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5 Frakturen 5.1 Klavikulafraktur R. Meier 5.1.1 Pathophysiologie Das Schlüsselbein ist der einzige Verbindungskno- chen zwischen dem Rumpf und der oberen Extre- mität. Der doppelte, s-förmige Knochen liegt unter dem Platysma und den supraklavikulären Nerven nahe unter der Haut. Medial ist die Form ähnlich eines Prismas, im mittleren Abschnitt tubulär und lateral relativ flach. Die Klavikula überträgt über das Sternoklaviku- lar- und das Akromioklavikulargelenk den Kraft- fluss der oberen Extremität und der ansetzenden Hilfsmuskulatur auf den Rumpf, stabilisiert und schützt die infraklavikulär liegenden Gefäß- und Nervenbahnen. Die Klavikula ist in ihrer korrekten Form und Länge Voraussetzung für eine ungestör- te Funktion des Schultergürtels (Abb. 1.2). Diese grundlegenden anatomischen Betrachtungen be- dingen den Fokus auf die anatomisch und funktio- nell korrekte Wiederherstellung bei der Behand- lung von Verletzungen des Schlüsselbeins. Klavikulafrakturen sind mit 515 % aller Fraktu- ren relativ häufig. Am Schultergürtel nehmen sie ca. 45 % aller Brüche ein. Die Verletzungen entste- hen regelmäßig durch direkten Sturz auf die Schul- ter und sind als Mäßig- und Hochenergietrauma zu sehen. Entsprechend treten sie vor allem bei jungen, athletischen und aktiven Patienten auf. Sternumnahe Brüche zeigen einen zweiten Alters- gipfel wohl in Folge der Osteoporose beim alten Menschen. An der Klavikula wirken vor allem gegensätz- liche Kräfte in kranialer (M. sternocleidomasto- ideus) und kaudaler Richtung (Schwerkraft über den Arm, M. pectoralis major). Neutralisiert wer- den diese über die korakoklavikulären Bänder am Schulterblatt (Abb. 5.1). Je nach Lokalisation des Bruches kommt es deshalb zur Dislokation. 5.1.2 Einteilung Für den klinischen Gebrauch hat sich die Eintei- lung der Brüche nach ihrer Lokalisation bewährt. Unterteilt man das Schlüsselbein nach Allman in Drittel, treten ca. 80 % der Frakturen im mittleren, 15 % im distalen und 5 % im proximalen Drittel auf (Abb. 5.2). Besonders häufig betroen ist entsprechend des Frakturmechanismus der als biomechanisch schwächster Punkt zu sehende Übergang zwischen runder und flacher Form, der im mittleren Drittel liegt. Neben dieser groben Einteilung existiert eine Reihe von dierenzierteren Klassifikationen, wo- bei sich im klinischen Alltag vor allem eine Klassi- fikation der lateralen Klavikulafraktur in stabil und instabil als therapierelevant durchgesetzt hat (Abb. 5.3). Zug des Gewichts des hängenden Arms Zug M. pectoralis major Zug M. sternocleidomastoideus Abb. 5.1 Einwirkende Kräfte an der Klavikula. 1/3 1/3 1/3 lateral medial posterior anterior Abb. 5.2 Einteilung der Klavikula in Drittel. 5.1 Klavikulafraktur 5 83 Frank/Meier, Kurzgefasste Schulterchirurgie (ISBN 9783131983213), © 2020 Georg Thieme Verlag KG

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5 Frakturen

5.1 KlavikulafrakturR. Meier

5.1.1 PathophysiologieDas Schlüsselbein ist der einzige Verbindungskno-chen zwischen dem Rumpf und der oberen Extre-mität. Der doppelte, s-förmige Knochen liegt unterdem Platysma und den supraklavikulären Nervennahe unter der Haut. Medial ist die Form ähnlicheines Prismas, im mittleren Abschnitt tubulär undlateral relativ flach.

Die Klavikula überträgt über das Sternoklaviku-lar- und das Akromioklavikulargelenk den Kraft-fluss der oberen Extremität und der ansetzendenHilfsmuskulatur auf den Rumpf, stabilisiert undschützt die infraklavikulär liegenden Gefäß- undNervenbahnen. Die Klavikula ist in ihrer korrektenForm und Länge Voraussetzung für eine ungestör-te Funktion des Schultergürtels (▶Abb. 1.2). Diesegrundlegenden anatomischen Betrachtungen be-dingen den Fokus auf die anatomisch und funktio-nell korrekte Wiederherstellung bei der Behand-lung von Verletzungen des Schlüsselbeins.

Klavikulafrakturen sind mit 5–15% aller Fraktu-ren relativ häufig. Am Schultergürtel nehmen sieca. 45% aller Brüche ein. Die Verletzungen entste-

hen regelmäßig durch direkten Sturz auf die Schul-ter und sind als Mäßig- und Hochenergietraumazu sehen. Entsprechend treten sie vor allem beijungen, athletischen und aktiven Patienten auf.Sternumnahe Brüche zeigen einen zweiten Alters-gipfel wohl in Folge der Osteoporose beim altenMenschen.

An der Klavikula wirken vor allem gegensätz-liche Kräfte in kranialer (M. sternocleidomasto-ideus) und kaudaler Richtung (Schwerkraft überden Arm, M. pectoralis major). Neutralisiert wer-den diese über die korakoklavikulären Bänder amSchulterblatt (▶Abb. 5.1). Je nach Lokalisation desBruches kommt es deshalb zur Dislokation.

5.1.2 EinteilungFür den klinischen Gebrauch hat sich die Eintei-lung der Brüche nach ihrer Lokalisation bewährt.Unterteilt man das Schlüsselbein nach Allman inDrittel, treten ca. 80 % der Frakturen im mittleren,15% im distalen und 5% im proximalen Drittel auf(▶Abb. 5.2).

Besonders häufig betroffen ist entsprechenddes Frakturmechanismus der als biomechanischschwächster Punkt zu sehende Übergang zwischenrunder und flacher Form, der im mittleren Drittelliegt. Neben dieser groben Einteilung existiert eineReihe von differenzierteren Klassifikationen, wo-bei sich im klinischen Alltag vor allem eine Klassi-fikation der lateralen Klavikulafraktur in stabilund instabil als therapierelevant durchgesetzt hat(▶Abb. 5.3).

Zug des Gewichts des hängenden Arms

Zug M. pectoralis major

Zug M. sternocleidomastoideus

Abb. 5.1 Einwirkende Kräfte an der Klavikula.

1/3 1/3 1/3

lateral medialposterior

anterior

Abb. 5.2 Einteilung der Klavikula in Drittel.

5.1 Klavikulafraktur

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5.1.3 DiagnostikSchmerz, Schwellung, Schonhaltung und offen-sichtliche Fehlstellung sind klinisch hinweisendauf einen Schlüsselbeinbruch. Die Beurteilung derWeichteilverhältnisse und der peripheren Durch-blutung, Motorik und Sensibilität im Seitenver-gleich ist essentiell, um Begleitverletzungen zuerfassen und ggf. weiter abzuklären. Neben Verlet-zungen des Armplexus und dem Pneumothoraxmuss vor allem an akute venöse und arterielleGefäßverletzungen sowie sekundär auftretendeThrombosen und Pseudoaneurysmen gedachtwerden. Besondere Beachtung erfordert das Vor-liegen einer weichteiligen oder knöchernen Tren-nung der oberen Extremität vom Rumpf, als ska-pulothorakale Dissoziation oder Floating Shoulder(S.118) bezeichnet.

Basis der bildgebenden Diagnostik sind konven-tionelle Röntgenaufnahmen. Bei Frakturverdachtim mittleren Drittel erfordert dies eine Aufnahmeim anterior-posterioren Strahlengang mit Darstel-lung der ganzen Klavikula vom Sternoklavikular-bis zum Akromioklavikulargelenk (▶Abb. 5.4a).Ergänzt wird diese Einstellung durch Projektion ineiner schrägen Ebene (▶Abb. 5.4b).

Bei lateraler Fraktur ist eine zusätzliche Panora-maaufnahme unter Belastung gelegentlich hilf-reich, um die vertikale Instabilität zu beurteilen(▶Abb. 5.5). Das Ausmaß der häufigen dorsalen

Dislokation ist nur in einer axialen Aufnahme-technik sicher einzuschätzen. Bei unzureichenderDarstellung der Frakturmorphologie, z. B. bei ster-numnahen Brüchen ist die Computertomografiesinnvoll. Die Magnetresonanztomografie bietet beiBedarf zusätzliche Informationen über die korako-klavikulären Bänder und Begleitverletzungen, istjedoch in der Regel entbehrlich.

●HMerke

Der Schlüsselbeinbruch ist prinzipiell gutartig,kann jedoch bei inadäquater Behandlung zuFalschgelenkbildung und Fehlverheilung mit z. T.erheblichen und schwer zu korrigierenden Auswir-kungen auf die Biomechanik des Schultergürtelsführen.

Typ I Typ II

Typ III Typ IV

Abb. 5.3 Einteilung der lateralen Klavikulafraktur nachJäger und Breitner. (Quelle: Wirth C, Mutschler W, KohnD et al. Praxis der Orthopädie und Unfallchirurgie.3. Aufl. Stuttgart: Thieme; 2013)

Abb. 5.4 Klavikulafraktur.a Aufnahme im anterior-posterioren Strahlengang mit

Darstellung der gesamten Klavikula bei Klavikula-fraktur im mittleren Drittel.

b Aufnahme in schräger Ebene mit Darstellung dergesamten Klavikula bei Klavikulafraktur im mittlerenDrittel.

Abb. 5.5 Anterior-posteriore Aufnahme unter Zug-belastung bei lateraler Klavikulafraktur.

Frakturen

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5.1.4 Therapie

Konservative BehandlungDie Behandlung der Klavikulafraktur, vor allem immittleren Drittel, war traditionell eine Domäneder konservativen Therapie. Wesentliche Gründewaren die hohe periostale knöcherne Heilungs-potenz und die z. T. schlechten Ergebnisse bei ope-rativer Behandlung in den frühen Untersuchungender zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts.

Neuere Studien zeigen jedoch bei genauer unddifferenzierter Betrachtung bis zu ein Drittel unbe-friedigende Ergebnisse der konservativen Therapie.Problematisch sind vor allem prominente Kallus-formationen sowie nicht- und fehlverheilte Brü-che. Sie können in chronischen Schmerzen, Schwä-che und gestörter Biomechanik resultieren. Esfolgen prolongierte Rehabilitation und Sportunfä-higkeit, die von den häufig jungen und aktiven Pa-tienten zunehmend nicht akzeptiert werden. Einedifferenzierte Betrachtung und Indikationsstellungist deshalb nötig. Insbesondere fließen hierbei dasAlter des Patienten, die Frakturform und die Frak-turlokalisation in die Therapieentscheidung ein.

Die konservative Behandlung der Klavikulafrak-tur ist gut geeignet bei nicht oder nur gering dis-lozierten, geschlossenen Frakturen ohne Begleit-verletzung. Am weitesten verbreitet sind hier derRucksackverband oder ein Schlingen- bzw. Gil-christverband. Der Rucksackverband soll hierbeivor allem der Verkürzungstendenz der Klavikulaentgegenwirken (▶Abb. 5.6a), der Gilchristver-band den Zugkräften des Armes nach unten(▶Abb. 5.6b).

Man muss sich bewusstmachen, dass eine wirk-liche Retention und Stabilisierung der Fraktur hier-durch nur sehr eingeschränkt möglich sind. DieVerbandsanordnung dient vor allem der Schmerz-reduktion und dem Komfort des Patienten undkann bei Beschwerdefreiheit nach 3–6 Wochen ab-gelegt werden. Wir führen die früher übliche Re-position und anschließende Retention über einenRucksackverband nicht mehr durch.

Von einer ausreichenden Heilung ist beim Er-wachsenen nach 6–8 Wochen auszugehen. Der ra-diologisch erkennbare Durchbau erfolgt allerdingsdeutlich später. Abschließende Röntgenkontrollenbei Beschwerdefreiheit erscheinen entbehrlich.

Operative BehandlungDie Indikation zur operativen Therapie besteht ins-besondere bei offenen Frakturen und versorgungs-pflichtigen Nerven- und Gefäßverletzungen. Dabeiwerden ausgeprägte Trümmerzonen, Dislokatio-nen und Instabilitäten bei entsprechendem An-spruch des Patienten operativ versorgt. Auch beientsprechenden Begleitverletzungen der Rippenoder gar der Floating Shoulder ist eine operativeStabilisierung sinnvoll, um eine Stabilität des Tho-rax und des Schultergürtels wiederzuerlangen.

a

b

Abb. 5.6 Klavikulafraktur: konservative Versorgung.a Rucksackverband.b Gilchristverband.

5.1 Klavikulafraktur

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Die Frage der Instabilität ist vor allem bei den la-teralen Frakturtypen relevant und wird hier ent-scheidend durch die mit verletzten Ligg. coracocla-vicularia beeinflusst. Eine gute Orientierung bietetdie Einteilung nach Jäger und Breitner (▶Abb. 5.3).Typ-I- und Typ-III-Brüche sind als stabil, Typ IIa, IIIund IV als instabil zu werten. Typ-IIb-Frakturensind weniger instabil, sollten jedoch eng kontrol-liert und bei Dislokation operativ versorgt werden.

Als operative Optionen bei Frakturen der Klavi-kula haben sich die geschlossene Reposition mitintramedullärer Schienung und die offene Reposi-tion mit interner Fixation über Plattensysteme so-wie ihre verschiedenen Modifikationen durch-gesetzt.

Die intramedulläre Schienung eignet sich beiQuerbrüchen oder kurzen Schrägbrüchen im mitt-leren Drittel ohne Zwischenfragmente. Hier kön-nen durch einen minimalinvasiv unter Durch-leuchtungskontrolle in den Markraum der Klavi-kula eingebrachten, elastischen Titandraht(TENS2,5–3,5mm) eine geschlossene Repositionund ausreichend stabile Versorgung gewährleistetwerden. Um mediastinale Komplikationen zu ver-meiden, wird der Draht von medial nach lateraleingebracht. Nach ausreichender Frakturheilungsollte der Draht wieder entfernt werden. Dies er-folgt ca. 12 Wochen nach dem Ersteingriff(▶Abb. 5.7).

Der Vorteil ergibt sich aus dem Prinzip der in-tramedullären Schienung mit frakturfernem Ein-bringen des Implantats. Vaskularität der Frakturbleibt erhalten und kosmetisch störende Narbensind klein und besser durch Kleidung abdeckbar.Nachteilig sind die erhöhten Durchleuchtungszei-ten im Rahmen der geschlossenen Reposition. Beigeschlossen, auch unter Zuhilfenahme von Repo-sitionszangen und zur Fragmentnavigation ein-gebrachten Drähten oder Schanzschrauben nichtreponible Frakturen sind mitunter offene Reposi-tionen über kleine Hilfsschnitte erforderlich.

Die offene Reposition und interne Fixationkann über einen Säbelhiebschnitt in sagittalerRichtung entlang der Spaltlinien der Haut oderüber einen paraklavikularen Zugang über oder un-ter dem Schlüsselbein erfolgen. Während der que-re Schnitt bei langstreckigen Brüchen einen leich-teren Zugang ermöglicht, bietet der Längsschnitteine kosmetisch günstigere Narbenbildung undeine geringere Gefährdung der längs verlaufendenHautäste der Nn. supraclaviculares (▶Abb. 5.8).

Nach Durchtrennung des Unterhautgewebesund des Platysmas wird die Fraktur unter Vermei-dung von Denudierung dargestellt. Sie wird überZangen reponiert und mit einer Platte stabilisiert.Inzwischen steht neben den konventionellen Plat-ten eine Vielzahl anatomisch vorgeformter Model-le zur Verfügung. Entscheidend sind das Erreichen

Abb. 5.7 Versorgung einer Klavikulafraktur im mittlerem Drittel mittels intramedullärer elastischer Schienung (TENS).a Klavikulafraktur im anterior-posterioren Strahlengang.b Klavikulafraktur im tangentialen Strahlengang.c Ausgeheilte mittels TENS versorgte Klavikulafraktur im anterior-posterioren Strahlengang.d Ausgeheilte mittels TENS versorgte Klavikulafraktur im tangentialen Strahlengang.

Frakturen

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einer absoluten Stabilität und das Vermeiden zu-sätzlicher Minderdurchblutung durch übertriebe-ne Weichteilablösung. Als stabil genug erscheinenkonventionelle oder winkelstabile 3,5-mm-Im-plantate, die mit mindestens drei bikortikal einge-brachten Schrauben medial und lateral besetztwerden (▶Abb. 5.9).

Rekonstruktionsplatten werden gelegentlichaufgrund der leichteren Formbarkeit verwendet.Mitunter werden jedoch vermehrt Implantatbrü-che berichtet. Je nach Frakturverlauf sind Zug-schrauben oder eine Kompressionsplattenosteo-synthese sinnvoll. In Trümmersituationen sindüberbrückend eingebrachte, winkelstabile Implan-tate hilfreich. Von oben angebrachte Platten bieten

den Vorteil der besseren Weichteildeckung, vonventral angebrachte haben einen längeren Schrau-benverlauf und somit besseren Schraubenhalt. Zu-dem stört bei medialer Plattenlage die Lagerungdes Kopfes nicht beim Bohren der Schrauben-löcher. Wir bevorzugen deshalb lateral eine obereund medial eine vordere Plattenlage, was durcheine entsprechende Torquierung der Platten er-möglicht wird (▶Abb. 5.9).

Da bei lateralen Frakturen im kleinen distalenFragment eine ausreichende Schraubenveranke-rung nicht immer möglich ist, haben sich hier sog.Hakenplatten bewährt. Bei diesen Platten wird einhakenförmiger Ausläufer unter dem Akromion po-sitioniert (▶Abb. 5.10). Die zusätzliche Abstützungunter dem Schulterdach wirkt der kranialen Dis-lokationstendenz des medialen Fragments ent-gegen. Bei Modellen mit dezentral dorsal liegen-dem Haken sind die Interferenzen mit derRotatorenmanschette minimiert. Die Implantat-

Abb. 5.8 Narbe zwei Wochen nach ORIF einerKlavikulafraktur über Säbelhiebschnitt.

Abb. 5.9 Konventionelle Röntgenaufnahme nach Ver-sorgung einer Klavikulafraktur mit Zugschraube undwinkelstabilem Kleinfragmentimplantat (LCP).

Abb. 5.10 Osteosynthese einer lateralen Klavikulafraktur mit winkelstabiler Hakenplatte.a Laterale Klavikulafraktur im anterior-posterioren Strahlengang.b Operationssitus mit einliegender Hakenplatte.c Ausgeheilte laterale Klavikulafraktur mit liegernder Hakenplatte im anterior-postrioren Strahlengang.

5.1 Klavikulafraktur

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entfernung der Hakenplatte nach 3–6 Monaten istallerdings trotzdem zwingend erforderlich, um Im-plantatbrüche, Verletzungen der Rotatorenman-schette oder des Akromions zu minimieren. Kon-ventionelle Platten müssen nicht zwingendentfernt werden, allerdings stören sie meist auf-grund der geringen Weichteildeckung lokal undwerden dann bei gesicherter Knochenheilung nachca. 12–18 Monaten entfernt.

Leider kommt es bei der Behandlung der latera-len Fraktur in bis zu 30% der Fälle zur Pseud-arthrosenbildung. Nicht alle Falschgelenke sindklinisch auffällig. Bei entsprechender Beschwerde-symptomatik sollte jedoch über eine Pseudarthro-senausräumung mit kortigospongiöser Spaninter-position vom Becken und stabiler Platten- bzw.Hakenplattenosteosynthese nachgedacht werden.Besonderer Augenmerk muss hierbei auf eine kor-rekte Einstellung der Klavikulalänge gelegt wer-den.

5.2 SkapulafrakturR. Meier

5.2.1 PathophysiologieDas Schulterblatt ist im Prinzip eine dreieckigeRahmenkonstruktion mit mehreren Fortsätzen.Dorsal liegt die Spina scapulae oberflächennahund ist gut durch die Haut zu tasten. Sie überdecktmit ihrem lateralen Ausläufer, dem Akromion, zu-sammen mit dem Korakoid und dem Lig. coraco-acromiale das Schultergelenk. Über die beidenFortsätze und deren ligamentäre Verbindungen istdas Schulterblatt am Schlüsselbein fixiert, das sei-nerseits über das Schultereckgelenk mit demAkromion artikuliert. Lateral läuft das Schulter-blatt über den Hals zur Gelenkpfanne hin aus.

Der Skapulahals kann in den anatomischen undden medial gelegenen chirurgischen Hals unter-schieden werden. Die seltenen Frakturen des ana-tomischen Halses entsprechen dabei einem Bruchlateral der Korakoidbasis, jene des chirurgischenHalses einer Fraktur medial der Korakoidbasis. Dieknöcherne Festigkeit spiegelt das Prinzip der Rah-menkonstruktion wider. So sind die Ränder undFortsätze knöchern sehr stabil, während die Kno-chenstruktur in der Fossa supra- und infraspinata

dünn ist. Für die Frakturbehandlung relevant istder Verlauf des N. suprascapularis, der medial derKorakoidbasis in der Incisura scapulae verläuftund hier gefährdet ist.

Skapulafrakturen sind mit ca. 1 % relativ selten.Meist entstehen sie durch direkte Hochenergiever-letzungen beim jungen, aktiven Patienten. Sie sindentsprechend regelhaft mit begleitenden Verlet-zungen assoziiert und treten häufig bei Mehrfach-verletzten auf (▶ Tab. 5.1). Insofern sind sie alsIndikatorfrakturen für schwerwiegende Verletzun-gen (z. B. Thoraxtrauma) zu sehen. In über derHälfte der Fälle ist das Schulterblatt betroffen, ge-folgt von Frakturen des Halses (25%), Akromions(8 %), Korakoids (7 %), des Glenoidrands und derGelenkflächen (10 %).

Tab. 5.1 Begleitverletzungen bei Skapulafrakturen.

Verletzung Häufigkeit

Rippenfraktur 25–45%

Humerusfraktur 12%

Schädel-Hirn-Trauma 25%

Gefäßverletzung 11%

Plexusverletzung  5–10%

Lungenverletzung 15–55%

●GCave

Die Akromionfraktur darf nicht mit der anato-mischen Variante des Os acromiale verwechseltwerden.

5.2.2 EinteilungSystematische Klassifikationen der Skapulafraktursind im klinischen Einsatz wenig verbreitet. Hilf-reich sind jedoch vor allem zwei Systeme: die Ein-teilung nach Euler und Rüedi (▶Tab. 5.2), die nachanatomischer Lokalisation fünf Typen unterschei-det, und diejenige nach Ideberg, die die Glenoid-brüche nach Frakturmorphologie in sechs Typeneinteilt (▶ Tab. 5.3). Während Typ I und II nach Ide-berg durch eine Abscherung, z. B. im Rahmen einesLuxationsmechanismus, entstehen, sind die TypenIII–VI Folge einer direkten Impaktion.

Frakturen

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Tab. 5.2 Einteilung der Skapulafrakturen nach Euler und Ruedi.

Typ Bezeichnung Untertyp Betroffene Strukturen

A Korpusfrakturen – Skapulablatt einfach oder mehrfragmentär

B Fortsatzfrakturen B1 Spina

B2 Korakoid

B3 Akromion

C Kollumfrakturen C1 Collum anatomicum

C2 Collum chirurgicum

C3 Collum chirurgicuma) + Klavikulab) + Ruptur des Lig. coracoclaviculare und des Lig. coracoacromiale

D Gelenkfrakturen D1 Pfannenrandabbrüche

D2 Fossa glenoidalisa) mit unterem Pfannenrandfragmentb) mit horizontaler Skapulaspaltungc) mit korakoidaler Blockbildungd) Trümmerfrakturen

D3 Kombinationsfrakturen mit Kollum- bzw. Korpusfrakturen

E Kombinationsfrakturen mit Humeruskopffrakturen

Tab. 5.3 Klassifikation der Skapulahalsfrakturen nach Ideberg.

Typ Bezeichnung/betroffene Strukturen

I Vordere Pfannenrandbrüche.

II Quer- oder Schrägfrakturen durch das Glenoid mit Anteilen des unteren Skapulahalses.

III Schrägfrakturen durch das Glenoid mit Anteilen des oberen Skapulahalses einschließlich des Proc. coracoideus.

IV Horizontale Frakturen durch Glenoid, Skapulahals und -körper; diese Frakturen verlaufen stets distal derSpina scapulae.

V Kombination aus einer Typ-IV-Verletzung und einer senkrecht durch den Skapulahals verlaufenden Bruchlinie.

5.2.3 DiagnostikKlinisch treten Skapulafrakturen vor allem durcheine erhebliche Schmerzsymptomatik in den Vor-dergrund. Allerdings können diese im Rahmen derBegleitverletzungen auch in den Hintergrund tre-ten oder wenig Beachtung finden. Neben denschwerwiegenden Begleitverletzungen muss auchbei der Skapulafraktur diffizil auf Störungen derInnervation (vor allem N. suprascapularis, N. axil-laris) und der Durchblutung geachtet werden.

Basis der bildgebenden Diagnostik sind konven-tionelle Röntgenaufnahmen true a.–p., axial undtransskapulär. Die Computertomografie erleichtertdie genaue Zuordnung (▶Abb. 5.11). Insbesonderebei den Glenoidfrakturen ist eine dreidimensiona-le Rekonstruktion unter Subtraktion des Humerus-kopfs zur Abschätzung der Fragmentgröße enormhilfreich und wird von uns standardisiert durch-geführt (▶Abb. 5.12). Magnetresonanztomogra-

Abb. 5.11 3D-CT-Rekonstruktion einer Korpusfrakturder Skapula und proximalen Oberarmfraktur.

5.2 Skapulafraktur

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fische Untersuchungen sind bei der Skapulafrakturspeziellen Fragestellungen vorbehalten.

5.2.4 TherapieAufgrund der guten muskulären Stabilisierungsind vor allem die häufigen Schulterblattbrücheeine Domäne der konservativen Behandlung. Al-lerdings gibt es immer wieder auch schlechteErgebnisse, sodass eine differenzierte Indikations-stellung erforderlich ist. Einer operativen Versor-gung bedürfen insbesondere dislozierte Glenoid-und Halsfrakturen, Abtrennungen des Schultergür-tels (shoulder suspensory complex, SSC) sowiestark dislozierte Körper- und Spinafrakturen.

Konservative BehandlungIsolierte Schulterblattfrakturen vom Typ A könnenüber aktiv-assistive und aktive Übungen über denSchienungseffekt der kräftigen Muskulatur prinzi-piell gut konservativ behandelt werden(▶Abb. 5.13). Zu Beginn der Behandlung erhöhteine kurzfristige Schlingen- oder Gilchristanlageden Patientenkomfort. Ausgeprägte Dislokationen,vor allem bei schlanken Patienten, können jedochlangfristig zu funktionellen Einschränkungen füh-ren, sodass hier über eine Reposition und Platten-osteosynthese nachgedacht werden sollte. Auchunverschobene Spina-scapulae-Frakturen (Typ B1)kommen ohne Operation aus. Bei verschobenen

Brüchen ist die Pseudarthroserate erhöht, weshalbauch hier über eine Osteosynthese nachgedachtwerden sollte. Diese kann gut über Kleinfragment-platten erfolgen.

Periphere Korakoidfrakturen (B2) sind in der Re-gel über das korakoakromiale Band relativ stabilgesichert und können konservativ behandelt wer-den. Eine Versorgung mittels Schraubenosteosyn-these ist nur erforderlich, wenn das Fragment überden Zug der korakobrachialen Sehnen disloziertoder die Fraktur zwar zentral der korakoklavikula-ren Bänder liegt, jedoch eine zusätzliche Instabili-tät der lateralen Klavikula oder des AC-Gelenksvorliegt und es hierüber zur Dislokation des Frag-ments kommt.

Operative BehandlungDurch den Zug des M. deltoideus kommt es beiAkromionfrakturen (B3) meist zu einer Disloka-tion mit konsekutiv drohender subakromialer En-ge. Deshalb sind hier häufig eine Reposition undOsteosynthese über Zugschrauben oder Zuggur-tung sinnvoll. Bei erhöhter Zugbelastung, z. B. beiliegender inverser TEP kann auch eine stabilerePlattenosteosynthese sinnvoll sein (▶Abb. 5.14).Differenzialdiagnostisch abgegrenzt werden mussdas Os acromiale (▶Abb. 5.15).

Stark verschobene Skapulahalsfrakturen beein-trächtigen die Funktion der Rotatorenmanschette.Deshalb sollten nur die wenig medialisierten Frak-

Abb. 5.13 Schulterblattfraktur im konventionellemRöntgenbild.

Abb. 5.12 3D-CT-Rekonstruktion einer Glenoidfraktur.

Frakturen

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turen (Typ C2) des chirurgischen Halses konser-vativ beübt werden. Da bei Frakturen des anato-mischen Halses (C1) jegliche ligamentäre Verbin-dung mit der Skapula verloren geht und der Zugder Trizepssehne zur Dislokation führt, werdendiese über einen dorsalen Zugang mittels Schrau-ben, ggf. Plattenosteosynthese versorgt. Auch beiBrüchen des chirurgischen Halses und assoziierterKlavikulafraktur (C3a) oder korakoklavikularerBandinstabilität (C3b) entsteht eine instabile Situa-tion. Hier sollte zumindest die Klavikula versorgtwerden, um eine indirekte Reposition des Glenoid-fragments und eine stabile Situation zu erreichen.Auch eine kombinierte Osteosynthese kann erfor-derlich sein.

Pfannenrandbrüche (D1) sind Folge von Luxatio-nen und resultieren in Instabilität mit Reluxations-gefahr des Humeruskopfs. Die Bankartfragmentesollten entsprechend refixiert werden. Unverscho-bene intraartikuläre Glenoidfrakturen (D2) wer-den nichtoperativ behandelt. Bei verschobenenBrüchen und Stufenbildung ist, um posttraumati-sche Arthrosen zu vermeiden, ein operatives Vor-gehen indiziert. Eine Fixierung ist je nach Frag-mentgröße mit Schrauben (▶Abb. 5.16) oderAnkern sinnvoll (▶Abb. 5.17). Je nach Frakturver-lauf, -lokalisation und Fragmentgröße ist ein offe-nes, arthroskopisch unterstütztes oder arthrosko-pisches Vorgehen am besten geeignet.

Abb. 5.15 Os acromiale im anterior-posteriorenStrahlengang.

Abb. 5.14 Winkelstabile Osteosynthese einer Ermü-dungsfraktur am Akromion bei liegender reverser TEP.

Abb. 5.16 Schraubenosteosynthese einer Glenoid-fraktur.

5.2 Skapulafraktur

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5.3 Proximale HumerusfrakturI. Marzi, D. Schramm

5.3.1 EpidemiologieAufgrund der demografischen Entwicklung inDeutschland mit der deutlichen Zunahme ältererPatienten zeigt sich eine steigende Inzidenz pro-ximaler Humerusfrakturen [5], wobei 70% der Pa-tienten über 60 Jahre alt sind. Der proximale Hu-merus stellt die dritthäufigste Frakturlokalisationnach dem distalen Radius und dem proximalen Fe-mur dar.

Die Inzidenz der proximalen Humerusfrakturliegt derzeit bei über 100 pro 100000, bei Patien-ten über 80 Jahre sogar bei 400 pro 100000.Schätzungen gehen von einer Verdreifachung derInzidenz bis zum Jahre 2030 aus [6]. Dies hat er-hebliche soziale wie auch ökonomische Folgen,nicht nur die reinen Gesundheitskosten betreffend.Zum einen ist die unfallbedingte Mortalität mitfast 10% innerhalb der ersten Monate weiterhinhoch, zum anderen mussten laut einer Studie 17%der Patienten mit proximaler Humerusfraktur deneigenen Haushalt aufgeben. Unterschätzt wirdauch die deutliche Verschlechterung der Gehfähig-keit mit einer vermehrten Inzidenz erneuter Sturz-ereignisse im Verlauf [7].

Nicht nur die Frakturhäufigkeit, auch die Frak-turschwere zeigt eine proportionale Altersabhän-gigkeit [5], wohl am ehesten aufgrund der in den

meisten Fällen bestehenden relevanten Osteopo-rose [8]. Dies scheint auch der Grund für die Tatsa-che zu sein, dass 75% der erlittenen Humerusfrak-turen bei Frauen auftreten [9]. Die schwerstenFrakturformen treten wohl ebenfalls aufgrund derverminderten Knochenstruktur beim älteren Pa-tienten auf. So verteilen sich die Drei- und Vier-Segment-Frakturen zu 70% auf die Patientengrup-pe der über 70-Jährigen [5].

5.3.2 PathophysiologieDie Kenntnisse der anatomischen Verhältnissesind unumgänglich für das tiefere Verständnis pro-ximaler Humerusfrakturen. Entsprechend derFrakturebenen dislozieren die Fragmente analogdes Muskelzugs (▶Abb. 5.18).

5.3.3 EinteilungProximale Humerusfrakturen werden am häufigs-ten nach Neer klassifiziert, der sich auf die Vier-Segment-Theorie von Codman beruft (▶Abb. 5.19)[11], [12]. Sie weist jedoch einige Schwächen auf,so werden z. B. prognostisch ungünstige Head-Split-Frakturen nicht berücksichtigt.

Eine weitere und detailliertere Klassifikation istdie Klassifikation nach AO (▶Abb. 5.20). Sie be-schreibt die Frakturmorphologie genauer, istjedoch aufgrund ihrer Komplexität mit 27 Unter-gruppen teilweise zu aufwändig in der Durchfüh-rung.

Abb. 5.17 Arthroskopische Versorgung einer Glenoidfraktur über Fadenanker.a Einbringen des Fadenankers über Zielhülse in Frakturspalt.b Reponierte und mittels Fadenanker retenierte Fraktur.

Frakturen

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Frank/Meier, Kurzgefasste Schulterchirurgie (ISBN 9783131983213), © 2020 Georg Thieme Verlag KG

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a b

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e

Abb. 5.18 Darstellung der einwirkenden Muskelzüge bei Zwei- bis Vier-Fragment-Frakturen. Die Frakturfragmentedislozieren entsprechend der Zugrichtung der inserierenden Muskeln. a Schaftfragment nach medial; b Tuberculummajus nach dorsokranial; c Kalottenfragment über kompensatorischer Rotation in Varusfehlstellung; d Tuberculumminus nach mediokaudal; e Fehlstellung einer Vier-Fragment-Fraktur entsprechend der Muskelzugrichtung.

5.3 Proximale Humerusfraktur

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