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Leseprobe Schmid, Hans Bernhard / Schweikard, David P. Kollektive Intentionalität Eine Debatte über die Grundlagen des Sozialen Herausgegeben von Hans Bernhard Schmid und David P. Schweikard © Suhrkamp Verlag suhrkamp taschenbuch wissenschaft 1898 978-3-518-29498-7 Suhrkamp Verlag

Suhrkamp Verlag · Kollektive Intentionalität Eine Debatte über die Grundlagen des Sozialen Herausgegeben von Hans Bernhard Schmid und David P. Schweikard Suhrkamp

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Leseprobe

Schmid, Hans Bernhard / Schweikard, David P.

Kollektive Intentionalität

Eine Debatte über die Grundlagen des Sozialen

Herausgegeben von Hans Bernhard Schmid und David P. Schweikard

© Suhrkamp Verlag

suhrkamp taschenbuch wissenschaft 1898

978-3-518-29498-7

Suhrkamp Verlag

suhrkamp taschenbuchwissenschaft 1898

Die überwältigende Anzahl sozialer Phänomene ist dadurch gekennzeich-net, dass Menschen Absichten und Überzeugungen miteinander teilen, mitvereinten Kräften handeln und gemeinsame Praktiken sowie soziale Insti-tutionen etablieren. Seit etwa zwei Jahrzehnten werden die begrifflichenGrundlagen und Besonderheiten dieser Phänomene unter dem Stichwort»Kollektive Intentionalität« zusammengefasst und zunehmend interdiszipli-när diskutiert. Dieser Band bietet das erste umfassende Kompendium zudieser Debatte über die Grundlagen des Sozialen und versammelt erstmalsin deutscher Übersetzung neben den klassischen philosophischen Textenauch neuere Beiträge aus angrenzenden Wissenschaften. Eine systematischeEinleitung der Herausgeber erschließt die Hauptlinien und Hintergründeder Diskussion.

Hans Bernhard Schmid ist Inhaber einer SNF-Förderungsprofessur am Phi-losophischen Seminar der Universität Basel.David P. Schweikard ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am PhilosophischenSeminar und am Institut für Ethik in den Lebenswissenschaften der Univer-sität zu Köln.

Kollektive IntentionalitätEine Debatte über

die Grundlagen des Sozialen

Herausgegeben vonHans Bernhard Schmid und

David P. Schweikard

Suhrkamp

Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation

in der Deutschen Nationalbibliografie;detaillierte bibliografische Daten sind im Internet

über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

suhrkamp taschenbuch wissenschaft 1898Erste Auflage 2009

© Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 2009Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung,

des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragungdurch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form(durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren)

ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziertoder unter Verwendung elektronischer Systemeverarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Umschlag nach Entwürfen vonWilly Fleckhaus und Rolf Staudt

Satz: TypoForum GmbH, SeelbachDruck: Druckhaus Nomos, Sinzheim

Printed in GermanyISBN 978-3-518-29498-7

1 2 3 4 5 6 – 14 13 12 11 10 09

Inhalt

Hans Bernhard Schmid und David P. SchweikardEinleitung: Kollektive Intentionalität.Begriff, Geschichte, Probleme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 1

I. Ansätze zur Analyse gemeinsamen Handelns

Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 691 Raimo Tuomela und Kaarlo MillerWir-Absichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 722 John R. SearleKollektive Absichten und Handlungen . . . . . . . . . . . . . . . . . 993 Philip R. Cohen und Hector J. LevesqueTeamwork . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 194 Margaret GilbertZusammen spazieren gehen:Ein paradigmatisches soziales Phänomen . . . . . . . . . . . . . . . . 1 545 Michael E. BratmanGeteiltes kooperatives Handeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1766 Seumas MillerGemeinsames Handeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194

II. Auseinandersetzungen

Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2277 Annette C. BaierDinge mit anderen tun: Die mentale Allmende . . . . . . . . . . . 2308 Frederick StoutlandWarum sind Handlungstheoretiker so antisozial? . . . . . . . . . . 2669 J. David VellemanWie man eine Absicht teilt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30110 Michael E. BratmanIch beabsichtige, dass wir G-en . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 3 311 Margaret GilbertWas bedeutet es, dass wir beabsichtigen? . . . . . . . . . . . . . . . . 3 56

12 Hans Bernhard SchmidKönnen Gehirne im Tank als Team denken? . . . . . . . . . . . . . 38713 Anthonie W. M. MeijersKann kollektive Intentionalität individualisiert werden? . . . . 41414 Christopher KutzZusammen handeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 315 James K. SwindlerSoziale Absichten:Aggregiert, kollektiv und im Allgemeinen . . . . . . . . . . . . . . . 479

III. Ausweitungen

Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50116 John R. SearleEinige Grundprinzipien der Sozialontologie . . . . . . . . . . . . . 50417 Raimo TuomelaKollektive Akzeptanz, soziale Institutionen undGruppenüberzeugungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 3418 Philip Pettit und David P. SchweikardGemeinsames Handeln und kollektive Akteure . . . . . . . . . . . 5 5619 Philip PettitGruppen mit einem eigenen Geist . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 586

IV. Anschlüsse

Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62920 Robert SugdenTeampräferenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 121 John B. DavisKollektive Intentionalität, komplexes ökonomischesVerhalten und Bewerten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67222 Michael Tomasello und Hannes RakoczyWas macht menschliche Erkenntnis einzigartig?Von individueller über geteilte zu kollektiver Intentionalität . . 69723 Kay MathiesenWir sitzen alle in einem Boot:Die Verantwortung kollektiver Akteure und ihrer Mitglieder . . 738

24 Deborah P. TollefsenHerausforderungen an den epistemischen Individualismus . . 76525 Barbara J. Grosz und Luke HunsbergerDie Dynamik von Absichten in gemeinsamen Handlungen . . 807

Drucknachweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 847Hinweise zu den Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . 850

Danksagung

Die Herausgeber danken den Beitragenden für ihre Unterstützungbeim Zustandekommen dieses Sammelbandes und den in den Nach-weisen genannten Verlagen für die Abdruckgenehmigungen.

Zu besonderem Dank sind wir den folgenden Personen und Insti-tutionen verpflichtet: Anita Konzelmann Ziv, Juliette Gloor, Chris-tian Blum, Simon Derpmann, Kristina Engelhard und AndrewWeeks für ihren übersetzerischen sowie redaktionellen Einsatz; Ro-man Dubach, Rebekka Gersbach und Samuel Häfner für ihre admi-nistrative Tätigkeit. Michael Quante hat das Projekt ursprünglichangeregt und wohlwollend begleitet. Dem Suhrkamp Verlag undbesonders Eva Gilmer danken wir für die verlegerische Betreuung.Dem Schweizerischen Nationalfonds sowie den Universitäten Kölnund Basel gebührt Dank für großzügige institutionelle Unterstüt-zung.

Hans Bernhard Schmid und David P. SchweikardEinleitung: Kollektive Intentionalität

Begriff, Geschichte, Probleme

Zwei Fußgänger biegen dicht hintereinander um die Ecke, gehenungefähr im Gleichschritt die Straße hinunter und verschwindenbeide hinter der nächsten Biegung. Wandeln sie bloß zufällig aufdemselben Pfad – oder sind die beiden etwa gemeinsam unterwegs?Für Taschendiebe und eifersüchtige Partner kann von dieser Frageviel abhängen; für die vortheoretische Intuition scheint klar zu sein,dass zwischen den beiden Fällen tatsächlich ein Unterschied besteht.Die Philosophie hat ein Interesse daran, ihn dingfest zu machen, dasheißt, auf den Begriff zu bringen. Was ist es denn eigentlich, das hierden Unterschied macht – was unterscheidet paralleles individuellesHandeln von gemeinsamem Handeln?

Die analytische Handlungstheorie hat dieser Frage lange Zeit we-nig Beachtung geschenkt. Sieht man vom speziellen Fall der Analy-sen des Sprechhandelns einmal ab (dessen kooperativer Charakterunübersehbar ist), wurde Handeln in erster Linie als etwas verstan-den, das durch das Tätigsein eines einzelnen Individuums instanti-iert wird.1

1 Eine Übersicht über die früheren Erträge der analytischen Handlungstheorie bietenMeggle und Beckermann (1985).

Das zeigt sich schon in der üblichen Wahl der Beispiele:Von Basishandlungen wie dem Heben eines Arms über das Betäti-gen eines Abzugs bis zu komplexeren Handlungen wie dem Nieder-schreiben von Notizen ruht der handlungstheoretische Blick in deranalytischen Literatur fast durchweg auf einzelnen Akteuren, die jefür sich handeln. Aus der Rückschau ist deutlich, dass dies den Blickauf die volle Breite des Phänomens menschlichen Handelns verengthat. Viele Dinge können wir nicht bloß allein, sondern wahlweiseauch gemeinsam tun: spazieren gehen, Essen zubereiten, ein Liedsingen usw. Und es gibt sehr viele Dinge, die von vornherein ein ge-meinsames Engagement verlangen, also gar keine möglichen Ob-jekte einsamen Tuns vereinzelter Akteure sind: Dinge wie Tangotanzen, Fußball spielen, kommunizieren. Aber die Bedeutung ge-meinsamen Tuns geht über diese Fälle noch hinaus: Vieles von dem,was wir als einzelne Individuen tun, können wir nur im Rahmen

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und auf der Grundlage von gemeinsamem Handeln tun. Gemein-same Aktivitäten sind, mit anderen Worten, konstitutiv für zahlloseFormen individuellen Tuns; solche Dinge wie einen Elfmeter schie-ßen, einen Stimmzettel in die Urne werfen oder sich ein Argumentzurechtlegen vollzieht zwar in der Regel je nur ein einzelnes Indivi-duum, aber das betreffende Individuum kann derlei nur insoweittun, als es gemeinsam mit anderen tätig ist: eine Partie Fußballspielt, eine Regierung wählt, eine Diskussion führt usw.

Die meisten Handlungen – manche Philosophinnen und Philo-sophen sagen: alle – stehen auf die eine oder andere der genanntenWeisen im Kontext gemeinsamen Tuns. Aber unabhängig von derFrage, wie weit dieses sich erstrecken mag und ob es neben all diesenFormen der Verstrickung ins Gemeinschafshandeln so etwas wierein individuelles Handeln überhaupt geben kann: es scheint klar,dass wir die Wesen, die wir faktisch sind, wesentlich auch durchunsere Fähigkeit sind, Dinge gemeinsam anzupacken und uns inGemeinschaftshandlungen zu engagieren, und dass diese Fähigkeitzum Kern dessen gehört, was uns als soziale Wesen kennzeichnet. Indiesem Sinn rührt die genannte philosophische Frage – die Frage,was gemeinsames Handeln ausmacht – tatsächlich an die Grundla-gen des Sozialen und damit an einen zentralen Punkt unserer philo-sophischen Selbstverständigung.

1. Stichwort »Kollektive Intentionalität«

Der vorliegende Band enthält die wichtigsten Beiträge der analy-tisch-philosophischen Forschung zur Frage nach der Struktur ge-meinsamen Handelns und der damit zusammenhängenden Phäno-mene. Diese Texte liegen erstmals als Anthologie vor und sind alleerstmalig in die deutsche Sprache übersetzt worden (zu einigen Pro-blemen der Übersetzung vgl. unten Abschnitt 4). Durch die Zahlder Beiträge und die Schärfe der Analyse legt dieser Band ein bered-tes Zeugnis davon ab, wie intensiv die Forschungstätigkeit ist, diesich auf diesem Feld entwickelt hat. Wenn man sich die hier versam-melten Erträge im Überblick anschaut, mag indes zweierlei erstau-nen. Angesichts der offensichtlich grundlegenden Bedeutung des Be-griffs gemeinsamen Handelns mag erstens überraschen, dass diesesPhänomen überhaupt erst in den vergangenen Dekaden zum Ge-

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genstand systematischer analytisch-philosophischer Forschung wur-de; seit Raimo Tuomelas und Kaarlo Millers bahnbrechendem Auf-satz »Wir-Absichten«2

2 Tuomela/Miller (1988), in diesem Band Beitrag 1. Vgl. dazu allerdings auch schonTuomela (1984).

sind im Ersterscheinungsjahr des vorliegen-den Bandes gerade einmal zwanzig Jahre vergangen. Und angesichtsder intuitiven Klarheit und Deutlichkeit des Unterschieds von indi-viduellem und gemeinsamem Handeln mag zweitens irritieren, wiestark die Analyseansätze voneinander divergieren – die Analyse-instrumente unterscheiden sich ebenso wie die Erkenntnisinteressen,von den Befunden ganz zu schweigen. Beide Punkte – die (schein-bare) Geschichtslosigkeit wie die Divergenzen – bedürfen der Erläu-terung, und wir werden diese in den folgenden Abschnitten dieserEinleitung zu geben versuchen. Unser Vorgehen ist wie folgt: Ab-schnitt 2. wirft ein paar Schlaglichter in die (Vor-)Geschichte derAnalyse gemeinsamen Handelns und geteilter Intentionalität; Ab-schnitt 3. bietet eine systematische Einführung ins Thema und ei-nen Raster, in dem sich die verschiedenen Analyseansätze verortenund dadurch in ihren Differenzen transparent machen lassen.

Bevor wir dazu kommen, ist es aber wichtig, das Verbindende die-ser Ansätze so deutlich wie möglich herauszustellen. Dieses Verbin-dende liegt nicht bloß in der direkten wechselseitigen – manchmalaffirmativen, oft kritischen – Bezugnahme unter den Teilnehmen-den an dieser Diskussion, wie sie sich durch diesen Band zieht. DasVerbindende liegt vielmehr durchaus auch im Begriff, das heißt inder Art und Weise, wie das Phänomen gemeinsamen Handelns inden Blick genommen wird. Und dieser gemeinsame Begriff – so ru-dimentär er auch sein mag – muss als Erstes herausgearbeitet wer-den.

Die hier versammelten Autoren teilen die Auffassung, dass derUnterschied zwischen individuellem und gemeinsamem Handeln inder Struktur der leitenden Absicht der Beteiligten zu verorten ist. Obdie eingangs erwähnten beiden Passanten auf der Straße individuelloder gemeinsam unterwegs sind, entscheidet sich dieser Sicht zu-folge weder rein an ihrem Verhalten, das heißt ihren Körperbewe-gungen, noch am Kontext ihres Tuns, das heißt etwa den formellenund informellen Normen des öffentlichen Raums. Es ist vielmehreine Frage dessen, worauf die Beteiligten selbst mit ihrem Verhaltenhinauswollen, was also der Sinn ist, den sie selbst mit ihrem Tun ver-

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binden. Die Struktur der Absicht der Beteiligten muss analysieren,wer das Phänomen verstehen will. Die Antwort auf die gestellteFrage lautet mithin: Wenn Individuen je für sich spazieren, beab-sichtigen sie, je für sich zu spazieren. Wenn Individuen hingegen ge-meinsam spazieren, beabsichtigen sie, gemeinsam zu spazieren. Soweit der Konsens. Die Frage, wo denn in diesen beiden letzten Sät-zen das Komma zu setzen wäre, gehört indes schon zum Bereich desStrittigen; manche – etwa Margaret Gilbert – würden sagen: WennIndividuen gemeinsam spazieren, beabsichtigen sie gemeinsam, zuspazieren. Andere – wie Michael Bratman – würden eher sagen:Wenn Individuen gemeinsam spazieren, beabsichtigen sie, gemein-sam zu spazieren. Strittig ist mithin schon, wo das »Gemeinsame«der Absicht hingehört: zur Absicht selbst oder zu ihrem Gehalt? DieDifferenzen reichen tief (eine erste Übersicht bietet Abschnitt 3).Aber halten wir hier zunächst den Konsens fest: Gemeinsames Han-deln ist dadurch gekennzeichnet, dass es auf besondere Art undWeise beabsichtigt ist. »Kollektive Intentionalität« ist das label, dasJohn R. Searle (1990, in diesem Band Beitrag 2) für diesen Typ vonAntwort auf die gestellte Frage geprägt hat. Auch wenn nicht alleBeitragenden dieses label selbst verwenden, hat es sich doch durch-gesetzt zur Bezeichnung dessen, was die Analysen der hier versam-melten Autoren verbindet.

Wenn der Ansatz bei »kollektiver Intentionalität« das verbinden-de Motiv der hier versammelten Autoren ist – was ist dann Intentio-nalität, und inwiefern kann sie kollektiv sein? »Intentionalität« istein philosophisches Kunstwort. Das ist im Deutschen deutlicher alsin der englischen Originalsprache dieser Texte, wo das Wort inten-tionality als Substantivierung des umgangssprachlichen to intend(beabsichtigen) daherkommt. Englischsprachige Philosophen müs-sen daher oft eigens auf den technischen Charakter des Begriffs»intentionality« aufmerksam machen, um Missverständnisse abzu-wehren. Im Deutschen können wir uns dies ersparen – zumindestwenn wir nicht den Fehler begehen, von »intendieren« zu reden, woschlicht »beabsichtigen« gemeint ist. Denn Intentionalität ist nichtbloß Absichtlichkeit. Absichten sind zwar durchaus intentional,aber sie sind bloß eine besondere Form der Intentionalität unteranderen: Wünsche, Überzeugungen, Gefühle sind es auch – undzwar je auf ihre eigene Art und Weise. Wir können diese Phänomene– Absichten, Wünsche, Überzeugungen – unter den Begriff der geis-

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tigen Zustände subsumieren.3

3 Man kann das für eine Verengung halten: Unbestritten ist, dass auch NichtgeistigesIntentionalität haben kann (Symbole). Aber die Mehrheitsmeinung der Philoso-phen, der sich die Autoren anschließen, lautet, dass es sich dabei um abgeleiteteIntentionalität handelt. Nichtgeistiges hat Intentionalität nur kraft des Geistigen,während das Umgekehrte nicht gilt.

»Intentionalität« ist das, was dieseund andere geistige Zustände gemeinsam haben; sie ist als jene be-sondere Eigenschaft all dieser Zustände definiert, welche darinbesteht, dass sich diese Zustände auf Objekte oder Sachverhalte be-ziehen. Ein Beispiel: Der Zustand des Zweifelns ist derjenige desZweifelns an etwas, die Freude ist Freude über oder an etwas, undauch die Absicht hat ihr »Etwas«, worauf sie gerichtet ist – auch wenndieses »Etwas« hier, im Unterschied zu den vorherigen Beispielen,erst hergestellt werden muss, also noch nicht in der Welt vorfindlichist (vgl. zur Typologie intentionaler Zustände unten Abschnitt 3.).Dieses »Gerichtetsein«, das intentionale Zustände kennzeichnet, wirdoft auch mit dem Begriff der Repräsentation umschrieben. Intentio-nale Zustände repräsentieren Fakten bzw. Sachverhalte. Überzeu-gungen repräsentieren die Welt so, wie sie ist – wenn sie denn wahrsind –, Absichten hingegen so, wie sie sein soll bzw. sein wird – wennunser Eingreifen denn erfolgreich ist –, und Gefühle – auch diesegehören zu den intentionalen Zuständen – bewegen sich irgendwodazwischen. Intentionalität ist gewissermaßen die Welt im Geist,und sie definiert – zusammen mit dem Aspekt des Bewusstseins –den Begriff des Geistes, wie er in der gegenwärtigen philosophy ofmind geläufig ist. Deshalb gehört Intentionalität zu den zentralenElementen des fachphilosophischen Vokabulars.

Es gibt in der Philosophie verschiedene Probleme und Diskus-sionen rund um den Begriff der Intentionalität – etwa die Frage,welchen Beitrag unsere Sprachfähigkeit zur Intentionalität unseresGeistes leistet, oder die Frage nach dem Verhältnis der Intentiona-lität zu geistigen Zuständen und zu Gehirnzuständen. Die in die-sem Band abgebildete Debatte fügt der philosophischen Diskussionum Intentionalität eine eigene, besondere Facette hinzu. Gleichzei-tig ist es instruktiv, die Debatte um die kollektive Intentionalität mitden anderen beiden philosophischen Hauptdiskussionen zu verglei-chen. Alle drei kreisen um ein besonderes Verhältnis; bei der erstenDebatte geht es um Geist-Sprache, bei der zweiten um Geist-Ge-hirn – jetzt, bei der kollektiven Intentionalität, geht es um Geist-

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Gesellschaft. Und ähnlich wie die Geist-Sprache-Diskussion zwi-schen den Extremen der Sprachbasiertheit von Intentionalität undder Intentionalitätsbasiertheit von Sprache schwankt und die Geist-Gehirn-Debatte sich zwischen einer materialistischen Eliminationdes Geistigen und einer dualistischen Abschnürung des Geistes vomKörper bewegt, ist auch das Verhältnis von Geist und Gesellschaftspannungsreich: Die Extreme des Spektrums werden einerseits voneiner vollständigen Reduktion des Sozialen auf die geistigen Zu-stände und Handlungen von vereinzelten Individuen sowie ande-rerseits von einer kompletten »Vergesellschaftung« des Geistes mar-kiert.

Eine zentrale Herausforderung an die Theorie kollektiver Inten-tionalität geht vom folgenden Sachverhalt aus: Wenn wir uns klar-machen, dass intentionale Zustände geistige Zustände sind und viel-leicht unsere Geistigkeit sogar definieren, muss sich ein Unbehagenmelden angesichts der gemeinsamen Grundthese unserer Autoren.Die These, dass es so etwas wie kollektive Intentionalität gibt, be-kommt einen mysteriösen, ja bedrohlichen Unterton. Sie kommteiner gut verankerten und tiefsitzenden, wenn philosophiehistorischauch keineswegs allgemein verbreiteten Grundüberzeugung ins Ge-hege, nämlich derjenigen, dass Geist individuell ist – und das heißtnicht nur etymologisch: unteilbar. Was Individuen wirklich denken,worauf sie im Grunde hinauswollen und erst recht was sie fühlen,gehört doch zum Innersten der Person; die Individuen selbst sind indiesen Fragen epistemische Autoritäten (auch wenn sie sich überihre eigenen intentionalen Zustände täuschen mögen). Wie soll et-was derart Innerliches geteilt werden können? Wie steht diese Über-zeugung von der Individualität des Geistigen zum Begriff der kollek-tiven Intentionalität?

»Kollektive Intentionalität« – das mag zunächst so klingen, alswäre unsere individuelle Autonomie als geistige Wesen in Gefahr,als stünden damit die Einzelmenschen mit ihrem eigenen Willen,ihrer Initiative und ihrem Handlungsspielraum kurz vor der Ein-schmelzung ins Kollektiv oder als wäre damit ihre begriffliche De-gradierung zu Instrumenten eines Gruppengeistes vorgesehen. Daserscheint nicht besonders attraktiv, zumal solche Vorstellungen ge-meinhin mit politischen Totalitarismen rechter oder linker Prove-nienz assoziiert werden. Und es scheint auch sachlich inadäquat.Schließlich sind es doch die eigenen Absichten der Individuen, die

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ihr Verhalten bestimmen, und nichts Kollektives. Aber es wäre einIrrtum zu glauben, dass irgendeiner der Beteiligten der gegenwärti-gen Debatte diesbezüglich zu sorglosen Konzessionen bereit wäre.Bei manchen Ansätzen geht zwar tatsächlich mit geteilten Absichteneine starke normative Bindungskraft einher, der sich die beteiligtenIndividuen nicht leicht entziehen können; und andernorts wirdGruppen ein »eigener Geist« zugeschrieben. Aber hier wie dort blei-ben die beteiligten Individuen ganz selbstverständlich Akteure, inderen Verhalten sich stets auch ihre eigene Handlungsfähigkeitmanifestiert. Was immer dieses fragliche gemeinsame Beabsichtigenletztlich sein mag, und wieweit es sich auch zu einem einzigen, eige-nen Zentrum kollektiver Handlungsfähigkeit verfestigt: Alle an derDebatte beteiligten Autoren verstehen es stets als gemeinsames Be-absichtigen von Individuen, die weiterhin über jede Initiative, dievolle Handlungsfähigkeit und die faktische Kontrolle ihres Verhal-tens verfügen.

Durch diesen Grundzug reiht sich diese Debatte um die Grund-lage des Sozialen ein in die lange, mindestens bis zu Thomas Hobbes(1588-1679) zurückreichende Geschichte der Versuche, Sozialität imAusgang vom Individuum zu denken. Und sie kann als eigenständi-ger und origineller Beitrag zu diesem zentralen sozialphilosophi-schen Diskussionsstrang gesehen werden. Dazu an dieser Stelle nurein kurzer Hinweis.

Seit Hobbes leidet die Individualitätssemantik in verschiedenen,immer neuen Versionen am selben Problem. Der Begriff »Indivi-duum« selbst trägt schon eine antisoziale Spitze. Er dient dazu, un-abhängig von Stand und sozialem Ort auf die Einzelnen referierenzu können. Werden sie erst einmal als Individuen verstanden, ist dasVerhalten der Menschen aus ihrem eigenen Willen und eigenen Sinnzu deuten; nicht mehr zu sehen ist dann aber, wie sie sich zu den ver-lässlichen und dauerhaften sozialen Formationen sollen verbindenkönnen, die es faktisch gibt und auf deren Existenz wir uns im Alltagganz selbstverständlich verlassen. Hobbes meint bekanntlich, dassein aus individuellem Eigeninteresse eingegangener Vertrag diesesfiktive Problem löst. Aber diese Konzeption beruht auf fragwürdi-gen anthropologischen Annahmen – von ihren anderen Problemenwie dem Regressproblem bezüglich der staatlichen Organe ganz zuschweigen. Von Rousseau über Kant bis Rawls hat die Individua-litätssemantik auf dieses und andere Konstruktionsprobleme von

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Hobbes’ Gesellschaftsbegründung reagiert, indem sie den indivi-duellen Eigensinn mit Gemeinsinn konterkarierte. Dabei zeigt sichein weiterer Zug der Individualitätssemantik. »Individuum« be-zeichnet nicht nur den Einzelnen – sondern gleichzeitig auch alle;jeder Mensch ist Individuum. Dies ist gleichsam der »klassische«,posthobbesianische Ansatz des Individualitätsdenkens. Aber aucher ist nicht unproblematisch. Ihm inhäriert, wie schon aus demGrundansatz zu ersehen ist, eine ziemlich prekäre Aufspreizung inEinzelheit und Allgemeinheit; Individuen sollen zugleich intentionaleigenständig sein, also ganz ihrem individuellen Eigensinn folgen,als auch Gemeinsinn zeigen, also das Allgemeinwohl realisieren.Was beides begrifflich verklammert – das in allen Einzelnen Allge-meine –, ist die aufklärerische Vernunft. Das ist indes eine ziemlichbrüchige Konstruktion, wie die Sozialtheorie immer wieder betonthat (vgl. etwa Luhmann 1993, S. 195 ff.). Moderne Alternativen ha-ben demgegenüber eine Zeit lang dazu tendiert, die Einzelnen vonjeglicher Allgemeinheitszumutung begrifflich wieder zu entlastenund das Gemeinwohl schlicht und einfach der unsichtbaren Handzu überlassen. Dass dies indes so nicht geht, hat die Debatte rundums Gefangenendilemma in den letzten fünfzig Jahren mit allerwünschbaren Deutlichkeit gezeigt. Das Grundproblem der Indivi-dualitätssemantik bleibt damit bis in die Gegenwart hinein bestehenund bestimmt weiterhin die sozialphilosophische und sozialtheore-tische Agenda: zu zeigen, wie Menschen als Individuen begriffen wer-den können – wie also ihr Verhalten ganz aus ihrer Selbstbestimmunggedeutet werden kann – und sich trotzdem auf die verlässlichen, dau-erhaften sozialen Formationen einlassen können, die wir in der sozia-len Wirklichkeit aller realen »Individualisierung« zum Trotz immernoch vorfinden. Es bleibt also eine in vielen Hinsichten offene Frage:Wie ist Sozialität im Ausgang vom Individuum zu denken?

Die hier versammelten Autoren verstehen Menschen dezidiert alsIndividuen. Die Individuen, denen wir in den Aufsätzen dieses Ban-des begegnen, werden aber weder in völliger Vereinzelung noch alsbloße Exemplare eines allgemeinen Falls bzw. Anwender generellerHandlungsmuster in den Blick genommen. Sie sind weder autisti-sche Präferenzenoptimierer noch universalistische Maximenbefolgeroder allgemeine Schemenanwender. Wir begegnen den Individuenhier vielmehr beim Teilen von Absichten und beim Bemühen, ihr Tunsituativ so aufeinander abzustimmen und ineinandergreifen zu las-

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sen, dass ihnen zusammen gelingt, was sie gemeinsam vorhaben. Dasist ein grundlegendes Phänomen, dessen Bedeutung für das Projektphilosophischer Selbstverständigung kaum überschätzt werden kann.Die Analyse dessen, was es bedeutet, etwas gemeinsam vorzuhabenund zu realisieren, gehört zu den entscheidenden Schritten auf demWeg zu einem Verständnis dessen, was wir sind. »Wir« – das sind nichtbloß vereinzelte Wesen oder Exemplare eines Allgemeinen. »Wir«, dassind auch immer wieder andere, die gemeinsam überlegen, empfin-den und handeln.

Diese Einsicht verleiht dem Projekt, welches die in diesem Bandversammelten Autoren bei allen Differenzen und Kontroversen ge-meinsam verfolgen, philosophisches Gewicht, ja sogar eine gewisseexistentielle Dringlichkeit – auch wenn dies dem Geist analytischerNüchternheit, thematischer Beschränkung und intellektueller As-kese, welcher die Beiträge dieses Bandes durchweg kennzeichnet,gründlich zuwiderläuft.

Die Analyse kollektiver Intentionalität zeichnet sich als Themaphilosophischer Forschung in verschiedenen Hinsichten aus. Zunennen sind deren mindestens drei. Wenn man die Frage nach derStruktur und Bedeutung kollektiver Intentionalität als Frage nachdem Unterschied zwischen individuellem und gemeinsamem Han-deln stellt, wird die erste Hinsicht besonders deutlich: Die Frageist simpel, intuitiv klar und relevant – wenn man sich aber ihrer Be-antwortung zuwendet, stellen sich sehr schnell weitreichende undschwierige Probleme, wie die Beiträge in diesem Band eindrücklichbelegen. Diese Struktur – Deutlichkeit und Relevanz der begriffli-chen Klärungsaufgabe, Schwierigkeit ihrer Bewältigung – ist typischfür wichtige philosophische Forschungsthemen.

Eine zweite Hinsicht, in der sich das Thema kollektive Intentio-nalität auszeichnet, ist seine direkte Vernetzung mit verschiedeneninnerphilosophischen Teildisziplinen wie etwa der Handlungstheo-rie (Gemeinschaftshandeln), der Wissenschaftstheorie (soziale Er-kenntnistheorie), der Ethik (gemeinsame Verantwortung und Ver-antwortung von Kollektiven) oder der Ästhetik (Produktion undRezeption von Kunst als gemeinsames Tun und Erleben) – um nureinige der zugewandten innerphilosophischen Teildisziplinen zu nen-nen. Der Forschungsfokus »kollektive Intentionalität« ermöglicht es,die verschiedensten teildisziplinären Forschungsbemühungen ge-winnbringend aufeinander zu beziehen.

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In einer dritten Hinsicht schließlich zeichnet sich das For-schungsthema »kollektive Intentionalität« durch seine interdiszipli-näre Relevanz aus. Hier sind unter anderem die Ökonomik, die Lin-guistik, die Kognitionswissenschaften, die Entwicklungs- und So-zialpsychologie zu nennen. Wird unsere Auswahl schon der Vielfaltder innerphilosophischen Teildisziplinen, die an der Analyse kollek-tiver Intentionalität interessiert und beteiligt sind, nicht vollständiggerecht, so gilt dies in ganz besonderem Maß auch für die Breiteinterdisziplinärer Wirkung und Kooperation.

Wir haben die Beiträge dieses Bandes in vier Untergruppen unter-teilt: I. Ansätze, II. Auseinandersetzungen, III. Ausweitungen und IV.Anschlüsse. Die Anordnung der Beiträge folgt dabei der Chronolo-gie der Debatte. Das Element von Willkürlichkeit in der Auswahlnimmt dabei von Gruppe zu Gruppe zu. Es dürfte kaum strittig sein,welches die herausragenden Pioniere in der Debatte sind – auchwenn man im Detail uneins darüber sein mag, welches ihre wichtigs-ten Aufsätze sind. Anders ist die Lage in den weiteren Teilen. DieDebatte hat sich im Verlaufe der 1990er Jahre und insbesondere nachder Jahrtausendwende beträchtlich ausgeweitet und verzweigt. Da-mit wird auch die Auswahl der Beiträge in diesen Teilen unserer Aus-wahl willkürlicher. Es erübrigt sich wohl, zu betonen, dass wir unsnach Möglichkeit darum bemüht haben, im beschränkten Rahmeneines Sammelbandes sowohl der Tiefe der Auseinandersetzungen wieauch der Breite der Ausweitungen und Anwendungen gerecht zuwerden; wichtig ist deshalb, bei aller Beschränktheit dieser Auswahlwenigstens andeutungsweise einen Eindruck vom Gesamtumfangder laufenden Forschungsbemühungen auf diesem Feld zu vermit-teln. Angesichts des Themas ist es nicht erstaunlich, dass die an derAnalyse kollektiver Intentionalität Interessierten die Bedeutung di-rekten Austauschs untereinander erkannt haben. Seit dem Ende der1990er Jahre finden regelmäßig Konferenzen zum Thema statt –Raimo Tuomela kommt dabei als Initiator und spiritus rector beson-deres Verdienst zu. Aus diesen Konferenzen ist eine Anzahl von Sam-melpublikationen erwachsen, die von Breite und Tiefe der philoso-phischen Forschung auf diesem Feld besonders eindrücklich Zeugnisablegen und die daher zur weiteren Beschäftigung mit diesem For-schungsthema empfohlen seien.4

4 Vgl. Meggle (2001); Meijers/Hindriks (2003); Tummolini/Castelfranchi (2006);May/Tuomela (2007); Schmid/Schulte-Ostermann/Psarros (2008).

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