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Leseprobe Koselleck, Reinhart Begriffsgeschichten © Suhrkamp Verlag suhrkamp taschenbuch wissenschaft 1926 978-3-518-29526-7 Suhrkamp Verlag

Suhrkamp Verlag · Reinhart Koselleck Begriffsgeschichten Studien zur Semantik und Pragmatik der politischen und sozialen Sprache Mit zwei Beiträgen von Ulrike Spree und

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Page 1: Suhrkamp Verlag · Reinhart Koselleck Begriffsgeschichten Studien zur Semantik und Pragmatik der politischen und sozialen Sprache Mit zwei Beiträgen von Ulrike Spree und

Leseprobe

Koselleck, Reinhart

Begriffsgeschichten

© Suhrkamp Verlag

suhrkamp taschenbuch wissenschaft 1926

978-3-518-29526-7

Suhrkamp Verlag

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suhrkamp taschenbuchwissenschaft 1926

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Der Band erzählt in 25 Untersuchungen die Geschichte der modernen Welt anhand der Begriffsgeschichten von »Staat«, »Revolution«, »Aufklä­rung«, »Emanzipation«, »Bildung« und »Utopie«. Stets wird dabei der Doppelstatus dieser Begriffe – ihre Indikatoren­ und Faktorenrolle im hi­storischen Prozeß – deutlich. Die semantisch­pragmatische Analyse der Begriffe macht Kontinuitäten ebenso wie Umschlagpunkte der Sozial­ und Kulturgeschichte sichtbar und gibt so eine eigene Form geschichtlicher Er­fahrung frei: Die Historie der Begriffe wird zum Medium der historischen Selbstaufklärung der Gegenwart. Reinhart Koselleck (1923­2006) war Professor in Bochum, Heidelberg und Bielefeld. Ausgezeichnet u. a. mit dem Sigmund­Freud­Preis 1999 und dem Historikerpreis der Stadt Münster 2003. Im Suhrkamp Verlag liegen vor: Kritik und Krise. Eine Studie zur Pathogenese der bürgerlichen Welt (stw 36), Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten (stw 757), Zeitschichten. Studien zur Historik (stw 1656).

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Reinhart Koselleck Begriffsgeschichten

Studien zur Semantik und Pragmatik der politischen

und sozialen Sprache

Mit zwei Beiträgen von Ulrike Spree und Willibald Steinmetz

sowie einem Nachwort zu Einleitungsfragmenten

Reinhart Kosellecks von Carsten Dutt

Suhrkamp

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Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in

der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d­nb.de abrufbar.

suhrkamp taschenbuch wissenschaft 1926Erste Auflage 2010

© Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 2006Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung,

des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren)

ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme

verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.Umschlag nach Entwürfen

von Willy Fleckhaus und Rolf StaudtDruck: Druckhaus Nomos, Sinzheim

Printed in GermanyISBN 978­3­518­29526­7

1 2 3 4 5 6 – 15 14 13 12 11 10

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Inhalt

Teil I: Zu Theorie und Methode der Begriffsgeschichte

Sozialgeschichte und Begriffsgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9Sprachwandel und Ereignisgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32Die Geschichte der Begriffe und Begriffe

der Geschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56Die Verzeitlichung der Begriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77Hinweise auf die temporalen Strukturen

begriffsgeschichtlichen Wandels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86Stichwort: Begriffsgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99

Teil II: Begriffe und ihre Geschichten

Zur anthropologischen und semantischen Strukturder Bildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105Exkurs: Geist und Bildung – zwei Begriffe kultureller Innovation zur Zeit Mozarts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155

›Fortschritt‹ und ›Niedergang‹ – Nachtrag zurGeschichte zweier Begriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159

Grenzverschiebungen der Emanzipation. Eine begriffs-geschichtliche Skizze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182

Einige Fragen an die Begriffsgeschichte von ›Krise‹ . . . . . . . 203Patriotismus. Gründe und Grenzen eines

neuzeitlichen Begriffs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 218Revolution als Begriff und als Metapher. Zur Semantik

eines einst emphatischen Worts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 240Zur Begriffsgeschichte der Zeitutopie . . . . . . . . . . . . . . . . . . 252Feindbegriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 274

Teil III: Zur Semantik und Pragmatikder Aufklärungssprache

Sprachwandel und sozialer Wandel im ausgehendenAncien régime . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 287

Begriffl iche Innovationen der Aufklärungssprache . . . . . . . 309Aufklärung und die Grenzen ihrer Toleranz . . . . . . . . . . . . . 340

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Teil IV: Zur Semantik der politischen und dersozialen Verfassungsgeschichte

Begriffsgeschichtliche Probleme der Verfassungs-geschichtsschreibung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 365Exkurs I . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 382Exkurs II (Zur Wirkungs- und Rezeptions-geschichte der einmalig geprägten aristotelischenBürger-Begriffe) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 387

Drei bürgerliche Welten? Zur vergleichenden Semantikder bürgerlichen Gesellschaft in Deutschland, Englandund Frankreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 402

Teil V: Von der Begriffsgeschichte zurbegriffenen Geschichte

Die Aufl ösung des Hauses als ständischer Herrschafts-einheit. Anmerkungen zum Rechtswandel von Haus,Familie und Gesinde in Preußen zwischen der Fran-zösischen Revolution und 1848 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 465

Diesseits des Nationalstaates. Föderale Strukturender deutschen Geschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 486

Bürger und Revolution 1848/49 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 504Allgemeine und Sonderinteressen der Bürger in

der umweltpolitischen Auseinandersetzung . . . . . . . . . . . 516

Nachwort. Zu EinleitungsfragmentenReinhart Kosellecks . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 529

Begriffs- und Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 541Namenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 557Nachweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 567

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Teil IZu Theorie und Methode

der Begriffsgeschichte

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Sozialgeschichte und Begriffsgeschichte

Wer sich mit Geschichte beschäftigt – was immer dies sei – und sieals Sozialgeschichte definiert, der grenzt seine Thematik offen-sichtlich ein. Und wer die Geschichte auf Begriffsgeschichte hinspezialisiert, der tut offensichtlich ein gleiches. Dennoch handeltes sich bei beiden Bestimmungen nicht um die übliche Eingren-zung von Spezialgeschichten, die die allgemeine Geschichte insich birgt. Die Wirtschaftsgeschichte Englands etwa oder die Di-plomatiegeschichte der Frühen Neuzeit oder die Kirchenge-schichte des Abendlandes sind derartige Spezialgebiete, die sach-lich, zeitlich und regional vorgegeben und untersuchenswertsind. Es handelt sich dann um besondere Aspekte der allgemei-nen Geschichte.

Anders die Sozialgeschichte und die Begriffsgeschichte: Sieerheben von ihrer theoretischen Selbstbegründung her einen all-gemeinen Anspruch, der sich auf alle Spezialgeschichten ausdeh-nen und anwenden läßt. Denn welche Geschichte hätte es nichtsowieso mit zwischenmenschlichen Beziehungen zu tun, mit Ge-sellungsformen jedweder Art oder mit gesellschaftlichen Schich-tungen, so daß die Kennzeichnung der Geschichte als Sozialge-schichte einen unwiderlegbaren – gleichsam anthropologischen –Daueranspruch anmeldet, der sich hinter jeder Form der Historieverbirgt. Und welche Geschichte gäbe es, die nicht als solchebegriffen werden müßte, bevor sie zur Geschichte gerinnt? DieBegriffe und deren sprachliche Geschichte zu untersuchen gehörtso sehr zur Minimalbedingung, um Geschichte zu erkennen, wiederen Definition, es mit menschlicher Gesellschaft zu tun zu ha-ben.

I. Historischer Rückblick

Beide, die Sozialgeschichte und die Begriffsgeschichte, gibt es alsexplizierte Fragestellungen seit der Aufklärung und der darinenthaltenen Entdeckung der geschichtlichen Welt: als die bishe-rigen Sozialformationen brüchig wurden und als damit zugleich

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10 Teil I: Zu Theorie und Methode der Begriffsgeschichte

die sprachliche Reflexion unter den Veränderungsdruck einerGeschichte geriet, die selbst als neuartig erfahren und artikuliertwurde. Wer die Geschichte historischer Reflexion und histori-scher Darstellung seitdem verfolgt, der trifft immer wieder aufbeide Zugriffe, sei es gegenseitig sich erläuternd wie bei Vico,Rousseau oder Herder, sei es auf getrennten Wegen.

Der Anspruch, alle geschichtlichen Lebensäußerungen undihren Wandel auf gesellschaftliche Bedingungen zurückzuführenund aus ihnen abzuleiten, wird seit den Geschichtsphilosophiender Aufklärung erhoben – bis hin zu Comte und dem jungenMarx. Ihnen folgen, methodisch bereits positivistischer verfah-rend, die Gesellschafts- und Zivilisationsgeschichten, die Kultur-und Volksgeschichten des neunzehnten Jahrhunderts bis hin zuden alle Lebensbereiche umfassenden Regionalgeschichten, de-ren Syntheseleistung, von Moser über Gregorovius bis zu Lamp-recht, füglich sozialhistorisch oder auch kulturhistorisch ge-nannt werden kann.

Andererseits gibt es seit dem achtzehnten Jahrhundert be-wußt thematisierte Begriffsgeschichten – der Ausdruck stammtsehr wahrscheinlich von Hegel –1, die in den Sprachgeschichtenund in der historischen Lexikographie ihren ständigen Platz be-hielten. Selbstredend wurden sie thematisiert von allen histo-risch-philologisch arbeitenden Disziplinen, die sich ihrer Quellenmit hermeneutischen Fragestellungen versichern müssen. JedeÜbersetzung in die je eigene Gegenwart impliziert eine Begriffs-geschichte, deren methodische Unvermeidbarkeit schon RudolfEucken in seiner Geschichte der philosophischen Terminologieexemplarisch für alle Geistes- und Sozialwissenschaften nachge-wiesen hat.2

In der Forschungspraxis finden sich denn auch allenthalbengegenseitige Verweise, die speziell sozial- und verfassungshisto-rische Analysen mit begriffsgeschichtlichen Fragen zusammen-führen. Ihr gegenseitiger Zusammenhang war den Altertumswis-senschaften und der Mittelalter-Forschung, mehr oder minder

1 H. G. Meier, Art. »Begriffsgeschichte«, in: Joachim Ritter (Hg.), HistorischesWörterbuch der Philosophie, Bd. 1, Basel und Stuttgart 1971, Sp. 788-808.

2 Rudolf Eucken, Geschichte der philosophischen Terminologie, Leipzig 1879 (ND1964).

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11Sozialgeschichte und Begriffsgeschichte

reflektiert, immer gegenwärtig; denn welcher Sachverhalt ließesich, besonders bei spärlich fließenden Quellen, ohne die Weiseseiner ehemaligen und seiner gegenwärtigen begrifflichen Verar-beitung erkennen? Freilich fällt es auf, daß die gegenseitige Ver-flechtung der Sozial- und der Begriffshistorie erst in den dreißigerJahren unseres Jahrhunderts systematisch bearbeitet wurde; mandenke an Walter Schlesinger und vor allem an Otto Brunner. Ausden Nachbarbereichen standen hier Erich Rothacker für die Phi-losophie, Carl Schmitt für die Rechtswissenschaften und JostTrier für die Sprachwissenschaften Pate.

Forschungspolitisch richtete sich die Zusammenführung vonSozial- und Begriffsgeschichte gegen zwei sehr verschiedeneRichtungen, die beide in den zwanziger Jahren des letzten Jahr-hunderts dominierten: einmal ging es darum, ideen- und geistes-geschichtliche Konzepte zu verabschieden, die ohne ihren kon-kreten politisch-sozialen Kontext, gleichsam um ihres Eigenwer-tes willen, verfolgt wurden. Andererseits ging es darum, dieGeschichte nicht vorzüglich als politische Ereignisgeschichte zubetreiben, sondern sie nach ihren länger anhaltenden Vorausset-zungen zu befragen.

Otto Brunner wollte, wie er im Vorwort zur zweiten Auflagevon Land und Herrschaft3 betonte, »nach den konkreten Vor-aussetzungen mittelalterlicher Politik fragen, diese selbst abernicht darstellen«. Es kam ihm darauf an, langfristige Strukturender gesellschaftlichen Verfaßtheit und deren – niemals momen-tanen – Wandel in den Blick zu rücken, und dies, indem diejeweilige sprachliche Selbstartikulation der gesellschaftlichenGruppen, Verbände oder Schichten sowie deren Deutungsge-schichte eigens thematisiert wurden. Und es ist kein Zufall,daß die »Annales«, die in Frankreich aus einem analogen For-schungsinteresse heraus entstanden waren, seit 1930 die Rubrik»Sachen und Wörter« einrichteten. Für Lucien Febvre und MarcBloch gehörte die Sprachanalyse zum integralen Bestandteil ihrersozialhistorischen Forschungen. – In Deutschland wirkte für dieneuzeitliche Geschichte wegweisend Gunther Ipsen, der seine so-zialgeschichtlichen, speziell demographischen Untersuchungen

3 Otto Brunner, Land und Herrschaft, Brünn, München und Wien 21942, S. XI.

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durch sprachwissenschaftliche ergänzte. All diese Anregungenwurden von Werner Conze aufgegriffen, als er 1956/57 den»Arbeitskreis für moderne Sozialgeschichte« gründete.4 Die Zu-sammenführung von sozialhistorischen und begriffshistorischenFragen gehört, dank Conzes Initiative, zu dessen ständigen Her-ausforderungen und damit freilich auch ihre Differenzbestim-mung, von der im folgenden die Rede sein soll.

II. Die Unmöglichkeit einer ›histoire totale‹

Ohne Gesellschaftsformationen samt ihren Begriffen, kraft derersie – reflexiv oder selbstreflexiv – ihre Herausforderungen be-stimmen und zu lösen suchen, gibt es keine Geschichte, läßt siesich nicht erfahren und nicht deuten, nicht darstellen oder erzäh-len. Gesellschaft und Sprache gehören insofern zu den metahi-storischen Vorgaben, ohne die keine Geschichte und keine Hi-storie denkbar sind. Deshalb sind sozialhistorische und begriffs-historische Theorien, Fragestellungen und Methoden auf alle nurmöglichen Bereiche der Geschichtswissenschaft bezogen oderbeziehbar. Deshalb schleicht sich aber auch gelegentlich derWunsch ein, eine ›totale Geschichte‹ konzipieren zu können.Wenn aus forschungspragmatischen Gründen die empirischenUntersuchungen der Sozial- oder der Begriffshistoriker begrenzteThemen bearbeiten, so schmälert diese Selbstbegrenzung nochnicht den Allgemeinheitsanspruch, der aus einer Theorie mögli-cher Geschichte folgt, die jedenfalls Gesellschaft und Sprachevoraussetzen muß.

4 Vgl. dazu Werner Conze, Zur Gründung des Arbeitskreises für moderne Sozial-geschichte, in: Hamburger Jahrbuch für Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 24(1979), S. 23-32. Conze selber bevorzugte den Terminus »Strukturgeschichte«,um die vom Wortgebrauch »sozial« her naheliegende Eingrenzung auf »sozialeFragen« zu vermeiden. Otto Brunner nahm den Terminus »Strukturgeschichte«auf, um die zeitbedingte Festlegung auf eine ›Volksgeschichte‹ zu vermeiden, dievon seiner theoretischen Vorgabe her freilich schon 1939 auf Strukturen zielte.Für den Überschritt vom Volksbegriff zum Begriff der Struktur vgl. die zweiteAuflage von »Land und Herrschaft«, 1942, S. 194, mit der vierten, verändertenAuflage, Wien und Wiesbaden 1959, S. 164: ein gutes Beispiel dafür, daß auchpolitisch bedingte Erkenntnisinteressen zu theoretisch und methodisch neuenEinsichten führen können, die ihre Ausgangslage überdauern.

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13Sozialgeschichte und Begriffsgeschichte

Unter dem Druck der methodisch nötigen Spezialisierungenverweisen die sozialgeschichtlichen und die begriffshistorischenZugriffe notwendigerweise auf Nachbarschaftshilfe. Sie müsseninterdisziplinär verfahren. Daraus folgt jedoch nicht, daß ihrtheoretischer Allgemeinheitsanspruch absolut oder total gesetztwerden könnte. Zwar stehen sie im Zugzwang, die Gesamtheitgesellschaftlicher Beziehungen sowie ihrer sprachlichen Artiku-lationen und Deutungssysteme vorauszusetzen. Aber die formalnicht widerlegbare Prämisse, daß es alle Geschichte mit Gesell-schaft und Sprache zu tun habe, läßt nicht die weiterreichendeFolgerung zu, daß es inhaltlich möglich sei, eine ›totale Ge-schichte‹ zu schreiben oder auch nur zu konzipieren.

So zahlreich und plausibel die empirischen Einwände gegeneine Totalgeschichte sind, es gibt einen Einwand gegen ihre Mög-lichkeit, der aus dem Versuch ihrer Denkbarkeit folgt. Denn dastotum einer Gesellschaftsgeschichte und das totum einer Sprach-geschichte sind nie zur Gänze aufeinander abbildbar. Selbstwenn der empirisch uneinlösbare Fall gesetzt wird, daß beideBereiche als eine endlich begrenzte Totalität thematisiert wür-den, bliebe eine unüberbrückbare Differenz zwischen jeder So-zialgeschichte und der Geschichte ihres Begreifens.

Weder holt das sprachliche Begreifen ein, was geschieht odertatsächlich der Fall war, noch geschieht etwas, was nicht durchseine sprachliche Verarbeitung bereits verändert wird. Sozialge-schichte oder Gesellschaftsgeschichte und Begriffsgeschichte ste-hen in einer geschichtlich bedingten Spannung, die beide aufein-ander verweist, ohne daß sie je aufgehoben werden könnte. Wasdu tust, sagt dir erst der andere Tag; und was du sagst, wird zumEreignis, indem es sich dir entzieht. Was zwischenmenschlich,also gesellschaftlich geschieht und was dabei oder darüber gesagtwird, ruft eine stets sich weitertreibende Differenz hervor, diejede ›histoire totale‹ verhindert. Geschichte vollzieht sich im Vor-griff auf Unvollkommenheit, jede ihr angemessene Deutung mußdeshalb auf Totalität verzichten.

Es ist ein Merkmal geschichtlicher Zeit, daß sie die Spannungzwischen Gesellschaft und ihrem Wandel und deren sprachlicherAufbereitung und Verarbeitung immer wieder reproduziert. JedeGeschichte zehrt von dieser Spannung. Gesellschaftliche Bezie-

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14 Teil I: Zu Theorie und Methode der Begriffsgeschichte

hungen, Konflikte und deren Lösungen wie deren sich änderndeVoraussetzungen sind nie deckungsgleich mit den sprachlichenArtikulationen, kraft derer Gesellschaften handeln, sich selbstbegreifen, deuten, ändern und neu formieren. Diese These soll inzweierlei Hinblick erprobt werden, einmal im Blick auf die inactu geschehende Geschichte, zum anderen im Blick auf die ge-schehene, die vergangene Geschichte.

III. Geschehende Geschichte, Rede und Schrift

Wenn Sozialgeschichte und Begriffsgeschichte aufeinander be-zogen werden, so handelt es sich um eine Differenzbestimmung,die ihren jeweiligen Allgemeinheitsanspruch gegenseitig relati-viert. Geschichte geht weder in der Weise ihres Begreifens auf,noch ist sie ohne dies denkbar. Ebensowenig läßt sich ›Ge-schichte‹ auf nichts als ihre sozialen, d. h. nur auf zwischen-menschliche Beziehungen reduzieren.

Im Alltagsgeschehen ist ihr Zusammenhang ungeschiedenvorgegeben. Denn der Mensch als ein mit Sprache begabtes We-sen ist gleichursprünglich mit seinem gesellschaftlichen Dasein.Wie läßt sich die Relation bestimmen? Vergleichsweise klar istdie Abhängigkeit jeweiliger Einzelereignisse im Vollzug ihres Ge-schehens von ihrer sprachlichen Ermöglichung. Keine gesell-schaftliche Tätigkeit, keine politischen Händel und kein wirt-schaftlicher Handel ist möglich ohne Rede und Antwort, ohnePlanungsgespräch, ohne öffentliche Debatte oder geheime Aus-sprache, ohne Befehl – und Gehorsam – , ohne Konsens der Be-teiligten oder artikulierten Dissens sich streitender Parteien. JedeAlltagsgeschichte im täglichen Vollzug ist angewiesen auf Spra-che in Aktion, auf Reden und Sprechen, so wie keine Liebesge-schichte denkbar ist ohne mindestens drei Worte – du, ich, wir.Jedes gesellschaftliche Geschehen in seinen mannigfachen Zu-sammenhängen beruht auf kommunikativen Vorleistungen undLeistungen sprachlicher Vermittlung. Institutionen und Organi-sationen, vom kleinsten Verein bis zur UNO, sind auf sie verwie-sen, sei es in mündlicher, sei es in schriftlicher Form.

So selbstverständlich dies ist, ebenso selbstverständlich muß

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15Sozialgeschichte und Begriffsgeschichte

diese Beobachtung eingeschränkt werden. Was sich tatsächlichereignet, ist offenbar mehr als die sprachliche Artikulation, diedazu geführt hat oder sie deutet. Der Befehl oder der kollegialeBeschluß oder der elementare Schrei zum Töten sind nicht iden-tisch mit der Gewaltsamkeit des Tötens selber. Die Redewen-dungen eines Liebespaares gehen nicht in der Liebe auf, die zweiMenschen erfahren. Die schriftlichen Organisationsregeln oderihre gesprochenen Vollzugsweisen sind nicht identisch mit demHandeln und der Wirksamkeit der Organisation selber.

Es herrscht immer eine Differenz zwischen einer sich ereig-nenden Geschichte und ihrer sprachlichen Ermöglichung. KeineSprechhandlung ist schon die Handlung selbst, die sie vorberei-ten, auslösen und vollziehen hilft. Freilich ist einzuräumen, daßoft ein Wort unwiderrufbare Folgen auslöst, man denke an denFührerbefehl zum Einmarsch in Polen, um ein eklatantes Beispielzu nennen. Aber gerade hier wird die Relation deutlich. EineGeschichte vollzieht sich nicht ohne Sprechen, ist aber niemalsidentisch mit ihm, sie läßt sich nicht darauf reduzieren.

Deshalb muß es über die gesprochene Sprache hinaus nochweitere Vorleistungen und Vollzugsweisen geben, die Ereignisseermöglichen. Hier ist etwa der sprachübergreifende Bereich derSemiotik zu nennen. Man denke an die Gestik des Leibes, in dersich Sprache nur verschlüsselt mitteilt, an magische Rituale bishin zur Theologie des Opfers, das nicht im Wort, sondern z. B. imKreuz seinen geschichtlichen Ort hat, an kraft ihrer Symbole ein-geschliffene Verhaltensweisen von Gruppen oder an moderneVerkehrszeichen: immer handelt es sich um eine Zeichensprache,die ohne Worte verständlich ist. Alle genannten Signale lassensich freilich verbalisieren. Sie sind auch auf Sprache reduzierbar,aber ihre Leistung besteht gerade darin, daß auf geredete Spracheverzichtet werden kann, um durch Signale oder Symbole ent-sprechende Handlungen auszulösen oder Einstellungen und Ver-haltensweisen zu steuern.

An weitere außersprachliche Vorbedingungen für möglicheGeschichten sei nur erinnert: an die räumliche Nähe oder Ferne,an Distanzen, die je nachdem konfliktträchtig oder konfliktver-zögernd sind, an die zeitlichen Differenzen zwischen den Alters-stufen einer Generationseinheit oder an die Bipolarität der Ge-

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16 Teil I: Zu Theorie und Methode der Begriffsgeschichte

schlechter. All diese Unterschiede bergen in sich Ereignisse, Streitund Versöhnung, die vorsprachlich ermöglicht werden, auchwenn sie sich kraft sprachlicher Artikulation vollziehen können,aber nicht müssen.

Es gibt also außersprachliche, vorsprachliche – und nach-sprachliche – Elemente in allen Handlungen, die zu einer Ge-schichte führen. Sie sind den elementaren, den geographischen,biologischen und zoologischen Bedingungen verhaftet, die überdie menschliche Konstitution allesamt in die gesellschaftlichenGeschehnisse einwirken. Geburt, Liebe und Tod, Essen, Hunger,Elend und Krankheiten, vielleicht auch das Glück, jedenfallsRaub, Sieg, Töten und Niederlage, all dies sind auch Elementeund Vollzugsweisen menschlicher Geschichte, die vom Alltag biszur Identifikation politischer Herrschaftsgebilde reichen und de-ren außersprachliche Vorgaben schwer zu verleugnen sind.

Im konkreten Zusammenhang der ereignisstiftenden Hand-lungen sind freilich die hier getroffenen analytischen Trennun-gen kaum nachvollziehbar. Denn alle vorsprachlichen Vorgabenwerden von den Menschen sprachlich eingeholt und in der kon-kreten Rede mit ihrem Tun und Leiden vermittelt. Die gespro-chene Sprache oder die gelesene Schrift, die jeweils wirksame –oder die überhörte – Rede verschränken sich im aktuellen Voll-zug des Geschehens zum Ereignis, das sich immer aus außer-sprachlichen und sprachlichen Handlungs- und Erleidensele-menten zusammensetzt. Selbst wenn die Rede verstummt, bleibtdas sprachliche Vorwissen präsent, das dem Menschen inne-wohnt und das ihn befähigt, mit seinem Gegenüber zu kommu-nizieren: ob es sich um Menschen, Dinge, Produkte, um Pflanzenoder Tiere handelt.

Und je höher aggregiert die menschlichen Handlungseinhei-ten sind, etwa in modernen Arbeitsprozessen samt ihren wirt-schaftlichen Verflechtungen oder in den immer komplexeren po-litischen Aktionsräumen, desto wichtiger werden die sprachli-chen Kommunikationsbedingungen, um die Handlungsfähigkeitzu erhalten. Das ließe sich zeigen an der Ausdehnung sprachli-cher Vermittlung: von der hörbaren Reichweite einer Stimme aufdem Marktplatz über die technischen Nachrichtenträger, dieSchrift, den Druck, das Telefon, den Funk bis zum Bildschirm

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17Sozialgeschichte und Begriffsgeschichte

eines Fernsehapparates oder eines Datengerätes – samt ihren ver-kehrstechnischen Institutionen, vom Boten über Post und Pressebis zum Nachrichtensatelliten und samt den eingreifenden Fol-gen für jede sprachliche Kodifikation. Immer ging es darum, dieReichweite der gesprochenen Sprache entweder auf Dauer zustellen, um Ereignisse zu bannen oder sie auszudehnen und zubeschleunigen, um Ereignissen zuvorzukommen, sie auszulösenoder zu steuern. Der Hinweis möge genügen, um die Ver-schränktheit jeder ›Sozialgeschichte‹ und ›Sprachgeschichte‹ imjeweiligen Vollzug des Redens und Tuns aufzuzeigen.

Die gesprochene Rede oder gelesene Schrift und das jeweilssich vollziehende Geschehen können in actu nicht getrennt, nuranalytisch unterschieden werden. Wer von einer Ansprache über-wältigt wird, der erfährt das nicht nur sprachlich, sondern amganzen Leib; und wer durch eine Tat zum Verstummen gebrachtwird, wem es ›die Sprache verschlägt‹, der erfährt um so mehrseine Verwiesenheit auf Sprache, um sich wieder bewegen zukönnen. Dieses personale Wechselverhältnis von Rede, Tun undLeiden läßt sich auf alle Ebenen der zunehmend komplexer wer-denden gesellschaftlichen Handlungseinheiten übertragen. Vomindividuellen Verhalten bis zu seinen vielfachen gesellschaftli-chen Vernetzungen, kraft derer sich Ereignisse in ihren Zusam-menhängen einstellen, reicht die aufgewiesene Verschränkungder sogenannten Sprachhandlungen mit dem ›tatsächlichen‹ Ge-schehen. Dieser Befund, der trotz aller historischer Variationenfür jede geschehende Geschichte gilt, hat nun erhebliche Auswir-kungen auf die Darstellung vergangener Geschichten, speziellauf die Differenz von Sozial- und Begriffsgeschichte.

IV. Die dargestellte Geschichte und ihresprachlichen Quellen

Der bisher vorgeführte empirische Zusammenhang zwischenTun und Reden, Handeln und Sprechen wird gesprengt, sobaldder Blick von der geschehenden Geschichte in eventu zurückge-lenkt wird auf die vergangene Geschichte, mit der sich der pro-fessionelle Historiker beschäftigt – ex eventu. Die analytische

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18 Teil I: Zu Theorie und Methode der Begriffsgeschichte

Trennung zwischen einer außersprachlichen und einer sprachli-chen Handlungsebene gewinnt den Rang einer anthropologi-schen Vorgabe, ohne die überhaupt keine geschichtliche Erfah-rung in alltägliche oder wissenschaftliche Aussagen überführtwerden kann. Denn was – jenseits meiner Eigenerfahrung – ge-schehen ist, erfahre ich nur noch durch Rede oder Schrift. Auchwenn die Sprache im Vollzug des Handelns und Leidens – strek-kenweise – nur sekundärer Faktor gewesen sein mag, sobald einEreignis in die Vergangenheit geraten ist, rückt die Sprache zumprimären Faktor auf, ohne den keine Erinnerung und keine wis-senschaftliche Transposition dieser Erinnerung möglich ist. Deranthropologische Vorrang der Sprache für die Darstellung dergeschehenen Geschichte gewinnt damit einen erkenntnistheore-tischen Status. Denn sprachlich muß entschieden werden, was inder vergangenen Geschichte sprachlich bedingt war und wasnicht.

Anthropologisch konstituiert sich jede ›Geschichte‹ durch diemündliche und schriftliche Kommunikation der zusammenle-benden Generationen, die ihre je eigenen Erfahrungen einandervermitteln. Und erst wenn durch das Aussterben der alten Gene-rationen der mündlich vermittelte Erinnerungsraum zusammen-schmilzt, rückt die Schrift zum vorrangigen Träger geschichtli-cher Vermittlung auf. Zwar gibt es zahlreiche außersprachlicheReste, die von vergangenen Ereignissen und Zuständen zeugen:Trümmer von Katastrophen; Münzen von wirtschaftlicher Or-ganisation; Bauten, die auf Gemeinschaft, Herrschaft und Dien-ste, Straßen, die auf Handel oder Krieg verweisen; Kulturland-schaften, die generationenlange Arbeit, Denkmäler, die Sieg oderTod bekunden; Waffen, die vom Kampf, Geräte, die von Erfin-dung und Verwendung zeugen, insgesamt ›Relikte‹ bzw. ›Funde‹ –oder Bilder –, die alles zugleich bezeugen können. Alles wird vonhistorischen Sonderdisziplinen aufbereitet. Was freilich sich ›tat-sächlich‹ ereignet haben mag, das läßt sich über alle Hypothesenhinaus nur durch mündliche und schriftliche Überlieferungen,eben durch Sprachzeugnisse sicherstellen. An den sprachlichenQuellen erst gabelt sich der Weg, was in der Vergangenheit als›sprachlich‹ und was als ›tatsächlich‹ im Geschehen zu verbuchenist.

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19Sozialgeschichte und Begriffsgeschichte

Was wie in eventu zusammengehörte, läßt sich post eventumnur noch durch Sprachzeugnisse ermitteln, und je nach dem Um-gang mit dieser sprachlichen Überlieferung, mündlicher oderschriftlicher Tradition, rücken die verschiedensten Gattungenzusammen und andere auseinander.

Es zeichnet den Mythos und die Märchen, das Drama, dasEpos und den Roman aus, daß sie allesamt den ursprünglichenZusammenhang zwischen Rede und Tun, zwischen Leiden, Spre-chen und Schweigen voraussetzen und thematisieren. Erst dieseVergegenwärtigung einer geschehenden Geschichte selbst stiftetden Sinn, der erinnerungswert bleibt. Und genau dieses leistenalle Historien, die sich wahrer oder fingierter Reden bedienen,um den erinnerungswürdigen Geschehnissen gerecht zu werden,oder die jene zur Schrift geronnenen Worte abrufen, die die Ver-quickung von Reden und Tun bezeugen.

Es sind die unverwechselbaren Situationen, die ihre eigeneVeränderung hervortreiben und hinter denen so etwas wie›Schicksal‹ aufscheinen kann, die zu erforschen und zu tradiereneine Herausforderung für jede Selbst- und Weltdeutung bleibt. Indiese Gattung gehören, mehr oder minder gekonnt, alle Memoi-ren und Biographien, im Englischen die Wechselwirkung vonSprache und Leben betonend – die ›Life and Letters‹ –, ferner alleHistorien, die den Ereignissen in ihrer immanenten Dynamik fol-gen. »Er sagte dies und tat jenes, sie sagte das und tat solches,daraus folgte etwas Überraschendes, etwas Neues, das alles ver-änderte« – nach diesem formalisierten Schema sind zahlreicheWerke aufgebaut, vor allem solche, die wie die politischen Er-eignisgeschichten oder Diplomatiegeschichten dank der Quel-lenlage die Vorgänge in actu zu konstruieren erlauben. Von ihrersprachlichen Leistung her betrachtet rücken diese Historien ineine Reihe, die vom Mythos bis zum Roman reicht.5 Nur in ihremwissenschaftlichen Status leben sie von der – zu überprüfenden –Authentizität der sprachlichen Quellen, die für die ehedem vor-auszusetzende Verflechtung von Sprachhandlungen und Tateneinstehen müssen.

5 Dazu Hayden White, Tropics of Discourse, Baltimore, London 21982 (dt. Über-setzung: Stuttgart 1986).

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20 Teil I: Zu Theorie und Methode der Begriffsgeschichte

Was analytisch unterscheidbar ist, das Vorsprachliche unddas Sprachliche, das wird dank der sprachlichen Leistung ›erfah-rungsanalog‹ wieder zusammengeführt: Es ist die Fiktion desFaktischen. Denn was sich tatsächlich vollzogen hat, ist – imBlick zurück – real nur im Medium sprachlicher Darstellung. DieSprache gewinnt also, im Gegensatz zur handelnden Rede in dersich vollziehenden Geschichte, einen erkenntnistheoretischenVorrang, der sie nötigt, immer über das Verhältnis von Spracheund Tun zu befinden. Nun gibt es Gattungen, die sich, unter dieseAlternative gestellt, extrem einseitig artikulieren. Auf der einenSeite sind sie taub oder störrisch gegen die ehemaligen Sprach-leistungen, die zu einer Geschichte nun einmal gehören. Da gibtes Annalen, die nur die Ergebnisse registrieren, nur das, was ge-schehen ist, nicht wie es dazu kam. Da gibt es die Handbücherund die sogenannten erzählenden Geschichtswerke, die von denTaten handeln, vom Erfolg oder Mißerfolg, aber nicht von denWorten oder Reden, die dazu geführt haben. Sei es, daß großeMänner handeln, sei es, daß hochstilisierte Handlungssubjektegleichsam sprachlos tätig werden: Staaten oder Dynastien, Kir-chen oder Sekten, Klassen oder Parteien, Völker oder Nationenoder was sonst an Aktionseinheiten hypostasiert wird. Seltenaber wird gefragt nach den sprachlichen Identifikationsmustern,ohne die derartige Handlungseinheiten gar nicht agieren könn-ten. Selbst wo die gesprochene Rede oder ihre schriftlichenÄquivalente in die Darstellung einbezogen werden, geraten diesprachlichen Zeugnisse allzugern unter Ideologieverdacht oderwerden nur instrumental zu vermeintlich vorgegebenen Interes-sen und bösen Absichten gelesen.

Selbst die von sprachhistorischer Seite vorgenommenen Un-tersuchungen, die primär die Sprachzeugnisse selbst thematisie-ren – auf der anderen Seite unserer Skala –, geraten leicht in dieGefahrenzone, diese auf eine reale Geschichte zu beziehen, dieselbst erst sprachlich konstituiert werden muß. Aber die metho-dischen Schwierigkeiten, denen sich besonders die Soziolingui-stik ausgesetzt sieht, Sprechen und Sprache auf gesellschaftlicheBedingungen und Veränderungen zu beziehen, bleiben der allenHistorikern gemeinsamen Aporie verhaftet, ihren Gegenstands-bereich erst sprachlich entwerfen zu müssen, von dem sie zu spre-chen sich anschicken.