele Fragen auf und birgt einigeSchwierigkeiten. Bisherige Resultate zur Lösbarkeit dieser Gleichungen konnten nur unter stark vereinfach-ten Voraussetzungen gezeigt werden. Alle mathematischen Veröffentlichungen vernachlässigen den erstenTerm der ersten Gleichung (1.28a), die zweite materielle Ableitung. Dies ist physikalisch sinnvoll, da dieKonstante ρ1 von der Größenordnung der Länge der Moleküle ist (vgl. WALKINGTON [170]), welche in die-sem makroskopischen Modellierungskonzept vernachlässigbar klein ist. Dennoch wäre das System zweiterOrdnung in der Zeit ((1.28) mit ρ1 6= 0) ein interessanter Gegenstand für zukünftige Untersuchungen.

    21Die ONSAGERschen Reziprozitätsbeziehung beschreibt die symmetrische Abhängigkeit der verallgemeinerten Ströme von denverallgemeinerten Kräften in einem thermodynamischen System unweit eines lokalen Gleichgewichts (vgl. GERTHSEN & VOGEL [76,S.899]).

    18

  • Kapitel 1. Einleitung

    Die erste Untersuchung einer Vereinfachung des ERICKSEN–LESLIE-Systems (1.28)-(1.31) geht auf LIN& LIU [114] zurück. Dabei wurde die freie Energie durch die sogenannte Ein-Konstanten-Approximation(k1 = k2 = k3 = α) von (1.31) zur DIRICHLET-Energie vereinfacht (siehe Abschnitt A.1). Die algebraischeNebenbedingung, ddd ∈ S2, wird approximiert durch Addition eines Doppelmuldenpotentials zum Potentialder freien Energie,

    Fε(ddd,∇ddd) = F(ddd,∇ddd)+1

    4ε2(|ddd|2 − 1)2 , ε > 0 . (1.33)

    Zusammengenommen ergibt sich für das Potential der vereinfachten freien Energie

    Fε(ddd,∇ddd) =k12|∇ddd|2 + 1

    4ε2(|ddd|2 − 1)2. (1.34)

    Da die variationelle Ableitung δF/δddd = ∂F/∂ddd − ∇·(∂F/∂∇ddd) die Relaxation des Ordnungsparameters zurLösung des stationären Problems beschreibt, wird in der instationären Gleichung implizit das Zielfunk-tional minimiert und somit die algebraische Nebenbedingung approximiert. Weiterhin wird der LESLIE-Spannungstensor TTT L in LIN & LIU [114] vereinfacht, indem alle auftretenden Konstanten bis auf µ4 aufNull gesetzt werden. Zusätzlich werden alle externen Kräfte vernachlässigt und schließlich die Konstante λ2auf Null gesetzt. Mit dieser letzten Vereinfachung werden alle vom Geschwindigkeitsfeld ausgeübten Stre-ckungen und Verzerrungen des Direktors nicht betrachtet. Zumindest bei größeren Molekülen scheint dieseAnnahme unangebracht. Sie erlaubt es den Autoren jedoch, die Gültigkeit eines Maximumsprinzips zu zei-gen, welches essentiell für den Existenzbeweis ist. Dieses vereinfachte System, welches LIN & LIU [114]und nach ihnen viele andere Autoren betrachten, ist gegeben durch

    ∂tddd +(vvv ·∇)ddd = ∆ddd −1ε2

    (|ddd|2 − 1)ddd , (1.35a)

    ∂tvvv+(vvv ·∇)vvv+∇p−µ42

    ∆ddd =−∇·(∇dddT ∇ddd

    ), (1.35b)

    ∇·vvv = 0 , (1.35c)

    ausgestattet mit Anfangs- und Randbedingungen

    vvv(xxx,0) = vvv0(xxx) für xxx ∈ Ω, vvv(xxx, t) = 000 für (xxx, t) ∈ ∂Ω× [0,T ] ,ddd(xxx,0) = ddd0(xxx) für xxx ∈ Ω, ddd(xxx, t) = ddd0(xxx) für (xxx, t) ∈ ∂Ω× [0,T ] . (1.35d)

    Man beachte, dass die Anfangs- und Randbedingungen für den Direktor durch dieselbe, in der Zeit konstan-ten Funktion ddd0 vorgegeben sind. Dies ist eine Kompatibilitätsbedingung und zieht zusätzliche Regularitätnach sich. Für dieses System beweisen LIN & LIU [114] die globale Existenz schwacher Lösungen undlokale Existenz starker Lösungen. Außerdem verallgemeinern sie diese Resultate auf das System (1.35),ausgestattet mit dem vollen dissipativen LESLIE-Spannungstensor (1.29) und ohne Vernachlässigung desTerms (∇vvv)skwddd in Gleichung (1.28a),

    ∂tddd+(vvv ·∇)ddd+(∇vvv)skwddd = ∆ddd−1ε2

    (|ddd|2 − 1)ddd , (1.36a)

    ∂tvvv+(vvv ·∇)vvv+∇p−TTTL =−∇·(∇dddT ∇ddd

    ), (1.36b)

    ∇·vvv = 0 . (1.36c)

    19

  • 1.2. Modellierung

    Diese Resultate beruhen auf dem erwähnten Maximumsprinzip, welches durch Multiplikation der Glei-chung (1.36a) mit dem Direktor ddd eingesehen werden kann. Denn damit ergibt sich eine parabolische Glei-chung für die Norm des Direktors,

    12

    ∂t |ddd|2 +12(vvv ·∇)|ddd|2 +ddd · (∇vvv)skwddd =∆ddd ·ddd−

    1ε2

    (|ddd|2 − 1

    )|ddd|2

    =12

    ∆|ddd|2 −|∇ddd|2 − 1ε2

    (|ddd|2 − 1

    )|ddd|2.

    Bei einem Maximum von |ddd|2 verschwinden die ersten Ableitungen von |ddd|2 und der Term ddd · (∇vvv)skwddd istNull, da (∇vvv)skw schiefsymmetrisch ist. Ferner ist ∆|ddd|2 ≤ 0. Die Annahme, dass das Maximum bei |ddd|> 1angenommen wird, führt durch die Eigenschaft (|ddd|2 − 1)|ddd|2 > 0 für |ddd| > 1 der Straffunktion auf einenWiderspruch. Deshalb gilt |ddd(xxx, t)| ≤ 1 für alle (xxx, t) ∈ Ω× [0,T ] und für alle Lösungen des Randwertpro-blems (1.36), ausgestattet mit Anfangs- und Randdaten mit |ddd0(xxx)| ≤ 1 für alle xxx ∈ Ω (vgl. (1.35d)).

    LIN & LIU [115] beweisen außerdem Regularität der schwachen Lösung des vereinfachten ERICKSEN–LESLIE-Systems (1.35) für den Grenzübergang ε →0 und damit die Konvergenz gegen eine maßwertigeLösung des Problems

    ∂tddd+(vvv ·∇)ddd−∆ddd =|∇ddd|2ddd ,

    ∂tvvv+(vvv ·∇)vvv+∇p−µ42

    ∆vvv =−∇·(∇dddT ∇ddd) ,

    |ddd|= 1, ∇·vvv = 0 .

    (1.37)

    LIN & WANG [110] untersuchen das System (1.37) in zwei Dimensionen und zeigen die globale Exis-tenz schwacher Lösungen, die bis auf endlich-viele Zeitpunkte regulär sind. Weiterhin beweisen LIN &WANG [113] die globale Existenz schwacher Lösungen in drei Dimensionen für das System (1.37) überdie Blow-up-Analyse des vereinfachten Systems (1.35) für ε →0 unter zusätzlichen Voraussetzungen an denAnfangswert des Direktors. Weitere Resultate gehen unter anderem auf WANG, ZHANG & ZHANG [175]oder HONG, LI & XIN [91] zurück.

    Es gibt viele Arbeiten, die die Existenz von Lösungen zu etwas komplexeren Systemen als (1.36) un-tersuchen. Ein Modell ähnlich zu (1.36), in dem der Parameter λ2 6= 0 nicht vernachlässigt wird, wird vonCAVATERRA, ROCCA & WU [26] betrachtet und die globale Existenz schwacher Lösungen gezeigt sowieein Blow-up-Kriterium für starke Lösungen. WU, XU & LIU [183] untersuchen den Einfluss von PARODIs-Bedingung (siehe (1.30)) für die Wohlgestelltheit und Stabilität des Systems. Das Langzeitverhalten fürein Modell mit einem speziellen Spannungstensor wird von PETZELTOVÁ, ROCCA & SCHIMPERNA [150]untersucht und ein nichtisothermes Modell von FEIREISL, ROCCA & SCHIMPERNA [63]. Einen anderenZugang wählen PRÜSS und Koautoren. Sie führen ein thermodynamisch konsistentes System ein und bewei-sen lokale Existenz und Stabilität unter Ausnutzung der Theorie der maximalen Regularität für quasilineareGleichungen (siehe HIEBER & PRÜSS [89] und HIEBER, NESENSOHN, PRÜSS & SCHADE [88]).

    Für eine detailliertere Übersicht der analytischen Resultate des ERICKSEN–LESLIE-Modells sei auf LIN& LIU [111] und LIN & WANG [112] verwiesen.

    Die numerische Analyse des ERICKSEN–LESLIE-Modells begann mit LIN & WALKINGTON [123]. Dortwird die Konvergenz eines numerischen Verfahrens zur Approximation des vereinfachten Systems (1.35)basierend auf C 1-finiten Elementen gezeigt. Dies konnten die beiden Autoren (siehe LIN & WALKING-TON [124]) auf C 0-finite Elemente verallgemeinern, indem eine zusätzliche Variable für den Gradientendes Direktors eingeführt wird. BECKER, FENG & PROHL [14] beweisen ebenfalls die Konvergenz einesnumerischen Verfahrens, basierend auf C 0-finiten Elementen, für das vereinfachte ERICKSEN–LESLIE-System (1.35), indem sie eine zusätzliche Variable für die variationelle Ableitung, die rechte Seite der

    20

  • Kapitel 1. Einleitung

    Gleichung (1.36a), einführen. Diese Umformulierung erlaubt es den Autoren A-priori-Abschätzungen fürdas approximierte System unabhängig von ε zu zeigen und damit die Konvergenz der numerischen Lösung-en für ε →0 gegen eine maßwertige Lösung des Systems (1.37). LIN, LIU & ZHANG [117] beweisen dieKonvergenz eines numerischen Verfahrens mit C 0-finiten Elementen für das System (1.36) mit zusätzlichenEinschränkungen an die Koeffizienten des LESLIE-Spannungstensors. Ein weiter verallgemeinertes Modellwird von WALKINGTON [170] betrachtet, hier wird die quadratische Norm des Gradienten in der freien Ener-gie (1.33) durch die OSEEN–FRANK-Energie (2.1.3) mit k2 = k3 ersetzt und das System dementsprechendangepasst.

    Andere Zugänge in Form von spektralen FOURIER-Approximationen beziehungsweise finiten Differen-zen werden von DU, GUO & SHEN [41] beziehungsweise FUWA & ISHIWATA [71] betrachtet.

    Zusammenhänge zwischen den unterschiedlichen Theorien

    Da die drei vorgestellten Theorien unter anderem dasselbe Material (nematische Flüssigkristalle) beschrei-ben, sind sie eng miteinander verbunden. Wie oben erwähnt, besitzen die anisotropen Ordnungsparametereine offensichtliche Verbindung: Der QQQ-Tensor ist eine konstante Verschiebung des zweiten Moments derWahrscheinlichkeitsverteilung f (vgl. (1.12)) und der Eigenvektor zum betragsmäßig größten Eigenwert desQQQ-Tensors ist der Direktor ddd (vgl. (1.27)). Diese Zusammenhänge übertragen sich jedoch nicht offensicht-lich auf die zugehörigen Systeme. KUZZU & DOI [97] zeigen formal, dass sich das DOI–HESS-System imuniaxialen Fall ohne Berücksichtigung des Geschwindigkeitsfeldes zum ERICKSEN–LESLIE-System ver-einfacht. MAJUMDAR & ZARNESCU [129] beweisen, dass im stationären Fall und der Ein-Konstanten-Approximation die Minima der LANDAU–DE GENNES-Energie (vgl. (1.21)) für verschwindende elastischeKonstante (L1→0) gegen Minima der OSEEN–FRANK-Energie (vgl. (1.31)) konvergieren.

    In der Monographie von BERIS & EDWARDS [15], in der das QQQ-Tensor-Modell eingeführt wird, zeigendie Autoren ebenfalls, dass sich die zugehörigen Bewegungsgleichungen (1.17) formal auf das ERICKSEN–LESLIE-System (1.28) reduzieren. Eine rigorose Herleitung des ERICKSEN–LESLIE-Modells aus dem singu-lären Grenzwert des DOI–HESS-Modells für verschwindende DEBORAH-Zahl wird in WANG, ZHANG &ZHANG [177], mittels asymptotischer Analysis um die Lösung des stationären Problems, bewiesen (sieheauch E & ZHANG [46]). Dieselben Autoren leiten ebenfalls das instationäre ERICKSEN–LESLIE-Modellaus dem LANDAU–DE GENNES-System mittels einer Potenzreihenentwicklung her (siehe WANG, ZHANG& ZHANG [176]).

    1.3 Gegenstand der Arbeit

    In der vorliegenden Arbeit wird das ERICKSEN–LESLIE-System, ausgestattet mit verschiedenen freien Ener-gien, im Hinblick auf die Existenz geeigneter Lösungen analysiert. Der Fokus der Arbeit liegt darauf, diebekannten Lösungskonzepte auf größere Klassen von freien Energien zu verallgemeinern und ein neues Lö-sungskonzept für die physikalisch relevante OSEEN–FRANK-Energie einzuführen. Es seien die ERICKSEN–LESLIE-Gleichungen mit ρ1 = 0 und ρ = 1 vorgelegt:

    ∂tddd +(vvv ·∇)ddd − (∇vvv)skwddd +λ (∇vvv)symddd + γ(

    ∂F

    ∂ddd−∇· ∂F

    ∂∇ddd

    )= 0, (1.38a)

    ∂tvvv+(vvv ·∇)vvv+∇p−∇·(TTT E +TTT L) = fff , (1.38b)∇·vvv = 0 . (1.38c)

    21

  • 1.3. Gegenstand der Arbeit

    Dabei wird die algebraische Nebenbedingung |ddd|= 1 in dieser Arbeit durch die übliche Approximation überdas Doppelmuldenpotential als Straffunktional berücksichtigt (siehe (1.33)). In dem System (1.38) ist dieDirektorgleichung im Vergleich zu (1.28) mit 1/λ1 skaliert und die Konstanten sind umbenannt vermittels

    γ :=− 1λ1

    =1

    µ3 − µ2, λ :=

    λ2λ1

    = γ(µ6 − µ5). (1.39)

    Die Spannungstensoren TTT E und TTT L sind in (1.29) gegeben. Um die Dissipativität des Systems zu sichern,wird stets vorausgesetzt (siehe auch die äquivalenten Formulierung in (2.4j)), dass

    µ1 > 0 , µ3 > µ2 , µ4 > 0 , (µ3 − µ2)(µ6 + µ5)> (µ3 + µ2)(µ6 − µ5) ,4(µ3 − µ2)(µ6 + µ5)>

    ((µ3 + µ2)+ (µ6 − µ5)

    )2.

    Die Fälle µ1 = 0 oder (µ3 + µ2) + (µ6 − µ5) = 0 reduzieren das System und sind dadurch einfacher zubehandeln. Aus diesem Grund werden sie im Existenzbeweis nicht betrachtet. Die PARODIsche Bedingung(µ3 + µ2)+ (µ6 − µ5) = 0 ist dagegen essentiell für die Einzigkeitsaussagen in Kapitel 4.

    Schwache Lösbarkeit

    Im ersten vorgestellten Resultat dieser Arbeit (siehe Kapitel 2) wird die globale Existenz schwacher Lösung-en der ERICKSEN–LESLIE-Gleichungen bewiesen (Satz 2.1). Dabei wird die Gleichung (1.38) mit einemPotential der freien Energie von der Form

    F(ddd,∇ddd) =12

    ∇ddd : ΛΛΛ : ∇ddd +G(ddd,∇ddd)

    ausgestattet, wobei ΛΛΛ∈R3×3×3×3 ein stark elliptischer Tensor vierter Stufe ist, also der starken LEGENDRE–HADAMARD-Bedingung genügt (siehe (2.5c)). Die Funktion G : R3×R3×3→R vereint die Terme niede-rer Ordnung sowie Terme von geringerem Wachstum (vgl. Abschnitt 2.1.1 für die genauen Voraussetzun-gen und Wachstumsbedingungen an G). Dieses Resultat verallgemeinert die Existenzresultate nach LIN &LIU [114, 116] sowie CAVATERRA, ROCCA & WU [26] auf eine große Familie von freien Energien. Insbe-sondere beinhaltet diese Familie auch physikalisch relevante Beispiele, von denen einige im Abschnitt 2.1.2zu finden sind. Der Existenzbeweis beruht auf einem speziellen GALERKIN-Schema basierend auf Eigen-funktionen des assoziierten elliptischen Differentialoperators und des STOKES-Operators, welches die Glei-chungen (1.38) simultan approximiert. Im Gegensatz dazu, betrachten bisherige Veröffentlichungen ein GA-LERKIN-Schema für die NAVIER–STOKES-ähnliche Gleichung und lösen die Direktorgleichung (1.38a) injedem Schritt exakt. Durch die Anwendung des SCHAUDERschen Fixpunktsatzes folgt die Lösbarkeit desgekoppelten Systems (1.38) in jedem Approximationsschritt. Diese Beweistechnik setzt jedoch die Existenzund Stetigkeit des Lösungsoperators der Gleichung (1.38a) voraus. Um diese Eigenschaften zu gewährleis-ten, benötigten frühere Arbeiten zusätzliche Regularität des Geschwindigkeitsfelds vvv. Diese wurde dadurcherzielt, dass entweder µ4 als ausreichend groß angenommen (siehe WU, XU & LIU [183]) oder eine zusätz-liche Regularisierung eingeführt wurde (siehe CAVATERRA, ROCCA & WU [26]).

    Die Stetigkeit des Lösungsoperators zur Gleichung (1.38a) gilt unter den verallgemeinerten Vorausset-zungen, die in dieser Arbeit an die freie Energie gestellt werden, im Allgemeinen nicht. Außerdem erscheinteine gleichzeitige Diskretisierung beider Gleichungen geeigneter für eine numerische Approximation.

    22

  • Kapitel 1. Einleitung

    Schwach-starke Einzigkeit

    Für eine spezielle freie Energie

    F(ddd,∇ddd) =12

    ∇ddd : ΛΛΛ : ∇ddd+1

    4ε(|ddd|2 − 1)2

    wird außerdem die schwach-starke Einzigkeit gezeigt (siehe Kapitel 4, Satz 4.1). Dies bedeutet, dass jedeschwache Lösung mit der starken Lösung, ausgehend vom gleichen Anfangswert, übereinstimmen muss,solange letztere existiert. Die lokale Existenz starker Lösungen zu diesem System, zumindest mit ΛΛΛi jkl =δδδ ikδδδ jl , wurde bereits bewiesen (siehe LIN & LIU [116]). Der Beweis dieses schwach-starken Einzigkeits-resultats basiert auf dem Konzept der relativen Energie (siehe FEIREISL, JIN & NOVOTNÝ [60]) und wirdhier, dem Wissen des Autors nach, zum ersten Mal auf eine nichtkonvexe Energie angewandt.

    Maßwertige Lösbarkeit

    Die zweite betrachtete Form des Potentials der freien Energie (siehe Abschnitt 2.1.3) basiert auf einer Um-formulierung der OSEEN–FRANK-Energie. Für Vektorfelder ddd ∈ C 1(R3;S2) gilt die folgende Umformungfür die OSEEN–FRANK-Energie FOF definiert in (1.31):

    FOF =k

    2|∇ddd|2 + k1 − k

    2|ddd|2(∇·ddd)2 + k2 − k

    2(ddd ·∇×ddd+ q)2 + kddd ·∇×dddq+ k

    2q2

    +k3 − k

    2|ddd×∇×ddd|2 + α − k

    2

    (tr(∇ddd)2 − (∇·ddd)2

    ),

    (1.40)

    wobei k := min(k1,k2,k3)/2 (vgl. Abschnitt A.1). Wir betrachten immer den Fall k1,k2,k3 > 0 und der Einfach-heit halber q = 0, da die zusätzlichen Terme für q 6= 0 von niedriger Ordnung sind und die Analyse nichterschweren. Für das ERICKSEN–LESLIE-System (1.38), ausgestattet mit der Energie (1.40), und dem übli-chen Straffunktional (1.33) wird in dieser Arbeit die Existenz von maßwertigen Lösungen bewiesen (sieheSatz 3.9 und Definition 3.3). Ein essentieller Bestandteil des Existenzbeweises sind die Koerzitivitätseigen-schaften (siehe Lemma 3.3) der umformulierten Energie (1.40).

    Eine geeignete Approximation des Systems (1.38), ausgestattet mit der umfomulierten OSEEN–FRANK-Energie (1.40), also einem System nichtlinear gekoppelter nichtlinearer Evolutionsgleichungen mit einemnichtmonotonen Hauptteil, wird durch eine geeignete Regularisierung erzielt. Zum Potential (1.40) wird derregularisierende Term δ |∆ΛΛΛddd|2 addiert und das System entsprechend angepasst (siehe Abschnitt 2.1.5). Fürdas so entstehende regularisierte System gelingt es, die Existenz schwacher Lösungen zu zeigen und darauf-hin die Existenz maßwertiger Lösungen für verschwindende Regularisierung δ →0 zu beweisen. Die For-mulierung der maßwertigen Lösungen beinhaltet ein neues Konzept von verallgemeinerten YOUNG-Maßenmit einem anisotropen Defektmaß (siehe Abschnitt 3.2).

    Das Konzept von maßwertigen Lösungen ist ein sehr schwaches, da der Gradient des Direktors durchein Maß ersetzt wird. Dadurch erhält das System in jedem Punkt statt den vorherigen neun Freiheitsgradendes Gradienten nun überabzählbar viele Freiheitsgrade des verallgemeinerten Gradienten YOUNG-Maßes.Trotzdem scheint dies ein sinnvolles Konzept zu sein. Da die betrachtete Energie nicht konvex (siehe Ab-schnitt 2.1.4) und der Hauptteil der zugehörigen Operatoren in der variationellen Ableitung nicht monotonist, kann die übliche auf BROWDER [22], MINTY [133], LERAY & LIONS [105] und BREZIS [19] zu-rückgehende Theorie nicht angewandt werden. Zudem existieren Beispiele, dass das ERICKSEN–LESLIE-System in drei Dimensionen nach kurzer Zeit und für kleine Anfangsdaten Singularitäten entwickeln kann

    23

  • 1.3. Gegenstand der Arbeit

    (vgl. HUANG, LIN, LIU & WANG [93]). Auch in der stationären Theorie wurde die Existenz von Singulari-täten nachgewiesen (siehe HARDT [83]). Darüber hinaus wurden Singularitäten in nematischen Fluiden be-reits in einigen experimentellen Untersuchungen bestätigt (siehe SENYUK, LIU, YUAN & SMALYUKH [160]oder ALEXANDER, CHEN, MATSUMOTO & KAMIEN [3]). Um Singularitäten darzustellen, liegt es nahe aufMaße zurückzugreifen.

    Maßwertig-starke Einzigkeit

    In Kapitel 4 wird gezeigt, dass das vorgestellte maßwertige Lösungskonzept den beiden Mindesanforde-rungen genügt, die Pierre-Louis LIONS an ein solches stellt. Neben der Existenz beinhalten diese auch dieschwach-starke Einzigkeit von schwachen Lösungen beziehungsweise die maßwertig-starke Einzigkeit fürmaßwertige Lösungen (siehe LIONS [120, Section 4.4]). Die maßwertig-starke Einzigkeit für die Lösungendes ERICKSEN–LESLIE-Systems gleicht dem Resultat der maßwertig-starken Einzigkeit für die Lösungender EULER-Gleichung (siehe BRENIER, DE LELLIS & SZÉKELYHIDI [18]). Es basiert aber wiederum aufder Formulierung einer relativen Energie für das betrachtete Problem mit nichtkonvexem Energiefunktio-nal. In diesem Fall ist sogar der Anteil der höchsten Ordnung nichtkonvex. Insgesamt wird in dieser Arbeitein sinnvolles Lösungskonzept zur Verfügung gestellt, welches eine Verallgemeinerung der starken Theorieist. Dabei besteht die Hoffnung, dass dieses Lösungskonzept einen positiven Effekt auf die Entwicklungvon analytischen und numerischen Resultaten haben wird, ebenso wie es das Konzept von maßwertigenLösungen für die EULER-Gleichungen hatte (siehe WIEDEMANN [180] beziehungsweise LANTHALER &MISHRA [100]).

    1.3.1 Ausblick

    Lokale Existenz starker Lösungen

    Der Fokus dieser Arbeit liegt auf der globalen Existenztheorie für das ERICKSEN–LESLIE-Modell mit allge-meinen freien Energien mithilfe von verallgemeinerten Lösungsbegriffen. Im Gegensatz dazu kann ebenfallsdie lokale Existenz starker Lösungen zu dem in dieser Arbeit betrachteten System untersucht werden. Diesewurde für vereinfachte Modelle schon von LIN & LIU [116], WANG, ZHANG & ZHANG [175] oder WU, XU& LIU [183] bewiesen. Vermutlich können diese Resultate mit ähnlichen Techniken auf das Modell (1.38),ausgestattet mit der umformulierten OSEEN–FRANK-Energie, verallgemeinert werden.

    Lokale Konvergenz für ε →0

    In dieser Arbeit wird die algebraische Nebenbedingung |ddd| = 1 immer durch das Doppelmuldenpoten-tial (1.33) approximiert. Eine andere Möglichkeit dieses System zu untersuchen, bestände darin, statt desStrafterms einen LAGRANGE-Multiplikator zu betrachten und das dadurch entstehende, normerhaltendeSystem zu untersuchen. Dieser Zugang hat den Nachteil, dass die Nebenbedingung |ddd|= 1 schwerlich voneinem numerischen Verfahren in jedem Schritt erfüllt werden kann und deshalb eine Approximation dieserRestriktion unerlässlich erscheint. Außerdem enthält die ursprüngliche Formulierung von ERICKSEN [51]und LESLIE [107] diese LAGRANGE-Multiplikatoren nicht. Diese ursprünglichen Systeme sind also inkon-sistent in dem Sinne, dass die Normrestriktion |ddd| = 1 in der Evolution nicht erhalten wird. Außerdem istdie Approximation des normerhaltenden Systems (1.42) durch das System (1.38) für ε →0 weiterhin einoffenes Problem.

    Um das veränderte System mit dem LAGRANGE-Multiplikator aufzustellen, wird die Variation der freienEnergie F = F(ddd,∇ddd) unter Berücksichtigung der Normrestriktion benötigt (siehe HARDT, KINDERLEH-

    24

  • Kapitel 1. Einleitung

    RER & LIN [82]). Es gilt

    δ F

    δddd|ddd|=1:=−∇·

    ((III−ddd⊗ddd) ∂F

    ∂∇ddd

    )+(III−ddd⊗ddd)∂F

    ∂ddd−∇ddd : ∂F

    ∂∇dddddd−∇ddd

    (∂F

    ∂∇ddd

    )Tddd . (1.41)

    Für glatte Funktionen F führen elementare Umformungen zu

    δ F

    δddd|ddd|=1= (III −ddd⊗ddd)δF

    δddd.

    Das entstehende System ist dann gegeben durch (vgl. HONG, LI & XIN [91] oder HIEBER & PRÜSS [89])

    ∂tddd +(vvv ·∇)ddd+(∇vvv)Tskwddd+(III−ddd⊗ddd)λ (∇vvv)symddd+ γδ F

    δddd|ddd|=1= 0,

    ∂tvvv+(vvv ·∇)vvv+∇p−∇·(TTT E +TTT L) = fff ,∇·vvv = 0 .

    (1.42)

    HONG, LI & XIN [91] zeigen die lokale Existenz von starken Lösungen für ein vereinfachtes System, in demdie variationelle Ableitung in (1.35a) durch (1.41) ersetzt wird sowie Blow-up-Kriterien für diese lokalenLösungen. HIEBER, NESENSOHN, PRÜSS & SCHADE [88] gelingt es lokale Lösungen für ein allgemeine-res Modell zu zeigen, in dem sie jedoch die einfache DIRICHLET-Energie mit dem Potential |∇ddd|2 betrach-ten. Ein Ziel für zukünftige Forschung wäre es zu zeigen, dass das System (1.38) mit dem Grenzübergangε →0 gegen das Systems (1.42) konvergiert. Dies ist vielversprechend, zumal die Aussage in HONG, LI& XIN [91] über die Approximation mit dem Straffunktional bewiesen wird. Um diesen singulären Grenz-wert zu betrachten, bietet es sich an, den hier eingeführten Ansatz der relativen Energie zu nutzen. Auchandere singuläre Grenzwerte von Systemen wurden mit dieser Technik untersucht (siehe Kapitel 4 bezie-hungsweise FEIREISL & NOVOTNỲ [61] oder BREIT, FEIREISL & HOFMANOVA [17]). Außerdem kanndiese Technik nützlich sein, um A-posteriori-Abschätzungen und damit bessere Approximationstechnikenherzuleiten (siehe FISCHER [65]).

    Globale Konvergenz für ε→0

    Ein weiterer Schritt in der Analyse des betrachteten ERICKSEN–LESLIE-Systems wäre es die globale Kon-vergenz der maßwertigen Lösungen des Systems (1.38), für ε→0, gegen Lösungen des Systems (1.42) zuzeigen. In dem Artikel von HONG, LI & XIN [91] und WANG, ZHANG & ZHANG [175] wird dazu die Glei-chung (1.38a) im Kreuzprodukt mit ddd betrachtet. Die in dieser Arbeit vorgestellte Lösungstheorie lässt sichauf dieses System verallgemeinern. Insbesondere können die verallgemeinerten Gradienten-YOUNG-Maßeebenfalls für den Grenzübergang in einer Approximation der Gleichung (1.38a) im Kreuzprodukt mit demDirektor verwandt werden.

    Eine vielversprechende Methode, um zusätzliche Regularität entsprechender Lösungen zu zeigen, isteine lokale Regularitäts- und Blow-up-Analyse, wie sie in LIN & WANG [113] durchgeführt wird. Durchinduktives Anwenden lokaler Energieabschätzungen gelingt es den Autoren zu zeigen, dass der Grenzwertder Lösungen der vereinfachten Ersatzprobleme (1.35) mit speziellen Anfangsdaten für ε→0, gegen eineLösung des Problems (1.37) konvergiert. Diese Technik auf die in dieser Arbeit vorgestellten freien Energienzu verallgemeinern, scheint eine interessante und anspruchsvolle Aufgabe für zukünftige Untersuchungenzu sein.

    25

  • 1.4. Notation

    1.4 Notation

    In dieser Arbeit werden Vektoren in R3 mit kleinen, fett gedruckten lateinischen Buchstaben und Matri-zen in R3×3 mit fett gedruckten lateinischen Großbuchstaben bezeichnet. Tensoren höherer Stufen werdenmit fett gedruckten griechischen Buchstaben gekennzeichnet. Es treten häufig zwei Tensoren auf: der Ten-

    sor ΛΛΛ ∈ R3×3×3×3 =: R34 vierter Stufe und der Tensor ΘΘΘ ∈ R3×3×3×3×3×3 =: R36 sechster Stufe. GenaueVoraussetzungen an diese Tensoren werden in Abschnitt 2.1.1 und 2.1.3 angegeben. Weiterhin sind kleinelateinische und griechische Buchstaben für Zahlen und lateinische Großbuchstaben für Potentiale reserviert.

    Das euklidische Skalarprodukt in R3 wird mit einem Punkt und das FROBENIUS-Skalarprodukt in R3×3,dem Raum der Matrizen, mit einem Doppelpunkt gekennzeichnet:

    aaa ·bbb := aaaTbbb =3

    ∑i=1

    aaaibbbi für aaa,bbb ∈ R3 , AAA : BBB := tr(AAATBBB) =3

    ∑i, j=1

    AAAi jBBBi j für AAA,BBB ∈ R3×3 .

    Weiterhin wird das Skalarprodukt im Raum der Tensoren dritter Stufe mit drei Punkten geschrieben:

    ϒϒϒ ···ΓΓΓ :=[

    3

    ∑i, j,k=1

    ϒϒϒi jkΓΓΓi jk

    ], ϒϒϒ ∈ R3×3×3,ΓΓΓ ∈ R3×3×3 .

    Die zugehörigen induzierten Normen werden allesamt mit | · | bezeichnet, wobei ebenfalls die Normen vonTensoren höherer Stufe so bezeichnet werden sollen. Für Tensoren vierter und sechster Stufe gilt

    |ΛΛΛ|2 =3

    ∑i, j,k,l=1

    ΛΛΛ2i jkl für ΛΛΛ ∈ R34

    beziehungsweise |ΘΘΘ|2 =3

    ∑i, j,k,l,m,n=1

    ΘΘΘ2i jklmn für ΘΘΘ ∈ R36.

    Ähnlich sind die Produkte aus Tensoren verschiedener Stufen definiert: Das Produkt aus einem Tensordritter Stufe und einer Matrix sowie einem Vektor ist gegeben durch

    ΓΓΓ : AAA :=

    [3

    ∑j,k=1