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AUFKLÄRUNG ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstver- schuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbst- verschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines andern zu bedienen. Sa- pere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung. Faulheit und Feigheit sind die Ursachen, warum ein so großer Teil der Menschen, nachdem sie die Natur längst von fremder Leitung freigesprochen (naturaliter maiorennes), dennoch gerne zeitlebens unmündig bleiben; und warum es anderen so leicht wird, sich zu de- ren Vormündern aufzuwerfen. Es ist so bequem, unmündig zu sein. Habe ich ein Buch, das für mich Verstand hat, einen Seelsorger, der für mich Gewissen hat, einen Arzt, der für mich die Diät beurteilt usw., so brauche ich mich ja nicht selbst zu bemühen. Ich habe nicht nötig zu denken, wenn ich nur bezahlen kann; andere werden das verdrießliche Geschäft schon für mich übernehmen. Daß der bei weitem größte Teil der Menschen (darunter das ganze schöne Ge- schlecht) den Schritt zur Mündigkeit, außer dem daß er beschwerlich ist, auch für sehr gefährlich halte: dafür sorgen schon jene Vormün- der, die die Oberaufsicht über sie gütigst auf sich genommen haben. Nachdem sie ihr Hausvieh zuerst dumm gemacht haben und sorgfäl- tig verhüteten, daß diese ruhigen Geschöpfe ja keinen Schritt außer dem Gängelwagen, darin sie sie einsperreten, wagen durften, so zei- gen sie ihnen nachher die Gefahr, die ihnen drohet, wenn sie es ver- suchen, allein zu gehen. Nun ist diese Gefahr zwar eben so groß nicht, denn sie würden durch einigemal Fallen wohl endlich gehen lernen; allein ein Beispiel von der Art macht doch schüchtern und schreckt gemeiniglich von allen ferneren Versuchen ab. Es ist also für jeden einzelnen Menschen schwer, sich aus der ihm beinahe zur Natur gewordenen Unmündigkeit herauszuarbeiten. Er hat sie sogar lieb gewonnen und ist vorderhand wirklich unfähig, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen, weil man ihn niemals den Versuch davon machen ließ. Satzungen und Formeln, diese me- chanischen Werkzeuge eines vernünftigen Gebrauchs oder vielmehr Mißbrauchs seiner Naturgaben, sind die Fußschellen einer immer- währenden Unmündigkeit. Wer sie auch abwürfe, würde dennoch auch über den schmalesten Graben einen nur unsicheren Sprung tun, weil er zu dergleichen freier Bewegung nicht gewöhnt ist. Daher gibt Immanuel Kant – 1724 bis 1804, Philosoph in Königs- berg. Wir veröffentlichen den Text nach dem Original. Er erschien zuerst unter dem Titel: »Beantwortung der Frage: Was ist Auf- klärung?« in: »Berlinische Monatsschrift«, Dezember- Heft 1784, S. 481-494. UTOPIE kreativ, H. 159 (Januar 2004), S. 5-10 5 IMMANUEL KANT Was ist Aufklärung?

UTOPIE kreativ, H. 159 (Januar 2004), S. 5-10 IMMANUEL … · Immanuel Kant – 1724 bis 1804, Philosoph in Königs-berg. Wir veröffentlichen den Text nach dem Original. Er erschien

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AUFKLÄRUNG ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstver-schuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sichseines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbst-verschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselbennicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und desMutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines andern zu bedienen. Sa-pere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!ist also der Wahlspruch der Aufklärung.

Faulheit und Feigheit sind die Ursachen, warum ein so großer Teilder Menschen, nachdem sie die Natur längst von fremder Leitungfreigesprochen (naturaliter maiorennes), dennoch gerne zeitlebensunmündig bleiben; und warum es anderen so leicht wird, sich zu de-ren Vormündern aufzuwerfen. Es ist so bequem, unmündig zu sein.Habe ich ein Buch, das für mich Verstand hat, einen Seelsorger, derfür mich Gewissen hat, einen Arzt, der für mich die Diät beurteiltusw., so brauche ich mich ja nicht selbst zu bemühen. Ich habe nichtnötig zu denken, wenn ich nur bezahlen kann; andere werden dasverdrießliche Geschäft schon für mich übernehmen. Daß der beiweitem größte Teil der Menschen (darunter das ganze schöne Ge-schlecht) den Schritt zur Mündigkeit, außer dem daß er beschwerlichist, auch für sehr gefährlich halte: dafür sorgen schon jene Vormün-der, die die Oberaufsicht über sie gütigst auf sich genommen haben.Nachdem sie ihr Hausvieh zuerst dumm gemacht haben und sorgfäl-tig verhüteten, daß diese ruhigen Geschöpfe ja keinen Schritt außerdem Gängelwagen, darin sie sie einsperreten, wagen durften, so zei-gen sie ihnen nachher die Gefahr, die ihnen drohet, wenn sie es ver-suchen, allein zu gehen. Nun ist diese Gefahr zwar eben so großnicht, denn sie würden durch einigemal Fallen wohl endlich gehenlernen; allein ein Beispiel von der Art macht doch schüchtern undschreckt gemeiniglich von allen ferneren Versuchen ab.

Es ist also für jeden einzelnen Menschen schwer, sich aus der ihmbeinahe zur Natur gewordenen Unmündigkeit herauszuarbeiten. Erhat sie sogar lieb gewonnen und ist vorderhand wirklich unfähig,sich seines eigenen Verstandes zu bedienen, weil man ihn niemalsden Versuch davon machen ließ. Satzungen und Formeln, diese me-chanischen Werkzeuge eines vernünftigen Gebrauchs oder vielmehrMißbrauchs seiner Naturgaben, sind die Fußschellen einer immer-währenden Unmündigkeit. Wer sie auch abwürfe, würde dennochauch über den schmalesten Graben einen nur unsicheren Sprung tun,weil er zu dergleichen freier Bewegung nicht gewöhnt ist. Daher gibt

Immanuel Kant – 1724 bis1804, Philosoph in Königs-berg. Wir veröffentlichenden Text nach dem Original.Er erschien zuerst unterdem Titel: »Beantwortungder Frage: Was ist Auf-klärung?« in: »BerlinischeMonatsschrift«, Dezember-Heft 1784, S. 481-494.

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IMMANUEL KANT

Was ist Aufklärung?

es nur wenige, denen es gelungen ist, durch eigene Bearbeitung ih-res Geistes sich aus der Unmündigkeit heraus zu wickeln und den-noch einen sicheren Gang zu tun.

Daß aber ein Publikum sich selbst aufkläre, ist eher möglich; ja esist, wenn man ihm nur Freiheit läßt, beinahe unausbleiblich. Denn dawerden sich immer einige Selbstdenkende, sogar unter den einge-setzten Vormündern des großen Haufens finden, welche, nachdemsie das Joch der Unmündigkeit selbst abgeworfen haben, den Geisteiner vernünftigen Schätzung des eigenen Werts und des Berufs je-des Menschen, selbst zu denken, um sich verbreiten werden. Beson-ders ist hiebei: daß das Publikum, welches zuvor von ihnen unterdieses Joch gebracht worden, sie hernach selbst zwingt, darunter zubleiben, wenn es von einigen seiner Vormünder, die selbst aller Auf-klärung unfähig sind, dazu aufgewiegelt worden; so schädlich ist es,Vorurteile zu pflanzen, weil sie sich zuletzt an denen selbst rächen,die oder deren Vorgänger ihre Urheber gewesen sind. Daher kann einPublikum nur langsam zur Aufklärung gelangen. Durch eine Revo-lution wird vielleicht wohl ein Abfall von persönlichem Despotismund gewinnsüchtiger oder herrschsüchtiger Bedrückung, aber nie-mals wahre Reform der Denkungsart zustande kommen; sondernneue Vorurteile werden, ebensowohl als die alten, zum Leitbandedes gedankenlosen großen Haufens dienen.

Zu dieser Aufklärung aber wird nichts erfordert als Freiheit; undzwar die unschädlichste unter allem, was nur Freiheit heißen mag,nämlich die: von seiner Vernunft in allen Stücken öffentlichenGebrauch zu machen. Nun höre ich aber von allen Seiten rufen:räsonniert nicht! Der Offizier sagt: räsonniert nicht, sondern exer-ziert! Der Finanzrat: räsonniert nicht, sondern bezahlt! Der Geistli-che: räsonniert nicht, sondern glaubt! (Nur ein einziger Herr in derWelt sagt: räsonniert, soviel ihr wollt und worüber ihr wollt, abergehorcht!) Hier ist überall Einschränkung der Freiheit. Welche Ein-schränkung aber ist der Aufklärung hinderlich, welche nicht, son-dern ihr wohl gar beförderlich? – Ich antworte: Der öffentliche Ge-brauch seiner Vernunft muß jederzeit frei sein, und der allein kannAufklärung unter Menschen zustande bringen; der Privatgebrauchderselben aber darf öfters sehr enge eingeschränkt sein, ohne dochdarum den Fortschritt der Aufklärung sonderlich zu hindern. Ich ver-stehe aber unter dem öffentlichen Gebrauche seiner eigenen Ver-nunft denjenigen, den jemand als Gelehrter von ihr vor dem ganzenPublikum der Leserwelt macht. Den Privatgebrauch nenne ich den-jenigen, den er in einem gewissen ihm anvertrauten bürgerlichenPosten oder Amte von seiner Vernunft machen darf. Nun ist zu man-chen Geschäften, die in das Interesse des gemeinen Wesens laufen,ein gewisser Mechanism notwendig, vermittelst dessen einige Glie-der des gemeinen Wesens sich bloß passiv verhalten müssen, umdurch eine künstliche Einhelligkeit von der Regierung zu öffentli-chen Zwecken gerichtet oder wenigstens von der Zerstörung dieserZwecke abgehalten zu werden. Hier ist es nun freilich nicht erlaubtzu räsonnieren; sondern man muß gehorchen. Sofern sich aber die-ser Teil der Maschine zugleich als Glied eines ganzen gemeinenWesens, ja sogar der Weltbürgergesellschaft ansieht, mithin in derQualität eines Gelehrten, der sich an ein Publikum im eigentlichen

Die Frage Was istAufklärung? »stammtursprünglich von demBerliner Theologen undMitglied der BerlinerMittwochsgesellschaftJ. F. Zöllner (1753–1804).Im Dezember 1783 schrieber in der Berlinischen Mo-natsschrift den Artikel ›Ist es ratsam, das Ehebündnisnicht ferner durch dieReligion zu sanzieren?‹ Ernahm damit Stellung zueinem Plädoyer für dieZivilehe, das – unterPseudonym – im September1783 am selben Ort er-schienen war. Zöllner kon-statierte einen allgemeinenNiedergang der Sitten,verursacht durch die ›herr-schende Denkungsart‹ desZeitalters, nämlich ›unterdem Namen der Aufklärungdie Köpfe und Herzen derMenschen zu verwirren‹. Ineiner Anmerkung zu seinemArtikel (auf die sich KantsSeitenverweis bezieht) gibtZöllner nun das folgen-schwere Stichwort ›Wasist Aufklärung?‹. Damit hatteder Diskurs ein Problemgeboren und darüber hinauseine ganze Epoche mitDiskussionsstoff gefüllt.«Immanuel Kant: Von denTräumen der Vernunft.Kleine Schriften zur Kunst,Philosophie, Geschichteund Politik, hrsg. vonSteffen und Birgit Dietzsch,Leipzig und Weimar 1979,S. 574 f.

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Verstande durch Schriften wendet, kann er allerdings räsonnieren,ohne daß dadurch die Geschäfte leiden, zu denen er zum Teile alspassives Glied angesetzt ist. So würde es sehr verderblich sein, wennein Offizier, dem von seinen Oberen etwas anbefohlen wird, imDienste über die Zweckmäßigkeit oder Nützlichkeit dieses Befehlslaut vernünfteln wollte; er muß gehorchen. Es kann ihm aber billi-germaßen nicht verwehrt werden, als Gelehrter über die Fehler imKriegesdienste Anmerkungen zu machen und diese seinem Publi-kum zur Beurteilung vorzulegen. Der Bürger kann sich nicht wei-gern, die ihm auferlegten Abgaben zu leisten; sogar kann ein vor-witziger Tadel solcher Auflagen, wenn sie von ihm geleistet werdensollen, als ein Skandal (das allgemeine Widersetzlichkeiten veran-lassen könnte) bestraft werden. Ebenderselbe handelt demohnge-achtet der Pflicht eines Bürgers nicht entgegen, wenn er als Gelehr-ter wider die Unschicklichkeit oder auch Ungerechtigkeit solcherAusschreibungen öffentlich seine Gedanken äußert. Ebenso ist einGeistlicher verbunden, seinen Katechismusschülern und seiner Ge-meine nach dem Symbol der Kirche, der er dient, seinen Vortrag zutun, denn er ist auf diese Bedingung angenommen worden. Aber alsGelehrter hat er volle Freiheit, ja sogar den Beruf dazu, alle seinesorgfältig geprüften und wohlmeinenden Gedanken über das Fehler-hafte in jenem Symbol und Vorschläge wegen besserer Einrichtungdes Religions- und Kirchenwesens dem Publikum mitzuteilen. Es isthiebei auch nichts, was dem Gewissen zur Last gelegt werdenkönnte. Denn was er zufolge seines Amts als Geschäftträger der Kir-che lehrt, das stellt er als etwas vor, in Ansehung dessen er nicht freieGewalt hat, nach eigenem Gutdünken zu lehren, sondern das er nachVorschrift und im Namen eines andern vorzutragen angestellt ist. Erwird sagen: unsere Kirche lehrt dieses oder jenes; das sind die Be-weisgründe, deren sie sich bedient. Er zieht alsdann allen prakti-schen Nutzen für seine Gemeinde aus Satzungen, die er selbst nichtmit voller Überzeugung unterschreiben würde, zu deren Vortrag ersich gleichwohl anheischig machen kann, weil es doch nicht ganzunmöglich ist, daß darin Wahrheit verborgen läge, auf alle Fälle aberwenigstens doch nichts der innern Religion Widersprechendes darinangetroffen wird. Denn glaubte er das letztere darin zu finden, sowürde er sein Amt mit Gewissen nicht verwalten können; er müßtees niederlegen. Der Gebrauch also, den ein angestellter Lehrer vonseiner Vernunft vor seiner Gemeinde macht, ist bloß ein Privatge-brauch, weil diese immer nur eine häusliche, obzwar noch so großeVersammlung ist; und in Ansehung dessen ist er als Priester nichtfrei und darf es auch nicht sein, weil er einen fremden Auftrag aus-richtet. Dagegen als Gelehrter, der durch Schriften zum eigentlichenPublikum, nämlich der Welt spricht, mithin der Geistliche im öffent-lichen Gebrauche seiner Vernunft, genießt einer uneingeschränktenFreiheit, sich seiner eigenen Vernunft zu bedienen und in seiner ei-genen Person zu sprechen. Denn daß die Vormünder des Volks (ingeistlichen Dingen) selbst wieder unmündig sein sollen, ist eine Un-gereimtheit, die auf Verewigung der Ungereimtheiten hinausläuft.

Aber sollte nicht eine Gesellschaft von Geistlichen, etwa eine Kir-chenversammlung oder eine ehrwürdige Classis (wie sie sich unterden Holländern selbst nennt) berechtigt sein, sich eidlich unterein-

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ander auf ein gewisses unveränderliches Symbol zu verpflichten, umso eine unaufhörliche Obervormundschaft über jedes ihrer Gliederund vermittelst ihrer über das Volk zu führen und diese so gar zu ver-ewigen? Ich sage: das ist ganz unmöglich. Ein solcher Kontrakt, derauf immer alle weitere Aufklärung vom Menschengeschlechte abzu-halten geschlossen würde, ist schlechterdings null und nichtig; undsollte er auch durch die oberste Gewalt, durch Reichstage und diefeierlichsten Friedensschlüsse bestätigt sein. Ein Zeitalter kann sichnicht verbünden und darauf verschwören, das folgende in einen Zu-stand zu setzen, darin es ihm unmöglich werden muß, seine (vor-nehmlich so sehr angelegentliche) Erkenntnisse zu erweitern, vonIrrtümern zu reinigen und überhaupt in der Aufklärung weiterzu-schreiten. Das wäre ein Verbrechen wider die menschliche Natur, de-ren ursprüngliche Bestimmung gerade in diesem Fortschreiten be-steht; und die Nachkommen sind also vollkommen dazu berechtigt,jene Beschlüsse, als unbefugter und frevelhafter Weise genommen,zu verwerfen. Der Probierstein alles dessen, was über ein Volk alsGesetz beschlossen werden kann, liegt in der Frage: ob ein Volk sichselbst wohl ein solches Gesetz auferlegen könnte? Nun wäre dieseswohl, gleichsam in der Erwartung eines bessern, auf eine bestimmtekurze Zeit möglich, um eine gewisse Ordnung einzuführen; indemman es zugleich jedem der Bürger, vornehmlich dem Geistlichen,frei ließe, in der Qualität eines Gelehrten öffentlich, d. i. durchSchriften, über das Fehlerhafte der dermaligen Einrichtung seineAnmerkungen zu machen, indessen die eingeführte Ordnung nochimmer fortdauerte, bis die Einsicht in die Beschaffenheit dieser Sa-chen öffentlich so weit gekommen und bewähret worden, daß siedurch Vereinigung ihrer Stimmen (wenngleich nicht aller) einenVorschlag vor den Thron bringen könnte, um diejenigen Gemeindenin Schutz zu nehmen, die sich etwa nach ihren Begriffen der besse-ren Einsicht zu einer veränderten Religionseinrichtung geeinigt hät-ten, ohne doch diejenigen zu hindern, die es beim alten wollten be-wenden lassen. Aber auf eine beharrliche, von niemanden öffentlichzu bezweifelnde Religionsverfassung auch nur binnen der Lebens-dauer eines Menschen sich zu einigen, und dadurch einen Zeitraumin dem Fortgange der Menschheit zur Verbesserung gleichsam zuvernichten und fruchtlos, dadurch aber wohl gar der Nachkommen-schaft nachteilig zu machen, ist schlechterdings unerlaubt. EinMensch kann zwar für seine Person und auch alsdann nur auf einigeZeit in dem, was ihm zu wissen obliegt, die Aufklärung aufschieben;aber auf sie Verzicht zu tun, es sei für seine Person, mehr aber nochfür die Nachkommenschaft, heißt die heiligen Rechte der Mensch-heit verletzen und mit Füßen treten. Was aber nicht einmal ein Volküber sich selbst beschließen darf, das darf noch weniger ein Mon-arch über das Volk beschließen; denn sein gesetzgebendes Ansehenberuht eben darauf, daß er den gesamten Volkswillen in dem sei-nigen vereinigt. Wenn er nur darauf sieht, daß alle wahre oder ver-meinte Verbesserung mit der bürgerlichen Ordnung zusammenbe-stehe, so kann er seine Untertanen übrigens nur selbst machenlassen, was sie um ihres Seelenheils willen zu tun nötig finden; dasgeht ihn nichts an, wohl aber zu verhüten, daß nicht einer den anderngewalttätig hindere, an der Bestimmung und Beförderung desselben

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nach allem seinen Vermögen zu arbeiten. Es tut selbst seiner Maje-stät Abbruch, wenn er sich hierin mischt, indem er die Schriften,wodurch seine Untertanen ihre Einsichten ins reine zu bringen su-chen, seiner Regierungsaufsicht würdigt, sowohl wenn er dieses auseigener höchsten Einsicht tut, wo er sich dem Vorwurfe aussetzt:Caesar non est supra grammaticos, als auch und noch weit mehr,wenn er seine oberste Gewalt so weit erniedrigt, den geistlichenDespotism einiger Tyrannen in seinem Staate gegen seine übrigenUntertanen zu unterstützen.

Wenn denn nun gefragt wird: leben wir jetzt in einem aufgeklär-ten Zeitalter? so ist die Antwort: Nein, aber wohl in einem Zeitalterder Aufklärung. Daß die Menschen, wie die Sachen jetzt stehen, imganzen genommen, schon imstande wären oder darin auch nur ge-setzt werden könnten, in Religionsdingen sich ihres eigenen Ver-standes ohne Leitung eines andern sicher und gut zu bedienen, daranfehlt noch sehr viel. Allein, daß jetzt ihnen doch das Feld geöffnetwird, sich dahin frei zu bearbeiten und die Hindernisse der allge-meinen Aufklärung oder des Ausganges aus ihrer selbstverschulde-ten Unmündigkeit allmählich weniger werden, davon haben wirdoch deutliche Anzeigen. In diesem Betracht ist dieses Zeitalter dasZeitalter der Aufklärung oder das Jahrhundert Friedrichs.

Ein Fürst, der es seiner nicht unwürdig findet zu sagen, daß er esfür Pflicht halte, in Religionsdingen den Menschen nichts vorzu-schreiben, sondern ihnen darin volle Freiheit zu lassen, der alsoselbst den hochmütigen Namen der Toleranz von sich ablehnt: istselbst aufgeklärt und verdient von der dankbaren Welt und Nachweltals derjenige gepriesen zu werden, der zuerst das menschliche Ge-schlecht der Unmündigkeit, wenigstens von Seiten der Regierung,entschlug und jedem frei ließ, sich in allem, was Gewissensangele-genheit ist, seiner eigenen Vernunft zu bedienen. Unter ihm dürfenverehrungswürdige Geistliche, unbeschadet ihrer Amtspflicht, ihrevom angenommenen Symbol hier oder da abweichenden Urteile undEinsichten in der Qualität der Gelehrten frei und öffentlich der Weltzur Prüfung darlegen; noch mehr aber jeder andere, der durch keineAmtspflicht eingeschränkt ist. Dieser Geist der Freiheit breitet sichauch außerhalb aus, selbst da, wo er mit äußeren Hindernissen einersich selbst mißverstehenden Regierung zu ringen hat. Denn es leuch-tet dieser doch ein Beispiel vor, daß bei Freiheit für die öffentlicheRuhe und Einigkeit des gemeinen Wesens nicht das mindeste zu be-sorgen sei. Die Menschen arbeiten sich von selbst nach und nach ausder Rohigkeit heraus, wenn man nur nicht absichtlich künstelt, umsie darin zu erhalten.

Ich habe den Hauptpunkt der Aufklärung, die des Ausganges derMenschen aus ihrer selbstverschuldeten Unmündigkeit, vorzüglichin Religionssachen gesetzt, weil in Ansehung der Künste und Wis-senschaften unsere Beherrscher kein Interesse haben, den Vormundüber ihre Untertanen zu spielen, überdem auch jene Unmündigkeit,so wie die schädlichste, also auch die entehrendste unter allen ist.Aber die Denkungsart eines Staatsoberhaupts, der die erstere begün-stigt, geht noch weiter und sieht ein: daß selbst in Ansehung seinerGesetzgebung es ohne Gefahr sei, seinen Untertanen zu erlauben,von ihrer eigenen Vernunft öffentlichen Gebrauch zu machen und

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ihre Gedanken über eine bessere Abfassung derselben, sogar mit ei-ner freimütigen Kritik der schon gegebenen, der Welt öffentlich vor-zulegen; davon wir ein glänzendes Beispiel haben, wodurch nochkein Monarch demjenigen vorging, welchen wir verehren.

Aber auch nur derjenige, der, selbst aufgeklärt, sich nicht vorSchatten fürchtet, zugleich aber ein wohldiszipliniertes zahlreichesHeer zum Bürgen der öffentlichen Ruhe zur Hand hat, – kann das sa-gen, was ein Freistaat nicht wagen darf: räsonniert, so viel ihr wollt,und worüber ihr wollt; nur gehorcht! So zeigt sich hier ein be-fremdlicher, nicht erwarteter Gang menschlicher Dinge; so wie auchsonst, wenn man ihn im großen betrachtet, darin fast alles paradoxist. Ein größerer Grad bürgerlicher Freiheit scheint der Freiheit desGeistes des Volks vorteilhaft und setzt ihr doch unübersteiglicheSchranken; ein Grad weniger von jener verschafft hingegen diesemRaum, sich nach allem seinen Vermögen auszubreiten. Wenn denndie Natur unter dieser harten Hülle den Keim, für den sie am zärt-lichsten sorgt, nämlich den Hang und Beruf zum freien Denken, aus-gewickelt hat: so wirkt dieser allmählich zurück auf die Sinnesartdes Volks (wodurch dieses der Freiheit zu handeln nach und nachfähiger wird), und endlich auch sogar auf die Grundsätze der Regie-rung, die es ihr selbst zuträglich findet, den Menschen, der nun mehrals Maschine ist, seiner Würde gemäß zu behandeln.1

Königsberg in Preußen, den 30. September 1784

1 In den Büschingschenwöchentlichen Nachrichtenvom 13. Sept. lese ichheute den 30. ebendess.die Anzeige der BerlinischenMonatsschrift von diesemMonat, worin des HerrnMendelssohn Beantwortungebenderselben Frage ange-führt wird. Mir ist sie nochnicht zu Händen gekom-men; sonst würde sie diegegenwärtige zurückgehal-ten haben, die jetzt nur zumVersuche dastehen mag,wiefern der Zufall Einstim-migkeit der Gedanken zu-wege bringen könne.

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