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Stufenweise Meditation

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Stufenweise Meditationsfolge über Leerheit. Eine kurze Einführung in die Entwicklung buddhistischer Theorien und ihre Anwendung in der Meditation.

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Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme

Tshul-khrims- rgya-mtsho <Rin-po-che>Stufenweise Meditationsfolge über Leerheit I Khenpo Tsültrim Gyamtso Rinpoche. Aus

dem Tibet. ins Eng!. übers. und zsgest. von Shenpen Hookham. Aus dem Tibet und Eng!.ins Dt. übers. von Christiane Friedewald. [Hrsg.: Karma-Kagyu-Stiftungl. - I. Aufl.-

Mechemich: Kagyü-Dharma-Ver!., 1994ISBN 3-89233-016-6

Titel der englischen Ausgabe:

Progressive Stages of Meditation on Emptiness@ Khenpo Tsultrim Gyamtso und Shenpen HookhamAus dem Tibetischen übersetzt und zusammengestellt

von Shenpen Hookham

I. Auflage 1994Kagyü-Dharma-Verlag PeterWägerieSchloß Wachendorf, 0-53894 Mechemich

Herausgeber:°. Karma Kagyu Stiftung, Fleckenbomstr. 25

0-65232 Taunusstein

Zeichnungen von Carlo LuyckxNachdruck ohne seine Erlaubnis untersagt

Aus dem Tibetischen und Englischen übersetztund zum Teil neu zusammengestellt von Christiane FriedewaldEndredaktion: Horst Rauprich, Karl Brunnhölzl und

Mitglieder des KCL Bremen - "Karma Samten Ling"

Herstellung: Druckerei Klinkharnmer, EuskirchenISBN 3-89233-016-6

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Inhalt

Vorwort

EinführungDrei Stufen in der Entwicklung von ErkenntnisDrei Gebiete der UntersuchungDrei Wege des Beseitigens von ZweifelDrei Texte als GrundlageDie Wichtigkeit der relativen WahrheitAbsolute Wahrheit

Stufenweise Meditationsfolge über Leerheit

Erstes Stadium: ShravakaShravaka-Meditation über die Abwesenheit eines SelbstTraumbeispielUntersuchungsmethodenFünf Aggregate:l. Aggregat der Form2. Aggregat der Empfindung3. Aggregat des unterscheidenden Erkennens4. Aggregat der Geistesfaktoren5. Aggregate der PrimärbewußtseinsartenEndanalyseErgebnis der Shravaka-ÜbungMeditationsverlauf

Zweites Stadium: ChittamatraMethode des ChiUamatraTraumbeispielSubjektive Natur der ZeitFehlende ÜbereinstimmungLehrmeinung des ChiUamatraErgebnis des ChiUamatraUntersuchungsmethodenMeditationsverlauf

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Drittes Stadium: Svatantrika-MadhyamakaMethode des Svatantrika-MadhyamakaTraumbeispielUntersuchungsmethodenMeditationsverlauf

Viertes Stadium: Prasangika-Madhyamaka

Methode des Prasangika-Madhyamaka

TraumbeispielUntersuchungsmethodenGrundlage, Weg und ErgebnisMeditationsverlauf

Fünftes Stadium: Madhyamaka ShentongMethode des Madhyamaka Shentong

Absicht hinter der Unterweisung des Tathagata-Garbha

Grundlage, Weg und ErgebnisLehre des RatnagotravibhagaLehre des Mahayana-SutralamkaraLehre des Madhyanta- Vibhaga:I. Drei Seinsweisen

11. Drei Arten der Leerheit

III. Drei Arten der WesenlosigkeitBegriffsloser WeisheitsgeistTraumbeispielUntersuchungsmethodenMeditationsverlauf

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Abschließender Teil 143Schlußwort 144

Fußnoten 154 .BuddhistischeSchulen iII

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Vorwort

Zur englischen Ausgabe:

Der Ehrwürdige Abt Khenpo Tsültrim Gyamtso folgte im Jahre 1977der Bitte S.H. des 16. Karmapa, in Europa zu lehren. Innerhalb derKarma-Kagyü-Schule zählt er zu den Gelehrten mit dem profundestenWissen und zu den außergewöhnlich verwirklichten Yogis. Er ist be-sonders angesehen für die Weite seiner Sicht und die Klarheit seinerDharma-Auslegungen.

Im Jahr 1978unterrichtete er in Europa die stufenweise Meditationsfol-

ge über Leerheit, und im Laufe der darauffolgenden Jahre lehrte erdieses Thema wiederholte Male bei mehreren Gelegenheiten in ver-schiedenen Ländern, unter anderem 1985in Amerika. Er hatte mich imJahr 1979gebeten, seine Belehrungen, die er injenem Jahr den Schülerndes Kagyüpa-Institutes für Mahayana-Studien (tib.: Kagyü TekchenShedra) in Brüssel gegeben hatte, in ein Buch zu fassen. Da die Um-stände mich zwangen, das Buch sehr schnell herzustellen, wurde es invielerlei Hinsicht unzulänglich. Dennoch wurde es gut aufgenommenund unmittelbar in Französisch und Griechisch übersetzt. Der französi-sche Übersetzer Jerome Edou hatte durch Rücksprachen mit Khenpo

Tsültrim Gyamtso Rinpoche die Möglichkeit, mehrere Punkte im Buchzu erweitern. Diese sind in der zweiten Ausgabe der englischen Versionenthalten. Nach mehreren Jahren, die seit der ersten Ausgabe verstri-chen sind, hat mir Khenpo Tsültrim Gyamtso Rinpoche zahlreicheFragen beantwortet und mich gebeten, die Erklärungen in diese Ausga-be aufzunehmen. Ebenfalls sind mit seiner Erlaubnis einige Punkteenthalten, die in den Diskussionen zwischen mir, meinem Mann Micha-el Hookham und Khenpo Tsültrim Gyamtso Rinpoche in Brüssel undOxford 1984 und 1985entstanden sind.

Der vorliegende Text stellt aus diesen Gründen eine überarbeitete underweiterte Fassung des ursprünglich transliterierten Seminars dar. Derganze Text wurde umgeschrieben und anders gegliedert, um an geeig-

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neten TextsteIlen das neue Material aufnehmen zu können, ohne dabeiden Lesetluß zu stören. Ich hoffe, daß es mir in dieser Weise geglücktist, in einer lesbarenForm alle Punkte derBelehrungen KhenpoTsültrimGyamtso Rinpoches klar und fehlerfrei wiederzugeben.Zusätzlich wurden auch Diskussionen über übliche westlicheAnsichten

eingearbeitet. Ich stellte fest, daß einige intelligente und auffassungsfä-hige Korrekturleser Schwierigkeiten hatten, eine Beziehung zum The-ma herzustellen, weil sie sich - vom westlichen Denken geprägt - einefalsche Auffassung von Khenpo Tsültrim Gyamtso Rinpoches Aussa-gen bildeten. Da ich erlebt habe, daß derartige Fragestellungen oft an

ihn gerichtet werden, habe ich versucht, Mißverständnisse zu umgehen,

indem ich diese Fragen formuliert habe und aufzeige, in welchem Bezugsie zum Thema stehen. Im allgemeinen stellen die TextsteIlen, in denen

auf die Perspektive westlicher Leute hingewiesen wird, meine eigenenHinzufügungen dar.

Weiter sei erwähnt, daß in dieser Präsentation Khenpo Tsültrim Gyamt-so Rinpoches viel vom Inhalt des Textes "Enzyklopädie des Wissens"

(tib.: Shes bya kun khyab) stammt. Dessen Verfasser, Jamgön Kongtrul,war ein bedeutender Lehrer der Kagyü-Schule im späten 19. Jahrhun-dert. Er ist berühmt für seine Bemühungen, Tendenzen zur sektiereri-schen Isolierung in den tibetisch-buddhistischen Schulen durch

Herausstellung der allen Schulen gemeinsamen Grundlagen und Prak-tiken entgegenzuwirken.

Shenpen HookhamOxford, Mai 1986

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Zur Übersetzerin:

Bevor Shenpen Hookhamdem Ehrwürdigen KhenpoTsültrim GyamtsoRinpoche im Jahre 1977begegnete, hatte sie bereits 10Jahre lang unterder Leitung von Kagyü-Lamas studiert und praktiziert. Unter seinerLeitung widmete sie sich dann für 9 Jahre dem Studium und wurdeMitglied der Kagyü Tekchen Shedra (die 1978 von ihm gegründetwurde). Von 1979-86arbeitete sie an der Universität in Oxford an einerDoktorarbeit, die sich mit der Lehre des Tathagata-Garbha, entspre-chend der Shentong-Interpretation des Textes "Ratnagotravibhaga",

beschäftigt und die als Buch mit dem Titel "The Buddha within,,1erschienen ist.

Zur deutschen Übersetzung:

Khenpo Tsültrim Gyamtso Rinpoche hat während der Jahre seit der

Herausgabe der englischen Version das Thema dieses Buches anhandvon zahlreichen Texten und in gereimten Versen im Detail als auch inzusammengefaßten Darstellungen erklärt. Vieles könnte davon in diesesBuch mit einbezogen werden. Doch da die Idee dieses Buches, einekurze Präsentation der stufenweisen Praktiken und Lehren über

shunyatha (Leerheit) beibehalten werden soll, wurden in der deutschen

Übersetzung lediglich essentielle Dinge hinzugefügt. Auch wurdeneinige TextsteIlen nochmals mit ihm besprochen und mit seiner Erlaub-

nis sowohl Text- und Worterklärungen als auch Fußnoten hinzugefügtund abgeändert. Darüber hinaus bat er, die Erklärung des klishta-manah

(der mit Störfaktoren verblendete Geist) korrekt wiederzugeben und denenglischen Text auf Unklarheiten hin nochmals genau durchzuarbeiten.Da von ihm mehrfach betont wurde, daß es detaillierter Angaben bedarf,um erfolgreich über die fünf skandhas (Aggregate) meditieren zu kön-

nen, wurden diesem Kapitel zusätzliche Erklärungen beigefügt.

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Während eines längeren Aufenthaltes in Deutschland wurden kritischeTextsteIlenderenglischen Fassung mitdem Gelehrten KhenpoChödrakTenpel Rinpoche, der am Nalanda-Institut für höhere buddhistischeStudien in RumteklSikkim unterrichtet, eingehend diskutiert. Seine

Erklärungen wurden der deutschen Übersetzung in der Hoffnung ein-verleibt, zum Verständnis des Themas beizutragen.

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Einführung

Der tibetische Begriff tong nyi gom rim (transliteriert: stong nyid sgom

rim) bedeutet in etwa: stufenweise Meditationsfolge über Leerheit. DasZiel einer Reihe meditativer Übungen über einen speziellen Aspekt der

Lehren Buddha Shakyamunis liegt darin, zunächst mit gewöhnlichem,

nur grob unterscheidendem Verstand Entwicklungsstufen zu durchlau-fen, die zunehmend subtiler und geläuterter werden, um schließlich Zl,l"

einer vollständigen und vollkommenen Einsicht vorzudringen. Jede

Entwicklungsstufe bereitet wiederum den Geist für die nächste vor,indem jeder Schritt durch Kontemplation voll in das eigene Verständnisintegriert wird.

DREI STUFEN IN DER ENTWICKLUNG VON ERKENNTNIS

In der Entwicklung von Erkenntnis ist Meditation als die letzte der dreiEntwicklungsstufen anzusehen.

Die erste Stufe schließt das interessierte Zuhören oder das Studieren der

buddhistischen Lehre ein; dies sollte mit einem offenen und aufnahme-

bereiten Geist geschehen, der das, was gehört oder studiert wurde,unverfalscht aufnimmt. Die zweite Stufe umfaßt den Verlauf der Refle-

xion; sorgfältig denkt man über das Vermittelte nach, um die wahre

Bedeutung der Aussage zu erhellen. Innerhalb der dritten Phase, undzwar der der Meditation, wird das neu erworbene Wissen in das eigene

Sein oder in den Charakter integriert.

In gewisser Hinsicht ist man bei der Meditation um eine Umsetzung der

erworbenen Erkenntnis bemüht. Diese Erklärung entspricht dem tibeti-schen Wort gom (sgom), das in westlichen Sprachen meist als "Medita-tion" übersetzt wird. Sich in Meditation zu üben bedeutet nicht, daß man

diese eines Tages vervollkommnet hat und nun imstande ist, eine

perfekte Vorführung zu geben. Meditation ist Ausübung mehr im Sinnetatsächlichen Tuns oder Seins im Gegensatz zum bloßen Nachdenken.

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DREI GEBIETE DER UNTERSUCHUNG

Das gesamte buddhistische Lehrgebäude gliedert sich in dieses dreifa-che Training von Lernen, Nachdenken und Meditation. Während sichbuddhistische Schriftgelehrte konzentrativ dem Studium der Lehrmei-nung Buddhas widmen, erlernen die Logiker konkrete, gültige Metho-d'en der Erkenntnis und der Beweisführung - die Werkzeuge für dieReflexion und für die Kenntnis des Unterschiedes zwischen Wahremund Falschem. Dieses Bemühen stimmt mit der Stufe der Reflexion

überein. Yogisoder Meditierende sinddiejenigen, die durch Lernen undNachdenken das, was den Tatsachen entspricht, festgestellt haben unddie nunmehr damit beschäftigt sind, sich in der Kunst des Aufgebensihrer Verblendung zu üben.Mittels logischer Beweisführung zu bestim-men, was wahr sein muß, ist eine Sache, doch die Welt auch tatsächlichin dieser Weise zu sehen ist eine andere.

Wenn man sich in diesen drei Praktiken übt und die eine benutzt, umdie andere zu verstärken, werden die Nebel der Verwirrung und dieWolken der Unkenntnis schwinden. Kenntnis und Einsicht können dann

ungehindert strahlen, wie die Sonne, die den Dunst der Morgendämme-rung durchbricht.

DREI WEGE DES BESEITIGENS VON ZWEIFEL

Eine Person, die sich im Stadium des Lernens befindet, sollte BuddhaShakyamunis Aussagen in den Sutras und in den Kommentaren studie-ren und sichdabei den Erklärungen qualifizierter Lehrer, diedie eigenenZweifel klären können, anvertrauen.

Im Stadium der Reflexion wird man weiterhin auf Gebiete stoßen. die

der Klärung bedürfen; die Anleitung durch einen Lehrer wird nocheinmal notwendig sein. Wenn man intensiv über die buddhistischeLehre nachdenkt, können hin und wieder erneute Bedenken entstehen.Dieser Vorgang muß solange wiederholt werden, bis man eine Gewiß-

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heit über den Sinnund die Bedeutsamkeit des Gelehrten erlangt hat, wasschwierig zu erreichen sein kann. Mit einer derartigen Sicherheit oderVertrauen wird man imstande sein, mit dem Meditieren zu beginnen.Die Meditation dient der Einübung von Sichtweisen. Treten dabeierneut Zweifel und Verunsicherungen auf, sollte man sich wiederumdem Vorgang des Lernens und Nachdenkens zuwenden.

Sobald alle Bedenken zerstreut sind, erfährt man unmittelbar die wahreBedeutung des Gelehrten, so daß sich die eigene Meditation stabilisiert-frei von Unschlüssigkeit und Verunsicherung.

Obwohl sich die Menschen darin unterscheiden, wieviel Zeit sie für

jedes Studium benötigen, so braucht jeder alle Stadien des Prozesses,um Befreiung zu erlangen. Meditation, ohne je den Unterweisungenaufmerksam gefolgt zu sein und ohne tief darüber nachgedacht zuhaben, ist blind. Studieren und Nachdenken ohne Meditation gleichtdem Zustand, Augen, aber keine Beine zu besitzen.

DREI TEXTE ALS GRUNDLAGE

Jeder Entwicklungsstufe liegen buddhistische Schriften zugrunde. Dertibetische Text "Juwelenschmuck der Befreiung,,2(tib.: Drags po thar

gyan) von Gampopa (1079-1153, Gründer der monastischen Traditionder Kagyü.pa) erklärt zum Beispiel die Wege und Stufen eines bodhi-

sattvas (skr., bodhi, Erleuchtung, sattva. Wesen) entsprechend denMahayana-Sutras. Dieser Text, der von zahllosen Aspekten der relati-ven Wahrheit oder Wirklichkeit berichtet, wie karma (skr.: Handlung),Unbeständigkeit. Liebe und MitgefUhl, entspricht dem Stadium desStudierens. Anhand dieses Textes kann man durch systematischesNachdenken eine stufenweise Meditationsfolge durchführen. So kannman durch das Studieren dieses Textes über den relativen Wahrheitsge-halt der Dinge ernsthaft nachdenken und darüber meditieren.

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Der von Chandrakirti (8. Jh.), einem bedeutenden Vertreter der "Philo-sophie des Mittleren Weges" verfaßte Text "Madhyamakavatara"(tib.:dBu ma La lug pa, Eintritt in den Mittleren Weg) beinhaltet einelogische Darstellung über die uneingeschränkt gültige Wahrheit derLeerheit Nach dem Studium dieses Textes kann man über die absoluteWahrheit nachdenken und darüber meditieren. Dieses Buch "Stufen-

weise Meditationsfolge über Leerheit" ist mit der Absicht geschriebenworden, die Entwicklung der absoluten Leerheitserkenntnis des Medi-tierenden zu fördern.

3Der Text "Mahayana-Uttara-Tantra-Shastra" (auch unter dem Sans-krit-Titel "Ratnagotravibhaga"bekannt; tib.: 'rGyud bLama', Höchste

Kontinuität)geht zurück aufMaitreya 1skr.,"derLiebevolle", der fünfte,zukünftige Buddha dieses Zeitalters) . Er führt den Meditierenden indie Lehre über tathagata-garbha (skr., Buddhanatur) ein, die sich mitder Klaren-Lieht-Natur des Geistes befaßt Dieser Text unterstreicht,daß man sein eigenes wahres Wesen unmittelbar erfahren haben muß,um die letztendliche Verwirklichungeines Buddhas (skr.,der Erwachte)zu erreichen, ohne daß sich der mit Begriffen operierende Verstanddarum bemüht, von der Verblendung frei zu kommen oder einen er-leuchteten Zustand herbeizuführen. Dieser Text lehrt, daß man dievollständige Befreiung solange noch nicht erreicht hat, wie das volleAusmaß der Kräfte des "erleuchteten Geistes" noch nicht Bestandteilder eigenen Erfahrung geworden ist Dieses ist eine subtilere Unterwei-sung als die, die lediglich aufzeigt, daß alle Phänomene leer von einerEigennatur sind. Sie sollte im Anschluß an die stufenweise Meditations-

folge über Leerheit, die in diesem Buch in groben Zügen dargestelltwird, studiert und angewandt werden.

Die Lehre über Tathagata-Garbha, die im Text "Mahayana-Uttara-Tantra-Shastra" im Überblick wiedergegeben wird, bildet die Grundla-ge sowohl für das Verstehen als auch für die Ausübung der Lehren desVajrayana (mit "Vajra" ist etwas gemeint, das nicht zerstörbar ist;

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"Vajra-Fahrzeug", eine Schulrichtung des Buddhismus, die sich inner-halb des Mahayana-Buddhismus entwickelte) und insbesondere derMahamudra-Lehre (wörtl.: "Großes Siegel", eine der höchsten Lehrendes Vajrayana). Diese Unterweisungen setzen voraus, daß der Prakti-zierende die vielfaltigen Aspekte der relativen Wahrheit und die leereNatur aller Erscheinungen (skr.: dharma, tib.: chos) bereits verstandenhat und somit bereit ist, in der Klaren-Lieht-Natur des Geistes, einfachwie sie ist, hier und jetzt, entspannt zu verweilen, wobei er alle Erleb-nisse benutzt, um das gewonnene Verständnis mehr und mehr zu erhel-len.

DIE WICHTIGKEIT DER RELATIVEN WAHRHEIT

(skr.: samvrtisatya, tib.: kun rdzob bden pa)

Das zuvor Erklärte macht deutlich, daß man als Vorbereitung zurstufenweisen Meditationsfolge über Leerheit den "JuwelenschmuckderBefreiung" oder einen ähnlichen Text studieren, darüber gründlichnachdenken und meditieren sollte.

Ohne die vielzähligen Aspekte der relativen Wahrheit oder Wirklichkeitrichtig begriffen zu haben, kann Meditation über Leerheit irreführendund sogar gefährlich sein.

Obwohl Verständnis schnell entstehen mag, baut sich Stabilität jedochnur langsam auf. Die relative Wahrheit verhilft uns zu einer Sichtweise

in Bezug auf das Leben und die Welt. Während diese mit unserengewöhnlichen Vorstellungen von Raum und Zeit übereinstimmt, ist sie

uns für das Erlangen des vollkommen erwachten Zustandes, der jenseitsvon diesen liegt, dienlich.

Die relative Wahrheit bildet die Grundlage der gesamten Unterweisun-

gen Buddhas, da sie eillnchtiges Verständnis darüber vermittelt, wasaufzugeben und was zu kultivieren ist. Indem man negative Handlungenaufgibt und heilsame kultiviert, schafft man die notwendigen Bedingun-

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gen, damit Studieren, Reflektieren und Meditieren fruchtbar werden.Auf diese Art und Weise, nämlich durch Beachten der relativen Wahr-heit, kanndiehöchste, uneingeschränktgültige Wahrheitoder Wirklich-keit verwirklicht werden.

ABSOLUTE WAHRHEIT

(skr.:paramarthasatya, tib.: don dom bden pa)

Im Buddhismus bedeutet "absoluteWahrheit" oder "absoluteWirklich-

keif' den Schlußpunkt der eigenen Analyse, in anderen Worten: dasgrundlegendste Element der Existenz oder Erfahrung.

Als Beispiel mag ein Tontopf dienen. Ein Töpfer würde ihn absolutgesehen als Ton bezeichnen, aber ein Wissenschaftler als eine Anhäu-fung von Atomen. Präziser jedoch würde er sagen, selbst die Atomebestünden aus subatomaren Teilchen, die sich im Raum bewegen. Dochauch dies wäre lediglich eine grobe Annäherung an die Wirklichkeit.Heutzutage können Atomteilchen nicht mehr präzise festgelegt werden.Sie können nicht als dies oder das, als hier oder dort bestimmt werden;man muß sie in Wahrscheinlichkeitsbegriffen ausdrücken. Zweifelloswerden sie von Wissenschaftlern im Laufe der Zeit wieder andersbenannt werden.

Auf diegleiche Art stellt sichdie absoluteWahrheit den Praktizierendenin den verschiedenen Stadien ihrer Übung jeweils anders dar. Genausowie sich die absolute Wahrheit in der Erfahrung eines individuellPraktizierenden offenbart, geschieht dies historisch in der Weise, daßdie buddhistischen Schriften als eine Abfolge zunehmend subtilererLehren auftreten.

STUFENWEISE MEDITATIONSFOLGE ÜBER LEERHEIT

In diesem Buch werden die Schlüsselstadien buddhistischer Erfahrungüber Leerheitserkenntnis in fünf Stufen eingeteilt:

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1. Shravaka-Stadium2. Chittamatra-Stadium

3. Svatantrika-Madhyamaka-Stadium4. Prasangika-Madhyamaka-Stadium5. Shentong-Madhyamaka-Stadium

Diese Stadien werden zwar nach den buddhistischen philosophischenSchulen, diediese formulierten, benannt, aber tatsächlich repräsentierensie die Entwicklungsstufen eines Individuums im Verstehen der Leer-heit.

Wir sind hier nicht daran interessiert, in scholastische und philosophi-

sche Debatten darüber verwickelt zu werden, wie genau eine jedeSchule ihr System im Detail ausgearbeitet hat. Wesentlich ist, daß diese

Stadien fünf unmittelbar zu erkennende Etappen darstellen, die - ausge-hend von einer groben Einsicht - zu zunehmend subtileren Verständnis-ebenen fortschreiten.

Im allgemeinen sollte einem Praktizierenden eine Belehrung gegeben

werden, die seiner Intelligenz und seiner Verständnisebene entspricht.Mit Ausnahme von einzelnen, ausgesprochen begabten Praktizieren-den, können die meisten Menschen nicht sofort die äußerst subtilen und

tiefgründigen Belehrungen begreifen und sich darin schulen. Statt des-sen müssen sie durch eine Serie von Stufen fortschreiten und mit den

grundlegendsten Lehren anfangen, genauso wie man mit der ersten

Schulklasse beginnt und sich von dieser ausgehend stufenweise empor-arbeitet. Am Beispiel eines komplexen technischen Gegenstandes kann

man sich klarmachen, daß niemand erwarten würde, die von Expertendiskutierten Feinheiten verstehen zu können, ohne die Grundprinzipienstudiert zu haben. Ebenso ist es sehr unwahrscheinlich, daß eine Person

zu einem genauen Verständnis der äußerst tiefgründigen Unterweisun-gen Buddhas gelangen kann, ohne durch die fortschreitenden Stufen derBelehrungen gegangen zu sein, die zu dieser Erkenntnis hinführen. Man

kann sich die stufenweise Meditationsfolge über Leerheit als Stadien im

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Prozeß der Gewinnung von Gold aus Erz vorstellen. Am Ausgangs-punkt des Prozesses steht zuerst eine sehr grobe Bearbeitung, dienichtsdestoweniger sehr effektiv ist, woraufhin zunehmend feinere fol-gen, bis schließlich das vollständig gereinigte Gold selbst zum Vor-schein kommt. Das Gold wird hier mit der absoluten Wahrheit derLeerheit verglichen.

Ein weiteres Beispiel dafür, wie die Meditationsstufen eine Weiterent-wicklung vom Groben zum Feinen darstellen, ist das einer Person, dieangewiesen wird, eine auf einem Berg liegende Nadel zu finden. Alserstes benötigt sie, umdie ungefähre Richtung zu finden, in der der Bergliegt, eine Karte mit einem großen Maßstab. Sobald sie den Berggefunden hat, muß sie sich einer Karte mit kleinerem Maßstab bedienen,um die exakte Stelle der Nadel entdecken zu können. Diese kann zum

Beispiel in der Nähe eines Felsens liegen. Sobald sichdie Person dorthinbegibt, kann ihr der richtige Baum gezeigt werden, unter dem sich dieNadel befindet. Unter dem Baum angelangt, muß ihr die genaue Stellegezeigt werden. Schließlich muß die Person jedoch mit ihren eigenenAugen die Nadel entdecken. Durch die anfänglichen Stufen der Medi-tationsfolge wird man in ähnlicher Weise immer näher an die wahreErkenntnis der Leerheit herangeführt, doch letztendlich ist es die eigenedirekte Wahrnehmung, die die Leerheit schaut.

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Erstes Stadium:

Shravaka-Meditation über die Abwesenheiteines Selbst

»Die Sichtweise der Vaibhashika (wörtl.: derjenigen, die hauptsächlichder Erklärung des "Mahavibhasha" folgen,der Partikularisten):

Es kommt durch Zerstörung

beziehungsweise gedankliche Analysenicht mehr dazu,

daß etwas als solches erlaßt wird, (und zwar als)grobe Entitäten und Bewußtseinskontinua;sie sind die konventionelle Wahrheit;Teilloses ist die absolute Wahrheit.«5

»Die Sichtweise der Sautrantika (wörtl.: deIjenigen, diesich hauptsächlich auf die Sutras, die LehrredenBuddhas stützen):

Spezifisch Charakterisiertes,das fähig ist,absolut eine Funktion zu erfüllen,und allgemein Charakterisiertes,das dazu nicht fähig ist.« 6

Man sollte nicht annehmen, daß die erste Meditationsfolge, die als

Shravaka (skr., Hörer~-Stadium bezeichnet wird, weil sie den Kern desShravaka-Fahrzeuges ausmacht, für die anderen buddhistischen Fahr-

zeuge unwichtig sei: Milarepa (1052-1135), der große Vajrayana-Mei-ster Tibets, lehrte einem seiner Schüler, einem einfachen Schafhirten,die Shravaka-Meditiation über das Nichtvorhandensein eines Selbst

(skr.: anatman, tib.: bdag med), nachdem dieser Zeichen einer großen,natürlichen meditativen Begabung gezeigt hatte. Es wird berichtet, daßer angewiesen wurde, sich auf eine kleine Buddhastatue zu konzentrie-ren. Für die Dauer von einer Woche gelangte er, ohne den Zeitverlaufzu bemerken, in meditative Versenkung (skr.: samadht). Als er aus dem 20

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Samadhi herauskam, kam es ihm vor, als ob er nur ein paar Sekundenlang meditiert hätte.

Im ersten Stadium bedenkt man noch nicht die Leerheit aller Phänome-ne, sondern nur die Leerheit oder das Fehlen eines "Selbst" im Indivi-duum. Das Wesentliche bei dieser Betrachtung liegt im Fixiertsein aufdie Idee, daß man ein eigenständiges, dauerhaftes, unabhängiges, wahr-haft existierendes Selbst habe, das die Hauptursache für die gesamteneigenen Leidformen ist. Man braucht nicht eine ausdrücklich oder klarformulierte Vorstellung von einem "Selbst", um sich so zu verhalten,als hätte man eins. "Selbst"bedeutet hierdas implizierte Selbst, das manauch als inhärent im Verhalten eines Tieres erkennen kann. Tiereidentifizieren sich genauso wie wir mit ihrem Körper und ihrem Be-wußtsein und sind ständig auf der Suche nach körperlichem und geisti-gem Wohlergehen, indem sie versuchen, Unangenehmeszu meiden undSchmerz zu lindern. Sowohl Tiere als auch Menschen handeln auf eineWeise, als ob sieein Selbsthätten, dases zu beschützenund zubewahrengelte; dieses Verhalten betrachtet man sowohl als automatisch undinstinktiv als auch als normal. Sobald Schmerz oder Unbehagen entste-hen, reagiert man automatisch mit dem Versuch, sie zu beseitigen. Siegehören nicht zum Selbst, und die stillschweigende Folgerung darausist, daß das Selbst auf ganz natürliche Weise glücklich wäre, wenn allerSchmerz und alles Leid beseitigt wären.

Wenn wir jedoch versuchen, unser Verhalten in Bezug auf dieses"Selbst" zu analysieren, entdecken wir seltsamerweise, wie sehr wir unsim Unklaren darüber befinden, um was es sich bei diesem "Selbst" nunwirklich handelt. Von nicht-buddhistischen Denkern wurde das Selbstverschiedentlich definiert als etwas, das sich im Gehirn, Blut oderHerzen befindet,das Eigenschaften wie eine wahreoder transzendentale

Existenz innerhalb oder außerhalb des Geistes oder des Körpers besitzt.Ein derartiges Selbst muß, um überhaupt irgendeinen Sinn zu haben,dauerhaft sein, denn wenn es in jedem Augenblick zugrunde gehen

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würde, so würde man sich nicht darum kümmern, was ihm im nächstenAugenblick zustoßenkönnte; es wäredannnicht mehrdas eigene Selbst.Weiterhin muß es sich um etwas Einzelnes handeln, denn warum sollteman sich mehr Sorgen über das eigene Selbst als über das von irgend

jemand anderem machen, wenn man keine separate Identität hätte?Außerdem muß es unabhängig sein, denn sonst würde kein Sinn in derAussage liegen wie: »Ich habe dies getan« oder »Ich besitze jenes«.Ohne eine unabhängige Existenz gäbe es niemanden, der die Handlun-gen und Erfahrungen als seine eigenen beanspruchen würde.

Wir alle reagieren so, als ob wir ein dauerhaftes, separates und unab-hängiges Selbst hätten und es unsere Hauptbeschäftigung wäre, es zubeschützen und zu pflegen. Es handelt sich hierbei um eine gedanken-loseGewohnheit, diedie meistenMenschen höchstwahrscheinlichnicht

in Frage stellen oder zu erklären suchen. So ist all unser Leid mit dieserHauptbeschäftigung verbunden. Unser gesamter Gewinn und Verlust,unsere Freude und unser Schmerz entstehen aufgrund unserer derart

engen Identifikation mit diesem vagen Gefühl von Selbstheit, das wirhaben. Wir sind so sehr gefühlsmäßig darin verwickelt und mit diesemSelbst verbunden, daß wir es als selbstverständlich vorhanden anneh-men.

Der Meditierende spekuliert nicht über dieses "Selbst". Er hat keineTheorien darüber, ob es existiert oder nicht. Er übt sich stattdessenleidenschaftslos darin zu beobachten, wie sich seinGeist an die Idee von"Selbst" und "mein" klammert und wie sich all sein Leid aus dieser

Anhaftung heraus entwickelt. Gleichzeitig forscht er sorgfaltig nachdiesem" Selbst". Er versucht, es von all seinen anderen Erfahrungen zuisolieren. Er will es finden und identifizieren, da es das Schuldige an allseinem Leid ist. Die Ironie ist, daß er nichts vorfindet, das dem" Selbst"

entspricht, wie intensiv auch immer er danach sucht.Westliche Menschen verwechseln oft "Selbst" in diesem Zusammen-

hang mit Person, Ego oder Persönlichkeit. Sie argumentieren, die Per-

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son, Persönlichkeit oder das Ego hielten sie nicht für eine dauerhafte,separate und unabhängige Wesenheit. Dieses Argument geht am we-sentlichen Punkt vorbei. Die Person, Persönlichkeit oder das Ego alssolches stellt nicht das Problem dar. Man kann sie durchaus rational auf

ihre einzelnen Bestandteile hin untersuchen. Hierzu gibt es in derwestlichen Tradition alle möglichen Verfahren. Die buddhistische Me-thode bedient sich der fünf skandhas (skr., Aggregate), der achtzehndhatus (skr., Bestandteile) oder der zwölf ayatanas (skr., Tore oderErlebnisgrundlagen der Wahrnehmung). Es geht nicht darum, ob diePerson, Persönlichkeit oder das Egoeine wandelbare, zusammengesetz-te Kette von Vorkommnissen ist, die durch zahlreiche, komplexe Fak-toren bedingt wird, oder nicht.Jegliche verstandesmäßige Analyse zeigtuns, daß dem so ist. Die Frage ist eher die, warum wir uns gefühlsmäßigso verhalten, als sei unser Selbst dauerhaft, separat und unabhängig.Wenn wir folglich nach dem Selbst Ausschau halten, so ist es sehrwichtig, sich daran zu erinnern, daß es sich hier um eine emotionaleReaktion handelt, die wir untersuchen. Wenn man auf Ereignisse rea-giert, als hätte man ein Selbst, sich z.B. verletzt oder angegriffen fühlt,dann sollte man sich fragen, wer und was sich verletzt oder angegriffenfühlt.

Sollten Sie nicht davon überzeugt sein, daß Sie sich emotional soverhalten, als ob Sie ein dauerhaftes, eigenständiges und unabhängigesSelbst hätten, dann ist es wichtig, sich mit dieser Frage erst einmalauseinanderzusetzen, bevor Sie dazu übergehen, sich mit der Doktrindes Nicht-Selbst zu befassen. Denken Sie gründlich über Schmerz undLeid nach und fragen Sie sich selbst, wer oder was es ist, das da leidet.Wer hat Angst vor dem, was geschehen wird; wer fühlt sich schlechtwegen dem, was geschah; warum erscheint uns der Tod als eine derar-tige Drohung, wenn die Gegenwart mit jedem Moment entschwindetund kaum die Möglichkeit hatte, in Erscheinung zu treten? Sie werdenfeststellen müssen, daß Ihr Denken voller Widersprüche, Unbeständig-

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keiten und unlösbarer Paradoxa ist, Das ist normal. Jeder (ausgenom-men vielleicht der Geistesgestörte) hat im Sinne des gesunden Men-schenverstandes einen Begriff davon, was oder wer er ist Dies befähigteinen (mehr oder weniger), wie ein normales menschliches Wesen zufunktionieren.

Trotzdem kann der Meditierende, wenn er seine Konzentration aufdieses "Selbst" richtet, es nicht finden. Nach und nach, ganz allmählichdämmert es ihm, daß er es aus dem Grunde nicht vorfinden kann, weiles nicht existiert und niemals existierte. Es gibt einen gewaltigen emo-tionalen Widerstand gegen diese Erkenntnis. Deshalb dauert es langeZeit, bis man ihn überwunden hat, aber wenn es einmal dazu gekommenist, dann tritt unmittelbar ein Befreitsein von Verkrampfung und Leidenein. Die Ursache dafür ist verschwunden. Sie wurde durch geistigesHaften an etwas hervorgerufen, das nicht existiert.

Der Widerstand gegen diese Erkenntnis nimmt manchmal die Form vonIrritation an. Man hat sich daran gewöhnt, die Dinge vernunftgemäßerklären zu können. Da das Erlebnis vom "Selbst" so direkt und in

gewisser Hinsicht so offensichtlich ist, scheint es keinen Grund zugeben, es in das eigene rationale Erklären der Dinge mit einzuschließen.Wenn man jedoch den Versuch unternimmt, sich darüber Klarheit zuverschaffen, wird die ganze Sache so irritierend subjektiv, daß es denAnschein hat, als ob man zu keinem zufriedenstelIenden Ergebnisvorstoßen könnte.

Statt den Geist im tatsächlichen Erleben dieses Paradoxons ruhen zulassen, wird man über die Unfahigkeit, keine stichhaltige Erklärung zufinden für das, was das "Selbst" ist, frustriert und irritiert. Es ist wichtig,davon Kenntnis zu nehmen und sich dessen bewußt zu sein. Sollte man

jedoch versuchen, diese Irritation einfach aus dem eigenen Geist zuverdrängen, wird man niemals eine tiefe Erkenntnis vom Nichtvorhan-densein des "Selbst" haben.

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Das Festhalten an der Vorstellung von einem "Selbst" ist vergleichbardamit, daß man sich der Vorstellung hingibt, ein Stück Seil im Dunkelnsei eine wirklich vorhandene Schlange. Sobald das Licht angeschaltetwird und man sieht, daß dort keine Schlange ist, verschwinden Furchtund Leiden, die dadurch entstanden, daß man die Schlange für wirklichhielt Sie existierte von Anfang an nicht, und somit war es ganz einfachdas Haften an dieser Vorstellung, die Leid hervorrief, und nichts ande-res. Die Weisheit, die das Nicht-Selbst erkennt, gleicht dem enthüllen-den Licht, durch das die Schlange als ein StückTau identifiziert werdenkann.

Um dem eigenen Leid endlich ein Ende zu setzen, gilt es nichts Wich-tigeres zu erkennen als die Tatsache, daß man Körper und Geist gedan-kenlos Attribute zumißt, die sie einfach nicht haben, wenn man sich soverhält, als ob Körper und Geist ein dauerhaftes, separates und unab-hängiges Selbst darstellten. Im gesamten Strom psychischer und physi-scher Erscheinungen, die unsere Erfahrung von Körper und Geistausmachen, gibt es nichts, das die Eigenschaft einer getrennten, unab-hängigen, dauerhaften Existenz hat Alles befindet sich im Wandel, istvon einem Augenblick zum anderen vergänglich, und insofern kannnichts davon "Selbst" sein. Es ist unser eigenes, zähes Bemühen, das dieVeränderlichkeit der körperlichen und geistigen Aggregate so behan-delt, als ob es anders wäre, und nur aus diesem Grund werden sie zueinem unaufhörlichen Strom von Leid (skr.: duhkha).

Die Erkenntnis, daß das "Selbst" nicht existiert, ist der erste Schritt, dieleere Natur aller Erscheinungen zu verstehen. Aus diesem Grundebehandelt die erste Lehrrede Buddhas die "Drei Kennzeichen des Da-

seins", nämlich Leid, Vergänglichkeit und Nicht-Selbst Keine derphysischen oder psychischen Komponenten eines Individuums ist das"Selbst", da sie vergänglich sind, und was vergänglich ist, bedingt Leid.

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TRAUMBEISPIEL

Buddha benutzteoft, um seineLehre überLeerheit zu veranschaulichen,das Beispiel vom Traum. Diese Illustration kann mit zunehmenderVerfeinerung injedem Stadiumder stufenweisenMeditationsfolge überLeerheit angewandt werden. Sie dient als ein gutes Beispiel um aufzu-zeigen, wie die beiden Wahrheiten oder Wirklichkeiten - die konven-tionelle und die absolute - ineinandergreifen. Im Traum besteht dasGefühl, eine Person mit Körper und Geist zu sein, die in einer Welt vonDingen lebt, von denen man sich - je nachdem, wie sie auftreten -angezogen oder abgestoßen fühlt. Solange man nicht erkennt, daß essich um einen Traum handelt, erscheinen alle diese Dinge als wirklich,und man empfindet darüber Freude oder Leid.

Beispielsweise mag man träumen, von einem Tiger gefressen oder vonFeuer verbran.ntzu werden. In der absolut gültigen Wirklichkeit gibt esniemanden; der aufgefressen oder verbrannt wird, aber noch unter demEinfluß des Traumes mag man wirklich leiden, so als ob es sichzugetragen hätte. Dieses Leiden entsteht einfach durch die Tatsache,daß man sich selbst mit der Person im Traum identifiziert. Sobald mansich dessen bewußt wird, daß es nur ein Traum ist, so ist man frei zudenken: »Es macht nichts, es ist nur ein Traum - in Wirklichkeit

geschieht mir nichts«, selbst dann, wenn der Traum nicht aufhört. DiePerson, die im Traum litt, entstand lediglich als eine vorübergehendeErscheinung; sie war von der Bedingung abhängig, sich des Traumesnicht gewahr zu sein. Sie besaß kein separates, unabhängiges,dauerhaf-tes Selbst.

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oder Nichtaufzufindende nachdenken, bis man vollständig Überzeu-gung und Sicherheit erlangt hat. Ist man von dem, was zutrifft, über-zeugt, dann muß man meditieren, indem man den Geist in diesem neuentdeckten Wissen verweilen läßt, bis schließlich die von gewohnheits-mäßigen Gedankenmustern verursachten Schleier aufgelöst sind. Andiesem Punkt entsteht die unmittelbare, unmißverständliche Erkenntnisvom Nichtvorhandensein des Selbst, und es ist diese echte Erfahrung,die tatsächlich vom Leiden befreit.

UNTERSUCHUNGSMETHODEN

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Instinkti v identifizieren wir uns mit unserem Körper und unserem Geist.

Obwohl unsere ganze Vorstellung von diesem "Selbst" und von "mein"

äußerst vage und verwirrt ist, haften wir emotional sehr stark an diesenan. Sind wir krank, so sagen wir beispielsweise: »Ich bin krank«, und

dennoch äußern wir im nächsten Atemzug: »Mir tut nämlich der Kopfweh«. Aber was meinen wir damit? Wollen wir damit sagen, daß das"Ich" eine Sache ist und der Kopf eine andere? Oder sind wir derMeinung, daß der Kopf das "Ich" ist? Mit diesen sehr gängigen, gewöhn-

lichen Vorstellungen vom "Ich", und zwar vom "Ich", dem Handelnden,oder vom "Ich", dem Erlebenden, sollte man seine Untersuchung begin-nen.

Stellen Sie sich beispielsweise vor, daß Ihnen Gliedmaßen oder Organeentfernt oder transplantiert würden. Wenn man das Herz eines anderen

verpflanzt bekäme, würde dieser Eingriff das "Ich" wirklich beeinflus-sen? Natürlich denken wir, daß das "Ich" (der Erlebende oder derHandelnde) nun ein neues Herz erhalten hat.. Dabei stellt man sich aber

Intellektuelles Verstehen ist jedoch nicht ausre~chend, um ~ich von ~er

~nicht vor, daß in das "Ich" als solches ein neues Herz transplantiert

starkverwurzeltenGewohnheit freizumachen, sichan den eigenenGeist wurde. Wie weit läßt sich dieser Gedankenprozeß fortführen? Bei derund Körper als ein getrenntes, unabhängiges und dauerhaftes Selbst zu Betrachtung der Körperteile und Organe wird ziemlich klar, daß dasklammem. Man muß den Strom des eigenen geistigen und körperlichen "Ich" eine separate Entität ist. Doch wie steht es mit dem Gehirn?Erlebens wiederholte Male untersuchen und über das Vorgefundene 26 27 Angenommen, das Gehirn eines anderen Menschen würde einem in den

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Page 15: Stufenweise Meditation

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Schädel verpflanzt werden. Würde dies das "Ich"beeinträchtigen? Manmüßte sich fragen, ob "Ich" (derErlebende oder der Handelnde) tatsäch-lich das Gehirn eines anderen gebrauchen und doch noch dieselbePerson bleiben könnte. Man müßte sich fragen, ob sich einige derHandlungen, die vom jetzigen "Ich" bestimmt werden, von den Hand-lungen des "Ichs"der Person, der das Gehirn entnommen wurde, unter-scheiden ließen. Selbstverständlich kann man das Ergebnis einerderartigen Transplantation nicht wissen, falls sie überhaupt jemalsvollzogen werden kann; doch unwillkürlich spüren wir, wie wichtig esist, zu wissen, ob das "Ich" hierdurch beeinflußt werden könnte odernicht.

Obwohl dies so wichtig erscheint, befinden wir uns immer noch imUnklaren darüber, was dieses "Ich" sein könnte. Man mag sich fragen,ob es vielleicht nur ein kleiner, lebenswichtiger Teil des Gehirns ist.Wenn man jedoch hierüber nachdenkt, kommt man zu dem Ergebnis,daß man emotional nicht an der Idee eines winzigen Mechanismus inden eigenen grauen Gehirnzellen haftet. Wenn diese Zellgruppe für allunser emotionales Anhaften verantwortlich wäre, dann wäre es dochleicht, sie zu entfernen und mit ihr alles Leiden. Weder brauchte dasDasein einen bestimmten Sinn, nochhätte das menschliche Leben einenbesonderen Wert. Es gäbe keine Notwendigkeit, sich mit einem Daseinvoll Leidenund Frustrationherumzuplagen. Eine derartige Anschauungerscheint uns jedoch als gänzlich nihilistisch und erniedrigend. Das"Ich" fühlt, daß es eine größere Bedeutung hat.

Das "Ich", an dem wir gefühlsmäßig haften, scheint einen Schrittzurückzutreten und das Leben zu betrachten, indem es Erfahrungeneinschätzt und wünscht, Leiden zu vermeiden. Wir erleben oder behan-

deln das "Ich" nicht auf die gleiche Art, wie wir mit einem Körperteilumgehen, zum Beispiel mit dem Gehirn. Unserem allgemeinen Wissennach, das wir von anderen übernommen haben, befindet sichdas Gehirnim Kopf. Physisch kann es lokalisiert, berührt und gemessen werden.

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Es hat eine gewisse Beziehung mit dem Geist, denn sobald unsergeistiger Zustand wechselt, kann oft eine Veränderung im Gehirn ent-deckt werden. Jedoch was auch immer Wissenschaftler über das Gehirnherausfinden, über die Beziehung zwischen Geist und Gehirn könnensie nur Teilaussagen machen. Sie können es sich anschauen, in eseindringen und messen, um Fakten über die Aktivität des Gehirnsherauszufinden, doch wie wollen sie wissen, was der Geist erlebt, wenner auf diese oder jene Art und Weise beschäftigt wird? Beispielsweisekönnen sie in der Lage sein, etwas über die Stärke der Aktivität auszu-sagen, die in der einen oder anderen Region des Gehirns vor sich geht,wenn sich die Person die Farbe Rot vorstellt. Aber wie können siewissen, daß die Person wirklich "Rot" erlebt? Die Person selbst kenntzweifellos die Natur ihrer Erfahrung. Sie mag sie rot nennen oder auchnicht. Sie mag sie vielleicht überhaupt nicht bezeichnen. Sie wirdniemals wissen, ob jemand anders jemals irgend etwas in der Weiseerlebt wie sie selbst, sogar dann, wenn jeder darin übereinstimmt, dasErlebnis, das er hat, mit demselben Wort zu bezeichnen. Wer anders alsder Erlebende selbst kann wissen, wie er irgend etwas erlebt? EinWissenschaftler kann behaupten, das Gehirn funktioniert so, als ob esdie Farbe Rot erleben würde, weil das Gehirn so reagiert, wie es immerreagiert, wenn Menschen Rot erleben. Wer wird wissen, ob sie inirgendeinem speziellen Fall recht haben oder ni.cht?Nur der Erlebende

selbst kann dessen gewiß sein. Der Wissenschaftler beruft sich auf gutbelegte Vermutungen. Gewisse Theorien werden als erwiesen angese-hen, weil sie Ereignisse sehr gut zu erklären scheinen.

Der hauptsächliche gedankliche Vorstoß des Buddhismus hat jedochmit Theorien nichts zu tun. Er baut auf Erfahrung. Er befaßt sichinsbesondere mit der Erfahrung vom Leiden. Der Buddhismus hatentdeckt, daß die Erfahrung vom Leiden stets mit einem starken emo-tionalen Haften an ein vages Gefühl von einem "Selbst" verbunden ist.Der Buddhismus wendet somit seine Aufmerksamkeit dieser starken

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Page 16: Stufenweise Meditation

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emotionalen Reaktion zu, die mit der Empfindung einer Entität verbun-den ist, und fragt danach, wie dieses "Selbst" tatsächlich erfahren wird.Wo wird das "Ich" erfahren?

»Im Gehirn« mag vielleicht die Antwort sein. Jedoch benötigt mankeine Kenntnis über das Gehirn, um Leiden zu erfahren. Auch ein Kindoder ein Hund leiden. Sie haben keine Theorien über das "Selbst", dochihr Verhalten deutet darauf hin, daß sie ein Gefühl von "Selbst" haben.Wenn sie es nicht hätten, warum würden ein Kind oder Hund, welchein dem einen Augenblick existieren, sich um Kind oder Hund sorgen,welche im nächsten Augenblick existieren? Sicherlichdeshalb, weil dasKind oder der Hund des nächsten Augenblickes in ihrer Vorstellungunbewußt immer noch im gewissen Sinne "sie selbst" sindund verschie-den von irgend jemand anderem. Sobald sie sich einer Gefahr für ihrLeben oder Wohlergehen ausgesetzt sehen, weichen sie davor zurück.Unbewußt denken sie, daß "sie" dieser Bedrohung entgehen und ihreExistenz irgendwo an einem angenehmeren Platz fortsetzen könnten;dies zeigt, daß sie das Gefühl besitzen, eine unabhängige Existenz zuhaben.

Man könnte argumentieren, daß das Zurückweichen vor unangenehmenReizen von lebenden Organismen niederer Formen einfach eine mecha-

nische Reaktion sei, genauso wie sich Bäume im Wind wiegen. Das magfür primitive Lebensformen zutreffen, doch hat es keine Beziehung zudem Problem des Leidens überhaupt. Wenn wir lediglich komplexemechanische Einrichtungen wären, dann könnte man argumentieren,daß Leid -objektiv gesehen -keine Rolle spielen würde. Das wäre eineaußerordentlich verarmte Einstellung zum Leben und eine nicht sehrüberzeugende.

Man könnte glauben, daß wir mit unserer Aussage, Leiden werde imGehirn erfahren, eigentlich meinen,daß es im Geist erlebt wird. Da man(in der modemen westlichen Gesellschaft) automatisch annimmt, daß

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sich der Geist im Gehirn lokalisieren läßt, und da dieeigene Vorstellungvom Geist sowieso sehr vage ist, scheint kein großer Unterschied darinzu liegen, ob wir vom Geist oder vom Gehirn sprechen. Sie könnenjedoch nicht synonym sein, selbst wenn letztendlich entdeckt würde,daß sie vom gleichen Stoff oder von gleicher Natur sind. Um die Frage,was wir eigentlich unter Geist verstehen, kommen wir nicht herum. Inunserem gewöhnlichen, alltäglichen Sprachgebrauch gehen wir damitäußerst vage und ungenau um. Es hat manchmal den Anschein, als obwir uns mit unserem Geist identifizieren, beispielsweise mit der Aussa-ge, glücklich oder traurig zu sein. Obwohl wir meinen, der Geist istglücklich oder traurig, machen wir wirklich keinen Unterschied zwi-schen unserem "Selbst" und unserem Geist. Nichtsdestoweniger hörenwir uns Dinge sagen wie: »Ichkonnte meinen Geist nichtkontrollieren«.Gelegentlich äußern wir auch: »Ich konnte mich nicht kontrollieren«,so als ob man zwei "Selbst"besäße. Hier scheint es sich umden gleichenMangel an Klarheit zu handeln, der uns einmal veranlaßt, so zu spre-chen, als ob das "Selbst" der Geist wäre, und das nächste Mal, als obdas "Selbst" den Geist besäße.

An diesem Punkt mag man versucht sein, damit zu beginnen, über dieNatur des Geistes und über die des Selbst zu spekulieren. Vielleicht wirdman ins Philosophieren geraten und über Aussagen wie: »Ich denke,also bin ich« nachdenken. Da jedoch »Ich bin« lediglich ein Gedankeist, ist das Einzige, dessen wir wirklich sicher sind, die Erfahrung vonGedanken. Somit ist das einzige sichere Mittel, mit dessen Hilfe wirherausfinden können, um was es sich bei dieser Erfahrung wirklichhandelt, sie so genau und leidenschaftslos wie möglich zu erleben.Folglich läuft die Vorgehensweise des Shravaka auf die Untersuchungvon Erfahrung hinaus, und zwar, indem man sich ihrerinjedem Momentin hohem Maße bewußt ist.

Page 17: Stufenweise Meditation

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FÜNF AGGREGATE

Um diese Untersuchung so ausführlich und systematisch wie möglichdurchzuführen, haben buddhistische Lehrmeister Erfahrung in eineAnzahl umfassender Kategorien angeordnet. Eine dieser Kategorienwird auf Sanskrit als die "fünf skandhai" bezeichnet, was wörtlich"fünf Anhäufungen" oder "fünf Bündel" bedeutet. Bei leidenschaftslo-ser Betrachtung treten unsere gesamten Erfahrungen von einem Augen-blick zum anderen als isolierte, unpersönliche Ereignisse auf. Nachihrem Erscheinen, das so schnell vonstatten geht, daß es simultan zusein scheint, sind wir emotional involviert und produzieren ein ganzesDrehbuch zum Thema "Selbst" gegen "die Welt" oder "die Anderen".

Die fünf Aggregate bestehen jeweils als ein Bündel aus vielen Phäno-menen ähnlicher Art, die sich ständig im Wandel befinden. Sie konsti-tuieren das, was allgemein als "Persönlichkeit"oder" Selbst"angesehenwird. Es handelt sich hier um eine physische Komponente und vier

geistige Komponenten: -~1. Aggregat der Form '0

2. Aggregat der Empfindung - ()

3. Aggregat des unterscheidenden Erkennens -.

~~4. Aggregat der Geistesfaktoren rv---w-J-<A.9\JrJ:Jh~'- S,

5. Aggregat der Primärbewußtseinsarten 9 CO"'Y)./':(.,~ - '.li-'2h

Der Ablauf der Skandhas bringt ununterbrochen karmische Wirkungenhervor, die wiederum Anlaß zu weiteren Auswirkungen sind. Karmasowie die grundlegende Unwissenheit (skr.: avidya, tib.: ma rig.pa,

wörtlich: nicht erkennen) und Begierde, die alle Anhäufungen durch-ziehen, verursachen das Entstehen dieser fünffachen Struktur.

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1. Aggregat der Form(skr.: rupaskandha, tib.: gugs.kyi phung.po)

"Form" bezieht sich sowohl auf die Körperlichkeit des Objektes, daserfahren und wozu ein Kontakt hergestellt werden kann, wie die vier

Elemente von Erde, Feuer, Wasser, Luft, auf die grobe feinstoffIicheQualität des Objektes von Form, Gestalt, Farbe, Klang, Geruch, Ge-schmack, Tastbarem, als auch auf die Körperlichkeit des Subjektes, denKörper, seine fünf Sinnesorgane und Sinnesfähigkeiten von Gesichts-,Gehör-, Geruchs-, Geschmacks- und Tastsinn. Der Formskandha be-

zieht sich also auf den Körper der Person und auf die Umwelt. Wirnehmen als selbstverständlich an, daß es eine Welt "da draußen" jenseits

unserer Sinne gibt und daß unser Körper daran teilhat. Unser Körpererscheint dem Geist als eine einzelne, solide, von seiner Außenwelt

unabhängige Wesenheit. Mit dieser Vorstellung haften wir am intensiv-

sten am Körper als dem "Selbst", pflegen und hegen ihn und versuchen,ihn vor Gefahren zu beschützen.

Sobald wir uns zur Meditation niedersetzen, sind es zuerst der Körperund seine Umgebung, die unsere Aufmerksamkeit auf sich ziehen.Somit können wir unsere analytische Untersuchung, die man auf ver-schiedene Weise durchführen kann, auch an dieser Stellebeginnen: »Ichsitze hier, weil mein Körper hier sitzt.« Ist jenes "Ich" deshalb derKörper? Man könnte den Körper systematisch untersuchen, indem mansich Glied für Glied und Organ für Organ und Zelle für Zelle vornimmt:»Ist meine Hand "Ich"? Bin ich noch "Ich" ohne meine Hand? Ohne

meine Beine? Ohne den einen oder anderen Körperteil oder dieses oderjenes Organ?«

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Auch der Körper, an dem wir als "Selbst" haften, muß als solcheraufzufinden sein. Was ist "der Körper" eigentlich? Ist der Arm derKörper, der Bauch, die Brust? Wo befindet sich "der Körper" zwischenseinen Körperteilen?

Page 18: Stufenweise Meditation

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Was ist ein Körperteil, zum Beispiel die Hand? Ist sie ohne Fingerimmer noch eine "Hand"? Ohne Haut? Ohne Knochen? Ohne Fleisch?Wenn man sie in dieser Weise zerlegt hat, wird man feststellen, daß "dieHand" lediglichein passender Begriff für ihre spezielleFunktion ist.EinDing wie "Hand" existiert nicht als solches. Das gleiche gilt für denKörper, für jeden Körperteil, bis zur kleinsten Zelle, zum kleinstenAtom und zum winzigsten subatomarenTeilchen, wie es Wissenschaft-ler nur zu gut kennen. Je eingehender man untersucht, desto mehr Teilewird man finden. Nachdem jeder Partikel eine Bezeichnung erhaltenhat, wird man entdecken, daß sichjedes Teilchen wiederum spaltet. DerProzeß ist endlos.

Untersucht man den Körper in dieser Weise, mag man zu dem Schlußgelangen, daß "Ich" und "Körper" dem Geist als "Ich" und "Körper"erscheinen, doch nicht objektiv von sich aus existieren und lediglichgeeignete Konzepte sind, um mit der Welt und seiner Erfahrung umzu-gehen. Sie haben eine gewisse relative Wirklichkeit, aber sie sindnichtsAbsolutes. In konventioneller Hinsicht sind sie ein Strom von Ereignis-sen, die wir als "Ich"oder "Körper" identifizieren und etikettieren. Vondiesem "Ich"und "Körper"kannjedoch nicht behauptet werden, daß sieeine unveränderliche, separate und unabhängige Existenz haben. Wennder Körper eine derartige Seinsweise hätte, könnten wir ihn als das"Selbst" bezeichnen, aber er hat sie nicht. Wie intensiv wir auch immer

danach suchen werden, wir werden sie niemals vorfinden. Der Körperist nicht das "Selbst" und das "Selbst" ist nicht der Körper. Selbstver-ständlich läßt sich die gleiche Betrachtung auch auf das Gehirn anwen-den.

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2. Aggregatder Empfindung Ct~(skr.: vedanaskandha, tib.: tshor.wa iphung.po):J

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Der erste BefÜhrungsmoment der fünf Sinne mit einem Objekt, dieindividuell seinejeweilige Qualität aufeine unmittelbare Art und Weisewahrnehmen, geschieht durch die Dynamik des Aggregates der Form,gefolgt vom zweiten Moment, dem der Empfindung.Im Aggregat der Empfindung sind alle körperbezogenen Gefühle oderErlebnisse der fünf Sinne -Auge, Ohr, Nase, Zunge und Haut - enthaltensowie auch die geistigen Empfindungen.Grundsätzlich liegt der Empfindung die dualistische Differenzierungder Dinge zugrunde. Sobald der Geist mittels der Sinne mit einemObjekt Kontakt aufnimmt, taucht diedifferenzierte Gefühlsreaktion vonangenehm oder unangenehmauf, wobei dieTendenz entsteht, anziehen-de Erfahrungen beibehalten zu wollen und von abstoßenden frei zuwerden. Eine unbeteiligte oder indifferente Empfindung ist die dritteReaktionsmöglichkeit auf ein Sinneserlebnis hin.Die Empfindungen des Ich-haftenden Geistes dienen als Grundlage fürdie in Handlungen resultierenden sogenannten "drei Gifte" des Geistes:begehrendes Anhaften, Abneigung und Unwissenheit. Die vollständi-gen Ergebnisse dieser Handlungen reifen wiederum am Aggregat derEmpfindung, nämlich positive Taten in der Empfindung von Freude,negative in der von Schmerz und indifferente in neutralen Empfindun-gen.Wenn wir den fünf Sinnen und dem Geist die drei Grundarten von

angenehmer, unangenehmer oder neutraler Empfindung hinzurechnen,ergeben sich achtzehn Empfindungsmöglichkeiten. Beispielsweise me-ditieren wir und fühlen uns dabei wohl und möchten so verweilen, oderwir fühlen uns unwohl und möchten aufstehen. Die dritte Möglichkeitist, daß uns weder die eine noch die andere Empfindung kümmert. Wirerleben stets eines dieser drei Gefühle, weil jeder Wahmehmungsmo-ment von einem dieser drei begleitet ist.

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Da es sich um ein Bündel von vielzähligen, sprunghaft wechselndenEmpfindungsmomenten handelt, kann das "Selbst" nicht damit identi-fiziert werden, weil keines von ihnen die dauerhafte Eigenschaft besitzt,nach der wir suchen.

3. AggregatnesunterscheidendenErkennens ~~(skr.: samjnaskandha, tib.: 'du shes.kyi phung.po)

Beim Akt des Erkennens handelt es sich um ein Zusammentreffen von

mehreren Umständen. Er beruht auf intakten Sinnesorganen, Sinnesob-jekten und dem gerade zuvor versiegten Moment einer der sechsPrimärbewußtseinsarten (s. fünftes Skandha), wodurch ein neuer Ge-wahrseinsmoment entstehen kann. Die Tätigkeit des Skandha der Emp-findung beginnt mit dem ersten Kontakt eines Objektes. Durch dieseBerührung entwickelt sichErkennen.Ein Erkennungsmomenterfaßt dieKennzeichen eines Objektes und hat sowohl die Funktion, ein Objektvon anderen Objekten zu unterscheiden als auch die Objekte als diesesoder jenes zu identifizieren.

Ein Erkennen kann korrekt oder fehlerhaft sein. Die gesamten Störfak-toren des Geistes sowieauch die daraus resultierenden negativen Hand-lungen, sei es auf der Ebene des Körpers, der Rede oder des Geistes,geschehen auf der Grundlage fehlerhaften Erkennens oder Beurteilens,und zwar deshalb, weil die Aggregate fälschlich als eine Entität, als ein"Selbst" identifiziert werden.

Die sechs Möglichkeiten des Erkennens, die mit den sechs Primärbe-wußtseinsarten assoziiert sind, begleiten ebenfalls jeden Gewahrseins-moment. Wenn man eine Farbe sieht, beispielsweise Blau, erkennt mandiese als blau; verspürt man ein Kribbeln,nimmt man diese Empfindungdeutlich wahr;oder wennman das Geräuscheines startenden Autoshört,kann man diesen Laut zuordnen. Das gleiche läßt sich auf Geruch unddie anderen Sinne anwenden. Während unseres gesamten Wachzu- 36

standes erleben wir, wie ein unablässiger Strom von Erkennen, Unter-scheiden und Beurteilen durch unsere Sinne fließt. Entweder hören wireiner bestimmten Sache zu, oder wir betrachten etwas, identifiziereneinen Gegenstand mit unserem Tastsinn als angenehm oder unange-nehm, schmecken oder riechen etwas, oder es entsteht ein Bild voneinem Objekt in unserem Geist. Während der Meditation mag man dieEin- und Ausatmung wahrnehmen, Gedanken und Erinnerungen fließenim Geist, oder wir werden zweier Stimmen gewahr und erkennen siedeutlich als die einer Frau und die eines Mannes.

Obwohl wir annehmen, daß es das eigene Selbst ist, das diese Dingeerkennt und unterscheidet, sodenken wir dochnicht, daß diese Tätigkeitdes Geistes das "Selbst" ist. Keines von ihnen trägt das Kennzeichenvon "Selbst", da keines dauerhaft ist.

rtrd~ ~ ~4. Aggregatder Geistesfaktoren

(skr.: samskaraskandha, tib.: 'du. byed. kyi phung.po)

Während der Ablauf der Skandhas weiter fortschreitet, wird das Zusam-menkommen von Ursachen und Umständen immer vielschichtiger.Beim vierten Aggregat handelt es sich um den Geist, der sich selbstaktiviert und die Eigenschaft hat, sich teilweise auf eine besitzergrei-fende Weise auf die Objekte hinzubewegen und sich mit ihren charak-teristischen Merkmalen auseinanderzusetzen.Diese Bewegung,die sichgänzlich auf ein Objekt einläßt, geschieht vom Hauptgeist (tib.: gtso

sems) aus und ist von ihm abhängig, wie die Wellen die Bewegung desFlusses selbst sind. Sie werden "geistige Ereignisse" oder "Geistesfak-

toren" (skr.: caitta, tib.: sems byung) genannt.Die Sanskrit-Bezeichnung samskara hat die spezifische Bedeutung von

"Anlage" im Sinne von geistigen Spuren, die von ehemaligen Handlun-gen verblieben sind und die das gegenwärtige Denken und Verhalten

- -. ~ u- ailu ..~

Page 20: Stufenweise Meditation

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bedingen. Beim tibetischen Begriff' du byed dreht es sich generell um

geistige Formationen jedweder Art, die in den anderen Aggregaten nichtenthalten sind.

Geistesfaktoren, von denen es unzählige gibt, werden allgemein in 51

Hauptaspekten 10 beschrieben, die hier nur zusammenfassend erklärtwerden. Sie konditionieren mit ihrer Vielfalt von positiven, negativen

und neutralen psychischen Neigungen den sogenannten Charakter einerPerson oder die Persönlichkeit.

Die 51 Geistesfaktoren sind in sechs Funktionsgruppen unterteilt:

1.Fünf sogenannte "allgegenwärtige Geistesfaktoren" haben die Funk-tion, das Erfassen eines Objektes überhaupt erst möglich zu machen.Jeder Gewahrseinsmoment der Primärbewußtseinsarten wird von die-

sen Faktoren gemeinsam begleitet. Der Geistesfaktor Ab s ich t spieltdie Hauptrolle in jeder Aktivität. Er involviert den Hauptgeist und diemit dem jeweiligen Gewahrseinsmoment zusammenhängenden Gei-stesfaktoren mit dem Objekt. Alle Handlungen, seien sie geistiger,sprachlicher oder körperlicher Art, hängen von der Triebkraft des Gei-stesfaktors Absicht ab, in anderen Worten: er bildet die Basis für diekarmische Tätigkeit. Mit dem Geistesfaktor K0n t akt ist das Zusam-mentreffen von einem Primärbewußtsein, dem entsprechenden Sinnes-organ und dem Sinnesobjekt, das das Entstehen der dreiEmpfindungsarten verursacht, gemeint. Der Geistesfaktor Auf me r k-sam kei t richtet den Geist auf die besonderen Attribute eines Objekts.Die Geistesfaktoren E m p f i n dun g und Er k e nn e n sind ebenfallsstets notwendig, um einen geistigen Fokus auf das Objekt zu ermögli-chen. In dieser fünffachen Anordnung der Skandhas werden siejedochihrer Bedeutsamkeit wegen separat als die Aggregate von "Empfin-dung" und "Erkennen" aufgeführt.2. Die Funktion der fünf "vom Objekt überzeugten Geistesfaktoren" istes, sich Gewißheit über das Objekt zu verschaffen, indem sie durch

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Nachforschen die besondere Eigenschaft des Objektes feststellen. DerGeistesfaktor Asp i rat ion hat Interesse an einem Objekt undwünscht, es zu erreichen, Übe r z eu gun g kennt die Qualität einerSache, Ver ge gen wä r t i gun g beobachtet ein Objekt und behält dieKontinuität des ursprünglich Erkannten bei, K0 n zen t rat ion bringtden Geist dazu, sich kontinuierlich einsgerichtet auf das Objekt zurichten, und der Geistesfaktor I n tell i gen z , die Durchdringungskraftdes Geistes,hat die Funktion,die subtilen UnterscheidungenderObjek-te zu ermitteln.

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Sowohl bei der ersten als auch der zweiten Gruppe, der allgegenwärti-gen und der vom Objekt überzeugten Geistesfaktoren, handelt es sichum grundlegende, selbsttätige Eigenschaften des Geistes, die, da sieselber keine eigene Qualität besitzen, sowohl positiv als auch negativbeeinflußt werden können.

A ,1 -!. .;c'; '.'.,-y.j,t,...,3. Diejenigen' geistigen Faktoren, die aufgrund ihrer eigenen Naturheilsam sind, in Frieden und Wohlergehen sowohl für einen selbst alsauch für andere resultieren, sind "positive geistige Ereignisse", von

~ Ir denen esAelf Hauptaspekte gibt. De~,Geistesfaktor Hingabe und~~' Ver t r a {fen, mit den Aspekten von Uberzeugung, Klarheit und Seh-

nen, ist die Grundlage für die Entwicklung von positivem Bemühen undwirkt als direktes Gegenmittel gegen Mißtrauen. Der GeistesfaktorSei b st ach tun g bewirkt, daß man sich aufgrund persönlicher Besin-nung von negativem Verhalten zurückhält. Beim Geistesfaktor R üc k-si c h t nah me handelt es sich um die Besinnung, die anderen keinenSchaden oder keine Enttäuschung bereiten möchte. Der GeistesfaktorE n t sag un g hat die Funktion, sowohl begehrendes Anhaften an denErscheinungen zu verhindern als auch aktiv entgegenzuwirken. Haß-los i gkei t ist ein Geisteszustand, der frei von der Absicht ist zuverletzen und das Entstehen von Haß tatsächlich überwindet. Beim

Geistesfaktor frei von Verblend ung handelt es sichum die klare

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Page 21: Stufenweise Meditation

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und genau arbeitende Qualität des Geistes, die als Gegenmittel gegenVerblendung wirkt. Po si ti ver En th us i asmus ist ein Geistesfak-tor, der dadurch bestimmt wird, daß er Freude am Erlangen geistigerTugenden hat und Trägheit aufhebt. Der Geistesfaktor Ge sc h m e i -d i gkei t befähigt den Geist zur Flexibilität, beseitigt Schwere undTrägheit. Mit dem Geistesfaktor Ach t sam k ei t oder Überlegtheit istdie grundlegende, vor negativen Einflüssen schützende Qualität des

Geistes gemeint s~ie die, die positive Eigenschaften bewahrt undkultiviert. GI e ich mut ist ein Geistesfaktor, der den Geist in Balancebewahrt, frei von Dumpfheit und Erregung. Dem Geistesfaktor Ge-wal t los ig kei t mangeltjegliche Absicht zu schaden, er ist eine Formvon Mitempfinden.

4. Es gibt sechs "grundlegende Störfaktoren" des Geistes (skr.: mula-

kiesha, tib.: rtsanyen), die fürjede Form von Leid und Unzufriedenheitverantwortlich sind. Der Geistesfaktor begehrendes Anhaftenüberbewertet das Attraktive an Sinnesobjekten,haftetdaran und möchtesie erlangen. Der Geistesfaktor Ä r ger überbewertet den abstoßendenAspekt von Sinnesobjekten, wühlt den Geist auf und sucht Schadenzuzufügen. Der Geistesfaktor S t0 Iz überbewertet die eigenen Quali-täten oder Errungenschaften und verursacht, daß man sich anderengegenüber arrogant verhält. Der geistige Störfaktor U n w iss e n he i t;\gilt als die nährende Wurzel aller vorhandenen Störfaktoren. Er wirddefiniert als der unwissende Aspekt des Geistes, der sich über die Natureines Objektes im Unklaren befindet. Der Geistesfaktor Zweifelzählt dann zu den grundlegenden Störfaktoren, wenn die Art des Zwei-teins den Geist beunruhigt, verwirrt und die Entwicklung geistiger

T~ge~den ~emmt, insbe.sondersder Z~eifel über !<armau~d dif b~idenWirklichkeiten. Der Geistesfaktor store nde SlCh twel se~'Vlieex-treme, Entität-fixierte, intellektuell falsch formulierte Sichtweisen, istdie Grundlage für alle inkorrekten Ansichten in Bezug auf die Wirklich-

keit. r 0 '..:\ L .'

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5. Die folgenden zwanzig "seKundären Störfaktoren", die den Geistaufwühlen und Schaden für einen selbst und andere herbeiführen, sind

Erweiterungen der "grundlegenden Störfaktoren", insbesondere von

be~ehrendem Anhaft~, Ärger und Unwissenheit. Di.eDefinition desGeistesfaktors Wut. Ist der Wunsch, anderen unmittelbar Schadenzuzufügen, sei es körperlich oder sprachlich. Beim GeistesfaktorRa c h s uc-ht handelt es sich um die Absicht, Möglichkeiten zu finden,um erhaltenen Schaden zuvergelten. Ve rdr än gun gistein Störfaktordes Geistes, der eigene Fehler aufgrund von Anhaftung oder negativerAbsicht nicht eingestehen will. Der Geistesfaktor Geh ä s si g kei tträgt das Verhalten anderer nach und äußert verletzende Worte. Ne i d,ist ein Störfaktor des Geistes, der es nicht ertragen kann, wenn er

beispielsweise Qualitätenoder den Besitz anderer sieht.Der Geistesfak-tor Gei z wird dadurch bestimmt, daß er unfähig ist, eigene Sachenwegzugeben. Heu c hel e i ist ein Geistesfaktor, der aufgrund vonAnhaftung andere täuschen will. Der Geistesfaktor Une h r li c h kei that ebenfalls die Absicht,ein falsches Bild von sich zu geben und andereirrezuführen, indem er die eigenen Fehler vertuscht. Der GeistesfaktorSei b st ge fäll i g ke i t ist ausschließlich um den eigenen Körper unddie eigenen Errungenschaften besorgt. Der Geistesfaktor B 0 shaft i g-k e i t hat die Funktion, andere herabzusetzen und ihnen Schaden zuzu-

fügen. Skrupellosigkeit ist ein Störfaktor des Geistes, der ohnejeglichen Selbstrespekt vor keinem Fehlverhalten zurückschreckt. DerGeistesfaktor R üc k s ich t sI 0 s igk ei t schreckt vor keinem Fehlver-halten in Bezug auf andere zurück und führt dazu, daß andere ihreAchtung vor einem verlieren. Gei s ti ge r Stumpfs in n ist ein un-empfindlicher Geistesfaktor, der sich nicht klar und eindeutig auf einObjekt ausrichtet und Körper und Geist schwer macht. Aufgrund vonbegehrendem Anhaften erlaubt der Störfaktor ge is ti ge" Erregu ngdem Geist nicht, an einem positiven Objekt zu verweilen, sondern läßtihn umherschweifen. Der Geistesfaktor mangel nde S' Vertrauenweist kein Verlangen nach religiösen Werten auf und besitzt keinen

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Respekt vor dem, was wert des Vertrauens ist. Die Definition desGeistesfaktors Fa u Ihe i t ist Unlust an heilsamen Handlungen, moti-viert durch Anhaftung an weltlichem Vergnügen. Ge w iss e n los i g -k e i t ist ein Geistesfaktor, der ungehalten das zu tun wünscht, wonaches ihn verlangt, ohne den Geist vor Fehltritten zu bewahren. Ver g e ß -li c hkei t ist dann ein Störfaktor, wenn er den Geist zu negativenObjekten abschweifen läßt und seine heilsame Ausrichtung vergißt.Aufgrund von Begierde, Ärger oder Unwissenheit zerstört der Geistes-faktor Ab gel e nk t sei n die Konzentration, die positiv ausgerichtetist. Mange Inde Sei bs tbeo bac h tu n g setzt sich unzureichendmit dem eigenen Verhalten auseinander.

6. Die letzte Gruppierung der Geistesfaktoren umfaßt die vier variablengeistigen Zustände Sc h laf, Re ue, all gerne i ne Unters uc hu ngund detaillierte Prüfung eines Objektes, die, abhängig von dereigenen Motivation, vorteilhaft, nachteilig oder neutral sein können.

Obwohl wir geistige Formationen oder Ereignisse in keiner Weise alsdas "Selbst"betrachten, tendieren wir dennoch dazu, unser "Selbst"mitdem zu identifizieren, was wir uns als unsere Persönlichkeit vorstellen.Sobald ein Teil unserer Persönlichkeit kritisiert wird, reagieren wirgefühlsmäßig in der Annahme, daß wir (unser Selbst) kritisiert wordenseien. Wenn manjedoch die Beschaffenheit der eigenen Persönlichkeitsehr sorgfältig und leidenschaftslos untersucht, wird man feststellen,daß diese weitaus unbestimmbarer ist als der Körper. Beim Körper warman sich wenigstens soweit gewiß, welche Körperteile ihn ausmachen,obschon keiner von ihnen als das "Selbst" identifiziert werden konnte.

Bei der Persönlichkeit hat man es jedoch mit einem Strom von sichständig wandelnden Formationen und Ereignissen zu tun. Man neigtdazu, bestimmte, mehr oder weniger konstante Eigenschaften diesesStromes als Kennzeicheneiner individuellen Persönlichkeit auszuwäh-len, und wenn sie sich manifestieren, fühlt man, daß die Person sie selbstist. Sobald sich bei ihr ganz andere Charakterzüge offenbaren (wieder- 42

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um in einer mehr oder weniger konstanten Form), so sprechen wir vonihr als von jemandem, bei dem sich ein Wandel der Persönlichkeitvollzogen hat. Wir sagen von ihr, daß sie nicht in ihrer richtigengeistigen Verfassung oder zeitweilig verwirrt ist und so weiter. Still-schweigend folgern wir hieraus, daß es da eine Person oder "Selbst"geben muß, die sich von der gegenwärtigen Persönlichkeit oder ihremgeistigen Zustand-un)ßrscheidet.Und genau dieses "Selbst" ist es, dasj ~

wir zu einer Untersuchung heranziehen. Es ist eindeutig nicht die

Persönlichkeit oder irgendeiner der Geistesfaktoren, die es (das Selbst)ausmachen, da keines von ihnen ein separates, unabhängiges, dauerhaf-

tes Elwnent auf~eist, das als "Selbst" bezeichnet werden könnte.l~~

5. AggregatderPrimärbewußtseinsarten(skr.: vijnana skandha, tib.: mam shes kyi phungpo)

Die Primärbewußtseinsarten im Kontinuum einer Person werden "Pri-märbewußtsein" oder "Hauptgeist" genannt, um sie von den Sekundär-bewußtseinsformen, den Geistesfaktoren, zu unterscheiden, die dieArten des Primärbewußtseins ständig begleiten und ihren Einfluß überdie Gesamtheit des Geistes ausüben.

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"Geist" wird definiert als etwas, das leer und klar ist und die Fähigkeitdes Erkennens besitzt. Leerheit und Klarheit bezieht sich auf seinelichte, nicht-materielle Natur, die dem offenen Raum ähnlich ist, jedochungleich diesem bewußt Dingeerfassen kann. Entsprechend derbuddhi-stischen Überlieferung ist "Geist" ein vielfaches Phänomen. Er wird imLehrsystem des Shravaka als sechsfach beschrieben, und zwar in fünfsinnlicherfassenden Primärbewußtseinsartenund ineiner geistigen.Beiden Primärbewußtseinsarten der Sinne handelt es sich um die fünf

Wahrnehmungen der Sinne: Die Sehwahmehmung erlebt die Eigenarteiner Form durch die sogenannten "Sinneskräfte" oder Fähigkeiten derAugen. Die Hörwahrnehmung erlebt die Eigenart eines Klanges durch

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die Sinneskräfte der Ohren. Die Geruchswahrnehmung erlebt die Eigen-art eines Geruchs durch die Sinnesfähigkeit der Nase. Die Geschmacks-

wahrnehmung erlebt die Eigenart eines Geschmacks durch die

Sinnesfähigkeit der Zunge. Die Wahrnehmung des Körpers registriertdie Eigenart eines Reizes durch die Fähigkeit des Haut- und Tastsinns,der den ganzen Körper durchzieht.

Die fünf Sinneswahrnehmungen stimmen mit dem ersten Wahrneh-mungsmoment der fünf Sinne überein, die die Natur ihres Objektes aufeine unmittelbare Weise erkennen, d.h. ohne sich gedanklich mit demerfaßten Gegenstand auseinanderzusetzen, denn weder die Sinne nochdie Sinneswahrnehmungenbesitzen intellektuelleFähigkeiten. Sie wer-den mit einer Person verglichen, die zwar sehen kann, aber stumm ist.

Die Voraussetzung für das Entstehen der fünf Sinneswahrnehmungensind u.a. unversehrte Sinnesorgane und die entsprechenden Objekte derSinne. Das Entstehen des sechsten, geistigen Primärbewußtseins istnicht von einem psychischen Sinnesorgan abhängig, sondern von dersensorischen Information, die es von den verschiedenen Sinneswahr-nehmungen empfängt. Das geistige Bewußtsein kann sich mit einemSinnesbewußtsein einlassen, zum Beispiel an einem angenehmen Ge-ruch haften, doch ihm fehlt der direkte Kontakt mitdem äußeren Objekt.Das, was das geistige Primärbewußtsein erlebt, sind Phänomene, dievon geistiger Natur sind. Sobald eine der Sinneswahrnehmungen einObjekt aus seinem natürlichen Zusammenhang mit dem Ganzen aus-schnitthaft aussondert, übermittelt sie in einem Bruchteil von Sekunden

dieses Bild an das geistige Primärbewußtsein, das sich im darauffolgen-den Augenblick eine begriffliche Vorstellung davon macht, indem esdiese Information mit seiner eigenen, subjektiven Projektion davonvermischt, sie als "angenehm"oder "unangenehm"usw. bezeichnet. Diebegriffliche Erfassungsweise des Primärbewußtseins befindet sich in

einem ständigen Irrtum, da sie von individuellen Eindrücken ausgeht 44 45

und der Seinsweise des Objekts nicht mehr entspricht. Das geistigePrimärbewußtsein wird mit einer Person umschrieben, die äußerstscharfsinnig und redegewandt, jedoch blind ist.Es istjedoch falsch anzunehmen, daß es sich beim Aggregat der Primär-bewußtseinsarten um sechs Entitäten handelt. Das visuelle Primärbe-

wußtsein ist ein Strom von temporär erlaBten Momenten von Formenund Farben aller Ausmaße und Schattierungen und die Hörwahrneh-mung eine Ansammlung vernommener Momente jeglicher Klangartwie laute und leise, hohe und tiefe Klangmomente usw. Die Geruchs-,Geschmacks- und Körperwahrnehmungbesteht aus aufeinanderfolgen-den, wahrgenommenen Augenblicken verschiedenartigster Gerüche,Geschmacksnuancen und Berührungsempfindungen. Und beim klaren,äußerst unbeständigen geistigen Primärbewußtsein handelt es sich umeine Fluktuation von Momenten geistiger Wahrnehmung. Im Buddhis-mus bezieht sich also der Begriff "Primärbewußtsein" auf einen einzi-gen dieser Erlebnismomente.

Wenn wir über die zuvor aufgelisteten vier Skandhas nachdenken, magman das Gefühl nicht loswerden, daß hinter diesen ein ihnen gemeinsa-mes Kontinuum, eine Art Bewußtheit oder Erkennendes liegt. Wir sindvielleicht sogar dazu geneigt, es als den Geist selbst anzunehmen, dermit den in ihm auftretenden Ereignissen nicht identisch ist. Möglicher-weise vermuten wir, daß es nun wirklich das ist, war wir mit "Ich" oder"Selbst" meinen. Es scheint sich um eine unwandelbare, separate,unabhängige Bewußtheit zu handeln, die die Grundlage unserer gesam-ten Erfahrung ist. Sie ist das "Ich, der Macher". Diese Idee gilt essorgfältig zu untersuchen.

Im allgemeinen stellen wir uns unser Leben und unsere Erfahrung alsetwas Dahinfließendes vor, als eine Art Strömung innerhalb von Zeitund Raum. Man hat das Gefühl von Anfang und Ende, und ein Ereignisfolgt auf das andere. Obwohl wir einen Erfahrungsmoment nicht alsetwas betrachten, der Ecken um sich herum hat, haben wir trotzdem das

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Gefühl, daß er irgendwo endet, denn sonst würde er einfach mit allemanderen verschmelzen. Unsere Erfahrung und unser Gefühl von"Selbst" ist demnach eindeutig von Zeit und Raum begrenzt. Es müßtealso im Bereich des Möglichen liegen, Raum und Zeit in die kleinstenmit den Sinnen zuerfassenden Teilchen und in den kleinsten wahrnehm-

baren Zeitmoment zu zerlegen. Um sicherzugehen, daß auf der Suchenach einem fortdauernden und separaten Selbst kein Aspekt übersehenwird, versucht man in der Shravaka-Herangehensweise des kleinstenwahrnehmbaren Erfahrungsmomentes gewahr zu werden.

Dabei wird man herausfinden,daßjeder Augenblick der Erfahrung zweiAspekte hat. Wenn er diese beiden Aspekte nicht hätte, könnte erschwerlich als ein Erfahrungswert zählen. Und was sind diese beidenAspekte? Erstens muß es etwas geben, das erlebt, und zweitens etwas,das erlebt werden kann. In anderen Worten: es gibt stets etwas, daserkennt und etwas, das erkannt wird. Wenn eines dieser Elemente fehlen

würde, könnte keine Erfahrung zustande kommen. Der Sanskrit-Begrifffür diese kleinsten zu erfassenden Momente des Gewahrseins, die in

Abhängigkeit von ihren korrespondierenden, flüchtigen Objekten desGewahrseins auftreten, ist vijnana (tib.: rnam shes). Die Silbe vi bedeu-tet in etwa partiell oder geteilt. Beim wahrnehmenden Geist handelt essich dementsprechend um ein partielles oder geteiltes Wissen. Im Ge-gensatz zudieser Bezeichnungbedeutet der Sanskrit-Begriffjnana (tib.:ye shes, Ursprüngliches Wissen) ganz einfach nur Wissen oder Weis-heit. In den späteren Stadien der Meditationsfolge über Leerheit be-kommt der Unterschied zwischenjnana und vijnana große Bedeutung.

Das Endergebnis dieser ziemlich langen Diskussionüber die Bedeutungdes Primärbewußtseins im Buddhismus ist, daß man sich bei der Unter-suchung der Vermutung, die fortlaufende Bewußtheit hinter der gesam-ten eigenen Erfahrung sei das "Selbst", auf den Strom der Vijnanasbeziehen muß. Man mag in dieser Weise den Geist nicht so tief analy-siert haben, doch solange man eine gewöhnliche Vorstellung von Zeit 46

und Raum akzeptiert, muß die Natur des Bewußtseins, wie oben be-schrieben, zerlegbar sein. Da außerdemjeder Moment des Gewahrseinsauf ein anderes Objekt gerichtet ist, istjeder wahrnehmende Augenblickseparat und verschieden. Ob es sich um ein Gewahrsein von Form oderum ein geistiges Bild handelt, es ist, welcher Art auch immer es seinmag, von irgendeinem anderen wahrnehmenden Moment, der zuvorauftaucht oder dabei ist, nach diesem zu entstehen, völlig verschieden.Der vorhergehende Moment ist verschwunden, und der Augenblick,derauf ihn folgt, existiert noch nicht. Aus diesem Grunde kann es sich beimPrimärbewußtsein einzig und allein um etwas Flüchtiges handeln, undein derartig rasch vorüberziehendes Phänomen kann niemals geeignetsein für den Titel "Selbst". Somit kann der Geist oder die Bewußtheit,die sich hinter unserer gesamten Erfahrung zu befinden scheint, eben-falls nicht als das "Selbst" bestimmt werden.

ENDANALYSE

Wenn das Selbst des Individuums konkret existieren würde, dann müßte

es, wie zuvor beschrieben, ein von anderen Erscheinungen separates und

unabhängiges Phänomen sein, unabhängig zum Beispiel von Ursachen

oder seinen Teilen. Demzufolge müßte es mit den fünf physisch-psy-chischen Komponenten gänzlich identisch oder vollkommen verschie-den davon sein - eine andere Lösung zu dieser Problemstellung gibt esnicht.

Wenn wir die erste Möglichkeit untersuchen, werden wir deutlich zurÜberzeugung gelangen, daß unser Ich-Gefühl, an dem wir haften, keinfünffaches, sondern ein einzelnes ist. Es kann sich also beim "Selbst"nicht um die fünf Aggregate handeln. Wenn das "Selbst" die fünfAggregate wäre, dann müßte es demzufolge fünf "Selbst" geben. Darü-ber hinaus bedienen wir uns im gewöhnlichen Sprachgebrauch der fünf

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Anhäufungen in einer besitzenden, erfahrenden und kontrollierendenWeise. Wir sprechen von "unserem" Körper, "unserem" Geist und"unseren" Gefühlen, »die wir im Griff haben«. Dieses zeigt deutlich,daß das Selbst des Individuums etwas anderes als die fünf Aggregatesein muß und nichts mit ihnen gemein haben kann.

Wenn das "Selbst" jedoch von den Skandhas vollkommen verschiedenwäre, müßte sich das dann klar herauskristallisieren, sobald wir die fünf

Erfahrungsgruppen abgelegt haben. Wenn wir uns jedoch unserer kör-perlichen und geistigen Komponenten entledigen würden, dann würde

von uns nichts mehr übrig bleiben. Das" Selbst" kann also nicht getrenntvon den fünf Aggregaten existieren.

Am Ende unserer Analyse kommen wir zum Ergebnis, daß das Selbsteinfach ein vages und zweckdienliches Konzept ist, das wir mal hierund mal dort auf einen Strom von Erlebnissen projizieren; das Selbstbesteht weder in sichnoch aus sich selbst. Man mag den Wunsch hegen,das Selbst als eine Art Kontinuität von strömenden körperlichen undgeistigen Erlebnissen, die die Persönlichkeit ausmachen, aufrechtzuer-halten. Dieser Art von Selbst fehlen die Kennzeichen von etwas Dauer-haftem, Abgetrenntem und Unabhängigem. Jedoch auch dieserwiederholte Versuch, das Selbst neu zu definieren, ermöglicht uns nichtim geringsten, unser emotionales Verhalten zu erklären. Der Buddhis-

mus geht in seiner Aussage nicht so weit, den Menschen zu sagen, wassie glauben sollen -daß sie z.B. ein "Selbst" oder kein "Selbst" haben.Er sagt vielmehr aus: Wenn man sich die Art und Weise anschaut, inder wir leiden, denken und emotional auf das Leben reagieren, so siehtes so aus, als ob wir glauben, daß es ein "Selbst" gibt, das dauerhaft,separat und unabhängig ist; wenn man die Sache genau untersucht, sokann man trotzdem kein derartiges "Selbst" isolieren oder vorfinden.Die Skandhas sind, um es in anderen Worten auszudrücken, lee r (skr.:shunya, tib.: stong.pa) von einem "Selbst".

Diese Schlußfolgerung ist sehr wichtig für das korrekte VerständnisderLeerheit. Das Phänomen an sich wird nicht geleugnet! Selbstverständ-lich gibt es eine Person, die von Körper und Geist abhängig ist, die inHandlungen verwickelt ist und das Ergebnis ihres Tuns erfahren wird.Deshalb ist auch nichts gegen ein gesundes Gefühl von Identität einzu-wenden! Sobald wir jedoch untersuchen, ~ dieses Selbst existiert,dann stimmtdie Endanalyse mit dem festen Bild, das wirvon uns haben,nicht mehr überein. Wir haften an etwas, das nicht existiert! Diesesbegrenzte, emotional verhaftete Wirklichkeitsbild wird durch unseregeistigen Muster und Gewohnheiten der Gedanken genährt und ge-stärkt.

Darüber hinaus führen die Handlungen, die man in dem Glauben tätigt,daß es sich um das "Selbst" handelt, das da agiert, dazu, die "Welt" zuschaffen, in der man sich befindet. In anderen Worten: Auch wenn imabsoluten Sinne kein Selbst besteht, muß man doch auf der relativenEbene die Ergebnisse seiner vergangenen guten und schlechten Hand-lungen erfahren.

Der Vergleich mit einer Kerzenflammekanndiese Aussage veranschau-lichen. Man kann beispielsweise sagen: »Diese Flamme hat den ganzenTag gebrannt.« Im uneingeschränkt gültigen Sinnejedoch gibt es keineFlamme, die den ganzen Tag gebrannt hat. Die Flamme war von einemMoment zum anderen niemals dieselbe. Es gab überhaupt keine sepa-rate, unabhängige, dauerhafte Flamme. Es existiert kein Ding wie "eineFlamme" als solche, aber dessen ungeachtet ist es trotzdem sinnvoll,von der Flamme zu sprechen.

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Während der Meditation über die Leerheit der physisch-psychischenAggregate betrachtet mandieseeinfach als das, was sie sind; sie besitzenkeine solide Eigenschaft und haben keine absolute Existenz. Keinesdieser Aggregate kann als das dauerhafte, unabhängige, separate"Selbst" identifiziert werden, ihre Verbindung ist nicht das "Selbst"

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noch existiert in ihnen ein derartiges" Selbst". Es ist ähnlich wie in einemTraum, in dem man beispielsweise die Qual erfährt, verbrannt oder von

einem Tiger verfolgt zu werden: Das ganze Leiden, das damit verbun-den ist, verschwindet, sobald man feststellt, daß die Person im Traum

nicht man selbst ist. Auf die gleiche Weise wird das gesamte Leiden,das durch die Annahme entstand, die Skandhas seien das "Selbst",

abklingen, sobald man seine Aufmerksamkeit nach innen auf das Nicht-vorhandensein des "Selbst" in den Skandhas richtet.

Dann kann der Geist mit vollkommenem Vertrauen und Gewißheit

friedvoll im leeren Raum ruhen. Alle subtilen Zweifel werden sich durch

eine derartige Meditation erschöpfen, und der Geist vermag natürlich inder Leerheit zu verweilen.

ERGEBNIS DER SHRAVAKA-ÜBUNG

Aus diesem Grunde verbleibt als einziger Weg, um das eigene Leidenzu beseitigen, das Nichtvorhandensein des "Selbst" zu verstehen. DerWeisheitsgeist, der Nicht-Selbst erkennt, gleicht dem Licht, das dieDunkelheit beseitigt. Genauso wie Finsternis nicht in Helligkeit beste-hen kann, kann Leiden im Licht des Weisheitsgeistes nicht fortdauern.

Wo immer Leiden vorkommt, muß auch Haften am "Selbst" vorliegen.Wo auch immer Haften am "Selbst" besteht, muß Unwissenheit überNicht-Selbst vorhanden sein. Es gibt nur eine einzige Möglichkeit,Leidsituationen ein Ende zu setzen: die Ignoranz, die die Ursache fürdas Haften am Selbst ist, zu beseitigen.

Die Tilgung von Leiden ist demnach das Ziel des Shravakas, und diesesZiel nennt er nirvana (skr., Verlöschen). Der Shravaka ist weder darumbemüht, auch das Leiden aller anderen lebenden Wesen zu beseitigen,noch versucht er, den erwachten Zustand des Buddha zu erreichen. Erverfügt weder über die Vision, das Verständnis, noch über das notwen-dige Vertrauen, um derartig motiviert zu sein. Sein Ziel ist relativbescheiden. Es handelt sich dabei schlicht um die Beseitigung derUrsache für sein eigenes Leiden. Man kann jedoch nicht behaupten,

seine Leerheitserkenntnis sei nicht ausreichend tiefgründig. Es heißt{daß sie mit der eines Bodhisattvas vomersten bis zum sechsten Bhumi1

korrespondiert. Sie beseitigt die Schleier der Ignoranz und der Verwir-rung, die tiefere und subtilere Ebenen der Leerheit so unerreichbarmachen. Indem man nicht mehr an der irrigen Auffassung von eineminhärenten, natürlich existierenden "Selbst" in den Skandhas festhält,bereitet man damit auch den Weg für die "höheren Fahrzeuge", derenZiel es ist, nicht nur das eigene Leiden, sondern auch das aller Wesenzu beseitigen.

Die Ursache für all unsere Leiden ist unser instinktives, emotionalesHaften oderFestklammern an dervagen Vorstellung eines "Selbst".Ausder Vorstellung eines "Selbst" resultiert die von "Anderen". Wenn der"Andere" durch seine Verhaltensweise unser "Selbst" stabilisiert,

schenken wir ihm unsere Zuneigung und suchen seine Nähe. Wennjedoch der "Andere" durch sein Verhalten unsere "Ich-Struktur" be-droht, weisen wir ihn von uns ab. Dem "Anderen", der weder unserSelbst stabilisiert noch bedroht, stehen wir gleichgültig gegenüber. Nuraus dieser Interaktion von "Selbst" und "Anderen" entstehen die drei

Gifte von Begierde, Abneigung und Verblendung. Es gibt viele Formender Begierde -Habgier, Neid und Geiz sind darin inbegriffen. Haß kanndie Form von Eifersucht, Ärger und Verdruß annehmen, Verblendungumfaßt geistigen Stumpfsinn, Dummheit und Verwirrung. Aus diesenunheilsamen geistigen Zuständen resultieren die dadurch motiviertenHandlungen und ihre Ergebnisse. Deren Resultate, denen man nichtentkommen kann, solange man sich mit dem leidenden "Selbst" identi-

fi,iert. nehmenjegliche Fonn von Leid an. 50 ~ 51

L.J ~

Page 27: Stufenweise Meditation

MEDITATlONSVERLAUF

Wenn man Belehrungen über die stufenweise Meditationsfolge überLeerheit erhält, hat man zwar häufig zu wenig Zeit, um über eine Stufeausreichend meditieren zu können, bevor man mit der nächsten bekanntgemacht wird, doch ist es von größerem Vorteil, sich jede Etappeeinzeln vorzunehmen und sich darin solange zu schulen, bis man zueiner eindeutigen Erfahrung vorgedrungen ist, die die Theorie desNicht-Selbst bestätigt.12

Die Fähigkeit, über Leerheit zu meditieren, erwirbt man sich durchÜbung in den drei Stufen der analytischen, alternierenden und stabili-sierenden Meditation. Die erste Stufe der analytischen Meditation'dientdazu, ein klares und tiefes Verständnis der Leerheit zu gewinnen. Diephilosophische Debatte, die in einigen Schulen einen bedeutenden Teilder buddhistischen Ausbildung ausmacht, ist ebenfalls eine Form deranalytischen Meditation. Für denjenigen, der sich als Anfänger in derMeditation betrachtet, ist diese untersuchende Vorgehensweise äußerstwichtig.

Bei der stabilisierenden Meditationsstufe, die von jeglicher gedankli-chen Tätigkeit frei ist, handelt es sich um die eigentliche Meditation, inder jedoch nur ein Geübter lange konzentriert zu verweilen vermag.Der mitder Praxis Beginnendebedient sich ausgiebig der zweiten Stufe,wobei er geschickt die analytische Meditation mit der stabilisierendenabwechselt. Sollte sich der Meditierende hauptsächlich und ausgiebigallein der Analyse bedienen, wird sein Geist von Gedanken bewegtbleiben, doch falls er die analytische Meditation nicht durchführen undnur die stabilisierende Meditationsstufe kultivieren sollte, besteht dieGefahr, daß er das Interesse am Ergründen der Dinge verliert und seinGeist dumpf und unscharf werden kann.Ein Anfänger übt sich in dieser zweiten Meditationsstufe, indem erzuerst mittels analytischem Denken nach dem Objekt der Meditation

sucht, wobeidas Meditationsobjekt im Stadium des Shravakadas Nicht-vorhandensein eines konkreten Selbst ist. Während der Analyse gilt esmit unnachlässiger Aufmerksamkeit am Objekt der Beobachtung zuverbleiben und nicht zu anderen Objekten hin abzuschweifen. Sobald

der Meditierende mit Überzeugung zum Meditationsobjekt vorgedrun-gen ist, hebt er es deutlich im Geist hervor, richtet seine Konzentrationeinsgerichtet darauf und verweilt in der vorgefundenen Leerheit desSelbst. Durch den wiederholten Prozeßder Alternation von analytischerund stabilisierender Meditation wird sich "Durchdringende Einsicht"(skr.: vipashyana, tib.: Ihag mthong) oder prajna (tib.: shes Tab),dieErkenntnisfähigkeit des Geistes, die der Meditation entspringt, ent-wickeln.

Anfangs verhält es sich bei der Meditation genauso wie mit demStudium und der Reflexion; denn ein gewisses Ausmaß an Regelmäßig-keit, Ausdauer und Fleiß ist erforderlich. Jedoch sollte man den eigenenGeist niemals zu sehr anspanflen.Nehmen Sie als Beispiel einen Musi-ker, der die Saiten seines Instrumentes stimmt. Die Spannung mußgenau richtig sein, nicht zu straff und nicht zu locker. Im allgemeinenist es besser, für kurze Abstände konzentriert zu meditieren, als unef-fektiv für lange Perioden; am besten beginnt man mit einer Dauer von10-30Minuten.

Suchen Sie sich am Morgen und am Abend einen bestimmten Zeitpunktfür die Meditation aus. Setzen Sie sich in guter Meditationshaltung hinund beginnen Sie stets damit, sich gedanklich in den Schutz vonBuddha, Dhanna (skr., die Lehre des Buddha) und Sangha (skr., diebuddhistische Gemeinschaft) zu begeben und die Bodhicitta-Motiva-

tion (skr., das altruistische Streben nach höchster Makellosigkeit undVollkommenheit) zu kultivieren.

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Während einer Meditationssitzung von beispielsweise 30 Minuten soll-ten Sie anfangs 20 Minuten der Analyse und 10 Minuten der stabilisie-renden Meditation widmen.

Page 28: Stufenweise Meditation

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Da es sich bei den fünf Aggregaten um vielfaltige Phänomene handelt,ist es vorteilhaft, diese einfach und schrittweise zum Thema Ihrer

Untersuchung zu machen. Beginnen Sie mit dem Skandha der Form.

Nehmen Sie sich den Körper vor, zuerst die Glieder: Kopf, Arme,

Rumpf, Beine und so weiter, dann die Körperorgane und die Körperzel-len. Forschen Sie nach dem "Selbst", wie es Ihnen zuvor erklärt wurde.

Sind meine Körperteile das "Ich"? Eventuell der Kopf? Wenn der Kopfdas "Ich" wäre, dann könnten logischerweise die restlichen Körperteile

nicht das "Ich" sein. Wenn alle Körperteile das "Ich" wären, dann gäbees viele "Ichs".

Wenden Sie die gleiche Aufmerksamkeit in Ihren Sitzungen den acht-zehn Empfindungen des zweiten Aggregates zu. Ist die angenehmeQualität des Erlebens, sobald sich der Sehsinn auf eine attraktive Formrichtet, das "Ich"? Ist die unangenehme Qualität des Erlebens, sobaldsich der Sehsinn auf eine abstoßende Form richtet, das "Ich"? Ist dieindifferente Qualität des Erlebens, sobald sich der Sehsinn auf eineneutrale Form richtet, das "Ich"? Oder eventuell die angenehme, unan-genehme oder die neutrale Qualität des Erlebens eines Klanges, einesGeruchs, eines Geschmacks, eines tastbaren Objektes oder vielleichteines geistigen Bildes? Wenn dieerstgenannte angenehme Empfindungdas "Selbst" wäre, was wäre dann die Folge? Dann dürfte sie sichniemals wandeln. Wir müßten stets Formen als angenehm erleben.Wenn alle drei Grundempfindungen das "Selbst" wären, dann gäbe esnotwendigerweise drei "Selbst". Sie können nicht das "Selbst" sein, dasie niemals gemeinsam als eine Entität auftreten.

Untersuchen Sie, ob eine der sechs Arten des dritten Aggregates, desAggregates des unterscheidenden Erkennens, das "Selbst" sein kann.Wenn beispielsweise das visuelle Erkennen eines Objektes als weiß mitdem "Selbst" identisch wäre, was wäredann die Folge? Dann müßte dieSehwahrnehmung Objekte stets als weiß erkennen. Oder wenn dasIdentifizieren einer Person als Freund oder Feind mit dem "Selbst" 54

identisch wäre, dann müßten konsequenterweise Personen stets alsFreund oder Feind wahrgenommen werden. Oder wenn wir uns bei-

spielsweise als schwach oder stark ansehen, unfähig oder äußerst fähig,eine geistige Entwicklung anzustreben, und diese jeweilige Schwächeoder Stärke das "Selbst" wäre, dann müßten wir uns immerzu als

schwach oder immerzu als stark ansehen. Wenn die gesamten sechsArten des unterscheidenden Erkennens mit dem "Selbst" identischwären, dann müßte es sechs "Selbst" geben. Es kann sich hier nicht umdie Entität "Selbst" handeln, da die Variation der Erkennungsmomenteniemals zusammen, sondern getrennt voneinander auftreten.

Wenn Sie die jeweiligen Geistesfaktoren des vierten Aggregates analy-sieren, werden Sie feststellen, daß Sie sich in der Tat alltäglich, mehroder weniger, mit einemjeden dieser Faktoren identifizieren. BefragenSie sich selbst: Ist dieser oder jener Geistesfaktor das "Ich", oder kanndie Gesamtheit der Geistesfaktoren die Entität "Ich" sein?

Vielleicht ist die Seh-, Hör-, Geruchs-, Geschmacks-, Tast- oder diegeistige Wahrnehmung das "Ich"? Wenn beispielsweise die Hörwahr-nehmung mit dem "Ich" identisch wäre, dann müßten wir immerzu nurhören. Um uns von der Vorstellung zu befreien, daß alle sechs Artenvon Primärbewußtsein ein und dasselbe wie das "Ich" sind, müssen wiruns auf eine analytische Weise der Erfahrung selbst zuwenden. Handeltes sich beim Bewußtsein oder bei der Erfahrung, die hinter allemErleben zu existieren scheint, um ein sich von Moment zu Momentwandelndes Phänomen oder um eine Entität? Um sich selbst davon zu

überzeugen, daß objektiv gesehen die Erfahrung oder das Bewußtseinkeine Entität ist, sondern aus winzigen, aufeinander folgenden Erleb-nissen mit einem erlebenden und erlebten Aspekt besteht, ist es unum-gänglich, sich in der Meditation eines jeden Erfahrungsmomentesgewahr zu werden.Schließlich richten Sie Ihre Konzentration auf das "Selbst", das eventu-ell als etwas außerhalb der Skandhas identifiziert werden könnte.

Page 29: Stufenweise Meditation

Sobald sich etwas Vertrauen und Verständnis entwickelt hat, daß die

Aggregate leer sind, ähnlich dem offenen Himmelsraum,halten Sie sichnicht mit fortgesetzter Analyse auf, sondern begeben Sie sich gerade-wegs in die stabilisierende Leerheitsmeditation. Nachdem Vertrauenentstanden ist, gleicht die wiederholte Zuwendung zum analytischenTeil der Meditation dem ständigen und damit sinnlosen Ein- und Aus-schalten eines Lichtschalters. Lassen Siedas Licht, sobald es angeschal-tet ist, brennen. Während der eigentlichen Meditationsphase IhrerÜbung sollte es keinen Grund mehr für Nachdenken geben. Sie solltenfrei von jeglicher Unschlüssigkeit in Meditation verweilen.

Widmen Siezum Abschluß einerjeden Meditationssitzungdie Verdien-ste' die aus dieser Übung entstanden sind, der Erleuchtung aller Wesen.In der Zeit zwischen den Meditationssitzungen denken Sie bitte immerwieder darüber nach, daß kein "Selbst" in den Skandhas existiert;behalten Sie den traumartigen Charakter aller Erscheinungen im Sinn,die einem Film oder einer magischen Täuschung gleichen. Die Erschei-nung eines "Selbst" ist zwar präsent, aber im wirklichen Sinn ist ein"Selbst" unauffindbar. Reflektieren Sie folgendermaßen: Wie könnenStörfaktoren des Geistes wie Begierde, Aversion und Verblendungentstehen? Wenn diesenicht auftreten, wiekann dannLeiden entstehen?

Nutzen Sie Ihre täglichen Leidsituationen, um anhand dieser die Er-kenntnis über die Abwesenheit eines konkreten" Selbst" in Ihr Leben zu

integrieren. Forschen Sie nach dem Leidträger. Befindet er sich imGeist? Im Körper? Wenn Sie den Leidträger weder im Körper noch imGeist vorfinden können, kann es keinen konkreten Leidenden geben.Lassen Sie den Geist in diesem Nichtvorfindenkönnen klar und einsge-richtet ausgeglichen ruhen.Wenn Sie Leiden und Frustration im täglichen Leben aufgrund vonGegnern erfahren, forschen Sie nach demjenigen,der da große Aversiongegenüber dem Gegner verspürt. Oder wenn Sie Leiden und Frustrationaufgrund von Anhaftung an Freunde erleben, suchen Sie nach demjeni- 56

gen, der da an Freunden haftet. Wo kann er gefunden und als wasidentifiziert werden? Ist er mit den geistigen Aggregaten identisch? Mitdem Körper? Wenn der Abwehrende oder der Anhaftende weder mitGeist noch Körper identisch ist, dann kann "der Abwehrende" oder "derAnhaftende" nicht existieren. Die Aggregate sind leer von einem "Ab-wehrenden" oder "Anhaftenden". Lassen Sie den geplagten Geist indieser Leerheit, die dem offenen Himmelsraum gleicht, einsgerichtetund ausgeglichen ruhen. Das ist das Mittel, um den Geist zu beruhigenund zu entspannen.

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Page 30: Stufenweise Meditation

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Zweites Stadium:Methode des Chittamatra

»Die Sichtweise der Chittamatrins (der Nur-Geist-Vertreter):

Die Darstellung alsdualistisches Erscheinen vonErfassendem und Erfaßtem,(das heißt als) Subjekt und Objekt,sowie als Bewußtsein ohne Dualität.«13

Während das Shravaka-Stadiumzum sogenanntenHinayana7(skr.,Kleines Fahrzeug) zählt, gehört das Chittamatra-Stadium dem Maha-yana an. Mahayana bedeutet wörtlich "Großes Fahrzeug", da das, wasmit seiner Hilfe erreicht werden soll, der vollständig und vollkommenerwachte Zustand aller Wesen ist.

Das steht im Gegensatz zum Ziel des Hinayana, bei dem es sich

schlichtweg um das Aufhören des eigenen, persönlichen Leidens han-delt. Der Hinayana ist aus der Sicht des Mahayana ein auf der Wahrheit

beruhendes und gültiges Mittel, das Haften am "Selbst" zu beseitigen,

durch das die §eistigen Störfaktoren (skr.: kiesha, wörtlich: Plagen, tib.:nyonmongs)1 , die die allem Leiden zugrunde liegenden Ursachen sind,hervorgerufen werden. Der Mahayana akzeptiert auch, daß der Hina-yana die Schleier der Unbewußtheit auflöst, die der Erkenntnis über die

wahre Natur der Skandhas, die leer eines "Selbst" sind, im Wege stehen.Der Mahayana erklärt jedoch, daß der Hinayana Unbewußtheit nichtvollständig beseitigt. Er tilgt einfach die grobe Unbewußtheit, und zwardie, die die Ursache für die geistigen Störfaktoren und für Leiden sind.

Technisch ausgedrückt heißt es, er beseitige einfach die Behinderungen,durch die die negativen Emotionen und falschen Vorstellungen hervor-gerufen werden, wobei die weitaus subtileren, als Wissensschleier

bezeichneten, bestehen bleiben. Geistige Störfaktoren und Leiden er-

schöpfen sich wie die Flamme einer Kerze, deren Wachs sich völligverbraucht hat; der Meditierende tritt in einen Friedenszustand ein, dener Nirvana nennt.

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Eine Person, die den Mahayana-Weg kultiviert, erkennt jedoch, daß indiesem Zustand des geistigen Friedens noch eine subtile Art von Igno-ranz vorhanden ist. Es ist die Unbewußtheit über die wahre Natur derWirklichkeit, und diese Unbewußtheit verdeckt dieFülle des Potentials,über die ein menschliches Wesen verfügt. Ein menschliches Wesenbesitzt in der Tat die Fähigkeit, einen geistigen Zustand vollkommenenund vollständigen Erwachens zu erreichen, durch den es mit allenKräften eines Buddhas ausgestattet ist. Damit sind die gesamten Kräftegemeint, die für das Wohlbefinden aller empfindenden Wesen tätig sindund die sie schließlich zum vollendeten Erwachen hinführen.

Mitempfinden mit anderen und der Wunsch, ihr Leiden zu beseitigen,sind somit die Motive, um weitere Fortschritte machen zu können.Jedoch ist Mitgefühl allein nicht ausreichend; notwendig ist die Ein-sicht, daß sich die Kraft, mit der man andere befreien kann, aus dererleuchteten Erkenntnis der wahren Natur der Wirklichkeit entfaltet.

Das eigene Streben muß darauf hinauslaufen, die gesamten eigenensubtilen Schleier der UnbewuBtheit zu beseitigen und den höchstenerwachten Zustand des Buddha zu erreichen. Diese als Wissensschleier

bezeichneten Trübungen der Ignoranz sind zwar von einer subtilen. Beschaffenheit,doch sie sind sehr machtvoll.Sie durchdringenundentstellen die Art und Weise, in der wir die Gesamtheit unserer Erfah-rung sehenund verstehen und hindern unsdaran, dieDinge im absolutenSinn korrekt zu erkennen.

Der Bodhisattva ist also von einer zweifachen großartigen Einstellungerfüllt: Auf der einen Seite bemüht er sich um die Befreiung allerempfindenden Wesen vom immer wiederkehrenden, leidbedingten Da-sein, und auf der anderen Seite will er die tiefgründige Leerheit allerErscheinungen erkennen, die gleichbedeutend mit dem Erreichen desvöllig erwachten Zustandes ist (skr.: Buddha). Die Bezeichnung fürdieses doppelte Streben ist: "den erleuchteten Geist entstehen lassen"(skr.: bodhi-cittot-pada, tib.: byang chub sems bskyed). Mit dieser

Einstellung als Grundlage schreitet er zur nächsten, zweiten Stufe derMeditation über Leerheit fort.

Chittamatrabedeutet "Geist allein" oder "bloß Geist". Sowohl währenddes Shravaka als auch während des Chittamatra-Stadiums stellt mansich den eigenen Geist als einen Strom von Gewahrseinsmomenten miteinem erfassenden und einem erfaßten Aspekt vor. Im Shravaka-Stadi-um nimmt man eine Welt "da draußen", jenseits der Sinne, als selbst-verständlich an, während dies jedoch im Chittamatra-Stadium in Fragegestellt wird. Der Chittamatrin hegt nicht die Sichtweise eines Solipsi-sten (lat.: solus ipse, Ich oder das Subjektallein), wonach die Welt seineeigene Erfindung ist und nach der es nichts gibt, das außerhalb von ihmexistiert. Das würde einer Art Wahn gleichen. Der Chittamatrin meidetden Solipsismus, da er die Leerheit eines Selbst erkannt hat. Ein Selbst,das der Schöpfer einer derartigen Phantasiewelt sein könnte, existiertnicht.

Die Methode des Chittamatra - wie auchjede andere Betrachtungsweiseinnerhalb des Buddhismus - basiert hauptsächlich auf direkter Erfah-rung. Das Stadium des Chittamatra schließt sich dem Vorbild desShravaka an in dem Versuch, sich injedem entstehenden Moment einerder Primärbewußtseinsarten voll gewahr zu sein; der Meditierendeerkennt, daß die Unterteilung eines jeden Augenblickes der Wahrneh-mung und Vorstellung in einen inneren erfassenden Geist und in einäußeres erfaBtesObjekt eine begriffliche Erfindung ist. In einem Traumerlebt man in jedem Augenblick innerlich erfassende Momente derWahrnehmung, die sich anscheinend äußerer Objekte gewahr werden,wobei man aber beim Erwachen erkennt, daß es keine äußeren wahrge-nommenen Objekte gab, die vom Geist verschieden waren. Sowohl beiinnerlich erfassenden Momenten der Wahrnehmung und Vorstellungals auch beiäußeren erfaBtenObjekten handeltees sichum verschiedeneManifestationen des Geistes. Dies zeigt, daß die bloße Erscheinungeines anscheinend außen erfaBtenObjektes kein Beweis dafür ist, daß

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diese Dinge, absolut gesehen, vorhanden sind. In der Tat gibt es keinenBeweis dafür, daß irgendwo eine Substanz existiert, die etwas anderesals Geist ist. Außerdemhat Buddha selbstgelehrt: »DieDaseinsbereichesind von Natur nur Geist.« Nachdem zuvor erwiesen wurde, daß keinpersönliches Selbst in den Skandhas besteht, richtet sich nun die Auf-merksamkeit des Chittamatrins mit größerer Präzision auf die Skandhasselbst. Es wird nicht nur das Vorhandensein eines "Selbst" im Sinne

einer dauerhaften, separaten, unabhängigen Person geleugnet, sondernauch der Unterschied zwischen der Natur des Geistes und der des

Stofflichen. Das Stoffliche ist leer von einer separaten, unabhängigenNatur. Jeder Erfahrungsmoment ist also im absoluten Sinn leer voneinem Unterschied in der Natur des Wahrnehmenden und des Wahrge-nommenen. Der Geist, den wir ausschließlich als den sehenden oderbetrachtenden Aspekt eines Erfahrungsaugenblickes ansehen, ist viel-mehr auch der Inhalt dieser Erfahrung.

Der Geist ist gleichzeitig sowohl wirklich als auch leer. Da alle Erfah-rungen grundsätzlich eine Manifestation des Geistes sind, kann er alswirklich angesehen werden. Leer ist er in dem Sinne, in dem er keinedauerhafte, separate und unabhängige Wesenheit besitzt. Statt dessenhat er die Eigenschaft eines Stromes von vorbeiziehenden, in Abhän-gigkeit entstehenden Momenten der Primärbewußtseinsarten.Das Chit-tamatra lehrt, daß man den Geist unter zwei Gesichtspunkten verstehenmuß: Er hat sozusagen zwei gleichzeitig auftretende Seiten, eine nachaußen hin gewendete und eine nach innen orientierte, womit der "Selbst-erhellende Aspekt"gemeint ist, der etwas spätererklärt werden soll. Mitder erstgenannten ist die Wahrnehmung und Vorstellung von Subjektund Objekt gemeint; in anderen Worten: sie sind alle von ihrem Wesenher Geist. Die Gesamtheit des Seins ist leer von einer substantiellbestimmten Dualität zwischen Geist und Materie. Das bedeutet, daß eskeine Begrenzung für die Einwirkungskraft des Geistes gibt, und es gibtkeinen Grund, warum eine Person die vollständig uneingeschränkte

Kraft der Buddha-Erleuchtung nicht verwirklichen und sich für dieBefreiung aller Wesen vom Leiden einsetzen könnte.

Bei näherer Betrachtung wird man verstehen, daß die Shravaka-Heran-gehensweise der Bewältigung von Leiden in einem Traum gleicht,indem man erkennt, daß es sich bei der Person im Traum nicht wirklich

um einen selbst handelt. Die Methode des ChiUamatra gleicht derBeseitigung von Leiden im Traum, indem man versteht, daß dieUrsachedes Leidens, zum Beispiel das Feuer oder der Tiger, ebenso wie dieleidende Person, nichts anderes als das Spiel des Geistes sind. Wennman diesen Vergleich versteht, sieht man ein, daß das Feuer oder derTiger wie auch der Leidende leer davon sind, eine ihnen eigene Wirk-lichkeit zu haben. Darüber hinaus könnte man es sich aussuchen, jedenbeliebigen Traum zu träumen, sobald man erkannt hat, daß es der Geistselbst ist, der beides hervorbringt. Man wird nicht nur von der Täu-schung, daß es eine Entität "Selbst"gibt, befreit sein, sondern auch vomGefühl der Machtlosigkeit. Dieses Gefühl der Ohnmacht hindert einendaran, die eigene wahre Natur zu erkennen, und zudem begrenzt es dieeigene Fähigkeit, Mitgefühl zu empfinden.

Es ist wichtig,die Chittamatra-Sichtweise nicht als eine Art Solipsismus

zu verstehen. Chittamatra sagt nicht aus, daß das Ich allein das erkenn- }bare Sein in seinem Bewußtsein oder in seiner persönlichen Erfahrungträgt.Es gibt eine Welt,die man mit anderenteilt. Das Anliegendes 0

ChiUamatraliegt darin, klar darzustellen, daß die außen wahrgenomme-ne Welt von keiner anderen Substanz als der des Geistes ist. Diese

Lehrmeinung wird sehr plausibel in der Diskussion über die Art undWeise, wie das erfassende Bewußtsein, das von geistiger Natur ist,Materie wahrnehmen kann. Zwischen unserem Erleben und dem, waswir uns als stoffliche Welt vorstellen, besteht ein mangelnder Zusam-menhang. Als Beispiel mag hier die Erfahrung von Widerstand und dieVorstellung von Festigkeit dienen. Beispielsweise erleben wir einenWiderstand und stellen uns etwas Stabiles vor. Es ist unmöglich, Festig-

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keit als solche zu erleben. Vielmehr ist es so, daß es der Geist ist, dersichein Bild von etwas Stabilem macht. Dichte stoffliche Dinge könnennicht in den Geist eintreten und in ihm herumtreiben, und der Geistvermag nicht eine Art ~ühler in die materielle Welt auszustrecken, umsie zu erleben. Der Geist erlebt einfach geistige Ereignisse; er deutet sieinhaltlich als so etwas wie eine stoffliche Welt und fährt fort, sich diesevorzustellen.

Recht viele modeme Wissenschaftler, Philosophen und Leute, die sichzum wissenschaftlichen Denken geneigt fühlen, sind der Meinung, daßdie Aufspaltung in GeistlMaterie nur mit der Feststellung aufzuklärensei, daß es sich beim Geist um nichts anderes als um Materie handle,oder der Geist das Gehirn oder eine Funktion des Hirns sei. Entspre-chend ihrer Sichtweise kann alles in Bezug auf die materielle Welterklärt werden. Das Interessante an dieser Theorie ist nicht nur die

Interpretation des eigenen Erlebens, das an einer stofflichen Welt jen-seits der Sinne teilhat, sondern auch, daß die materielle Welt Gedanken,Emotionen und geistige Bilder - in der gleichen Weise wie es der eigeneGeist vermag - erzeugen und erfahren kann. Diese Gedanken, Gefühleund VorsteIlungsbilder gehören dazu auch noch der materiellen Weltan. Es bleibt einem anheimgestellt, darüber nachzugrübeln, was "stoff-lich" in diesem Zusammenhang wohl bedeuten mag. Obwohl sie dieGeschichte von Pinocchio, in dereineinfaches StückMaterie, ein Stock,auf unerklärliche Weise Geist mit dem Erleben von Hoffnungen, Äng-sten, Freuden, Leiden usw. entwickelt, nicht ernst nehmen, würden siees aber nicht eigenartig finden, wenn Sub-Atome oder Moleküle damit.beginnen würden,Gedanken und Gefühle hervorzubringen. Es gibt zumeinen keine wissenschaftliche Gewißheit darüber, daß ein derartigesPhänomen überhaupt möglich wäre, zum anderen führt diese Anschau-ung auch die semantische Verwirrung über Begriffskategorien vorAugen. Sprachwissenschaftlichgesehen gibt es dadie Kategorie "Geist"und das, was nicht Geist ist, in anderen Worten: "Materie". Die Materie

(oder die stoffliche Welt) ist das, was sich "da draußen", jenseits derSinne, befindet. Wenn sie nicht unabhängig von den Sinnen existierenkann, wie kann sie dann als Materie eingeordnet werden? Wie kann essichbei einer außerhalb der Sinneexistierenden stofflichen Welt gleich-zeitig um die Sinne handeln, die diese sinnlich erfassen und erleben?Eine derartige Theorie bietet keine entscheidenden Lösungen. Sieschickt sich noch nicht einmal zur Lösung der Frage an, um was es sichbei bewußter Erfahrung überhaupt handelt, ganz abgesehen von derUnklarheit darüber, was außerhalb von ihr existiert oder nicht existiert.

TRAUMBEISPIEL

Das Traumbeispiel ist das beste Mittel, das es gibt, um die Chittamatra-Erkenntnisstufe der Leerheit zu verstehen. Um zu erkennen, wie tref-

fend dieses Beispiel ist, befragen Sie sich selbst, wieso Sie sich so sicher

sind, in diesem Augenblick nicht zu träumen.

Folgende Antworten mögen Ihnen in den Sinn kommen: » Weil Träumeniemals so intensiv wie das Leben sind; Farben besitzen keine derartigstarke Ausstrahlung; Formen, Laute, Gerüche, Berührungen und dieGeschmacksarten sind nicht so klar und eindeutig.« Es wird sichjedochgewißjemand finden lassen, der damitnicht übereinstimmt und behaup-tet, seine Träume seien viel lebhafter als seine Erfahrungen zur Tages-zeit. Würde das nun bedeuten, daß es sich bei seinen Träumen umTageserlebnisse und bei seinem Wachzustand um einen Traum handelt?Oder wenn Ihre Sinneskraft so sehr Schadenerleiden würde, daß Sie dieDinge nicht mehr klar und genau erleben könnten, würde das dannbedeuten, daß Ihr Leben ein Traum ist?

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Nach längerem Nachdenken werden Sie vielleicht auf die KontinuitätIhres Lebens hinweisen, und aus diesem Grunde sind Sie sich sicher,daß Sie gerade nicht träumen. Alles befindet sich an voraussagbarerStelle, es gibt ein Gefühl für Ursache und Wirkung, für einen gleichmä-

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ßigen Ablauf, für ein festgelegtes Muster von Ereignissen und so fort.Sie mögen behaupten, daß Träume von einer ganz anderen Beschaffen-heit sind. Sie sind unberechenbar, sie können ohne jegliche Warnungund ohneeinen triftigen Grund aufeine bizarre Art und Weise wechseln.Im Traum existiert keine echte Kontinuität, man findet sich an irgend-einem Platz vor, zu welcher Tageszeit auch immer, in irgendeiner Figuroder Form.

Meinen Sie damit, daß der Traum zum Wachzustand und der Wachzu-stand zum Traum geworden ist, sobald sich ein Traum mit seinerEreignisfolge stabilisiertund somit Kontinuitätund ziemlich vorhersag-bare Erlebnismuster aufweist und für einen langen Zeitraum andauertoder Ihre Erlebnisse im wachen Zustand nur für eine kurze Zeitspanneanhalten, in der Sie sehr verwirrt sind und sich nicht mehr zurechtfin-den? Außerdem ist es nicht ungewöhnlich, daß Leute von ganz gewöhn-lichen Situationen träumen, zum Beispiel daß sie aufgestanden sind,gefrühstückt haben und zur Arbeit gegangen sind und so fort.

Über den Hinweis, daß Sie gerade nicht träumen, werden Sie vielleichtlachen. Angenommen, Sie würdenjetzt schlafenund träumen, so stellenSie sich sicherlich vor, daßjedermann unmittelbar aufhören würde, mitIhnen zu interagieren. Beim Aufwachen würde man Ihnen gewiß bestä-tigen, daß Siegeträumt haben, und demnach dürfte es keine Möglichkeitgeben, Träume mit dem wachen Zustand verwechseln zu können. Es

gibt jedoch keine natürliche Begründung, weshalb Sie nicht träumensollten, daß Leute Sie aufwecken und Ihnen mitteilen, daß Sie geradevom Traum erwacht sind.

Wohl oder übel muß man schließlich zugeben, daß es eindeutige Kenn-zeichen, die die Wacherfahrung von der des Traumes unterscheidet,nicht gibt. Es ist nur die Frage des Ausmaßes und der eigenen, gefühls-mäßigen Empfänglichkeit. Sie nehmen nur aus dem Grund an, wach zusein, weil Sie sich in Sicherheit fühlen möchten und um Sie herum eine

Welt verspüren wollen, die solide, ja real ist und stützenden Halt gibt.Wenn Sie Ihren Wachzustand ernsthaft anzweifeln würden, dann wür-den Sie gewiß in einen Zustand der Angst und Verwirrung geraten. DieStabilität Ihrer Erfahrung während des Wachzustandes beruhigt Sie,demnach bauen Sie darauf und verleihen ihr eine Wirklichkeit, die SieTräumen nicht gewähren. Wenn Ihnen im Traum Leid zustößt, sind Siefroh, ihn loslassen zu können, sobald er ein Ende gefunden hat; dasGefühl versichert Ihnen, daß er sowieso nicht der Realität entsprach.Doch wenn Sie in dem Zustand, den Sie als den Wachzustand im Lebenbezeichnen, Leiden erfahren, werden Siedarin gefühlsmäßig verwickeltund gewähren ihm den Rang einer absoluten Wirklichkeit.

Das Traumphänomen wird von den Chittamatrins mit den sechs Artendes Primärbewußtseins erklärt, die sich gewöhnlich nach außen denSinnesobjekten zuwenden. Sieziehen sich währenddes Traumes zurückund verlieren sich im "Speicherbewußtsein" (skr.: alaya-vijnana, tib.:kun gzhi rnam shes), ähnlich Wellen, die sich im Ozean auflösen.Daraufhin beginnt das Speicherbewußtsein, sich in sich selbst zu bewe-gen, Vorstellungen von Subjekten und Objekten zu schaffen, die derGeist für wirklich hält und die er wie Erfahrungen während des Wach-zustandeserlebt. Die Chittarnatrinsbehauptenjedoch nicht, daß es keineVerschiedenheit zwischen einer Wach- und Traumerfahrung gibt. Siebehaupten, daß es keinen essentiellen Unterschied hinsichtlich ihrerSubstanz gibt.

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SUBJEKTIVE NATUR DER ZEIT

Vielleicht haben Sie die obigen Einwände immer noch nicht überzeugt.Man ist sich seines Wachzustandes sicher, da die Zeit in einer gleich-mäßigen und voraussagbaren Weise verläuft, wodurch man Ereignissemit einer augenscheinlich stabilen und unabhängigen Außenwelt syn-chronisieren kann. Hier handelt es sichjedoch lediglich um eine andere

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Funktion der stabilen Art und Weise, in der sich die eigene Erfahrungentfaltet. Die subjektiv empfundene Zeit scheint jedoch entsprechendder eigenen Gemütsverfassung und Situation schnell oder langsam zuvergehen. Und was die zeitliche Gleichstellung der Dinge angeht, sowerden Ereignisse, wenn sie zusammen auftreten, automatisch gleich-gestellt; doch wenn sie es nicht tun, so erdenken wir uns einen Anlaß,um es zu erklären. Ist man dazu jedoch nicht in der Lage, dann wird esals Mysterium bezeichnet; es hat zahlreiche dieser ungelösten Myste-rien in der Geschichte der Menschheit gegeben.

Dazu gibt es die Geschichte von einem Mann, der sich zum Haus einesMagiers begab und dem dort eine Tasse Tee angeboten wurde, aus derer einen Schluck trank. Er wußte jedoch nicht, daß der Magier einenZauberspruch über den Tee gesprochen hatte. Noch bevor er dazu kam,seine Teetasse niederzustellen, war er dem Bann eines magischenTrugbildes verfallen. Er bestieg sein Pferd und ritt zum Ende desKontinentes, wo sich ein großer Ozean befand, der seinen Weiterrittverhinderte. Dort begegnete er einer wunderschönen Frau, die er heira-tete und mit der er drei Kinder hatte. Drei Jahre lebte er mit ihr glücklichbis zu dem Zeitpunkt, als er aufgrund bestimmter Umstände in großeBedrängnis geriet und sich im Meer ertränkte. In diesem Augenblickwar die Wirkung des Zauberspruchs vergangen, und er fand sich wiederim Haus des Magiers. Seine Tasse Tee stand immer noch vor ihm. Sowenig Zeit war verflossen, daß der Tee, nachdem er seine Tasse nieder-gesteIlt hatte, sich noch immer in ihr drehte.

Der springendePunkt dieser Aussage liegt darin, daß Vorstellungen vonZeitabläufen und augenscheinlich zeitlich zusammenfallenden Ereig-nissen kein Beweis dafür sind, daß irgend etwas anderes als der Geistselbst ihr Schöpfer ist.Es ist bekannt, daß sich beispielsweise Meditierende für Stunden oderWochen in Meditation begeben können ohne das Gefühl irgendeinesZeitverlaufes zu haben. 68

FEHLENDE ÜBEREINSTIMMUNG

Ihr Argument mag sein, daß "da draußen" eine Welt existieren muß, die

nicht Geist ist, denn sonst wäre keine allgemeine Übereinstimmungdarüber vorhanden, wie die Welt beschaffen sei. Wir tendieren dahin,

alles das, was die allgemein übereinstimmende Meinung diktiert, be-

sonders dann anzunehmen, wenn sie mit unseren eigenen Erfahrungenund Meinungen übereinstimmt.

Bei übereinstimmenden Ansichten handelt es sich jedoch nur um dieFrage des Ausmaßes. Wir verfügen nicht über die Mittel, mit denen manherausfinden könnte, ob irgend jemand unter uns auf genau die gleicheArt und Weise wie ein anderer irgend etwas sieht oder erlebt. Gleich-zeitig gibt es eine Menge Zeugnisse darüber, daß wir die gleichen Dingenicht auf die gleiche Art sehen und erfahren. Wenn wir darüber nach-denken, wie unterschiedlich verschiedene Wesen die gleiche Sacheerleben, tritt der Unterschied noch mehr hervor. Ich verweise auf dasBeispiel des Wassers, das wir als etwas Erfrischendes, Trinkbaresauffassen. Normalerweise betrachten wir das Wasser nicht als etwas, indem wir lebenkönnen. Doch Fische tun es. Die Sichtweise eines Fischesüber die Natur des Wassers ist von der unseren total verschieden. Mao

Tse Tung mag als ein weiteres Beispiel dienen. Für einige erweckte erden Eindruck eines gefährlichen Feindesund für andere den eines teurenFreundes. Für den Moskito jedoch galt er lediglich als eine Nahrungs-quelle und für die Parasiten in seinem Körper als ein vollständigesUniversum. Wenn jeder Aspekt irgendeines Objektes durch die jewei-ligen winzigen Momente derPrimärbewußtseinsarten begründet ist, wiekann dann ihr Vorhandensein unabhängig von diesen Primärbewußt-seinsarten begründet sein? Ein Konsens beweist nichts anderes, als daßbestimmte Beziehungen zwischen verschiedenen Erfahrungsabläufenbestehen. Er beweist nicht, daß irgendetwas existiert, was von andererals geistiger Substanz wäre.

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Postuliert man das Vorhandensein eines Stoffes, bei dem es sich nichtum Geist handelt, dann muß man sich in der Tat mit fundamentalenProblemen auseinandersetzen. Wie kann eine derartige Substanz gefun-den oder erkannt werden? Wenn etwas nicht ohne den Erkennenden

erkannt werden kann, wie kann es dann jemals als etwas unabhängigExistentes bewiesen werden? Was ist es, das diese Abgrenzung zwi-schen Geist und Materie zustande bringt? Wie kann Materie in eineBeziehung mit Geist oder Geist in eine Beziehung mit Materie geraten?Da die von den Chittamatrins dargestellte mögliche Erklärung sichsolcher Probleme entledigt, fordert sie zu einer ernsthaften Betrachtungauf.

LEHRMEINUNG DES CHITTAMATRA

Die buddhistische Chittamatra-Schule vermittelt sorgfältig ausgearbei-tete Erklärungen darüber, wie uns die Welt als solide, real und "dadraußen" erscheint, obwohl in Wirklichkeit all das, was sich ereignet,Transformationen einer Art Geist-Stoff sind, der wie ein Ozean Wellenentstehen läßt. Das, was die Illusion einer unterschiedlichen Substanzvon Geist und Materie hervorruft, ist das Auftreten eines innerlicherfassenden und außen erfaBten Aspektes innerhalb eines jeden Ge-wahrseinsmomentes. Materie ist jedoch bloß ein in der Vorstellungvorhandenes Konzept. Sie existiert nicht im geringsten. Der Geist istleer von einerderartigen Unterscheidung zwischensich selbstund etwasanderem als sich selbst. Wenn der Meditierende seinen Geist in seinereigenen Natur ruhen lassen und diese Leerheit schauen würde, dannwürde alle Verwirrung schwinden, und der Geist würde strahlend, klarund sich selbst bewußt sein. Dieser Geist ist der andere, gleichzeitigentstehende Aspekt des Geistes, der nach innen gerichtete, den manvorfinden wird, wenn man meditativ sorgfältig danach sucht. Er wird"der Selbsterhellende, sich seiner selbst bewußte" (tib.: shespa rang rig

rang gsal)genannt, derGeist, der sichselbst in einernicht-dualistischen,

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nicht-begrifflichen Weise erlebt (tib.: rang gis rang myong ba). "Selbst"bedeutet hier dieser Geist selbst und nicht die Person. Er ist völlig freivon Dualität und betrachtet Subjekt und Objekt nicht als zwei verschie-dene Entitäten. Dieser seiner sich selbst bewußte Geist wird sich in derMeditation in einer nicht dualistischen Weise dem Erleben der wahren

Natur des Geistes, die ausnahmslos lichte Klarheit ist (tib.: gsal zam

nyong ba 'i bdag nyid), gewahr. Das Wesen eines jeden einzelnenMomentes dieser Erfahrung wird als wirklich und inhärent vorhandenakzeptiert.

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Die Madhyamikas akzeptieren, wie wir später sehen werden, einenderartigen Geist nicht, und er wird in ihren Abhandlungen oft widerlegt.Der Chittamatrin erwidert, daß es ohne einen derartigen Geist keineMöglichkeit gäbe, sich vergangener Ereignisse zu erinnern. Der erfas-sende und erfaßte Aspekt eines jeden entstandenen Erlebnismomentesgehört der Vergangenheit an. Wenn es nichts gäbe, was einen Eindruckerfährt und registriert, wie könnte dieser Inhalt dann jemals abgerufenwerden? Der Chittamatrin postuliert den selbsterhellenden, sich seinerselbst bewußten Geist, um das Phänomen der Erinnerung und dasRegistrieren karmischer Spuren zu erklären. Ein Erlebnismoment be-steht entsprechend dem Chittamatra nicht nur aus einem erfassendenund einem erfaBtenAspekt, sondern es gibt auch den sich selbst erken-nenden, selbsterhellenden Aspekt. Dieser ist nicht ein separater Erleb-nismoment, sondern vielmehr ein notwendiger Aspekt eines jedenAugenblicks des Gewahrseins. Wenn man beispielsweise eine Blumewahrnimmt, gibt es den außen erfaBtenAspekt, die Blume,und den nachaußen gerichteten, erfassenden Aspekt, der, der auf die Blume gerichtetist. Der selbsterkennende, nach innen gerichtete Aspekt erlebt undregistriert dieses Erkennen als ein einheitliches Ganzes. Er wendet sichnach innen in dem Sinne, in dem er die Wahrnehmung einer Blumeerlebt, d. h. die Blume wie auch das Gewahrsein von ihr registriert, aberdiese nicht als separate Wesenheiten unterscheidet. Die nach außen

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gerichteten Aspekte gleichen einer Fernsehkamera, die filmt,jedoch dieEreignisse nicht registriert. Aber vom nach innen gerichteten Aspektwerden sie verzeichnet, können abgerufen und in der Erinnerung wach-gerufen werden. Bei der sich selbst erkennenden, selbsterhellenden

Bewußtheit handelt es sich demnach um einen weiteren Aspekt einesjeden Momentes des Primärbewußtseins, und es ist das, was das Spei-cherbewußtsein befähigt, die Spuren vergangener Ereignisse zu tragen,ähnlich einem Tonband, das Klänge speichert. Sobald die entsprechen-den Umstände vorhanden sind, können die gleichen Töne wieder akti-viert werden. Auf einem abgespielten Tonband hört man die Laute, dieden ursprünglichen, auf dem Band registrierten Klängen entsprechen.Das Reifen des eigenen Karmas verläuft ähnlich; es korrespondiert mitder ursprünglichen Handlung. Obwohl es sich hier in vielerlei Hinsichtnicht umein analoges Beispiel handelt, so beschreibtes doch das Prinzipdes Reifens oder des erneuten Wachrufens hinterlassener, schlummern-der Spuren im Speicherbewußtsein.

Entsprechend dem Chittamatra-System ist es der "begriffslose Weis-heitsgeist" (tib.: mi rtogpa 'i yeshes), der erkennt, daß keine separatenerfaBten und erfassenden Entitäten in einem Erlebnismoment vorhan-den sind. Sobaldsichdieser begriffslose Weisheitsgeist manifestiert hat,treten keine eigenständigen Wesenheiten mehr auf, und es heißt, daßdas Speicherbewußtsein geläutert und in den "spiegelgleichen Weis-heitsgeist" transformiert ist. Zu diesem Zeitpunkt entsteht nur derselbsterhellende, sichseiner selbstbewußte Aspekteinesjeden Gewahr-seinsmomentes, und dieser setzt sich als reiner Strom strahlender, klarerBewußtheitsaugenblicke fort.

Da die Chittamatrinshervorragende Meditierende waren und ihre Über-legungen aus ihren Meditationserfahrungen resultierten, wurden sieauch oft "Yogacarins"(Yoga bezieht sich hier auf Meditation) genannt.Sobald der Meditierende, frei von dualistischen Konzepten, seinenGeist in dessen Leerheit verweilen läßt, erlebt er die natürliche, umfas-

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sende Weite und die Klarheit des Gewahrseins. Das ist eine in die Tiefegehende Meditationserfahrung. Da die Meditation innerhalb des Chit-tamatra-Stadiums auf dieser Erfahrung basiert, gilt ihre Leerheitser-kenntnis als sehr tiefgründig.

Die Lehrmeinung des Chittamatra vertritt acht Arten von Primär-bewußtsein: die fünf Sinneswahrnehmungen, das geistige, sechstePrimärbewußtsein, den "mit Störfaktoren verblendeten Geist" (skr.:klishta-manah, tib.: nyonyid) und das Speicherbewußtsein,das wörtlich"das-Allem-als-Grundlage-dienende-Bewußtsein" (skr.: alayavijnana,

tib.: kun gzhi mam.shes) oder kurz "All-Basis" (tib.: kun gzhi) genanntwird.

Das Speicherbewußtsein hat die Eigenschaft eines Gewahrseinsstro-mes, durch den alle sechs Arten des Primärbewußtseins, einschließlichderen Objekte von Form, Laut, Geruch, Geschmack, berührbare undgeistige Objekte, entstehen. Der erste winzige Moment der jeweiligenfünf Sinneswahrnehmungen ist ungeheuer flüchtig, so daß man sichseiner nicht gewahr ist. Alle eigenen begrifflichen Vorstellungen folgenauf der Grundlage des darauffolgenden Momentes, d.h. des sechsten,des geistigen Gewahrseinsmomentes. Das achte, das Speicherbewußt-sein, ist die Basis für alle Arten von Primärbewußtsein. All das, was sichmanifestiert, offenbart sich auf der Grundlage dieses Geistesstromes.Sowohl beim erfaBten als auch beim erfassenden Aspekt der sechsPrimärbewußtseinsarten dreht es sich um nichts anderes als um diese

geistige Substanz. Beide Aspekte gleichen den Wellen des Meeres:obwohl sie sich unterschiedlich manifestieren, sind sie niemals etwasanderes als das Meer selbst.

Die All-Basis ist die Ursache für die Kontinuität des Geistes während

des Lebens, über den Tod hinaus zur Wiedergeburt, während desTiefschlafs, des Traums und der meditativen Versenkung des Yagi. Siehat den Aspekt von Klarheit und keinen Anfang in der Zeit. Sie ist

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karmisch neutral, und somit ist es möglich, daß gute, schlechte undneutrale Anlagen in ihr gespeichert werden können. Sie ist erkennenderHauptgeist mit den allgegenwärtigen Geistesfaktoren von Absicht,Kontakt, Aufmerksamkeit,Empfindung undErkennen, doch unwissendund verwirrt ist sie sich nicht wirklich gewahr, daß Sinneswahrnehmun-gen, die Sinne und Sinnesobjekte, ebenfalls von ihrer Natur her Geistsind. Zu dem Zeitpunkt, zu dem die All-Basis von den Befleckungender dualistisch orientierten Primärbewußtseinsarten geläutert ist, mani-festiert sich das "wahrhaft Seiende".

Mancher mag darüber grübeln, ob ein jedes Wesen über seine eigeneAll-Basis verfügt oder ob sie lediglich als eine einzige, gesamte exi-stiert. Was die konventionelle Wahrheit der Dinge angeht, so besitztjedes Individuum sein eigenes Speicherbewußtsein, und nur in ihmselbst reift das Resultat seiner eigenen Handlungen heran. Jedoch vomabsoluten, wirklichen Standpunkt aus gesehen existiert nur Geist, under ist leer von separat existierenden Wesenheiten von Subjekt oderObjekt.

Die siebte Form des Primärbewußtseins wird deshalb "der mit Störfak-

toren verblendete Geist" genannt, weil er unwissend und die Basis fürdie Gifte des Geistes ist. Er nimmt die All-Basis irrtümlicherweise als

eine unabhängige Person wahr und denkt in Ich-Einheiten. Aus dieserAnnahme von "Selbst" resultiert der "Andere",und damit entstehen diekleshas, die geistigen Störfaktoren der negativenEmotionen und die derfalschen Vorstellungen. Diese Primärbewußtseinsart ist weder eineSinneswahrnehmung, die sich auf äußere Objekte richtet, noch folgt siedem entstehenden Moment der sechsten, geistigen Wahrnehmung undVorstellung. Der "verblendeteGeist" ist nach innen hin zum Hauptgeistorientiert. Er ist der eigentliche Geist, der nach der Selbst-Entität desIndividuums auf eine sehr subtile Weise greift und von den vier geisti-gen Faktorenverblendet ist, die stufenweise ineiner soliden Vorstellungvon "Selbst" resultieren: von einer sehr subtilen subjektiven Empfin- 74

dung von "Selbst" ausgehend entwickelt sich eine subtile Form vonIch-Stolz, gefolgt vom Haften am "Selbst" und schließlich der vollenSichtweise von Selbst-Identität. "Der mit Störfaktoren verblendeteGeist" ist der aktivierende Aspekt der All-Basis. Wenn diese mit demMeer verglichen werden kann, dann entspricht "der mit Störfaktorenverblendete Geist" dem Wind. Mit einem neuzeitlichen Beispiel kanndie All-Basis auch als Bank und der "Klesha-Geist" mit einem Bankier

verglichen werden. Diese vier geistigen Faktoren können stufenweisedurch ihr Gegenmittel, und zwar durch Meditation über die Abwesen-heit von "Selbst", überwunden werden. Erst zur Zeit des achten Bhumieines Bodhisattvas wird dieser Geist vollständig geläutert und in denWeisheitsgeist der Gleichwertigkeit transformiert sein. Das Speicher-bewußtsein fährt dann nicht mehr fort, trugbildhafte, dualistische Er-

scheinungen von separaten, erfaßten und erfassenden Wesenheiten zuproduzieren. Der sich seiner selbst bewußte, selbsterhellende Aspekteines jeden Augenblickes kann dadurch unbehindert strahlen.

In der Chittamatra-Lehrmeinung macht die subtile Unterteilung desErlebens einen sehr wichtigen Teil aus. Sie stützt sich auf die AussageBuddhas, daß ein jedes Phänomen drei Merkmale besitzt. Die dreiindividuellen Kennzeichen oder Qualitäten, die den Wirklichkeitsgradder Dinge widerspiegeln, sind:

l. Kennzeichen der begrifflichen Beifügung (skr.:parikalpita, tib.:kun brtags),

2. Kennzeichen des abhängigen Phänomens (skr.:paratantra, tib.:gzhan dbang),

3. Kennzeichen des vollständig Existenten (skr.:parinispanna, tib.:yongs grub).

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I. Um Erscheinungen zu benennen, fügen wir diesen Namen oderBegriffe bei, sei es mit Hilfe gesprochener Worte oder Gedanken.Begriffliche Beifügungen sind substanzlos; es ist der Intellekt, der einer

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Entität eine Eigenschaft oder ein Kennzeichen zuschreibt. Die Erschei-nungswelt besteht als bloße Vorstellung, oder in anderen Worten: dieseparaten Wesenheiten, die wir als "Geist" und "Materie" bezeichnen,sind begriffliche Erfindungen."Der mit Störfaktoren verblendete Geist" produziert die Idee einergrundlegenden Dualität. Wenn Samenoder gewohnheitsmäßigeMusterpsychischer Neigungen und Gedanken, die in der All-Basis latent ge-speichert sind, aktiviert werden, produzieren sie simultan Objekte unddas erkennende Subjekt. Das sechste, das geistige Primärbewußtsein,etikettiert und benennt. Begriffliche Beifügungen bestehen einfach nurals Name und Begriff, und keine der Entitäten, aufdie sie sichbeziehen,existieren von sichaus als eine natürliche Grundlage für das Hinzufügenvon Konzepten. Sie sind schlicht etwas Eingebildetes.Das, was eine Vorstellung oder Beifügung kennzeichnet, istdie Leerheitvon etwas Nichtvorhandenem (tib.: kun btags med pa'i stong nyid).

Beifügungen - im Gegensatz zum "vollständig Existenten" - existierenausschließlich für Gedanken, ansonsten sind sie wesenlos.

2. Die zweite Qualität einer Erscheinung wird abhängig oder wörtlich"kraft anderer" genannt, weil Erscheinungen nicht aufgrund ihrer eige-nen Kraft produziert werden, sondern in Abhängigkeit von spezifischenUrsachen und Begleitumständen, die "anders" als sie selbst sind.Unter einem abhängigen Phänomen, das sich hauptsächlich auf denGeistesstrom bezieht, versteht der Chittamatrin die Erlebnismomenteder acht Primärbewußtseinsarten, ihre Objekte, die bloße Erscheinungund vom Geist nicht verschieden sind, als auch den selbsterhellenden,sich selbst erkennendenBewußtheitsaspekt. Er sagt,daß ein abhängigesPhänomen auf eine irreführende Weise auftritt (tib.: kun rdzob tu Jod

pa),jedoch wahrhaftexistiert (tib.:bden.pargrub.pa). Objekte scheinenals natürliche Grundlagen für Konzepte außerhalb der Primärbewußt-seinsarten zu existieren. Doch sind Objekte und dieerfassenden Augen-blicke des Geistes vergängliche Phänomene, die nicht länger als ihr

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eigener Moment andauern. Auch sind sie nicht, wie es scheint, alleindurch ihr eigenes Vermögen entstanden. Die Momente der Primärbe-

wußtseinsarten mit ihren momentanen Objekten sind von den vergan-genen Handlungen einer Person konditioniert, deren Gewahrseinsstrom

sie ausmachen. Es hat den Anschein, als ob das erfassende Subjekt unddas erfaßte Objekt als zwei separate Entitäten getrennt voneinanderexistieren würden. Doch beide Aspekte eines Erlebnismomentes entste-hen in Abhängigkeit, ähnlich den in einem Spiegel auftretenden Refle-xionen, die ebenfalls nur in Abhängigkeit von einem Objekt, das erwiderspiegelt, auftreten können.Die Aussage, daß ein abhängiges Phänomen wahrhaft existiert, bedeu- !Jtet, daß die acht Gruppen abhängigen Primärbewußtseins sowohl dieGrundlage für den verwirrten Zustand des Daseinskreislaufes als auchfür den makellosen Zustand transzendierten Leidens bilden. Wenn sich

beispielsweise die gewohnheitsmäßigen Muster der Denktätigkeit unddes Handeins, die im Speicherbewußtsein verborgen ruhen, im abhän-gigen Geist manifestieren, erscheinen die mißverstandenen Formen des

gesamten Daseinskreislaufes. Sobald der abhängige Geist geläutert ist,treten die Formen der Buddha-Körper und die der "reinen Länder" insBlickfeld. Das Vorhandensein einer "abhängigen Erscheinung" kannalso nicht geleugnet werden, doch handelt es sich hierbei lediglich umein in Erscheinung tretendes Phänomen (tib.: snang wa tsam).

Als ein anderes Beispiel könnte ein Film über einen Tiger oder über eineSchlange dienen. Die Vorstellung von einem echten Tiger oder voneiner echten Schlange ist eine begriffliche Beifügung. Die bloße Er-scheinung des Tigers oder der Schlange, in anderen Worten das Licht,das auf dem Wandschirm in der Form eines Tigers oder einer Schlangespielt, ist relativ gesehen wirklich und ein abhängiges Phänomen. DenWandschirm selbst könnte man auch als abhängig ansehen, ähnlich dem"Speicherbewußtsein", von dem sämtliche Manifestationen entstehen.Die Erscheinungen sind nur Licht, leer eines echten Tigers oder einerSchlange, und diese Leerheit bloßer Erscheinungen gilt als das "wahr-

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hart Seiende". Das "wahrhaft Seiende" ist also der Wandschinn, derdavon leer ist, wirkliche Tiger oder Schlangen zu sein. Dieses Beispielist allerdings nicht so passend wie das des Traumes, da man denEindruck gewinnt, der Wandschinn und das auf ihm spielende Lichtseien von unterschiedlicher Substanz.

Um das abhängige Entstehen des Speicherbewußtseins und der anderensieben Arten von Primärbewußtsein mit ihren erfassenden und erfaßten

Aspekten zu illustrieren, ist das Beispiel vom Ozean besser geeignet.Die von Unwissenheit getrübten fünf Sinneswahrnehmungen und derirrende, Begriffe-bildende Verstand führen ähnlich großen Flüssen demSpeicherbewußtsein ihre Inhalte zu. Das siebte Primärbewußtsein, "dermit Störfaktoren verblendete Geist", akti~iert wie der Wind den Ozeanund verursacht unterschiedlich auftretende Wellen, die von der Wasser-rnasse nicht verschieden sind.

Das, was ein "abhängigesPhänomen" kennzeichnet, ist dieLeerheit vonetwas Existentem (tib.: gzhan dbang Jod pa 'i st ong nyid), denn es wärefehlerhaft, diese Fonnen als natürlich, wesenhaft und absolut wirklichzu bestimmen.

3. Das "vollständig Existente" ist durch die absolute Leerheit gekenn-zeichnet (tib.: yongs grub don dam pa' i stong nyid). Die acht Arten desPrimärbewußtseins sind in ihrem Wesen von dualistischem Erfassenvöllig frei. Diese Leerheit ist nicht etwas Neuentstandenes oder eineWirklichkeit, die durch Logik bestimmt werden kann; sie hat keinenzeitlichen Beginn und wird deshalb auch die "natürliche Leerheit" (tib.:rang bzhin stong pa nyid) genannt.Fragt man sich, wie die Chittamatrins Erscheinungen in relative undabsolute Wahrheiten oder Wirklichkeiten gruppieren, so ist hier dieAntwort: in dieser zweifachen Klassifikation von relativ und absolutwird der selbsterhellende, sich seiner selbst bewußte Geist vom Stand-punkt der Chittamatra-Schule aus als absolut (tib.: mam grangspa 'i don

dam) und nicht als relativ (skr.: samvrti, tib.: tun rdzob) eingestuft. Da

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er jedoch aus dem Zusammenwirken von Ursachen und Umständenentsteht, ist es nicht korrekt, ihn als endgültigen und eigentlichen Sinnund Wert anzusehen. Beim letztlich höchsten, absoluten (tib.: mam

grangs ma yinpa 'i don dam oder mthar thugpa 'i don dam) muß es sichum das "letztlich Seiende" handeln. Das "wahrhaft Seiende" gelangtnicht in die Diskussion über die Art und Weise, wie die beiden Wahr-heiten eingeteilt werden, da es jenseits jeglicher derartigen Unterschei-dung liegt. Es ist ganz einfach die letztliche, reine und vollkommeneWirklichkeit (tib.: yang dag pa).

Die Shravakas stellen lediglich den Unterschied zwischen zwei Artender Wirklichkeit fest, die relative Wirklichkeit von der Welt, wie wir sieverstehen, und die absolute Wirklichkeit der Skandhas, die ohne ein"Selbst" sind. Die herkömmliche Wirklichkeit ist der Traumerfahrungähnlich, und die Person, die im Traum zwar leidet, aber nicht tatsächlichexistiert, ist mit der absoluten Wirklichkeit gleichzusetzen. Die Chitta-matrins fügen eine weitere Unterteilung hinzu: die Traumerfahrung hateine gewisse Wirklichkeit (tib.: bden par grub pa), da es sich um denGeist handelt, der von abhängiger Natur ist (tib.: gzhen dbang), inanderen Worten: es kann den Traummanifestationen ein gewisser Wirk-lichkeitsgehalt zugeschrieben werden, noch bevor man darangeht, sieals Wesenheiten wie »das ist mein Freund« oder »das ist mein Feind«

begrifflich zu erfassen. Sowohl die Person, die im Traum als etwasGetrenntes von den Dingen, die im Traum wahrgenommen werden,vorkommt, als auch die gesamten, begrifflich hinzugefügten, unabhän-gigen und voneinander getrennten Wesenheiten, die in ihm auftreten,sind alle von eingebildeter Natur. Die absolute Wahrheit (tib.: don dam

grub pa) ist die Leerheit des Geistes von diesen Wesenheiten; sie wirddie "vollständig Existente" benannt, weil es sich bei dieser Leerheit umdas "wahrhaft Seiende" handelt.

Von westlichen Kommentatoren wurden die Ideen der Chittamatrins

oder Yogacarins manchmal "Idealismus" genannt. Dieser Begriff kann

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einen jedoch veranlassen zu denken, daß in manchen Formen desBuddhismus die Idee einer unendlichen geistigen Wirklichkeit besteht,die die Welt in der Art eines Schöpfergottes erschafft, und daß dieWesen mit dieser geistigen Wirklichkeit so verbunden sind, wie Gottmit seinen Geschöpfen. Diese Ideen sind in Indien seit langem imUmlauf, aber keine buddhistische Schule hat jemals diese Vorstellunggebilligt. Das Speicherbewußtsein existiert nicht ähnlich einem Schöp-fergott, da es ein Strom von flüchtigen Gewahrseinsaugenblicken ist,die weder ein "Selbst" haben noch "das Selbst" sind. Das ist dergrundlegende Unterschied zwischen theistischen und buddhistischenSystemen, und das sollte man niemals aus den Augen verlieren. Mansollte sich der Tatsache sehr bewußt sein, daß alle zur Befreiungführenden buddhistischen Samadhis auf der Verwirklichung von Leer-heit und dem Nichtvorhandensein eines Selbst basieren. Diejenigenmeditativen Vertiefungen, die dieser Grundlage entbehren, führen nichtzum befreiten Zustand.

ERGEBNIS DES CHITTAMATRA

Das Nichtvorhandensein von Leiden ist das Ergebnis der Weisheit, diedie Leerheit der Geist-Materie-Dualität erkennt. Wie Dunkelheit nichtin der Gegenwart von Licht sein kann, so kann kein Leiden in derGegenwart dieser Weisheit existieren.

Aus der grundlegenden Unwissenheit darüber, daß es sich beim "Selbst"

um ein der Unwahrheit entsprechendes Selbst handelt, resultiert diebegriffliche Vorstellung eines Unterschiedes zwischen Selbst und An-deren. Von diesem Dualitätsempfinden rühren die emotionalen Störfak-

toren her, und zwar Anhaften an dem, was einem lieb und teuer ist, und

Abneigung gegenüber dem, was es nicht ist. Verhaftung und Aversionverursachen eine Zunahme der emotionalen Störfaktoren und Leiden.

Darüber hinaus zerstört die Weisheit, die erkennt, daß der Geist voneiner Geist -Materie-Dualität leer ist (in anderen Worten: leer von außen

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erfaßten Wesenheiten, die substantiell von den innerlich erfassendenPrimärbewußtseinsarten verschieden sind), in einem Streich Anhaftenund Abneigung und alle damit verbundenen Formen von Leiden. JederGewahrseinsmoment ist auf der äußerst subtilen Ebene vom Makel der

Unwissenheit geläutert, und es besteht noch nicht einmal der Schatteneiner Idee von einem substantiellenUnterschied zwischen Geist und den

Objekten des Geistes.

Das bedeutet, daß der Geist von begrifflicher Projektion, der dualisti-sche Ideen zugrunde liegen, frei ist und in sich ruht. Derartige Ideenbasieren auf falschen Behauptungen und Verneinungen. Es werdenBehauptungen über Unterscheidungen aufgestellt, die nicht bestehen,und die wahre Natur der Wirklichkeit wird verneint. Unsere gesamteVorstellung basiert auf der Akzeptanz von äußeren Objekten, die vominneren erfassenden Geist getrennt sind und die wir als wirklich anneh-men.

Indem man alle begrifflichen Vorstellungen losläßt und über den Geist,der leer von dieser Dualität ist, meditiert, werden die Schleier beseitigt,und das Licht des Weisheitsgeistes, der Sich-seiner-selbst-Bewußte, derSelbsterhellende, wird zu einem geistigen Erlebnis werden. Dieses giltals eine in die Tiefe gehende Erfahrung, und selbst denjenigen, die eserleben, fallt es schwer, sie in Worte zu fassen.

Die Chittamatrins versuchen, dieses Phänomen als einen reinen Stromvon sich selbst bewußten Erlebnisaugenblicken zu deuten, jedoch zie-hen derartige Erklärungen logische Unvereinbarkeiten nach sich (s.folgendes Kapitel im Detail). Aus diesem Grund sind Unterweisungenüber die Natur der Leerheit erforderlich, die weitaus tiefgehender undverfeinerter sind, bevor die wahre Natur dieser sich ihrer selbst bewuß-ten, selbsterhellenden Erfahrung erkannt werden kann.

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UNTERSUCHUNGS METHODEN

Reflektieren Sieüber die Tatsache, daß es keinen Beweis dafür gibt, daßein außen erfaBter Aspekt (oder Objekt) eines Gewahrseinsmomentesunabhängig vom inneren erfassenden Moment besteht. Der innere er-fassende Aspekt eines Momentes kann nicht ohne ein außen erfaBtesObjektentstehen und umgekehrt. Einjeder Moment muß, um überhauptauftreten zu können, beide Aspekte gleichzeitig aufweisen. Eine Wahr-nehmung ohne ein Objekt der Wahrnehmung birgt einen begrifflichenWiderspruch, und der gleiche Widerspruch besteht beim Objekt derWahrnehmung, das einer sinnlichen oder geistigen Wahrnehmung er-mangelt. Das eine kann nicht vor oder nach dem anderen auftreten ~nddamit über eine unabhängige, eigene Existenz verfügen, genauso wieTraumerfahrungen nicht unabhängig vom träumenden Geist sein kön-nen. Jeder Augenblick des träumenden Geistes entsteht gleichzeitig mitden Traummanifestationen, die seine Objekte sind. Die Traumerschei-nungen können wedervor nochnach der Traumwahrnehmungauftreten.

Von bestimmten Beziehungsmustern des Wachzustandes schließen wirdarauf, daß die Objekte unserer Sinneswahrnehmung sowohl vor alsauch nach unserem Gewahrwerden immer noch vorhanden sind,jedochhandelt es sich hierbei um die herkömmliche Wahrheit der Dinge.Sobald wir nähere Untersuchungen anstellen, werden wir eine derartigeWirklichkeit nicht vorfinden. Der Beweis, der von anderen angeführtwird, daß wir dieselben Objekte wie sie wahrnehmen, hält keinerminutiösen Untersuchung stand. Man kann annehmen, daß - relativgesehen - andere dieselben Objekte wie wir wahrnehmen, aber vomletztendlichen Standpunkt aus gesehen entsteht und vergehtjede Wahr-nehmung sowohl von einem selbst als auch von anderen gleichzeitigzusammen mit ihren Objekten. Sowohl das außen erfaßte Objekt alsauch der innere erfassende Aspekt eines jeden Gewahrseinsaugenbiik-kes besteht aus der gleichen Substanz, die, ähnlich den Träumen, freivon einer Geist-Materie-Aufspaltung ist.

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MEDITATIONSVERLAUF

Zu Beginn einer jeden Meditationssitzung sollte man sich gedanklichin den Schutz von Buddha, Dharma und Sangha begeben und dieBodhicitta-Motivation entfalten.

Das Üben der Leerheitsmeditation in den drei Stufen, nämlich der

analytischen, alternierenden und stabilisierenden, gilt selbstverständ-lich auch für diesen Meditationsverlauf. Das Ziel der in diesem Buchbeschriebenen Meditationsfolgen ist es, die jeweilige Sichtweise überLeerheit durch den analytischen Teil der Meditation in das eigeneVerständnis zu integrieren und schließlich durch die alternierende undstabilisierende Meditation in direkte Erfahrung umzusetzen. Damit wiruns von der Aussage der Chittamatrins überzeugen können, gehen wirauf die zuvor erklärten Untersuchungsmethoden im analytischen Teilunserer Meditationssitzungen ein, insbesondere auf das Traumbeispielund die in Frage gestellte Subjekt-Objekt-Verschiedenheit.

Das Traumbeispiel ist für die Annäherung an die Sichtweise von Leer-heit, die vom Chittamatra-Lehrsystem vertreten wird, äußerst förder-lich. Für den Ich-denkenden und wahrnehmenden Geist treten dieTraumerscheinungen eindeutig und real als etwas außerhalb des geisti-gen Erlebens Vorhandenes auf. Diese dualistisch verhaftete Vorstel-lung erweist sich erst dann als fehlerhaft, wenn wir vom Traum erwacht,in anderen Worten, uns dessen voll bewußt geworden sind. Unmißver-ständlich erkennen wir,daß beide, der subjektiv erlebende Geist und das

objektiv, vom Geist unabhängig erlebte Ereignis, vom Geist produziertwurden. Für die Entwicklung der eigenen Leerheitserkenntnis ist eswichtig, den Geist während des analytischen Teils der Meditation mitdiesem Beispiel durch und durch vertraut zu machen.

Das Beobachten des erfassenden und erfaBtenAspektes eines Gewahr-seinsmomentes sollte ebenfalls das Objekt der analytischen Meditationsein, so daß die Aussage, der Geist sei leer von einer Subjekt-Objekt-

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Drittes Stadium:

Methode des Svatantrika- Madhyamaka

»Die Sichtweise der Svatantrika-Madhyamikas:

In konventioneller Hinsicht existieren die Erscheinungen,sie existieren ähnlich einem magischen Trugbild.Die absolute Wahrheit ist ihre Nicht-Existenz,ähnlich dem Himmelsraurn.«15

Das Madhyamaka (skr.von: madhya, tib.: dbu ma, das Mittlerste) ist diePhilosophie des "Mittleren Weges". Sie vertritt die Anschauung eines"Mittleren Weges", der von den Extremen des Seins oder Nichtseinsaller Dinge frei ist. ledwede Aussage über die Natur der Dinge wirdmittels vielfältiger Beweisführung widerlegt, und damit wird gleichzei-tig auf die Relativität und den trugbildhaften Charakter einer jedenErscheinung hingewiesen.

Die tibetische Tradition teilt das Madhyamaka-Lehrsystem in die bei-den philosophischen Schulen madhyamaka rangtong (tib.: leer von sichselbst) und in madhyamaka shentong (tib.: leer von anderem) ein. DieAbsicht des Madhyamaka Rangtong liegt darin nachzuweisen, daß alleErscheinungen leer von einer Wesenhaftigkeit sind. Der Begriff "Shen-tong" wurde zwar in Tibet geprägt, doch das Madhyamaka Shentongbetrachtet seine Tradition als eine Fortsetzung der in Indien als Yoga-cara-Madhyamaka bekannten Schule. Sie nennt sich "Leerheit vonanderem", weil sie eine leuchtende, klare Bewußtheitsweite vertritt, diejenseits von jeglicher begrifflichen Fabrikation als die Basis aller rela-tiven Erscheinungen existiert. Dieser wahre Zustand des Geistes istursprünglich leer von den Befleckungen der relativen Phänomene, die"anders als er selbst" sind.

Es gibt zwei Madhyamaka Rangtong-Schulen:

871. Svatantrika-Madhyamaka (tib.: dbu ma rang rgyud, eigene These -mittlerer Weg).

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Ein Svatantrika vertritt mit seiner "eigenen These" die relative eigeneExistenzweise der Erscheinungen als auch die letztliche Natur einerErscheinung, die der Leerheit.

2. Prasangika-Madhyamaka (tib.: dbu rtU1thai gyur, Konsequenz -mittlerer Weg).

Die Verfechter dieser Lehrmeinung nennen sich "diejenigen, die vonlogischen Schlußfolgerungen Gebrauch machen". Indem sie dem Dis-kussionsgegner eine absurde Konsequenz seiner eigenen Position prä-sentieren, versteht dieser das Prasangika-System, nämlich daß eineErscheinung nicht inhärent existiert.

Einer der bedeutendsten Philosophen des Buddhismus und Begründerdes Madhyamaka-Systems war der Inder Nagarjuna (2.13.Jh.). Er faßtein seinem wichtigsten Werk "mula-madhyamaka-karika" ("Memorial-verse über die Mittlere Lehre") sein System der Beweisführung zusam-men. Sein Schüler Buddhapalita (5. Jh.) verfaßte darüber einenberühmten Kommentar. Aber dessen Zeitgenosse Bhavaviveka (6. Jh.)

kritisierte die Methode Buddhapalitas und entwickelte ein eigenes Sy-stem, das wiederum auf dem Werk "mula-madhyamaka-karika"basiert.Somit wurde er zum Begründer des Svatantrika-Madhyamaka.Chandrakirti (8. Jh.), ein Anhänger des Buddhapalita, verfaßte einephilosophische Abhandlung, die Buddhapalitas prasangika-ähnlich for-mulierten Auslegungen der von Nagarjuna verfaßten "Memorialverseüber die mittlere Lehre" verteidigte und Einwände gegen die in Bhava-vivekas Werk enthaltene Kritik erhob. Somit wurde er zum Begründerdes Prasangika-Madhyamaka.16

Als wir das Lehrsystem des Chittamatra betrachteten, sahen wir, daß es

drei Arten von Leerheit gibt: die Leerheit der Nicht-Existenz begriffli-

cher Beifügungen, die Leerheit der Existenz abhängiger Erscheinungenund die absolute Leerheit des vollständig Existenten. Wir haben gelernt,was mit der Leerheit von begrifflicher Beifügung gemeint ist: Sobald 88

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ein vorgestelltes Objekt genau untersucht wird, wird man erkennen, daßes nicht aufgrund seiner eigenen Merkmale existiert, sondern bloß alsein beobachtetes Gedankenobjekt. Ein Beispiel für die bezeichnendstenicht-existierende Beifügung ist die der beiden Arten von "Selbst", dasder Person und das der Phänomene; in anderen Worten: sie existierenausschließlich in unserer Vorstellung, die wir von ihnen haben, aberniemals als wahre Wesenheiten.

Andererseits haben wir erkannt, daß die Leerheit der abhängigen Er-

scheinungbedeutet, leer von begrifflicher Beifügung zu sein,doch nichtleer von ihrer eigenen Natur. Das ist der Punkt, den die Madhyamikas

(skr., die Vertreter des Madhyamaka) bestreiten. Sie sind nicht derAnsicht, daß es sich beim vollständig Existenten, der endgültigen Leer-heit, wie sie von den Chittamatrins vorgefunden wird, um die letztlicheLeerheit handelt. Ihrer Meinung nach geht die Analyse der Chittama-teins nicht weit genug.

Die Shravakas, Chittamatrins und alle diejenigen, die die Madhyamaka

Rangtong-Sichtweise vertreten, stimmen darin überein, daß der Geistein Strom von Gewahrseinsmomenten ist. Die Shravakas finden anhandihrer Analyse kein individuelles Selbst in ihm vor. Die Chittamatrinserforschen außerdem auch die Objekte der Wahrnehmung und stellenfest, daß sie keine externe Existenz haben, die vom inneren erfassendenGeist getrennt ist, aber sie erkennen nicht, daß der erfassende Geistselbst nicht real vorhanden ist. Das Madhyamaka Rangtong erforschtsowohl das Gewahrsein als auch seine Objekte und stellt fest, daß wederdie Arten des Primärbewußtseins noch seine Objekte Wesenhaftigkeitbesitzen.

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Die Svatantrika-Madhyamikas sind der Meinung, daß der Geist als einStrom von erfassenden Gewahrseinsaugenblicken zusammen mit sei-nen Objekten auftritt und daß diese plausible Erscheinung die relative,nicht absolut gültige Wirklichkeit ist. Sowohl die Shravakas als auch

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die Chittamatrins nehmen die Momente des Geiststromes in gewisserHinsicht als etwas uneingeschränkt Gültiges an, weil man mittels derEndanalyse stets den Geist als etwas wirklich Vorhandenes erlebt.

Das Lehrsystemdes Svatantrika-Madhyamakabegründet, daß dieArtendes Primärbewußtseins zusammen mit ihren Objekten letztlich nicht derendgültigen Wahrheit entsprechen. Es demonstriert anhand logischerBeweisführung, daß jeder Aspekt nur in Abhängigkeit von anderenentsteht und keiner von ihnen Eigennatur besitzt.Eine äußere Form zumBeispiel und das Erkennen von Subjekt und Objekt entstehen in Abhän-

gigkeit. Wenn einer dieser Aspekte unabhängig in seinem eigenenWesen existieren würde, dann müßte dieser Aspekt von Dauer sein.Wenn beispielsweise Form wahrhaft existent und damit unabhängigwäre, dann müßte sie auch dann unwandelbar weiterbestehen, wenn derErkennungsmomentvon Subjekt und Objekt erloschen ist. Die Form alsObjekt des gegenwärtigen Wahrnehmungsmomentesmüßte die gleichewie die Form des darauffolgenden sein. Oder was hätte es zur Folge,wenn ein Erkennungsmoment inhärent existieren würde? Dann müßtenbeide, die Form des vorhergehenden Augenblickes und die des darauf-folgenden, als ein Objekt des gleichen Wahmehmungsmomentes beste-hen. Aus diesen Gründen kann nur etwas in Abhängigkeit von etwasanderem entstehen. Beide, Form wie auch das Gewahrsein von Form,haben keine wahre oder unabhängige Existenz. Dies verhält sichebensomit Laut und Erkennen von Laut, Geruch und Erkennen von Geruch,Geschmack und Erkennen von Geschmack, mit einem tastbaren Objektund dem Erkennen eines tastbaren Objektes. Der Mahasiddha Padma-

sambhava (8. Ih., Gründer des Tibetischen Buddhismus) sagte:

»Wenn in dieser Weise das Auge ein Objekt betrachtetoder was auch immer im äußeren Universum oder an Wesen darin,möge ich im natürlichen Zustand,

frei vom Haften an der Wirklichkeit der Erscheinungen, verweilen 90

und inbrünstig zu meinem spirituellen Meister beten,damit Erscheinungen sich von selber befreien.«

91

Wenn ein vom Auge erlaßtes Objekt wahrhaft und inhärent existierenwürde, dann könnte dieses Objekt im zweiten Wahmehmungsaugen-blick nicht sichtbar werden. Es könnte im zweiten Moment nicht auf-

treten, weil dieses Objekt des ersten Augenblickes wahrhaft, inhärentexistent und damit nicht zeitlich veränderlich wäre. Ebenso kann ein

Erkennen im zweiten, darauffolgendenAugenblick nicht zustandekom-men, wenn das Erkennen des ersten Augenblickes wahrhaft existentwäre. Insofern wird behauptet, daß Erscheinttngen leer einer eigenen,unabhängigen Existenz sind. Von einem Moment sagt man beispiels-weise, er sei vergänglich: das Vergangene hat seinen Platz eingenom-men, es hatte keinen Bestand. In diesem jetzigen Moment hat sich dasZukünftige noch nicht eingestellt, es hat ebenfalls jetzt keinen eigenenBestand. Wenn das, was wir den gegenwärtigen Moment nennen, vonseinem eigenen Wesen her existieren würde, dann müßte dieser gegen-wärtige Moment beständig und immer jetzt vorhanden sein. Doch dergegenwärtige Moment hat keine eigene, unabhängige Existenz, da aufdiesen unweigerlich ein anderer folgt. Von dem Mahapandit NagaIjunastammt die Aussage:

»Derjenige, der Vergänglichkeit versteht, versteht Leerheit.«

Dieser Vorgang ist ein äußerst kraftvoller und tiefgründiger Weg, umdie Leerheit aller relativen Erscheinungen nachzuweisen, die durchwechselseitige Abhängigkeit von Ursachen und Bedingungen gesche-hen (skr.:pratitya-samutpada, tib.: rten cing 'brei ba 'byung ba). VieleFragen bleibenjedoch unbeantwortet, und in mancher Hinsicht gibt dasChiuamatra-System mehr Auskünfte als das Madhyamaka Rangtong,wie die relative Wirklichkeit funktioniert. Das Madhyamaka Rangtongist ein Lehrsystem von Schlußfolgerungen, die unsere alltägliche Per-spektive des sogenannten gesunden Menschenverstandes von der Welt

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aufgreift und uns zeigt, daß eine derartige Sicht von der Welt vollerlogischer Widersprüche ist. Wir erfahren die Welt durch unsere Sinne,doch sobald wir unseren Verstand benutzen und minutiös die exakte Artund Weise ihrer Existenz untersuchen, gelangen wir zur Einsicht, daßes nichts gibt, das aufgrund einer Eigennatur existiert.

Erleben und logisches Durchdenken befinden sich vom endgültigenStandpunkt aus gesehen in einem grundlegenden Konflikt, und dieLösung dieser Auseinandersetzung kann nur durch die unmittelbare

Kenntnis kommen, die der Meditation der analytischen Durchdringungentspringt. Es ist das Ziel aller Madhyamaka-Lehrsysteme, die Bewußt-heit zu erhellen, indem sie den gedanklich ergründenden Verstanderschöpfen und ihn dabei unterstützen, vorgefaßte Ideen über die Naturder Welt aufzugeben.

Der Unterschiedzwischenden Svatantrika-Madhyamikasund den Pras-angika-Madhyamikas liegt im Inhalt und in der Methode ihrer Argu-mente. Die erstgenannten benutzten Beweise, um die Eigennatur derErscheinungen zu widerlegen und wenden dann darüber hinaus Argu-mente an, um ihre wahre Natur, ihre Leerheit, zu bestätigen. Sie bewei-sen also zuerst, daß Erscheinungen nicht wirklich existieren, d.h. daßsie keine Eigennatur haben. Dann bestätigen sie, daß ihre eigentliche,wahre Natur die der Leerheit ist. Die Prasangikas gebrauchen ihreArgumente ausschließlich dazu, um Eigennatur zu widerlegen, ohnejedoch den Versuch zu unternehmen, die "wahre Natur" anhand vonBeweisführung überhaupt erst nachzuweisen.

In der Hindu-Tradition indes besitzt das Höchste, das Absolute, Wesen-haftigkeit. Atman, das Heilige, Höchste wird als ein Selbst postuliert.Die Argumente sowohl der Svatantrika- als auch der Prasangika-Madhyamikas sind sehr effektiv in der Widerlegung dieser Anschau-ung, indem sie beweisen, daß die absolute Wirklichkeit leer von einerEigennatur ist. 92

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Die Aussage, etwas sei wesenlos, bedeutet mit anderen Worten, daßdieses keine separate,unabhängige, dauerhafteund eigene Naturbesitzt.Ein Regenbogen erscheint beispielsweise äußerst lebendig, und seinEntstehen kommt durch Ursachen und Umstände, wie zum Beispieldurch den Himmelsraum, den Regen, die Sonne, den Lichtwinkel undso weiter, zustande. Sobald manjedoch eingehend nach seiner endgül-tigen Natur Ausschau hält, wird man nur leeren Raum vorfinden. Esscheint, als ob er dem eigenen Blick entschwunden wäre, aber trotzdemsteht er noch klar leuchtend am Himmel.

Wissenschaftler studieren physische Dinge, beispielsweise~ine Blume,auf die gleiche Art. Eine erste grobe Untersuchung läuft darauf hinaus,eine Blume in ihre Teile wie Blütenblätter, Stiele und so fort zu zerglie-dern. Eine feinere Analyse wird sie in Zellen, Moleküle, dann in Atomeund in subatomare Teilchen einordnen. Schließlich verlieren selbstdiese subatomaren Teilchen ihre Identität, werden schlicht zu Bewe-

gung im leeren Raum, und die letztendliche Natur dieser Bewegungtrotzt jeglicher beweisfähigen Untersuchung.

Trotz alldem bleibt die Blume so lebendig und gegenständlich wiezuvor.

Aus diesem Grund muß man gezwungenermaßen das Vorhandenseinvon zwei Wirklichkeiten akzeptieren: die relative und die absolute. Dierelative ist die Wirklichkeit der Dinge, wie sie dem unkritischen, ge-wöhnlichen Geist erscheinen, und die absolute ist die Wirklichkeithinsichtlich der endgültigen Natur einer Erscheinung, die von einemrationalen Geist durch genaue und minutiöse Analyse festgelegt wurde.Das ist die Sichtweise des Svatantrika. Das Relative gilt bloß als etwas,das vom begrifflichen Denken hinzugefügt wurde (tib.: rnam rtog gisbtags pa tsam), und das Absolute ist die Leerheit, frei von Begriffen.

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TRAUMBEISPIEL

Die endgültige Natur der verschiedenen Dinge, die sich im Traummanifestieren, ist die Leerheit, da keines von ihnen wirklich ist. Siebesitzen keine Eigennatur wie zum Beispiel ein Traum-Feuer, denndieshat nicht die Eigenart des Feuers, d.h. es kann nicht wirklich etwasverbrennen, und es ist nicht durch das Zusammenkommen von Ursa-chen und Umständen geschaffen wie Holz, Streichhölzer und so weiter.Genauso kann derTraum-Tiger nicht wirklichbeißen und ist nichtdurchdie Begegnung von seiner Mutter und seinem Vater ins Leben gerufenwordenund sofort. Traum-Feuer undTraum-Tiger verfügen demgemäßnicht über die Eigennatur, die man dem Feuer oder dem Tiger zu-schreibt. Sie sind leer von einer derartigen Natur, aber trotzdem tretensie aufund funktionieren in den Sinnen auf eine Weise, die den Träumerin Angst und Leid versetzen können. Ihr Erscheinen und ihre Wirksam-keit gehören zur relativen Wirklichkeit, ihre absolute Wirklichkeit istjedoch die Leerheit.

Auf diegleiche Arterscheinen im Wachzustand relative Erscheinungen,die eine Funktion erfüllen, und obwohl es so aussieht, als ob sie eineunabhängige, dauerhafte, separate Existenz haben, besitzen sie dochkeine derartige eigene Natur. Ihre endgültige Natur ist die Leerheit.

Die Svatantrikas halten sich an die Aussage Buddhas: »Alle Erschei-nungen sind Leerheit«. Sie fassen diese Aussage über die letztendlicheNatur der Dinge als die unbestreitbare, wahre und endgültige LehreBuddhas auf, d.h. sie betrachten sie als eine nitartha-Lehre (skr., wahreund eigentliche Bedeutung). Ihrer Ansicht zufolge bedarf die Behaup-tung Buddhas: »Die drei Welten sind bloß Geist« einer sorgfältigenErläuterung. Sie ist in anderen Worten eine neyartha-Lehre (skr., hin-führende Bedeutung), eine Übergangslehre. Sie interpretieren dieseBehauptung, alles sei Geist, dahingehend, daß das, was die relativeWirklichkeit ausmacht, lediglich Begriffe sind. Im Gegensatz zu den 94

Chittamatrins wird von ihnen eine derendgültigen Analyse standhalten-de, wahrhaft existierende Substanz, nämlich die des Geistes, nichtakzeptiert. Der wesentliche Punkt innerhalb der Chittamatra-Lehrmei-

nung, den sie kritisch beurteilen, ist, daß der Geist nicht unabhängig vonseiner eigenen Natur existieren kann, weil ein Gewahrseinsmoment in

Abhängigkeit von einem Gewahrseinsobjekt entsteht und umgekehrt,und damit muß der Geist, den die Chittamatrins postulieren, etwasRelatives sein und kann nichtetwas Absolutes sein. Mit einer derartigenArgumentation sind die Svatantrikas in ihrer Analyse über die absoluteNatur der Dinge gründlicher und genauer. Kraftvoll stellen sie außerFrage, daß die endgültige Natur aller relativen Erscheinungen die Leer-heit ist, da diese bloß Begriffe sind. Selbst derartige Begriffe wie "dieLeerheit" können als leer bewiesen werden.

Hier sei kurz erwähnt, daß nicht alle Madhyamikas "das Mittlere" oderdie Balance zwischen den Extremen von Sein und Nichtsein in dergleichen Weise interpretieren. Einige unter den Svatantrikas sehen -relativ gesehen -die Objekte als vom Geist substantiell verschieden, als

Aggregate von Partikeln an (Sautrantika-Svatantrika-Madhyamaka)und andere schließen eine externe Außenwelt, die etwas anderes alsGeist ist, aus (Yogacara-Svatantrika-Madhyamaka), doch sind sichalledarüber einig, daß - absolut gesehen - sowohl außen erfaßten Objektenals auch inneren registrierenden Arten von Primärbewußtsein eineWesenhaftigkeit fehlt. Keiner unter ihnen (im Gegensatz zu den Chit-tamatrins) akzeptiert, daß die in Abhängigkeit auftretenden Erscheinun-gen etwas wie wahre Existenz besitzen.

Obwohl einige Svatantrikas in der Darstellung der beiden Wirklichkei-ten, der konventionellen und der absoluten, diese ihrem Wesen nachziemlich separat und verschieden lehren, legen andere Nachdruck aufihre Untrennbarkeit, wobei beide verschiedene Aspekte einer einzigenWirklichkeit sind. Die erstgenannten betonen, daß Leerheit "absoluteNicht-Existenz" bedeutet und daß all das, was wir als existent erfahren,

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als die relative Wahrheit von den Dingen gilt. Die letztgenannte unter-streicht, daß dies zwar der Wahrheit entspricht, aber daß Leerheit undErscheinung letztlich keine zwei separaten Wesenheiten sein können.Die wahreNatur derDinge kann letztlich weder als seiend,nicht-seiend,als beides noch als keines von beiden begrifflich erfaßt werden. Einesolche Sichtweise istder derPrasangikas ähnlich.Der Hauptunterschiedliegt darin, daß die Prasangikas im Gegensatz zu den Svatantrikas keinelogischen Argumente anwenden, um die absolute leere Natur der Er-scheinungen festzulegen.

UNTERSUCHUNGSMETHODEN

In der Meditation des Chittamatra haben wir gelernt, daß das, was alsleer von etwas anzusehen ist (tib.: stong gzhl), der Geist ist; er ist leervon einer Geist-Materie-Dualität. Das, was in der Svatantrika-Medita-tion als leer dargestellt wird, sind die gesamten Erscheinungen, innereund äußere, in anderen Worten: sowohl das wahrnehmende geistigeSubjekt als auch die Objekte der Außenwelt. Alles ist leer von einerEigennatur (skr.: svabhava, tib.: rang bzhin).

Die Svatantrikas benutzen zahlreiche detaillierte Argumente, um ihrenStandpunkt zu begründen. Es liegt in ihrer Absicht, die Leerheit allerDaseinsbestandteile zu beweisen. Ihre Methode beruht auf der systema-tischen Punkt für Punkt-Untersuchung eines jeden Bestandteils desDaseins, bis man zur Überzeugung gelangt ist, daß ausnahmslos allesleer ist.

In den "Prajna-Paramita-Sutras"(skr., "Lehrreden der transzendentenWeisheit") zählt Buddha 108 Leerheiten auf, die alle Erscheinungeneinschließen, beginnend mit den achtzehn Bestandteilendes Daseins biszu den zehn Kräften und der allwissenden Weisheit des Buddha.

Die Bestandteile des Daseins werden in der buddhistischen Philosophie

vielfach verschieden klassifiziert, wobei jedes System behauptet, alle

möglichen Bestandteile des Daseins oder der Erfahrung zu umfassen.Es geht darum, über eine Art Kontrolliste aller möglichen Erscheinun-gen zu verfügen und sie dann alle zu untersuchen, um ihre endgültige,wahre und allen gemeinsame Natur festzustellen.

Es ist uns bekannt, wie die fünf Skandhas auf die gleiche Art benutztwerden. Wir bedienen uns jetzt der 18 Bestandteile als ein weiteresBeispiel dieser Methode. Es handelt sich hier erstens um die Kräfte oderFähigkeiten der Sinne und des Geistes, die jeweils als entsprechendeStütze für das Primärbewußtsein dienen, zweitens um die Objekte, dievon denverschiedenen Artendes Gewahrseinswahrgenommen werden,und drittens umdie Primärbewußtseinsarten, die auf dieFähigkeiten derSinne und des Geistes angewiesen sind. Im einzelnen:

97

1. Sinnesfähigkeit der Augen2. Sinnesfähigkeit der Ohren3. Sinnesfähigkeit der Nase4. Sinnesfähigkeit der Zunge5. Sinnesfähigkeit des Körpers6. Wahrnehmungsfähigkeit des Geistes7. Form8. Laut9. Geruch

10. Geschmack

11. Berührung12. geistige Objekte13. Sehprimärbewußtsein14. Hörprimärbewußtsein15. Primärbewußtsein des Riechens16. Primärewußtsein des Schmeckens

17. Körperprimärbewußtsein18. geistiges Primärbewußtsein

--....

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-

Mit den in dieser Liste enthaltenen sechs Sinnesorganen, wie dem desAuges und so weiter, ist die eigentliche Sinnesfähigkeit der Sinnesor-gane gemeint und bezieht sich auf den sensorischen Teil eines jedenOrgans, der eine Verbindung zwischen dem physischen oder geistigenObjekt zum Geist herstellt. Eine Sehwahrnehmung kann nicht schlicht-weg in der Gegenwart von Form auftreten, denn das sensitive Organ fürLicht muß ebenfalls vorhanden und wirksam sein. Beim "Organ" Geisthandelt es sich um den Wahrnehmungsaugenblick, der das Bild einerSinneswahrnehmung oder eines geistigen Objektes trägt und der dasbegriffliche Bewußtsein befahigt, es zu erfassen.Welche Art der Beweisführungen hat Nagarjuna benutzt, um die Leer-heit aller Erscheinungen zu beweisen? Wir verfügen hier nicht über dieZeit, um auf alle einzugehen. In der Tat ist es für den Meditierendennicht unbedingt notwendig, von allen eine Kenntnis zu haben. Man mußlediglich genügend wissen, um für sich selbst als Vorbereitung zurMeditation die Leerheit aller Erscheinungen feststellen zu können.Nagarjuna führte als eines seiner kraftvollsten Argumente den Beweis-grund an, daß das Wesen von Erscheinungen weder etwas Einzelnesnoch eine Vielheit sei. Er nahm sich jeden Bestandteil der Reihe nachvor und stellte die Frage, ob die Existenz der Dinge als eine ganzeWesenheit oder als eine, die aus Teilen zusammengesetzt ist, bestimmtwerden kann. Es ist einleuchtend, daß irgend etwas, das existiert,entweder einzeln oder mannigfaltig sein muß, da es keine andere Mög-lichkeit gibt. Nehmen Sie als Vergleich ein Formobjekt, beispielsweisedie Hand. Wenn sie etwas Einzelnes wäre, könnte sie nicht in Teilegegliedert werden; doch da sie unterteilt werden kann, muß es sich umeine vielfältigeErscheinung handeln. Aber wo ist die "Hand" geblieben,sobald man sie in ihre Glieder zerlegt hat? Da "die Hand" als solchezwischen ihren Gliedern unauffindbar ist, kann "die Hand" nicht wirk-lich existieren. Die Glieder der Hand sind eindeutig nicht mit der Handidentisch, ansonsten würde die Hand aus vielen Händen bestehen. Kanndie Gesamtheit aller Glieder der Hand, die "nicht die Hand" sind, "die 98

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Hand" sein? Logischerweise müssen wir schlußfolgern, daß es sich beider "Hand" weder um eine einzelne noch eine vielfältige Erscheinunghandelt. "Hand" an sich gibt es nicht. Sie hat keine Eigennatur. Sie istganz einfach nur ein Begriff. Sie werden sich vielleicht sagen, daß eszwar wahr ist, daß es "eine Hand" als solche nicht gibt, aber da bestehteine Vielzahl von Atomen, die die Hand ausmachen. Ein Atom muß

jedoch entweder etwas Einzelnes oder etwas Vielfaches sein. Wenn essich um etwas Einzelnes handeln würde, dürfte es keine Grenzflächen,also keine linke, rechte Seite und so weiter haben. Diese Teile sind

jedoch alle vorfindbar, doch wo ist das Atom selbst? Wir werdenniemalsbeim kleinstmöglich existierenden Teilchen anlangen, von demman behauptenkönnte, daß daraus alle anderen Dinge zusammengesetztsind, wie minutiös wir auch nachforschen mögen. Nagarjuna benutztediese Art der Beweisführung, um seinen Standpunkt zubekräftigen. DieWissenschaftler unserer neueren Zeit kommen aufgrund ihrer Ex~ri-mente zur gleichen Schlußfolgerung. Vielleicht überzeugt uns <!ieex-perimentelle Augenscheinlichkeit mehrals Nagarjunas Beweisführung.Es spielt wirklichkeine Rolle, welcher Methode man sichbedient, wenndie Schlußfolgerung die gleiche ist.

Dazu ein Zitat von Nagarjuna:

99

»Eine Form, die wir von weitem sehen,wird klarer, wenn wir näher an sie herantreten.Wenn zum Beispiel das Trugbild eines flussesein echter fluß wäre,warum schwindet er dahin, wenn wir uns ihm nähern?Je weiter wir von der Welt entfernt sind,desto wirklicher erscheint sie uns.

In der gleichen Weise,je näher wir an sie herantretenverschwindet sie,wird merkmalslos wie ein Trugbild.«

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Nagarjuna hat das gleiche Argument für geistige Phänomene benutzt.Geistige Erscheinungen gehören zur geistigen Erfahrung. Zählt einErfahrungsmoment als ein einzelner oder als mehrere? Falls er keinesvon beiden ist, dann kann er nicht wahrhaft existent sein. Wenn es sichbei ihm ausschließlich um etwas Separates handeln würde, dann dürfteer keine Zeitdauer haben, weil diese unterteilbar ist. Unter Zeitverlauf

ist hier Anfang, Mitte und Ende gemeint. Wenn Sie der Meinung sind,daß ein Momenteinen Anfang, eine Mitte und ein Ende hat,dann bestehtder Moment aus drei Momenten, und der ursprüngliche Augenblick istdamit dem Gesichtsfeld entschwunden. Aus diesem Grund kann ein

Erfahrungsmoment weder einzeln noch vielzählig sein. Man wird denkleinstmöglichen, wahrhaft existierenden Erfahrungsaugenblick, ausdem all die anderen Erfahrungen zusammengesetzt sein könnten, nie-mals vorfinden, wie peinlich genau man auch immer nachforscht. DasGewahrsein (oder die Erfahrung) ist leer von einer Eigennatur, weil esletztendlich keinen wahrhaft existierenden Augenblick des Gewahr-seins oder der Erfahrung gibt.

Zitat aus dem Text "Madhyamakalamkara":

»Da die dinghaften Erscheinungen- sowohl für einen selbst als auch für andere,

frei von der Eigenart sind,

wahrhaft Einzelnes oder Vielfaltiges zu sein,sind sie wesenlos,

ähnlich einer Spiegelung.«

Die Svatantrikas machen gerne von zwei Arten der ArgumentationGebrauch. Als erstes führen sie den eben beschriebenen Beweisgrundüber "weder eins noch viele" an, und der andere lautet: "bloß abhängigesGeschehen". Das, wasin seinem Dasein von anderemabhängig definiertwerden kann, ist frei von Wesenhaftigkeit. Indem man das abhängige 100

Geschehen aller relativen Phänomene aufzeigt, bringt man den Nach-weis, daß sie wesenlos sind.

MEDITATIONSVERLAUF

101

Beginnen Sie die Meditationssitzung damit, sich gedanklich in denSchutz der drei Juwelen, Buddha, Dharma und Sangha zu begeben unddie Bodhicitta-Motivation zu entfalten.

Da die Herangehensweisedes Svatantrika-Madhyamaka äußerst förder-lich für ein grundlegendes Verständnis sowohl der Leerheit als auch der"PhilosophiedesMittleren Weges" ist, sollten Siedem analytischen Teildieser Meditation genügend Zeit und Aufmerksamkeit widmen und daszuvor Erklärte gut durchdenken.

Ein Svatantrika vertritt die Anschauung, daß Phänomene, absolut gese-hen, nicht wirklich bzw. inhärent existieren, wobei er jedoch hinzufügt,daß sie, relativ gesehen, als bloße Erscheinung bzw. Grundlage fürbegriffliche Zuschreibungen existieren. All das, was wir auf die her-kömmliche Art erleben, ist die relative Wirklichkeit der Dinge. Demunkritischen Geist erscheinen die Dinge so, als hätten sie ein unabhän-giges, separates, dauerhaftes "Selbst" oder eine eigene Natur. Ein Haus,zum Beispiel, wird vom Geist als ein unabhängiges, einzelnes unddauerhaftes Ding wahrgenommen. "Das Haus" erscheint dem Geist so,als ob "das Haus" etwas anderes als seine Teile wäre. Darüberhinaus

scheint "das Haus" eine ganz und gar eigene Beschaffenheit zu haben,die völlig frei von irgendeiner notwendigen Voraussetzung für seinVorhandensein ist, wie z.B. unserer Wahrnehmung des Hauses. Doch"das Haus" ist leer von einer eigenen Natur, weil es letztlich, d.h. aufGrund einer gründlichen Analyse, kein wahrhaft existierendes "Haus"gibt. Bei "Haus" handelt es sich um ein Konzept. Alle Erscheinungensind bloß die Basis für unsere begrifflichen Zuschreibungen. Der igno-

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rante, mit Begriffen operierende Geist hält die mittels begrifflicherZuschreibungen erfaßten Erscheinungen für wahrhaft existent. Die blo-ße Existenz der Dinge auf konventioneller Ebene wird nicht geleugnet!Relativ gesehen besitzen die Dinge eine rein erscheinungsmäßige Be-schaffenheit, und zwar in der Weise, wie sie vom erkennenden Geistwahrgenommen werden.Das, was hier geleugnet wird ist, daß die Dingewirklich so existieren, wie sie unserem gewöhnlichen Geisteszustanderscheinen. Mit diesen Äußerungen behaupten die Svatantrika-Madhyamikas, die Extreme der Existenz und der Nicht-Existenz derErscheinungen zu vermeiden.

Dazu ein Zitat von Nagarjuna:

»Mit (wahrhafter) Existenz behauptet man Beständigkeit.Keine (relative) Existenz ist die Sicht des Nihilismus.Deshalb verweilt der Weiseweder im (wahrhaft) Existentennoch im (relativ) Nicht-Existenten.«

Das Svatantrika-Madhyamaka widerlegt anhand von logischen Schluß-folgerungen die wahrhafte Existenz der Dinge: Erscheinungen besitzenkeine wahre Existenz, weil sie durch wechselseitige Abhängigkeit vonUrsachen und Bedingungen auftreten. Wenn das Vorhandensein einerErscheinung von etwas anderem abhängig ist, dann entbehrt es einesinhärenten, unveränderlichenWesens. Die letztendliche Seinsweise der

Dinge ist das Nichtvorhandensein einer Eigennatur, d.h. die Leerheit,das absolute Freisein einer Existenz aus sich selbst heraus.

Der Svatantrika-Madhyamika behauptet, daß sowohl die empirischePerson (die sechs Sinneskräfte und die sechs Arten des Primärbewußt-

seins) als auch die empirische Welt (die sechs Sinnesobjekte) relativgesehen in Abhängigkeit voneinander auftreten. Vom endgültigenStandpunkt aus betrachtet sind sie leer von einer eigenen, wahren oder

11

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..

102

unabhängigen Existenz. Um zur Erkenntnis dieser eigentlichen Naturder Erscheinungen zugelangen, nimmtman sich in diesem Meditations-verlauf Punkt für Punkt jeden der 18 Daseinsbestandteile vor undversucht zu ergründen, ob die jeweiligen Daseinsbestandteile eine Ei-gennatur besitzen und damit unabhängig von den anderen Daseinsbe-standteilen existieren können oder nicht.

Erscheinungen besitzen keine Eigennatur, weil sie weder als etwaswirklich Einzelnes noch als wirkliche Vielheit bestehen. Wenn die

Daseinselemente eine Eigennatur besitzen würden, dann müßte man siejeweils als eine einzelne oder als eine vielheitliche Erscheinung bestim-men können.Doch wenn bewiesen werden kann,daß sie weder als etwasEinzelnes nochals etwas Vielheitliches bestehen, dann können sie keine

Eigennatur haben und damit keine wirkliche Existenz aus sich selbstheraus.

103

Untersuchen Sie schrittweise anhand der Argumente "abhängiges Ge-schehen" und "weder eins noch viele" ein jedes der 18 Elemente.Versuchen Sie festzustellen, ob es sich hierbei um eine abhängige oderum eine einzelne bzw mannigfache Erscheinung handelt, wie es vorheran Beispielen wie dem der Hand beschrieben wurde.

Wenn Sie zueiner Gewißheit hierüber vorgedrungen sind, wechseln Sievon der analytischen Meditation zur stabilisierenden. Lassen Sie denGeist in seiner eigenen Leerheit und in der Leerheit aller Erscheinungenverweilen, frei von jeglichem begrifflichen Erfassen wie Sein, Nicht-Sein und soweiter. Erlauben Sie dem Geist, indiesem unendlich weiten,offenen Raum zu ruhen. So wie Träume sich auflösen, sobald man sieals das erkennt, was sie sind, so entschwindet alles, sobald die Medita-tion frei von begrifflicher Gekünstelheit (skr.: nisprapanca, tib.: spros

brat) verläuft, in die unendliche Ausdehnung der Leerheit.

Integrieren Sie das hieraus gewonnene Verständnis in Ihr Leben. Rich-ten Sie Ihre Aufmerksamkeit zwischen den Meditationssitzungen auf

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die Erscheinungsweise der Dinge. Der unkritisch wahrnehmende Geisterlebt sie sowohl als konkret vorhanden als auch als unabhängig von

irgendwelchen Voraussetzungen für ihr Erscheinen. Nur dem analysie-renden Geist erschließt sich die Seinsweise der Dinge: sie sind leer von

einer Eigennatur. Obwohl sie leer sind, treten sie trotzdem auf, ähnlichden Erlebnissen in Träumen.

Diese Leerheit macht das Wesen des Dharmakaya (skr., die allenErscheinungsformen gemeinsame formlose absolute Wirklichkeit) wieauch die endgültige Natur aller Wesen aus. Aufgrund dieser naturgemä-ßen Übereinstimmung besitzen Wesen die Fähigkeit, den erleuchtetenZustand der Buddhas zu verwirklichen, selbst zu einem Erwachten, zueinem Vollendeten heranzureifen, versehen mit der Kraft, sich auf

Ewigkeit hin der Aufgabe zu widmen, alle Wesen vom Leiden zubefreien. Mit diesen Gedanken widmen Sie all das Gute, das durch dieMeditation entstanden ist, der Vielzahl der Wesen, damit sie den voll-kommenen, erleuchteten Zustand erreichen mögen.

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Viertes Stadium

Methode des Prasangika- Madhyamaka

»Die Sichtweise der Prasangika-Madhyamikas:

Bei der konventionellen Wahrheit

handelt es sich darum, daß (alle Objekte lediglich)begriffliche Beifügungen des Verstandes sind;

Dinge werden gemäß weltlicher Konventionen ausgedrückt.(Die absolute Wahrheit)

ist frei von jeglicher begrifflichen Erfindung,

sie liegt jenseits von denken und ausdrücken in Worten.« 17

Das Svatantrika-System ist sehr effektiv, um zuerst einmal den Sinn der

Leerheit zu erfassen, da es das eigene Anhaften am Wirklichkeitsgehalt

der Dinge durchtrennt. Die Svatantrikas sind zwar der Meinung, mit

ihren Unterweisungen zu einem Verständnis beizutragen, das jenseitsder Begriffe liegt, aber vom Gesichtspunkt der Prasangikas aus bewegtsich die Sichtweise ihres Verständnisses immer noch etwas im begriff-

lichen Bereich. Die Prasangikas argumentieren folgendermaßen: Indemman die Leerheit durch Beweisführung festlegt, versucht man auf einesubtile Weise, die "endgültige Natur" mit dem mit Begriffen arbeiten-

den Verstand zu verstehen. Durch logisches Durchdenken kann aufge-zeigt werden, wie der begrifflich erfassende Geist stets Fehler begeht.

Er kann einzig und allein eine verdrehte, eine letztendlich sich selbstwidersprechende Version der Erfahrung erklären, aber niemals dieNatur der Wirklichkeit selbst. Aus diesem Grund weigern sie sich, auchvon nur irgendeiner Beweisführung Gebrauch zu machen, um die wahre

Natur der Erscheinungen nachzuweisen. Sie sagen, daß die Suche nacheiner Beschreibung oder um einen Begriff, der die endgültige Natur derWirklichkeit ausdrückt, irreführend sei, da die endgültige Natur jenseits

des subtilsten Begriffes, wie: "Freisein von Vorstellungen" (skr.: ni-

sprapanca, tib.: spros braT) liege.

107Sie sind in ihren Bestrebungen unerschütterlich, nicht das Geringste zu

postulieren, sei es positiv oder negativ. Einige argumentieren, daß es

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sichhierbei umeine unehrliche Sichtweise handle,da man dem Problemeinfach ausweiche und den Gegnern nicht erlaube, die eigene Perspek-tive zu widerlegen. Wie dem auch sei, es liegt etwas sehr Tiefgründigesin dieser Methode. In ihrer systematischen Widerlegung aller begriffli-chen Versuche, die Natur des Absoluten zuerfassen, gehen sie keinerleiKompromisse ein. Die ursprünglichen Prasangikas in Indien und Tibethaben sogar über das relative Auftreten der Phänomene nichts ausge-sagt. Ihre innerste Natur betrachteten sie ebenfalls als etwasjenseits dersubtilsten Begriffe von "seiend" oder "nicht-seiend" und so weiter.Einige unter den späteren Prasangikas, nämlich die der Gelugpa-Schulein Tibet, haben jedoch eine Auffassung über die Natur der relativenErscheinungen. Sie legen mittels Beweisführung fest, daß relative Er-scheinungen auf eine konventionelle Weise (skr.: vyavahara, tib.: thasnyad du) vorhanden sind. Von anderen Prasangikas wird stark ange-zweifelt, ob ein derartiges System überhaupt als Prasangika betrachtetwerden kann. Sowohl Gelugpa- als auch andere Gelehrte haben mitzahlreichen und kraftvollen Widerlegungen die Perspektive der Gelug-pas angefochten, und die Debatten dauern bis in die heutige Zeit an,selbst jetzt noch, wo der Dharma sich im Westen ausbreitet. Zweifelloswerden die Debatten hier ihre Fortsetzung finden. Vielleicht werdensich westliche Schriftgelehrte auf eine Lösung einigen, an der dieTibeter gescheitert sind.In dieser stufenweisen Meditationsfolge über Leerheit werden wir aus-schließlich die ursprüngliche Prasangika-Perspektive eingehend be-trachten. Wir werden uns darauf beschränken, alle Sichtweisen zuwiderlegen, aber keinerlei Gegenargumente zu verfechten, um irgend-eine eigene Sichtweise festzulegen. Das läuft auf eine totale Zerstörungaller begrifflichen Perspektiven hinaus; es gibt keine andere Möglich-keit als eine nicht-begriffliche Sichtweise in bezug auf die Natur derWirklichkeit. Es ist die Zielsetzung der Prasangikas, den mit Begriffenarbeitenden Verstand völlig zur Stille zu führen und dem Geist zuerlauben, in der absolutenFreiheit von allen Begriffen zuverweilen. Die

Leerheit der Prasangikas ist mit der absoluten Freiheit von Begriffenidentisch. Nur in diesem Sinne gilt die absolute Natur der Wirklichkeitals Leerheit. Weder kann sie vom begrifflichen Verstand als leer nochals Freiheit von Vorstellungen begründet werden, da es sich dann nichtmehr um die wahre Leerheit oder wahre Freiheit von Begriffen handelt,denn auch diese sind nur Konzepte.

Zitat von Shantideva aus dem Text "Bodhicaryavatara":

»Sobald weder dinghafte Erscheinungennoch keine dinghaften Erscheinungen (ihre Leerheit)vor dem Geist verbleiben,gibt es keine andere Alternative mehr.Somit wird schließlich der Geist,der (sich auf wahrhaft existierende Objekte) richtet,versiegen und vollständig zur Stille finden.«

Deshalb sagen die Prasangikas nichts über die endgültige Natur derWirklichkeit oder Leerheit aus. Das ist nicht dasZiel ihres Lehrsystems.Ihre Absicht ist darauf gerichtet, die Bewußtheit von der Begriffebildenden Gewohnheit zu befreien und der "endgültigen Natur derWirklichkeit" zu erlauben, sich selbst in einer vollkommen nicht-be-grifflichen Art und Weise zu offenbaren. Es handelt sich hier um einausgesprochen wirksames System, da es dem begrifflichen Verstandnichts bietet, wonach er greifen könnte. Im Gegensatz zum Lehrsystemder Svatantrikas, die darin vorbildlich sind, nicht-buddhistische Philo-sophien zu widerlegen, ist die Prasangika-Schule sehr geschickt darin,subtile Perspektiven andererbuddhistischer Systemezu widerlegen. Siezeigen auf, daß diese immer noch mit subtilen Begriffen operieren,solange sie sichdarum bemühen, die Natur derWirklichkeit anhand vonBeweisführung und der Anwendung von Begriffen nachzuweisen, ob-wohl sie behaupten, sich jenseits der Begriffe zu begeben.

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TRAUMBEISPIEL

Die Svatantrika-Sichtweise gleicht dem Erkennen, daß Traum-Feueroder Traum-Tiger nichtecht sind. Dementsprechendbesteht ein subtilesKonzept von einer wirklichen Leerheit und unwirklichem Feuer oderTiger. Es gibt in anderen Worten eine subtile begriffliche Unterteilungzwischen absoluten und relativen Wahrheiten. Die Perspektive derPrasangikas stimmt mit dem direkten Erkennen der wahren Natur desTraum-Feuers oder -Tigers überein, ohne dabei erst den Traum zunegieren und Leerheit zu erweisen. Sobald der Begriff "wirklich" nichtvorkommt, taucht die Vorstellung von "unwirklich" ebenfalls nicht auf.Wenn es kein Konzept "Eigennatur" gibt, dann gibt es auch keinKonzept "Fehlen einer Eigennatur". Folglich kann der Geist in vollstän-digem Frieden, frei von auch nur einer geringsten begrifflichen Erfin-dung, ruhen. Der Traum-Tiger braucht nicht das Konzept der Leerheit,um eine Wirklichkeit zu leugnen, die er niemals hatte.

Im Vergleich zur Ausübung des Svatantrika ist diese unverkennbar einesehr viel weitergreifende Art. Für den ungeübten und unvorbereitetenGeist ist es nicht möglich, unmittelbar ein nicht-begriffliches Erkennender Leerheit zu erlangen. Ganz am Anfang ist die Anwendung derSvatantrika-Herangehensweise sehr gut, um die Leerheit festzulegen.Diese durchtrennt die eigene gewöhnliche, begriffliche Art des Den-kens, die Sein und Nicht-Sein für gegeben hinnimmt. Später muß mandie Prasangika-Herangehensweise nutzen, um den begrifflich arbeiten-den Geist vollständig einzuschränken. Sie hilft die Tendenz zu tilgen,daß die relative Wahrheit über die Erscheinungsweise der Dinge vonder absoluten Wahrheit über ihre wirklich seiende Natur zu trennen sei.

Die eigene Leerheitserkenntnis wird solange subtil begrifflich bleiben,solange man damit fortfährt, die beiden Wahrheiten zu trennen. Sobaldman von der Neigung, die beiden Wahrheiten subtil zu unterscheiden,losläßt, wird man das Relative als natürlich leer erkennen. Das ähneltdem natürlichen Wahrnehmen der Träume, ganz so wie sie sind, frei 110

von Erfindung oder Verwirrung. Dann wird man begreifen, daß dierelative und absolute Wahrheit nur Bezeichnungen für zwei Aspekte dereinen Wirklichkeit sind.Auch die Benennungenrelativ und absolut sindbegriffliche Erzeugnisse. Vom letztendlichen Standpunkt aus gesehengibt es solche Unterscheidungen nicht.

Im Traum erscheinen viele Dinge, die leer sind. Wenn nun dieseTraumerscheinungen leer und nicht wirklich sind, wie kann dann ihre

Essenz, die leer ist, wirklich sein? Mit dem Konzept, die endgültigeNatur der Traumerscheinungen sei Leerheit, sieht man ihre Natur nichtkorrekt. Die Bewußtheit muß in der Meditation ruhen, ohne irgendwel-che Konzepte wie real oder nicht-real, leer oder nicht-leer, seiend odernicht-seiend und so fort zu entwickeln.

Solange man diese begriffslose Natur noch nicht entdeckt hat, wird eseinemjedoch unmöglich sein, subtile bejahende und verneinende Sinn-gehalte zu vermeiden. Das ist der Grund, weshalb es nutzbringend ist,durch sämtliche Stadien dieser stufenweisen Meditationsfolge überLeerheit hindurchzugehen. In jedem Stadium wird man lernen, all diesubtilen Begriffe, die sich wiederholte Male in die Meditation schlei-chen, wahrzunehmen und sich damit vertraut zu machen. Indem manihrer gewahr wird, wird man ihre Naturzunehmend deutlicher erkennen,und der Geist wird schließlich ihrer müde werden.

Genauso, wie Dunkelheit nicht in der Gegenwart von Licht sein kann,kann Unbewußtheit nicht in der Anwesenheit einer Bewußtheit, die frei [;von Begriffen ruht, fortbestehen. Anfänglich vermag der Geist in dieserWeise nur für kurze Momente zu verweilen, doch indem man sichstufenweise der Bedeutung und Wichtigkeit dieser Augenblicke bewußtwird, werden sie gefördert, und während die Neigung zum Begriffebil-den abnimmt, wächst die begriffslose Bewußtheit stärker heran, wie dieSonne, die hinter einer Wolkenbank hervortritt.

Page 57: Stufenweise Meditation

Damit etwas hervorgerufen werden kann, muß es zunächst einmalabwesend sein. Die Samkhyas 19 waren der Meinung, daß Dinge aus sich

selbst heraus entstehen. Chandrakirti widerlegte das: wenn etwas exi-stiert, dann braucht es nicht zu entstehen. Im Entstehen einer Sache, dieschon vorhanden ist, liegt kein Sinn.

Die buddhistischen Hinayana-Schulen der Vaibhasikas und Sautranti-kas waren der Meinung, daß Dinge aus etwas entstehen, das etwasanderes als sie selbst ist, in anderen Worten: ein Augenblick bewirktden nächsten. Chandrakirti gab hierzu als Gegenargument an, daß eskeine Verbindung zwischen einem Moment und dem darauffolgendengibt. Ein Moment entsteht genau in dem Augenblick, in dem dervorhergegangene erloschen ist. Etwas, das in keiner Verbindung mit

UNTERSUCHUNGSMETHODEN

Chandrakirti (8.Jh.), Buddhapalita (5. Jh.) und Shantideva (7.18.Jh.)waren Vertreter des Prasangika-Madhyamaka. Chandrakirti war einberühmter Verfechter des Prasangika-Lehrsystems, und er berief sichhäufig auf Argumente, die aufzeigen, daß Erscheinungen nicht entste-hen. Wenn man beweisen kann, daß sie nicht entstehen, dann steht esaußer Frage, daß sie auch nicht irgendwo verweilen oder vergehen unddeshalb auch keine Eigennatur besitzen können. Shantarakshita (8.Jh.)18,ein Svatantrika, argumentiert andererseits in seinem Werk, daßes eine Leichtigkeit ist aufzuzeigen, daß Erscheinungen weder entste-hen, verweilen nochvergehen, sobald man nachweisen kann, daß Dingekeine Wesenhaftigkeit besitzen.

Chandrakirti benutzte das Beweismittel, daß innere und äußere Dingenicht wirklich aus sich selbst heraus entstehen, nicht aus etwas anderemals sie selbst, nicht aus diesen beiden und nicht aus keinem der beidenerstgenannten Gründe, d.h. die Erscheinungen sind bar einer Ursache.Dieser Beweis zeigt, daß es nichts gibt, das wirklich entsteht, da er allevier vorhandenen Möglichkeiten umfaßt.

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-.....

einer anderen Sache steht, kann schwerlich dessen Ursache genanntwerden; ansonsten könnte man behaupten, daß die Dunkelheit dieUrsache für Licht oder das Licht die Ursache für Finsternis sei, nur weildas eine auf das andere folgt.

Da nun das Entstehen der Dinge aus sich selbstheraus und ihr Entstehen

durch etwas anderes widerlegt ist, mag man das Entstehen der Din~eaus beiden genanntenUrsachenzusammenbegründen.Die Jains 0dachten in dieser Weise. Chandrakirti argumentierte, daß dieser Stand-punkt die Fehler beider vorhergehender Behauptungen trägt.

Vielleicht möchte man argumentieren, daß die Dinge aus nichts herausentstehen? Diese Stellungnahme würde dem Glauben derjenigen glei-chen, die jegliche Ursache- und Wirkungverkettung verneinen, ein-schließlich der Ursache und dem Ergebnis von Karma. In Indienexistierte eine solche Schule. Ihre Vertreternannten sich die Ajivakas21.Chandrakirti widerlegte ihre Sichtweise, indem er behauptete, daß eskeinen Sinn hätte, auch nur irgend etwas zu unternehmen, wenn Dingeohne Ursache entstehen würden. Warumsollte beispielsweise ein Bauersich damit herumplagen, Getreide anzubauen, wenn Ursachen keineWirkungen erzielen? Eine derartige Überzeugung, die darauf anspielt,daß alles zufällig und chaotisch ist, ist in keiner Weise wissenschaftlichexakt.

Möglicherweise ist der Film ein guter Vergleich für das Nichtentstehender Dinge. Wir sind uns alle darüber im Klaren, daß es sich bei einemablaufenden Film, dem wir zuschauen, in Wirklichkeit um eine Serievon unbeweglichen Fotos handelt, die in einer sehr raschen Folge aufeine Leinwand projiziert werden. Es sieht ganz so aus, als ob auf derLeinwand ein Ding das nächste beeinflußt, aber in Wirklichkeit existiertzwischen ihnen, außer der aufeinanderfolgenden Anordnung, keineVerbindung; es gibt sogar Spalten zwischen den Bildern. Damit irgendetwas etwas anderes verursachen kann, muß es eine Stelle geben, an der

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sie sich berühren, denn wie könnte sonst eines unter dem Einfluß desanderen stehen?Eine Ursache existiert jedoch niemals zurgleichen Zeitwie ihre Wirkung. Sobald das Resultat aufgetreten ist, gehört die Ursa-che der Vergangenheit an. Die Ursache muß ihrer Wirkung vorausge-hen, ansonsten wäre eine Ursache bedeutungslos. Wenn beide zurgleichen Zeit entstehen würden, dann könnte es sich weder um Ursachenoch um Wirkung handeln. Innerhalb des Prasangika-Lehrsystems istdieses Argument im Detail weiterentwickelt worden und wird ausführ-lich behandelt. Obwohl wir hier nicht auf die Details eingegangen sind,haben wir wenigstens die Art von Beweisführung kennengelernt, derersie sich bedienen.

Es ist wichtig zu verstehen, daß das, worüber hier diskutiert wird, die"endgültige Natur" der Dinge ist. Jeder wird selbstverständlich bestäti-gen, daß - grob gesehen - beispielsweise eine Kerzenflamme durchDocht und Kerzenwachs, durch Holz und die Flamme eines Streichhol-zes entsteht usw. Wenn man jedoch das Konzept von Kausalität sehrgenau untersucht, bricht es zusammen, und das ist genau das, woran diePrasangikas interessiert sind. Wie Kausalität in der Welt arbeitet, istjedem ersichtlich, und die Prasangikas erheben nicht den Anspruch,irgend etwas zu dem hinzuzufügen, was die Welt darüber aussagt.

Zitat von Shantideva aus dem Text "Bodhicaryavatara":

»Die bloße Erscheinung vonSehen, Hören und Erkennenwird hier nicht geleugnet.Es ist die Vorstellung,die sie als wahrhaft existent ansieht,die hier berichtigt werden soll,da sie zur Ursache für Leiden wird.«

Für den Prasangika handelt es sich beim Werden der Dinge um dierelative Erscheinungsweise. 1mAbsoluten gibt es kein Entstehen. Ganzwie in Träumen: relativ gesehen erwecken die Dinge den Eindruck, alsob sie entstehen würden, doch das analytische Auge kann kein Entste-hen entdecken. In der begrifflichen Essenz (der Dinge) gibt es einEntstehen; die uneingeschränkt gültige Essenz der Erscheinungen istjedoch frei von Entstehen (tib.: rnam rtog gi ngo bo skye ba red. Dondam pa 'i ngo bo skye ba med pa red). Der Prasangika steht nicht aufdem Standpunkt, daß das Absolute oder das Relative entsteht oder nichtentsteht, daß es existiert oder nicht existiert und so fort.

Die Prasangikas sind sehr darauf bedacht zu unterstreichen, daß Dingenicht wahrhaft existieren (tib.: bdenpar grub) und auch nicht entstehen(tib.: skye ba), aber auch nicht nicht wirklich vorhanden sind (tib.: bden

par ma grub) und nicht nicht entstehen (tib.: skye ba medpa). DerartigeStellungnahmen sind gleichermaßen unbefriedigend: Wenn wahresSein nicht existiert, dann kann auch das Gegenteil, nicht-wahres Seinnicht bestehen, da diese Behauptung nur im Verhältnis zum "Sein"irgendeinen Sinn birgt. Wenn es gleichermaßen kein Entstehen gibt,dann gibt es auch kein Nicht-Entstehen. Hierdurch vergewissern siesich, daß alle Begriffe, sowohl bejahende als auch verneinende, negiertwerden und daß nichts an ihrer Stelle behauptet wird. Das Prasangika-Lehrsystem geht in anderen Wortenjenseits irgendeines verstandesmä-ßigen Erfassens (tib.: blo'i 'dzin slangs thams cad las 'das pa) derDinge.

Zitat von Shantideva aus dem Text "Bodhicaryavatara":

»Da (das Entstehen von) Dinghaftemnicht wahrhaft existent ist,

ist die Auflösung (von Dinghaftem)ebenfalls nicht wahrhaft existent.

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-

Alle diese Wesensind niemals wahrhaft geborennoch sind sie jemals wahrhaft verschieden.(Frei von natürlicher Existenzbefinden sie sich im Zustanddes natürlichen Nirvana).«

Es sei übrigens darauf hingewiesen, daß mit der Behauptung, diePrasangikas nähmen keine Stellungnahme ein oder sie hätten keinePerspektive, gemeint ist, daß sie keiner Sichtweise oder keinem Stand-punkt wirklich Glauben schenken oder irgend etwas als ihre absoluteund endgültige Meinung verfechten. Damit ist nicht gesagt, daß Chan-drakirti beispielsweise nicht behaupten konnte: »Ich bin Chandrakirtiund lebe in Nalanda«. Etwas auszusagen bedeutet nichtgleichzeitig, daßman es für endgültig wahr hält.

Der Grund, weshalb wir uns hier nicht bei all den detaillierten Argu-menten, die von Chandrakirti und anderen Kommentatoren angewandtwurden, aufgehalten haben, liegt darin, daß wir uns mit der Methodedes Meditierendenbeschäftigen. Der tibetische Gelehrte Jamgön Kong-trül (1813-1899) erklärte in seinem Werk "Enzyklopädie des Wissens"(tib.: shes bya mdzod) im Kapitel über die Meditationsarten shamatha

(skr.,die Stille unabgelenktenVerweilens) und vipashyana (skr.,beson-dere Einsicht), daß der Meditierende nur sehr kurz verstandesmäßiganalysieren sollte, gerade genug, um sich selbst von der Methodewährend der Meditation zu überzeugen. Dann sollte er alle Unsicher-heiten und intellektuellen Erkundigungen beiseite schieben und denGeist natürlich ruhen lassen, frei von jeder begrifflichen Erfindung.Selbstverständlich muß man sich, sobald noch Zweifel vorhanden sind,mehrmals wieder dem Lem- und Reflexionsstadium zuwenden. Sobald

man jedoch wirklich mit dem Meditieren begonnen hat, muß man alleZweifel hinter sich lassen und dem Geist erlauben, ohne Künstlichkeitzu verweilen.

-f..

116

GRUNDLAGE, WEG UND ERGEBNIS

117

Die beiden Wahrheiten oder Wirklichkeiten sind die Grundlage fürSvatantrika- wie auch für Prasangika-Madhyamaka. Beim Weg handeltes sich um die beiden Ansammlungen von spirituellem Verdienst undbegriffslosem Weisheitsgeist (skr.: punya- und jnana-sambhara, tib.:bsod nams- und yeshe kyi tshogs) und beim Ergebnis um die beidenBuddha-Körper (skr.: kaya), den Formkörper und den formlosen Kör-per.

Obwohl dieser Weg "Weg der beiden Ansammlungen" genannt wird,halten der letzendlichen Analyse weder Ansammlung noch Weg nochErgebnis stand. Der Geist ist auf natürliche Weise von verstandesmäßi-gen Auslegungen frei. Es gibt nichts, das zu addieren oder zu beseitigenwäre. Das ist die Leerheit, die keinerlei Negationen anstrebt und freivon irgendeiner Vorstellung über die Leerheit selbst ist. Der Geist ruhtungekünstelt in seinem natürlichen Zustand, frei von Erfindung.

Mit dem Ergebnis sind die beiden Körper des Buddha gemeint. DerDaseinskreislauf ist von rein begrifflicher Beschaffenheit (skr.:prapan-

ca, tib.: mam rtogspros pa), und der transzendierte Zustand ist frei vonbegrifflicher Erfindung (skr.: nisprapanca, tib.: spros braT).Obwohl derDharmakaya das Erlöschen jeglicher begrifflichen Konsistenz ist, ma-chen die Bodhisattvas auf dem Weg zum Zustand eines Buddhas vonMitgefühl motivierte Gelübde und Wunschgebete für das Wohlergehender Wesen. Durch die Kraft ihres Mitgefühls, der Ergebnisse ihrer inder Vergangenheit geleisteten Gelübde und durch das reine Karma derWesen besitzen sie, wenn sie den Zustand des Buddhas erreicht haben,die Fähigkeit, Forrnkörper (skr.: rupakaya, tib.: gzugs sku) zu manife-stieren. Der Essenz dieser Formkörper ermangelt jegliche begrifflicheBeschaffenheit, jedoch machen die Begriffe der Wesen es ihnen mög-lich, in ihrem Gesichtsfeld aufzutreten. Sie offenbaren sich den Wesen,die ein geläutertes Sehvermögenhaben, doch damit ist nicht gesagt, daß

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sie der absolute Buddha sind (in anderen Worten: der formlose Dhar-makaya).

MEDITATIONSVERLAUF

Nehmen Sie Zuflucht und entfalten Sie die Bodhicitta-Motivation.

Wenden Sie die zuvor erklärten Untersuchungsmethoden an und stellen

Sie analytisch fest, daß im Absoluten alle Erscheinungen frei vonEntstehen sind. Innere und äußere Phänomene entstehen weder wirklich

aus sich selbst noch aus etwas anderem als sie selbst, weder aus diesen

beiden erstgenannten Gründen noch aus keinem von diesen beiden.

Reflektieren Sie über die nicht-begriffliche Herangehensweise an dieendgültige Natur der Wirklichkeit, so wie sie in diesem Kapitel erklärtworden ist, wobei Sie keinen Versuch machen sollten, das Erkennen der

Leerheit durch irgendwelche Konzepte der Affirmation oder Negationzustande zu bringen.

Während der Meditationssitzungen des Prasangikas läßt man den eige-nen Geist frei von begrifflicher Anstrengung in den beiden nicht zu

trennenden Wirklichkeiten zur Ruhe kommen. Man hängt den Begriffengut, schlecht, froh und so weiter nicht nach. Selbst Zeit ist bedeutungs-los. Es gibt einige Leute, die der Zeitdauer sehr verhaftet sind und

denken, daß es von großer Wichtigkeit sei, wie lange sie meditieren unddergleichen. Das kann zu einem großen Hindernis für die Verwirkli-chung des nicht-erdachten Zustandes werden. ~it entsteht nicht. Es istbegriffslose Weisheit, die sich durch diese Art zu meditieren ansammelt.

Für die stabilisierende Meditation sollte der Geist sehr entspannt sein.Lassen Sie den Geist unermeßlich weit ausgedehnt, ähnlich klarem undleerem offenem Raum, ruhen. Für diese Bewußtheit, die frei von be-

grifflichem Erfassen ruht, wird das Beispiel von Wasser, das in Wassergegossen wird, angeführt. 118 119

Immer dann, wenn der Geist von anstrengendem Studium oder ähnli-chen Tätigkeiten verkrampft ist, sollte man ihn auf ungezwungeneWeise, ohne Manipulation, in der natürlichen, nicht-erfundenen Leer-heit des Geistes verweilen lassen. Das ist das Mittel, um den Geist zuentspannen. Wenn Sieden nicht-erfundenenZustand korrekt verstanden

haben, dann werden Sie erleben, daß sich jede Verkrampfung undemotionale Störung löst, wie Ozeanwogen, die von sich aus zur Stillefinden. Als Gegenmittel zu starken Gefühlsausbrüchen wie Verärge-rung, Begierde oder Eifersucht genügtes, den Geist ruhen zu lassen, freivon Erfindung und ohne irgend etwas bewirken zu wollen. Die Emotio-nen werden sich einfach von alleine beruhigen. In Leidsituationenverfährt man auf die gleiche Weise: Sobald man in der Essenz desGeistes ohne Erfindung ruht, wandelt sich die Empfindung von Leidenzu Weite und zu Frieden.

Es ist wichtig zu beachten, daß man den Geist auch dann so verweilenlassen soll, wenn er froh ist. Ansonsten wird man den Gleichmut zumZeitpunkt des Wandels verlieren, wenn das Glück dem Ende naht.

Zwischen den Sitzungen muß man jedoch mit dem eigenen täglichenLeben fertig werden. Hier können wir beobachten, wie Ursache und

Wirkung ständig operieren. Vom endgültigen Standpunkt aus gesehenentstehen sie nicht, doch sie erwecken im begrifflich erfassenden Geistden Eindruck, als ob sie es tun würden. Es ist wichtig, das zu respektie-ren und dieEbenen der Unterweisungennichtdurcheinander zubringen.Zwischen den Sitzungen gibt es gute und schlechte, geschickte undungeschickte Handlungen, die jeweils zu Freude und zu Leid führen.Deshalb ist es sehr wesentlich, diese Zeit damit auszufüllen, nützlicheHandlungen auszuführen, wie den "Drei Juwelen" (Buddha, Dharma,Sangha) zu Diensten zu sein, Hilfe dort zu gewähren, wo sie nötig istund so fort. Das wird als die Ansammlung des Guten für das Wohler-gehen aller Wesen bezeichnet.

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Fünftes Stadium:

Methode des Madhyamaka Shentong

»Die Sichtweise des Madhyamaka Shentong:

Die konventionelle Wahrheit

bezieht sich auf begriffliche Beifügungenund auf abhängige Phänomene.Die absolute Wahrheit

bezieht sich auf das vollständig Existente,(in anderen Worten) aufdas selbst-erkennende Buddhajnana.«22

Wie im vorhergehenden Abschnitt erwähnt, kritisieren zahlreiche Mei-ster des Shentong, daß die Prasangika-Madhyamikas für sich in An-spruch nehmen, keine Sichtweise aufzustellen. Vom Standpunkt dieserMeister her gesehen gehen die Prasangikas lediglich den Folgen derWiderlegung einer eigenen Perspektive aus dem Wege, indem sie dieSichtweise aller anderen als falsch nachweisen und für sich selbst

behaupten, eine solche nicht zu haben.

Vom Gesichtspunkt des Shentong aus betrachtet liegt der Fehler sowohldes Svatantrika- als auch des Prasangika-Madhyamaka darin, daß siekeine Unterscheidung zwischen den drei verschiedenen Seinsweisen,den drei unterschiedlichen Formen der Leerheit und den drei verschie-

denen Formen von Wesenlosigkeit machen, die mit den drei Kennzei-chen einer Erscheinung korrespondieren (wie wir sie im Chittamatrakennengelemt haben: dem Kennzeichen der Beifügung, des abhängigenund des vollständig Existenten). Einige Meister des Shentong legen dar,daß das Madhyamaka Rangtong nur die Leerheit der begrifflichenBeifügung lehrt. Diese Leerheit ist die erste Art der Leerheit, die nurmit der ersten der drei genannten Kennzeichen einer Erscheinung über-einstimmt. Diese Leerheit bedeutet reine Nicht-Existenz. Sie argumen-tieren: Wenn diese Art der Leerheit als die absolute Wirklichkeit geltensoll, oder anders formuliert, wenn das völlige Fehlen begrifflicherErfindung die absolute Wirklichkeit ausmachen würde, dann wäre sie

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ein bloßes Nichts, nur leerer Raum. Wie kann völliges Nichts dieManifestationen des Daseinskreislaufesund des transzendentenZustan-des erklären? Sie treten lebendigjeweils als unreine oder reine Erschei-nungen auf. Die bloße Leerheit gibt hierfür keine ausreichendeBegründung. Es muß ein Element vorhanden sein,das im gewissen Sinnleuchtend, erhellend und wissend ist.

Da das Shentong wie das Chittamatra zwischen den drei Kennzeicheneiner Erscheinung unterscheidet und weil es die wahre Existenz einesleuchtenden, wissenden Aspektes des Geistes hervorhebt, haben zahl-reiche Meister des Rangtong das Shentong mit dem Chittamatra ver-wechselt.

Es bestehtjedoch ein bedeutsamer Unterschied zwischen der Lehrmei-

nung des Chittamatra und der des Madhyamaka Shentong. Als erstessei angeführt, daß das Shentong die letztliche Existenz eines einzelnenMoments des Bewußtheitsstroms derwahren Naturdes Geistes, der sichausschließlich als lichte Klarheit erlebt, nicht akzeptiert. Sie haben dieSichtweise des Madhyamaka und wenden Argumente an wie: ein Be-wußtseinsmoment existiert »weder als einer noch als viele«. In der

Sichtweise des Shentong wird die Essenz der All-Basis gleichzeitig alsWeite und Bewußtheit bestimmt; sie ist nicht unbewußt, sondern be-wußt, nichtwahrhaft existent, sondern leer, ihre wahre Natur ist untrenn-bar Leerheit und Bewußtheit. Sie betr»chten sich selbst als die "Großen

Madhyamikas", da in ihr Lehrsystem nicht nur die Anerkennung desFreiseins von jeglicher begrifflichen Erfindung eingeht, sondern auchdas Verständnis des ursprünglichen Weisheitsgeistes (Buddhajnana),der völlig frei vonjeglicher begrifflichen Erfindung ist. Dieser nicht mitBegriffen operierende Weisheitsgeist wird nicht als ein Objekt desbegrifflichen Denkprozesses angesehen, und darum wird er auch vonder Beweisführung der Madhyamikas nicht negiert. Deshalb kann mansagen, daß es sich hier um das Einzige handelt, was absolute und wahreExistenz besitzt. 122 123

Es ist wichtig,den Sinn dieser wahren Existenz zubegreifen; begrifflichkann sie nicht erfaßt werden! Wenn es sich bei ihr auch nur um dassubtilste Objekt eines begrifflichen Vorganges handeln würde, dannwürde sie von der Beweisführung des Prasangika widerlegt. Der nicht-begriffliche Weisheitsgeist gilt nicht als etwas, das sich die höchsteErkenntnisfähigkeit (skr.: prajna, tib.: sherab) als ihr Objekt nehmenkönnte. Alle Erscheinungen, die ein Objektdes Geistes seinkönnen, wierein und geläutert sie auch sein mögen, entstehen abhängig und habenkeine wahre Existenz.

Was ist nun dieser ursprüngliche, begriffslose Weisheitsgeist? Es han-delt sich hier um etwas, was man durch andere Mittel als durch denbegrifflichen Denkprozeß versteht. Durch eine direkte Verfahrensweiseerlebt man ihn so, wie er ist, und jede begriffliche Erfindung verdecktihn. Die gesamten Lehren des Mahamudra (skr., "Großes Siegel"), desMaha-Ati (skr., "Große Vervollkommnung") und des gesamten Tantra

(skr., "Kontinuum") handeln von diesem begriffslosen Weisheitsgeistund den Mitteln, ihn zu verwirklichen. Für die Verwirklichung istunbedingt ein Meditationsmeister erforderlich. Seine Verwirklichung,die Hingabe und das Vertrauen des Übenden und die Offenheit seinesGeistes müssen sich derartig begegnen, daß der Schüler den begriffslo-sen Weisheitsgeist direkt erfahren kann. Von da an macht er von dieserErfahrung, die zur Grundlage seiner Übung wird, Gebrauch; er nährt sieund läßt sie wachsen, bis sie den Zustand von Klarheit und Stabilitäterreicht hat, und nur dann kann sich das endgültige, vollständige undvollkommene geistige Erwachen ereignen.

Aus der Sicht des Shentong mißinterpretieren die Chittarilatrins dasAbsolute, indem sie die Erfahrungeiner sich selbst erkennenden, selbst-erhellenden Bewußtheit als ein Primärbewußtseinsmoment ansehen

(vijnana). Das Shentong sagt aus, daß es zwar wahr ist, daß man dieklare Helligkeit und die bewußte Qualität des Geistes dann erlebt, wennder Geist frei von begrifflicher Erfindung in der Leerheit ruht (was alle

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Vertreter des Mahayana behaupten), aber es handelt sich dabei nicht umein Primärbewußtseinsmoment. Vijnana bedeutet geteilte Wahrneh-mung, und zwar geteilt in einen sehenden und einen gesehenen Aspekt.Das Shentong nimmt es als gegeben hin, daß ein Geist, der durchVorstellungen von Zeit und Raum gebunden ist, in gewissem Sinn dieVorstellung von Momenten, die von Dauer sind, und Atomen, die sichim Raum ausdehnen, in Betracht zieht. Damit sich ein Erkennungsmo-ment ereignen kann, scheint es stets so zu sein, als ob ein erkennenderund ein erkannter Gewahrseinsaspekt entstehen müssen, selbst wennman stillschweigend voraussetzt, daß sie keine endgültige oder wirkli-che Existenz besitzen.

Das Shentong sieht das Konzept von einem erfassenden Gewahrseins-strom, der aus winzigen Augenblicken mit erkennenden und erkanntenAspekten besteht, als ein Mißverständnis in bezug auf das wirklicheSein an. Es handelt sich um eine falsche oder täuschende Wirklichkeit

oder Wahrheit. Der Begriff "relative Wirklichkeit", den wir in diesemText benutzt haben, ist eigentlich die Übersetzung des Sanskrit-Wortessamvrti, welches "verdeckt" oder "verborgen" bedeutet und eigentlichmit "Verbergung"übersetzt werden könnte. Der tibetische Begriff hier-für ist kun rdzob, "verkleidet" oder "aufgebläht" in dem Sinne, einerErscheinung ein falsches Aussehen zu verleihen, wie vergleichsweisejemand, der sich einer Pferdehaut bedient, um den Eindruck eineslebenden Pferdes zu erwecken. In gewissem Sinn handelt es sich hiernicht im geringsten um Wirklichkeit oder Wahrheit, sondern lediglichum eine scheinbare Wirklichkeit. Sie ist ausschließlich in einer gewis-sen Hinsicht wahr, und zwar in der, wie die Dinge den gewöhnlichenWesen zu sein scheinen. Vom endgültigen Standpunkt aus gesehen sindsie nicht im geringsten wahr.

Aus der Shentong-Perspektive ist der lichtvolle, sich seiner selbst be-wußte, in der Meditationerlebte Geist, wenn er völlig frei von Begriffen 124

ruht, die "absolute Wirklichkeit" und nicht ein Primärbewußtseinsmo-ment. Aus der Shentong-Sicht handelt es sich beim Primärbewußtseins-moment stets um "Verbergung", und nichts anderes wird von derhöchsten Erkenntnisfähigkeit, die die "absolute Wirklichkeit" schaut,vorgefunden. Sobald der lichtvolle, sich seiner selbstbewußte, begriffs-lose Geist, der sogenannte Weisheitsgeist,von der höchsten Erkenntnis-fähigkeit verstanden wird, gibt es im Angesicht dieses Verständnisseskeinen sehenden und gesehenen Aspekt mehr. Das wird "dieTranszen-denz der höchsten Erkenntnis" (skr.:prajna-paramita) genannt. Sie istnichts anderes als der begriffslose Weisheitsgeist selbst. Man nennt ihnauch den "nicht-dualistischen Weisheitsgeist", das "klare Licht" (skr.:prabhasvara), die "Natur des Geistes" und "dhatu" (skr., räumlicheAusdehnung oder Element). An anderer Stelle wird er "untrennbarDhatu und Bewußtheit" genannt, "untrennbar Klarheit und Leerheit","untrennbar Wonne und Leerheit". Er wird auch als "dharmata" (skr.,wahre Natur) und als "tathagata-garbha" (skr., Essenz des Buddha)bezeichnet.

Das Shentong stellt die Behauptung auf, daß das Erleben der vollstän-digen Freiheit von begrifflicher Erfindung auch mit der Erfahrung derKlaren-Lieht-Natur des Geistes übereinstimmen muß. Es ist der An-

sicht, daß ein Prasangika, der das verneint, immer noch einige subtileKonzepte haben muß, die diese Wirklichkeit verdecken oder negieren,mit anderen Worten: er hat die vollständige Freiheit von begrifflicherErfindung noch nicht richtig verstanden. Das kann nur passieren, wennder Meditierende über einen großen Zeitraum Illusionen durchtrenntund die Leerheit als eine Negation betrachtet hat. Das kann zu einerderartig starken Gewohnheit werden, daß der Meditierende selbst dannnoch automatisch seinen Geist hinwendet und subtil negiert, wenn dieErfahrung der "absoluten-Wirklichkeit",die Klare-Lieht-Naturdes Gei-stes, wie die hinter Wolken auftauchende Sonne durchzubrechen be-

ginnt. Sobald wirklichkeine begriffliche Erfindung mehr vorhanden ist,

Page 64: Stufenweise Meditation

so argumentiert das Shentong, würde die Klare-Lieht-Natur so klar undunverkennbar strahlen, daß es unmöglich wäre, sie zu leugnen.

Die Tatsache, daß die Klare-Lieht-Natur des Geistes von den Rangtong-

Madhyamikas bestritten wird, verweist auf die Bedeutsamkeit des "drit-ten Rades der Lehre". Es heißt, Buddha habe das "Rad der Lehre" (skr.:

dlwrmachakra) dreimal gedreht. Damit ist das Erteilen von drei größe-ren Lehr-Zyklen gemeint. Der erste korrespondiert mit der Leerheits-

meditation des Shravaka-Stadiums, der zweite mit der des MadhyamakaRangtong und der dritte mit dem Madhyamaka Shentong. Jede Lehrstu-

fe berichtigt die Mängel der vorhergehenden. In den Augen des Shen-

tong behebt das dritte Rad der Lehre die Fehler des zweiten, desMadhyamaka Rangtong.

Das dritte Rad der Lehre wird im Detail unter anderem in den "Tatlw-

gata-Garblw-Sutras" erklärt, und diese wiederum sind in dem "Maha-

yana-Vttara- Tantra-Shastra" kommentiert; dieses Shastra wird in dertibetischen Tradition Maitreya zugeordnet. Hierin heißt es, daß dasTathagata-Garbha alle Wesendurchdringt und daß die Naturdes Geistesdas klare Licht ist. Das sind zwei Möglichkeiten, sich über die gleicheSache zu äußern. Die klassischen Beispiele hierfür sind Butter in Milch,Gold im Golderz und Sesamöl im Sesamsamen. Butter, Gold undSesamöl durchdringen Milch, Erz und Sesam in der Weise, daß, sobalddiese bearbeitet werden, Butter, Gold und Öl hervortreten.

Wesen durchlaufen ebenfalls einen Läuterungsprozeß, aus dem diegereinigte Buddha-Natur zum Vorschein kommt.

Wenn die wahre Natur (skr.:dlwrmata, tib.: chos nyid) der Wesen nichtTathagata-Garbha wäre, könnten sie niemals den Buddha-Zustand er-reichen, genauso wie ein Gestein, das kein Gold enthält, niemals Goldhervorbringen kann, wie sehr man es auch reinigen würde.

ABSICHT HINTER DER UNTERWEISUNG DESTATHAGA TA-GARBHA

Mit der Unterweisung des Tathagata-Garbha ist beabsichtigt, dem Me-ditierenden die Zuversicht zu verleihen, daß er bereits über die Buddha-Natur verfügt. Es ist sehr schwierig, ohne dieses Vertrauen dahin zugelangen, daß der Geist frei von aller begrifflichen Erfindung vollkom-men ruht, denn es ist stets die subtile Tendenz vorhanden, etwas besei-tigen oder erreichen zu wollen.

Im Text "Ratnagotraviblwga" werden fünf Gründe genannt, warumTathagata-Garbha gelehrt wird. Erstens soll es diejenigen ermutigen,die sich sonst so sehr geringschätzen würden, daß sie nicht einmalversuchen würden, Bodhicitta zu entwickeln und Buddhaschaft zuerlangen. Zweitens macht die Kenntnis über Tatagatha-Garbha diejeni-gen demütig, die Bodhicitta entwickelt haben und die sich deshalbinnerlich anderen gegenüber, die es noch nicht erweckt haben, überle-gen fühlen. Drittens berichtigt es den Fehler, die Unreinheiten, die alsnicht wirklich gelten, für die wahre Natur der Wesen zu halten. Viertensbeseitigt es den Irrtum, die Klare-Lieht-Natur, die wirklich existiert, alsunwahr zu betrachten. Und fünftens werden mit dieser Kenntnis alleHindernisse für das Entstehen von echtem Mitempfinden überwunden,das keinen Unterschied zwischen sich selbst und anderen sieht, indemaufgezeigt wird, daß die Natur aller Wesen essentiell gleich der Naturdes Buddha ist.

GRUNDLAGE, WEG UND ERGEBNIS

Da die Buddha-Natur von Anbeginn vorhanden ist, ist sie sowohl zurZeit des Grundes, des Weges als auch im Endergebnis gegenwärtig. Dereinzige Unterschied zwischen diesen drei Stufen liegt darin, daß es sichbei der Grundlage um die Zeit handelt, zu der die Buddha-Naturvollständigvon Verunreinigungenverdeckt ist,beim Weg umdie Phase,

Page 65: Stufenweise Meditation

in der sie teilweise einen Läuterungsprozeß durchläuft, und beim Ergeb-nis um die Zeit, zu der sie vollständig gereinigt ist.

LEHRE DES RATNAGOTRA-VIBHAGA

Dieser Text verweist auf drei wesentliche Punkte innerhalb der Lehre

des Mahayana-Buddhismus, die außer Frage stellen, daß alle empfin-denden Wesen Tathagata-Garbha besitzen. Er behandelt in zehn The-menbereichen die Lehre über Tathagata-Garbha, und es wird anhandvon neun Beispielen aus dem Tathagata-Garbha-Sutra illustriert, wiedie Schleier beseitigt werden müssen, selbst wenn das Tathagata-Garb-ha dabei unverändert verweilt.

Er lehrt drei Stadien, das unreine, teilweise reine und vollständig reine,die jeweils mit gewöhnlichen Wesen, Bodhisattvas und Buddhas über-einstimmen. Diese drei Stadien korrespondieren auch mit demTathagata-Garbha zur Zeit der Grundlage, des Weges und des Ender-gebnisses.

Ganz am Anfang wird sich ein gewöhnliches Wesen der Klaren-Licht-Natur seines Geistes niemals gewahr werden, da sein Geist von grobenwie auch von subtilen Schleiern verdeckt ist. Das ist das Tatagatha-Garbha zur Zeit der Grundlage, das dem immer noch im Erz ruhendenGold gleicht.

Sobald der Bodhisattva jedoch die wahre Natur des Geistes erkannt hat,werden sich die groben Schleier auflösen. Von da an macht er vonseinem Verständnis, das die Essenz seines Weges ausmacht, Gebrauch;er läutert die Schleier genauso wie man Gold reinigt, sobald es einmalvom Erz abgesondert ist.

Bei der endgültigen Verwirklichung handelt es sich um das Tatagatha-Garbha zur Zeit der Frucht; sie gleicht dem vollkommen reinen Gold,

das alle Qualitäten von echtem Gold trägt. Das resultierende Tatagatha-Garbha offenbart alle Qualitäten eines vollkommenen erleuchtetenBuddhas.

In der Zeile 1.154 des Textes "Ratnagotravibhaga" steht, daß dasElement (hiermit ist das Tatagatha-Garbha gemeint) leer von Hinzuge-fügtem (in anderen Worten von den temporär auftretenden Verunreini-gungen) ist, da diese abtrennbar sind und somit nicht an seiner Essenzteilhaben. Das Element ist jedoch nicht leer von den Qualitäten einesBuddha, da diese seiner Essenz innewohnend sind und demnach nichtabgesondert werden können.

Die Buddha-Qualitäten23 sind die Qualitäten des begriffslosen Weis-heitsgeistes, der, wenn er geläutert ist, die Bezeichnung "Dharmakaya"trägt. Solange dieser Weisheitsgeist noch nicht völlig gereinigt ist,werden sich seine Eigenschaften auch nicht manifestieren können; biszu diesem Zeitpunkt wird er Tatagatha-Garbha genannt.

129

Diese Buddha-Qualitäten sind die Essenz des begriffslosen, nicht dua-

listischen Weisheitsgeistes. Sie können von ihrem wesentlichen Kern

nicht so abgesondert werden, als ob die Essenz des Geistes eine Sache

und seine Eigenschaften eine andere wären. Wenn das jedoch der Fallwäre, dann wären diese Qualitäten Gegenstand der Beweisführung des

Madhyamaka und könnten als leer von einer Eigennatur aufgezeigtwerden. Denn die Essenz müßte dementsprechend in Abhängigkeit von

den Eigenschaften entstanden sein und die Eigenschaften in Abhängig-keit von der Essenz. Derartige Qualitäten oder eine derartige Essenz

könnten keine Eigennamr oder wahre Existenz besitzen. Die Buddha-Eigenschaften sind jedoch nicht Gegenstand solcher Feststellungen. Siekönnen vom begrifflichen Verstand nicht erlaßt und vom Wesenskerndes Weisheitsgeistes nicht abgesondert werden (selbst dieser kann vombegrifflichen Verstand nicht erreicht werden). Die Buddha-Qualitätensind keine zusammengesetzten oder bedingten Erscheinungen, die ent-

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stehen, verweilen und vergehen. Sie gelten als etwas ursprünglichVorhandenes.

Die Vertreter des Shentong kritisieren die Sichtweise der anderenMadhyamikas, die aussagen, daß die Buddha-Qualitäten als Resultatnützlicher Handlungen, der Gelübde und Verbindungen, die die Bodhi-sattvas auf dem Weg zur Erleuchtung machen, auftreten. Wenn dieQualitäten in dieser Weise entstünden, dann wären sie zusammenge-setzte und vergängliche Phänomene, die nicht jenseits vom Daseins-kreislauf lägen und von keinem endgültigen Nutzen für die Wesenwären. Das Shentong läßt die Lehre der Tathagata-Garbha-Sutras, diedie Qualitäten des Buddha als ursprünglich vorhanden postulieren,gelten. Nichtsdestoweniger sind gute Handlungen, Gelübde und Ver-bindungen für die Beseitigung der Schleier notwendig.

Die Chittamatrins (wie auch die Rangtong-Madhyamikas, die über dieNatur der Erscheinungen philosophische Ansichten vertreten) stellensichdie Weisheit desBuddha als einen Strom von Momenten geläuterterBewußtheit vor, die die Leerheit oder die begriffslose Natur als ihrsubtiles Objekt haben. Da das Objekt rein ist, weist die Bewußtheitselbst die Eigenschaften eines reinen Geistes auf, und das wird als"begriffsloserWeisheitsgeist", als Buddha-jnana, bezeichnet. Sein Ent-stehen ist automatisch mit den Qualitäten des Buddha assoziiert, unddiese wiederum stammen von den Handlungen eines Bodhisattvas aufseinem Weg zur Erleuchtung ab, derWeisheit und spirituelle Verdienstein wachsendem Maße ansammelt. Die Rangtong-Madhyamikas be-trachten deshalb die Buddha-Qualitäten - ob sie nun diese Sichtweiseausdrücklich äußern oder nicht -als relative Phänomene, deren Wesens-kern Leerheit ist.

Wie zuvor schon erwähnt wurde, akzeptiert das Shentong nicht, daß derbegriffslose Weisheitsgeist auf dualistische Art und Weise wissend ist.

Er macht keine Unterteilung in einen wissenden und gewußten Aspekt, 130

und deshalb hat er kein subtiles Objekt. Er ist kein Strom von Bewußt-heitsmomenten. Er ist vollständig ungebunden und frei von allen Be-griffen, inklusive denen der Zeit und des Raumes. Aus diesem Grundist er ursprünglich existent, genauso wie seine Qualitäten.

LEHRE DES MAHAYANA-SUTRALAMKARA

Dieser Text ist eine weitere der fünf Abhandlungen, die die tibetischeTradition Maitreya zuordnet.

Die "Mahayana-Sutralamkara" lehrt die Unterscheidung zwischendharmin, dem relativen Geist, und dharmata 24,dem absoluten Geistklaren Lichtes.

Der relativeGeist ist fehlerhaft und verwirrt, währendder absolute Geist

frei von Fehlern und Verwirrung ist. Der relative Geist wendet sichnachaußen auf seinObjekt zu und hat einen erfassenden und erfaßten Aspekt.Er enthält die Verunreinigungen, die es zu beseitigen gilt. Seine Essenzoder wahre Natur ist der Geist klaren Lichtes.

Der relative Geist ist somit dasjenige, das leer von etwas ist (tib.: slang

gzhi). Er ist leer von einer Eigennatur. Sein wahres Wesen ist dieabsolute Klare-Lieht-Natur.

131

Der Geist klaren Lichtes, der in der "Mahayana-Sutralamkara"behan-delt wird, stimmt gemäß dem Shentong mit dem Tathagata-Garbha imText "Ratnagotravibhaga" überein. Der in diesem Text dargestellterelative Geist ist mit den Unreinheiten identisch. In diesem Text wird

jedoch nicht ausdrücklich erwähnt, daß die wahre Natur dieser Unrein-heiten das Tathagata-Garbha ist. Es wird nur gesagt, daß sie leer voneiner Eigennatur sind. Dementsprechend gibt es einen geringfügigenUnterschied in der Anlage des Textes, der Sinn ist jedoch der gleiche.

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LEHRE DES MADHYANTA-VIBHAGA

Hier handelt es sich um eine weitere Abhandlung von Maitreya. DieVertreter des Shentong interpretieren diese Abhandlung als einen Text,der auf die nachstehende Lehre hinweist, die in der "Sandhinirmocana-

Sutra" deutlich erklärt wird, und zwar die Lehre über:

I. Drei Seinsweisen11. Drei Arten der Leerheit

III. Drei Arten der Wesenlosigkeit

I. Drei Seinsweisen

Eine begriffliche Beifügung existiert lediglich als eine gedanklicheSchöpfung. Es sind die Objekte, um die das Bilden von Konzepten undunsere Vorstellungen kreisen. Da beispielsweise ein echter Tiger ineinem Traum nicht vorhanden ist, gilt er lediglich als ein Produktunserer Phantasie. Beifügungen, die sich eher auf den Inhalt der Täu-schung (den Tiger) als auf die Täuschung selbst beziehen, existieren inanderen Worten ausschließlich in unserer Einbildung als Träger fürNamen und Begriffe. Wir unterhalten uns beispielsweise über verflos-sene Ereignisse. Diese Begebenheiten existieren nicht im geringsten.Sie sind einfach der Gegenstand für Namen und Begriffe, die sich zwarauf Dinge innerhalb unserer eigenen Vorstellung beziehen, aber nichtwirklich vorhanden sind. Objekte, die sich außerhalb des Geistes undder Sinne befinden, sind von gleicher Natur. Sie sind wesenlos, aberdennoch macht man mittels Namen und Begriffen von ihnen Gebrauch.

Abhängige Phänomene bestehen nicht nur -wie zuvor beschrieben - als

etwas Vorgestelltes, sondern eher aufeine irreführende Weise. Die reineErscheinung der diversen Formengewohnheitsmäßiger, latenter Musterder Wahrnehmung existiert substantiell (tib.: rdzas su Jod pa), nochbevor diese vom begrifflichen Geist benannt werden. Der Traum-Tigerzum Beispiel tritt auf und produziert einen Effekt im träumenden Geist, 132

wie den der Furcht. Der Traum-Tiger kann jedoch nur in Relation zumwirklichen Tiger, den man sich im Traum als echt vorhanden einbildet,für substantiell existent erklärt werden. Im uneingeschränkt gültigenSinn ist er substantiell nicht vorhanden.

Aus der Perspektive des Shentong ist es nicht ausreichend, lediglich diewahre Existenz begrifflicher Beifügungen (entsprechend dem Chitta-matra) zu widerlegen. Das Shentong macht von der Madhyamaka-Be-weisführung Gebrauch, um die wahre Existenz sowohl abhängiger alsauch beigefügter Erscheinungen zu widerlegen. Das "vollständig Exi-stente" ist real, da es auf eine begriffslose Art und Weise existiert. ImChittamatra heißt es, daß das "vollständig Existente" bloß Leerheit ist,und zwar im Sinne des Freiseins von einem begrifflichen Ablauf, dereine Unterscheidung zwischen außen erfaßten Objekten als substantiellverschieden vom inneren erfassenden Geist trifft. In der Lehrmeinungdes Shentong ist das "vollständig Existente" derbegriffslose Weisheits-geist selbst. Er ist in der Tat leer vom begrifflichen Vorgang, durch denaußen erfaßte Objekte substantiell als andersartig vom innerenerfassen-den Geist unterschieden werden. Das "vollständig Existente" ist aberauch leer vom begrifflichen Erfassen des Geistes, der ein geteiltesPhänomen (skr.: vijnana) sein soll, also ein Strom von separaten Ge-wahrseinsmomenten mit jeweils einem erfassenden und erfaßtenAspe~t. Er ist vonjeglichem begrifflichen Ablauf vollkommen frei underkennt auf eine Art, die dem Verstand vollständig fremd ist. Sie isteigentlich völlig unvorstellbar. Aus diesen Gründen kann sie als wahr-haft existent postuliert werden.

11.Drei Arten der Leerheit

133

Existieren diese Erscheinungen. die wir als etwas außerhalb unseresGewahrseins erleben und die wir durch unsere Sprache und unserDenken benennen und begründen? Wenn wir uns mit dieser Fragebeschäftigen, werden wir erkennen, daß es sich bei ihnen nur um eine

..u.

Page 68: Stufenweise Meditation

.."~

Idee handelt und diese Erscheinungen nicht die Beschaffenheit dieserIdee haben. Insofern können Beifügungen als "leer von äußerer Exi-stenz" (tib.: phyi rol tu med pa 'i stong nyid) definiert werden. JedeKombination von Dingen, die als etwas außen Vorhandenes auftreten,ist wesenlos. Diese Art der Leerheit der Nicht-Existenz wird auch vomMadhyamaka Rangtong akzeptiert, doch einige Meister des Madhya-maka Shentong betrachten die von der Rangtong-Schule gelehrte Leer-heit nicht als die endgültige, da diese ihrer Ansicht nach nicht über die"Selbst-leere" Natur der Erscheinungen hinausgeht, in anderen Worten,daß jede Erscheinung leer eines eigenen, essentiellen Wesens ist (tib.:rang rang gi ngo bos stong pa).

Abhängige Erscheinungen werden als leer von einer Existenz bezeich-net. Unter abhängigen Erscheinungen versteht mandie auftretendenunderfaßten diversen Formen innerer, gewohnheitsmäßiger Muster derWahrnehmung als auch gleichzeitig den Erfassenden, das Subjekt.Sobald sich aus der All-Basis, wo Eindrücke vergangener Handlungengespeichert sind, die fünf sogenannten "Pforten" sinnlichen Gewahr-seins als auch das sechste, grundlegende, geistige Gewahrsein nachaußen hin orientieren, manifestieren sich diese von der konditioniertenWahrnehmung erfaBten,gewohnheitsmäßigen Muster. Das sechste, dasgeistige Gewahrsein, mißversteht ein Objekt als etwas, das außerhalbdes Wahrnehmenden vorhanden ist. Diese Arten des Gewahrseins haf-ten - mit oder ohne Gedanken - am Wesen und an den Merkmalen der

verschiedenen Formen und ergreifen davon Besitz. Diese Tendenz,Kontrolle über sie auszuführen, verbleibt. Der mit Störfaktoren verblen-dete Geist haftetgleichermaßen undnimmtdie All-Basisals etwas wahr,das die Merkmale eines "Selbst" trägt; die Anhaftung bleibt bestehen.Vom Gesichtspunkt des Haftens aus gesehen existieren diese Erschei-nungen auf eine irreführende Weise; wenn das Phänomen des haftendenGewahrseins nicht existierte, dann könnte sich der gesamte Daseins-kreislaufniemals manifestieren. Doch warum werden relativ vorhande- 134

ne, abhängige Erscheinungen als leer von einer Existenz bezeichnet?Wenn dieser abhängige Geist als absolut existent erwiesen würde, dannwären die Vertreter des Madhyamaka Shentong Chittamatrins.Madhyamaka Shentong akzeptiert den Geist nicht als absolut, weil erin Abhängigkeit entsteht und damit leer einer Eigennatur ist. DasAuftreten abhängiger Phänomene istjedoch nur möglich, weilessentiellalle Erscheinungen mit der Klaren-Licht-Natur des Geistes identischsind, und diese existiert endgültig.

Das "vollständig Existente" ist die letztliche, absolute Leerheit, die denuntrennbaren Aspekt von "bloß lichte Klarheit und Bewußtheit" hat.Das ist der begriffslose Weisheitsgeist, der weder entsteht, verweiltnoch vergeht. Er ist uranfanglich existent und mit Qualitäten versehen,wie ein Kristall, der nicht erst gereinigt werden muß, um klar zu sein:er ist und bleibt makellos.Der begriffslose Weisheitsgeist ist leer in demSinne, frei von sämtlichen Behinderungen zu sein,dievom begrifflichenVerstand geschaffen werden. Aus diesem Grund findet der begrifflicheVerstand, sobald er versucht, den Weisheitsgeist zu erfassen, nichts vorund erlebt ihn somit als Leerheit. Dementsprechend erscheint dieserdem Verstand als leer, doch von seinem eigenen Standpunkt aus be-trachtet handelt es sich um die Klare-Licht-Natur des Geistes, ein-

schließlich ihrer gesamten Qualitäten.

In. Drei Arten der Wesenlosigkeit

135

Begriffliche Beifügungen sind wesenlos in dem Sinne, nicht aufgrundihrer eigenen Merkmale zuexistieren (tib.: mtshan nyid ngo bo nyid medpa). Kann beispielsweise das begrifflich erfaBte Feuer wirklich alsetwas Wesenhaftes außerhalb der Wahrnehmung mit seinen eigenenKennzeichen, heiß und brennend, existieren? Jede Erscheinung, die voneinem Begriff erfaBt wird, existiert nicht kraft ihrer eigenen Kenn-zeichen.

Page 69: Stufenweise Meditation

Abhängige Phänomene werden als "wesenlos in ihrem Entstehen" (tib.:

skye ba ngo bo nyid med pa) bezeichnet. Besitzt der abhängige, haftendeund karmische Eindrücke sammelnde Geist Wesenhaftigkeit, die ent-steht? Wenn das Entstehen des abhängigen Geistes als leer, in anderen

Worten als nicht wirklich vorhanden, aufgezeigt werden kann, dann istder Geist selbst leer von einer wirklichen Existenz. Madhyamaka Shen-

tong widerlegt die wahre Existenz des abhängigen Geistes, indem essich der Madhyamaka-Beweisführung bedient. Ist beispielsweise der

gegenwärtige Augenblick des Gewahrseins aus dem vergangenen ent-standen oder nicht entstanden? Mittels genauer Untersuchung wird man

herausfinden, daß er nicht aus dem vergangenen Augenblick entstandenist, da es keine Verbindung zur Vergangenheit gibt. Es gibt keineVerbindung zum gerade vergangenen Moment des Gewahrseins, dadieser Moment erloschen ist.

Dieser gegenwärtige Augenblick des abhängigen Gewahrseins hat wei-

terhin drei Aspekte: Entstehen, Dasein und Zerfall. Wenn eine Zeitein-heit diese drei Intervalle nicht hätte, dann müßte folglich dieser Moment

von Dauer sein. Wenn der wahrnehmende Geist permanent wäre, dannmüßte die Gesamtheit des Daseins den Aspekt von Dauer haben. Doch

wenn man darin übereinstimmt, daß das Gewahrsein den Aspekt der

Vergänglichkeit hat, dann muß der gegenwärtige Moment der Wahr-nehmung diese drei Zeitabschnitte haben. Konsequenterweise kann derverweilende Aspekt eines Augenblicks nicht existieren, wenn sein

Entstehungsmoment nicht existiert, und wenn der verweilende Aspektnicht wahrhaft existiert, existiert der versiegende ebenfalls nicht. Eswird behauptet, der abhängige Geist sei frei von natürlichem oderwahrem Entstehen, Dasein und Zerfall.

Das "vollständig Existente" ist bar einer Wesenhaftigkeit, und dieAbwesenheit eines Wesens ist das uneingeschränkt Gültige (tib.: don

dam ngo bo nyid med pa). Besteht in der vollständig existierendeneigentlichen Realität das Haften an Merkmalen von Subjektund Objekt, 136

die als zwei separate Entitäten eine Funktion erfüllen, fort? Nein, dasLetztliche ist leer von diesem dualistischen Ablauf. Außer dem Aspektreiner Klarheit und Bewußtheit gibt es nichts, das hier existiert, mitanderen Worten: ihre Existenz ist begriffslos. Die Essenz des begriffs-losen Weisheitsgeistes kann nicht von dem mit Begriffen operierendenVerstand erfaßt werden, und damit hat er aus der Perspektive desVerstandes keine Wesenhaftigkeit; von seinem eigenen Standpunkt ausgesehen gilt er als die "absolute Wirklichkeit".

BEGRIFFSLOSER WEISHEITS GEIST

Vom Shentong werden die Texte wie "Ratnagotravibhaga", "Maha-

yana-Sutralamkara" und das "Madhyanta-Vibhaga" so interpretiert,daß diese in verschiedener Ausdrucksweise die wahre Natur des Gei-

stes, den begriffslosen Weisheitsgeist, lehren, und daß dieser die end-gültige "absolute Wirklichkeit" ist.

Solange hierübernoch Unkenntnis besteht, fungiert die Klare-Licht-Na-tur als Grundlage für das Auftreten der unreinen, fehlerhaften undtraumartigen Erscheinungen. Der Geist des klaren Lichtes bildet, um esanders auszudrücken, die Basis für die Manifestationen des Kreislaufs.Sobald er jedoch verwirklicht ist, wird er zur Basis für die reinenErscheinungen, das heißt, für die Buddha-Kayas und für die "reinenLänder" derBuddhas, für dieMandalas der tantrischenMeditationsgott-heiten und so weiter.

Der nicht dualistische Weisheitsgeist hat gleichzeitig die Eigenschaftvon Leerheit wie auch von Leuchtkraft. Die Leerheit offenbart seine

begriffslose Natur und sein Leuchten die Kraft, unreine und reineErscheinungen zu manifestieren.

137Das ist die Sichtweise, die Sutras und Tantras verbindet. Sie wird in den

Sutras des dritten Rades der Verkündung der Lehre behandelt, und sie

Page 70: Stufenweise Meditation

ist die Grundlage für die gesamten tantrischen Übungen. Die Tantrassollten als spezielle Methoden verstanden werden, um den vollendetenerwachten Zustand beschleunigt erreichen zu können. Was die Sicht-weise angeht, so ist sie die gleiche, die auch in diesen Sutras vorgefun-den wird.

TRAUMBEISPIEL

Der Schwerpunkt des Traumbeispiels in den Erklärungen der anderenSichtweisen lag besonders auf der illusionsartigen Natur der Traumer-fahrungen. Die NebeneinandersteIlung von Traum und Wirklichkeitgeht aus der Shentong-Sichtdarüber hinaus, da Träume unmißverständ-lich von der leuchtenden Qualitätdes Geistes selbstherrühren. Der Geistkann gute und schlechte Träume erzeugen und kann selbst dann einenTraum fortsetzen, wenn er sich über sein Träumen bewußt gewordenist. Träume können sich jederzeit manifestieren, ganz gleich ob derGeist sich ihrer bewußt oder nicht bewußt ist. Genauso ist die Klare-Licht-Natur des Geistes die Grundlage sowohl für den Daseinskreislauf,in dem der Geist sich seiner eigenen Natur nicht bewußt ist, als auch fürden transzendierten Zustand, in dem der Geist sich seiner eigenen Naturbewußt ist.

Ob derGeist sich seinereigenen Natur bewußt istodernicht, sein Wesenwird sich dadurch nicht wandeln. Er ist stets leer von begrifflicherBeifügung und von abhängigen Erscheinungen. Solange jedoch derbegriffslose, nicht-entstehende Weisheitsgeist unerkannt bleibt, scheintdas abhängige Phänomen, das die Traumbilder darstellt, aufzutreten;der verwirrte Geist stellt sich eine äußere Welt und einen inneren Geistvor, die sich gegenseitig beeinflussen. Aus diesem verwirrten Zustandheraus entstehen Vorstellungen von "Selbst" und "Anderen", von An-haftung und Abneigung und all die anderen Begriffe und emotionalenStörungen. Es ist so, als ob man in einem Traum gänzlich verwirrt undin ihn verwickelt ist. Sobald die bewußte Wahrnehmung zurückkehrt,

...----

138

erkennt man die Träume rasch als bloße Manifestationen des Spiels desGeistes, und ob sie dann unmittelbar darauf aufhören oder nicht, so

stören sie den Geist nicht im geringsten.

UNTERSUCHUNGSMETHODEN

139

Der Schlüssel zu dieser Meditationsmethode (oder besser Nicht-Medi-

tation) ist denjenigen zugänglich, die die Verwirklichung der Klaren-Licht-Natur des Geistes erreicht haben. Deshalb gibt es letztendlich

keinen Ersatz für die persönlichen Anweisungen eines verwirklichtenMeisters, der auf der einen Seite durch seine geschickten Mittel und auf

der anderen Seite durch das Vertrauen und die Hingabe des Schülersdem Verstehen einen Anfang setzt und dieses im Geist des Schülers zur

Reife bringen kann.

Vieles kann jedoch getan werden, um den Geist vorzubereiten, und

genau das ist es, was diese stufenweise Meditationsfolge über Leerheitbeabsichtigt. Indem man sich mit Sorgfalt solange einem jeden Stadiumder Meditationsfolge stufenweise widmet, bis von jeder Verständnis-

stufe eine echte Erfahrung im Geist entstanden ist, wird sich das eigeneVerstehen vertiefen, und die begriffsbildende Tendenz wird ihren harten

Griff um den Geist lockern. Stufenweise wird der Geist entspannter undoffener. Zweifel und Verunsicherungen werden ihre Stärke verlierenund lösen sich mehr und mehr auf. Der Geist ist auf eine natürliche

Weise wesentlich ruhiger und klarer. Ein derartiger Geist wird eher den

mündlichen Anweisungen des Lehrers auf eine bereitwillige und rich-tige Weise entgegenkommen.

In seinem Text "Enzyklopädie des Wissens" schreibt Jarngön Kongtrul,

daß die Rangtong-Sicht die Perspektive für die Zeit ist, in der man sichGewißheit durch Zuhören, Studieren und durch Nachdenken verschafft.

Die Shentong-Sichtweise dient den meditativen Übungen.

Page 71: Stufenweise Meditation

MEDITATIONSVERLAUF

Zu dem Zeitpunkt, da man sich der Meditation zuwendet, die von derKlaren-Lieht-Natur des Geistes ausgeht, ist das untersuchende Stadiuminnerhalb der eigenen Übung abgeschlossen. Was noch zu tun bleibt,ist, den Geist in seinem eigenen Wesen natürlich verweilen zu lassen,ganz so wie er ist, ohne irgendeine feingeistige Erfindung oder Anstren-gung. Genauso wie Jamgön Kongtrul in der "Enzyklopädie des Wis-sens" im Kapitel über die Meditationsarten Shamatha und Vipashyanaschreibt, ist der Versuch, auftretende Gedanken zu stoppen, unnötig; indiesem geistigen Zustand befreien sie sich einfach von selbst. Siegleichen Wellen auf dem Ozean, die allein von sich aus zur Ruhekommen werden. Es ist keine Anstrengung erforderlich, um sie zubesänftigen.

Die Meditation kann, wie auch zuvor, in Sitzungen ausgeführt werden,die mit der Zuflucht und der Entfaltung von Bodhicitta beginnen undmit der Widmung für das Wohlergehen aller Wesen enden. Sie kannaber auch zwischen den Meditationssitzungen fortgesetzt werden. Zeit-weise sollte man seine Beschäftigung unterbrechen, den Geist in seinerKlaren-Lieht-Natur ruhen lassen und dann wieder versuchen, dieseBewußtheit in seine sonstigen Tätigkeiten mit hineinzutragen.

Beginnt man erst damit,gemäß dem Shentong über die Klare-Lieht-Na-tur des Geistes zu meditieren, ist der eigene Geist im allgemeinen weitvom Freisein von begrifflicher Anstrengung entfernt. Manchmal gibtman sich Mühe, die Leerheit der auftretenden Dinge zu sehen, manch-mal versucht man, die Klare-Lieht-Natur zu schauen, zeitweise spanntman sich an, um diese beiden als untrennbar zu sehen, ein anderes Malbemüht man sich, den begriffslosen Zustand zu erhaschen, ihn intellek-tuell zu begreifen oder man versucht, ihn zu bestimmen und ihn irgend-wie zu bewahren. Im anfänglichen Stadium wird die eigene Meditationdemnach nicht vom frühen Stadium des Chittamatra verschieden sein.

Das kann Ihnen jedoch einerlei sein, da sich dieser Versuch auf jedenFall in die richtige Richtung bewegt. Die Kenntnis der verschiedenenMeditationswege wird Ihnenbehilflich sein, die Stadiendes Verstehenszu erkennen, denen Sie sich nähern, und das Wissen von den subtilenFehlern, die man während der verschiedenen Stadien macht, dient alsHilfe, diese zu überwinden.

Page 72: Stufenweise Meditation
Page 73: Stufenweise Meditation

Fußnoten

1. The Buddha within, S.K. Hookham, State University of New YorkPress

2. Jewel Ornament of Liberation; sGampopa, englische Übersetzungvon Herbert V.Guenther, Verlag ShambalaJuwelenschmuck der geistigen Befreiung; sGampopa, deutsche Über-setzung von Herbert V. Guenther, Verlag Diederichs, München

3. The Changeless Nature, Mahayana-Uttara-Tantra-Shastra; Maitreya,englische Übersetzung von Ken und Katia Holmes, Wisdom Publica-tions

Buddha Nature,Thrangu Rinpoche, WisdomPublications, (Kommentarzum obigen Text)

4. Maitreya Nath, Bodhisattva des zehnten Bhumi, der nur noch einerExistenz bedarf, um den erwachten Zustand, Buddha, zu erreichen. Erbefindet sich noch im "reinen Land" Tushita. Der Überlieferung nachsoll er Asanga (4./5.Jh.) seine Lehre direkt übertragen haben. Diefolgenden fünf Hauptwerke (tib.: byams chos sde 19na)werden Mai-treya/Asanga zugeschrieben:- Unterscheidung zwischen Phänomenen und der Natur der Phänome-

ne, Dharma-Dharmata-Vibhanga- Unterscheidung zwischen dem mittleren Weg und den Extremen,

Madhyanta-Vibhanga- Juwelenschmuck der Mahayana Sutras, Mahayana-Sutralarnkara-

Karika

- Juwelenschmuck der eindeutigen Verwirklichung, Abhisamaya-Larnkara

- Die höchste Kontinuität des Mahayana, Mahayana-Uttara-Tantra

5. Zitat aus dem Werk "Enzyklopädie des Wissens" von Jamgön Kong-trul (tib.: shes bya tun khyab). Die philosophische Schule der Vaibha-shikas des Hinayana besteht aus 18Unterschulen, die nach und nach ausden Orden nach Buddha Shakyamunis Tod entstanden sind.

~

Die absolute Wirklichkeit innerhalb dieses Lehrsystems liegt in derExistenz von teillosen, kleinsten Partikeln oder Atomen, die in grobeObjekte aggregieren,und in teillosen kleinsten Momenten von Gewahr-sein. Bei der konventionellen Wirklichkeit handelt es sich um grobematerielle Entitäten und um die Bewußtseinskontinuität, ganz sowie siedem unkritischen Geist erscheinen.

Khenpo Tsültrim Gyamtso Rinpoche regt dazu an, diese komprimiertenZitate über die jeweiligen Sichtweisen der philosophischen Schulen alsStütze zur Meditation zu rezitieren:

Zitat auf tibetisch:

»bcom dang bsal na der 'dsin 'dDrrung dang

mi 'dor rags dgnos shes rgyun tun rdzob ste

cha med don dom bden pa bye smrai lugs«Phonetisch:

tschom dang sal na der dsin dor rung dangmi dor rag ngö sche gjün kün zob tetscha me dön dam den pa tche ma'i lug

6. Zitat aus "Enzyklopädie des Wissens" von Jamgön Kongtrul.Die zweite philosophische Schule innerhalb des Hinayana, die derSautrantikas, besteht aus zwei Lehrmeinungen: "Anhänger der Schrif-ten" und die der "Beweisführung". Die "Anhänger der Schriften"beziehen sich hauptsächlich auf Vasabandhus "Enzyklopädie des Wis-sens"(4./5. Jh., großer Gelehrter und Bruder von Asanga; beide geltenals die Begründer des Chittamatra). Die "Anhänger der Beweisfüh-rung" stützen sich hauptsächlich auf Dignagas (5. Jh., großer Logikerund Erkenntnistheoretiker) und auf Dharmakirtis (7. Jh., bedeutenderPhilosoph und Logiker) Abhandlungen über pramana, über "GültigeErkenntnis". Im Gegensatz zu den Vaibhashikas zählt ein unmittelbarund konkret erlebtes Objekt, das ganz eigene Kennzeichen von bei-spielsweise Farbe und Größe trägt und nur in einem bestimmten Mo-ment und an einer bestimmten Stelle wahrgenommen wird, zur absolu-

Page 74: Stufenweise Meditation

ten Wahrheit. Die reine begriffliche Vorstellung eines Gegenstandes

dagegen zählt lediglich als eine allgemeine, konventionelle Erschei-

nung.

Zitat auf tibetisch:

»don dam don byed nus dang mi nus kyi

rang dang spyi mtshan mdo sde pa yi lugs«.

Phonetisch:

dön dam dön tschä nü dang mi nü kyi

rang dang tchi zen do de pa yi lug

7. Das Gebiet buddhistischer Lehren ist auf verschiedene Weise ange-

ordnet. Es gibt "drei Fahrzeuge" (skr.: tri-yana), zahlreiche philosophi-sche Schulen und das dreifache, sogenannte "Drehen des Rades der

Lehre" (skr.: dharma-chakra).

Drei Fahrzeuge

Fahrzeug oder Gefährt ist ein Gattungsbegriff für drei allgemeine Artenbuddhistischer Theorie und Ausübung, mit denen der Übende den Wegzum "vollendeten Erwachen" zurücklegt, und zwar das Fahrzeug der

Hörer (skr.: shravaka-yana), der Einsam-Verwirklichenden (skr.:

pratyeka-buddha-yana) und der altruistisch nach bodhi strebenden We-sen, bodhisattva-yana. Eine andere klassische Einteilung der Fahrzeugeist in Hinayana, Mahayana und Vajrayana, wobei die Fahrzeuge derHörer und der Einsam-Verwirklichenden zum Hinayana und das Bod-

hisattvayana zum Fahrzeug des Maha- und Vajrayana zählen. Der

sogenannte "Drei-Yana-Buddhismus" stammt ursprünglich aus Indienund wird in allen tibetisch-buddhistischen Schulen gelehrt.

Philosophische Schulen

Viele buddhistische Schulen haben ihren Ursprung in Indien und in denLändern, in denen sich der Buddhismus verbreitete. Mit jeder Schule

sind besondere Aussagen der Lehre Buddhas verbunden. Das Dia-

~

gramm weiter unten stellt die Beziehung zwischen einigen der philoso-phischen Hauptschulen, die in Indien entstanden sind, dar.

Dharma-Chakras

Im Rahmen der Mahayana-Literatur ist jedes Sutra, das vom Buddhagesprochen wurde, einem bestimmten Dharma-Chakra zugeordnet. Inden Sutras wird gelehrt, daß Buddha das Rad der Lehre in drei Zyklengedreht hat. Bei der ersten Begebenheit vermittelte er Kenntnis darüber,daß die Erscheinungen zwar existieren, aber daß keine dieser Erschei-nungen ein "Selbst" darstellt. Im zweiten Zyklus lehrte er, daß Erschei-nungen nicht existieren. Sie sind leer. Im dritten erklärte er, daß die"absolute Wirklichkeit" die Klare-Lieht-Natur des Geistes ist.

Der Vajrayana korrespondiert zwar mit der Sicht des dritten Dharma-Chakra, basiert aber auf den Tantras und nicht auf der Sutra-Tradition.Der Vajrayana ist demnach nicht in den drei Dharma-Chakras enthalten.In "Stufenweise Meditationsfolge über Leerheit" repräsentiert dasNicht-Selbst-Stadiumdes Shravaka die Hinayana-Sichtweise des erstenDharma-Chakra. Das Madhyamaka Rangtong (Svatantrika und Prasan-gika) repräsentiert die Mahayana-Sichtweise des zweiten Dharma-Chakra. Das Chittamatra und das Shentong vertreten die Mahayana-Sichtweise des dritten Dharma-Chakra, wobei die Shentong-Sichtweiseim Vajrayana weiterentwickelt wird. KhenpoTsültrim Gyamtso Rinpo-ehe unterteilt oft die Lehren Buddhas in vier Kategorien:

I. Die Art und Weise, wie die Dinge zu existieren scheinen: Wiederge-burt, Karma - Ursache und Effekt, Atome und Wahrnehmungsaugen-blicke. Das stimmt mit dem Hinayana überein.11.Die Artund Weise, wie alle Dinge grundlegend Geist sind, in anderenWorten: es gibt kein Unterscheidungsmerkmal zwischen Geist undMaterie. Das entspricht der Lehrmeinung des Chittamatra.III. Die Art und Weise, wie die Dinge wirklich sind, in anderen Worten:sie sind leer von einer wahren Existenz. Das ist die Lehrmeinung derSutras des zweiten Dharma-Chakras.

Page 75: Stufenweise Meditation

IV. Die Art und Weise, wie die Erscheinungen im Hinblick auf ihreendgültige Wirklichkeit sind, in anderen Worten: Dinge manifestierensich als das Spiel der "Klaren-Lieht-Natur des Geistes". Diese Lehrefindet man in den Sutras des dritten Dharma-Chakras vor, im Shentongund im Vajrayana.

8. Khenpo Tsültrim Gyamtso Rinpoche hat bei mehreren öffentlichenUnterweisungen betont, daß es guter Kenntnis der Skandhas bedarf, umüber sie erfolgreich meditieren zu können. Demjenigen, der über diefünf Skandhas für einen längeren Zeitraum meditieren möchte, seigeraten, umfassendereErklärungen hinzuzuziehen.Die detaillierte Dar-stellung der Skandhas, einschließlich der 51 Geistesfaktoren, ist äußerstumfangreich und würde ein ganzes Buch füllen. Ausführliche Erklärun-gen gab Khenpo Tsültrim Gyamtso Rinpoche während eines Seminarsüber die Skandhas anhand des Textes "Enzyklopädie des Wissens", diezur Zeit in schriftlicher Form noch nicht erhältlich sind. Dieses Thema

wird in den deutschsprachigen Büchern "DerDharma" (KaluRinpoche;Kagyü-Dharma-Verlag) und in "Jenseits von Hoffnung und Furcht"(Tschögyam Trungpa; Octopus-Verlag) als auch in verschiedenerHinayana-Literatur behandelt.

9. Für den Sanskrit-Begriff vijnana, tibetisch rnam.shes, gibt es nochkeine adäquate Übersetzung. Dieser Begriff ist in diesem Buch mehr-fach erklärt worden. Geist oder Bewußtsein ist innerhalb der buddhisti-

schen Philosophie ein vielfaches Phänomen, dazu dualistisch undmomentan. Im Englischen ist man zu Wortneuschöpfungen wie "mainminds" oder "consciousnesses" übergegangen, die jedoch alle nochunbefriedigend sind.

10. Die 51 Geistesfaktoren werden in dem Buch "The mind and it' s

function" (Geshe Rabten; Editions Rabten Choeling) und in "Under-standing the mind" (Geshe Kelsang Gyatso; Tharpa Publications) de-tailliert erklärt. 148 I 149.

---,

11. Es gibt 10 Bhumis (skr.: bhumi, wörtlich: Land, tib.: sa, wörtlich:Erde, Boden, Grund), die sich in einem Arya-Bodhisattva bis zurErlangung der Buddhaschaft stufenweise manifestieren. Bis zum Errei-

chen des ersten Bhumi, der ein enormer Durchbruch in der geistigenVerwirklichung ist, kann es mehrere Leben dauern. Jeder "Grund"

entspricht den transzendenten Qualitäten und Fähigkeiten, die sichetappenweise manifestieren, ähnlich einem fruchtbaren Boden, ausdemsich nach und nach das Potential der in ihm befindlichen Samen mani-festiert.

12.Entsprechend Khenpo Tsültrim Gyamtso Rinpoches Empfehlungenkann die stufenweise Meditation über Leerheit als "ngöndro", als vor-bereitende Übung für Mahamudra, angewandt werden. Man konzen-triert sich einführend für die Dauer von einem Monat auf jeweils einStadium. Danach beginnt man wieder mit dem ersten Stadium undmeditiert jeweils ein Jahr lang über eine der aufeinander aufbauendenfünf Stufen der Leerheitsmeditation.

13. Zitat aus der "Enzyklopädie des Wissens" von Jamgön Kongtrul.Die Vertreter der philosophischen Schule Chittamatra des Mahayanakönnen unterteilt werden in die "Anhänger der Schriften" und die "derBeweisführung". Die "Anhänger der Schriften" stützen sich auf Asan-gas "Fünf Abhandlungen über die Stufen". Die "Anhänger derBeweisführung" untermauern ihre Lehrmeinung mit Dignagas "Zusam-menfassung der gültigen Erkenntnis" und Dharmakirtis "Sieben Ab-handlungen über gültige Erkenntnis". Die Chittamatrins können auch indie drei Vertreter des "Wahren Aspektes" und die zwei Vertreter des"Falschen Aspektes" unterteilt werden (Siehe im Detail: "Practice andTheory of Buddhism"; Geshe Lhundrup-Hopkins. Titel der deutschenÜbersetzung: "Tibetischer Buddhismus"; erschienen im DiederichsVerlag.)

- t.8-

I

L

Page 76: Stufenweise Meditation

-ffl"

Zitat auf tibetisch:

»gzung 'dzin gnyis snang yul dang yul tsehen dang

gnyis med shes.par 'jog.pa sems tsam lugs«.Phonetisch:

sung dsin ni nang yül dang tschen dangni mä sche.par djog.pa sem zam lug

14. Bei den kleshas handelt es sich um die karmische Aktivität, dieLeideffekte produziert. Siezählen zu der einen der beiden Ursachen, dieein Hindernis für bodhi, den erwachten Zustand eines Buddhas sind.Diese Geistesfaktoren der sechs grundlegenden und 20 erweitertenKleshas der negativen Emotionen und falschen Vorstellungen stelleneine Behinderung für das Freisein vom Leiden des unfreiwilligen,konditionierten Daseins dar. Die sechs sogenannten Wurzel-Kleshassind: begehrendes Anhaften, Ärger, Stolz, Unwissenheit, Zweifel undfalsche Ansichten, und die 20 erweiterten: Wut, Rachsucht, Verdrän-gung, Gehässigkeit, Neid, Geiz, Heuchelei, Unehrlichkeit, Selbstgefäl-ligkeit, Boshaftigkeit, Skrupellosigkeit, Rücksichtslosigkeit, geistigerStumpfsinn, geistige Erregung, mangelndes Vertrauen, Faulheit, Ge-wissenlosigkeit, VergeBlichkeit,Abgelenktsein und mangelnde Selbst-beobachtung.

15. Zitat aus der "Enzyklopädie des Wissens" von Jamgön Kongtrul.Die philosophische Schule des Svatantrika-Madhyamaka besteht ausVertretern des Yogacara-Svatantrika-Madhyamaka und Sautrantika-Svatantrika-Madhyamaka. Siehe im Detail "Philosophy and Theory ofTibetan Buddhism"(deutsche Ausgabe:"Tibetischer Buddhismus").Zitat auf tibetisch:

»snang ba kun rdzob tu grub sgyu ma bzhin

don dam ma grub mkha 'dra rang rgyud lugs«.Phonetisch:

nang wa kün zob tu drub gju ma chindön dam ma drub kah dra nang gjü lug

16. Diese Zusammenhänge sind im Detail beschrieben in dem Buch"Meditation on Emptiness", J. Hopkins; Wisdom Publication.

17. Zitat aus der "Enzyklopädie des Wissens" von Jamgön Kongtrul.Zitat auf tibetisch:

»blos btags kun rdzob 'jig rten rje brjod dangspros bral bsam brjod las 'das thai 'gyur lugs«.Phonetisch:

lö tag kün zob djig ten dje djö dangdrö dräl sam djö lä da täl gjur lug

18. Shantarakshita, auch Khenpo Bodhisattva genannt: groBer indi-scher Meister und Zeitgenosse von Guru Rinpoche (8,Jh). Shantarak-shita brachte vor allem die Sutra-Lehren nach Tibet.

(Zitat: Tenga Rinpoche, Sutra und Tantra, Marpa Verlag)

19. Samkhyas: hinduistische Schule; Anhänger des Weisen Kalipu.Samkhya bedeutet" Aufzähler"; alle Wissensobjekte sind nach ihrerAnsicht in 25 Kategorien enthalten, und sie meinen, man sei befreit,wenn man diese Aufzählung in ihrer Verästelung versteht.

(Quelle: Der Tibetische Buddhismus; Geshe Lhundrub Söpa, J. Hop-tins; Diederichs Verlag)

20. Jains: Stifter Mahavira/Jina, eigentlich Nigantha Nataputta; Zeitge-nosse von Buddha Shakyamuni. Die Welt ist ewig und unvergänglich,der Verlauf ist naturgesetzlieh, es gibt keinen göttlichen Aufseher überdie Weltmechanik. Ihre Bestandteile werden scharf in Belebtes undUnbelebtes getrennt. (Quelle: Der Tibetische Buddhismus; GesheLhundrub Söpa, J. Hopkins; Diederichs Verlag)

21. Ajivakas; Stifter: Makkhali Gosala. Philosophische Schule vonwandernden Bettelmönchen zu Lebzeiten Buddha Shakyamunis. IhreWeltanschauung ist fatalistisch und deterministisch; nach ihrem Dogma

Page 77: Stufenweise Meditation

-._,'" .

ist alles, auch die Erlösung, unbeeinflußbar vorherbestimmt. (Quelle:Der historische Buddha, H.W. Schumacher)

22. Zitat aus "Enzyklopädie des Wissens" von Jamgön Kongtrul.Zitat auf tibetisch:

»kun brtags gzhen dbang kun rdzob don dam ni

yongs grub rang rig ye shes gzhan slang lugs«.Phonetisch:

kün tag chen wang kün zob dön dam ni

yong drob rang rig ye sche chen tong lug

23. Für die detaillierte Auflistung der 64 Buddha-Qualitäten sei auf denvon Maitreya verfaßten Text "Mahayana-Uttara-Tantra-Shastra"hin-gewiesen. Dem absoluten Wahrheitskaya (I.) und dem relativ-wahrenKaya (11.)werden jeweils 32 Qualitäten zugeschrieben:

I. 32 Qualitäten des FreiseinsZehn Kräfte der Allwissenheit:

l. vom eindeutigen und nicht eindeutigen (Resultat),2. vom völligen Gereiftsein der Handlungen,3. vom Grad der geistigen Fähigkeiten der Wesen,4. von ihrem Charakter,5. von ihren Wünschen,6. von allen begehbaren Wegen,7. von meditativen Sammlungen, die von den Trübungen der

emotionalen Störfaktoren frei sind,8. von Plätzen der Vergangenheit,9. der unbehinderten, göttlichen Sicht,

10. vom Befrieden der emotionalen Störfaktoren.

Vier Arten der Furchtlosigkeit: Buddhas sind furchtlosI. im Aussagen über ihre vollkommene Reinheit und über ihre

Kenntnis der gesamten Erscheinungen; 152 153

~

2. im Lehren der Methoden, durch die Hindernisse beseitigt werden;3. den Weg zu lehren;4. das Aufhören zu lehren.

18eindeutige Qualitäten:1. Buddhas machen keine Fehler.

16. Ihr begriffsloser Weisheitsgeist (sieht) unbehindert dieVergangenheit.

17. Ihr begriffsloser Weisheitsgeist (sieht) unbehindert die Gegenwart.18. Ihr begriffsloser Weisheitsgeist (sieht) unbehindert die Zukunft.

11.32 Qualitäten völliger Reife32 Kennzeichen eines vollendeten Wesens:

1. Seine Fußsohlen sind völlig flach und mit Dharma-Chakrasgekennzeichnet.

3 I. Sein Haar ist makellos und gleicht einem tiefblauen Juwel.32. Sein Körper ist vollkommen proportioniert wie die Rundung

eines vollkommenen Banyan-Baumes.

24. Dharmin ist ein allgemeiner Begriff, der sich auf das bezieht, waswährend einer Diskussion als etwas von besonderer Beschaffenheitherausgestellt wird. Unter dharmata ist das zu verstehen, was einewahre Natur besitzt.

...

Page 78: Stufenweise Meditation

Die buddhistischen Schulen

HINAYANA MAHAYANA

/\ /\Vaibhashika Sautrantika Chittamatra Madhyamaka

/\Rangtong Shentong

/ \(Yogacara-

Madhyamaka)

Svatantrika- Prasangika-Madhyamaka Madhyarnaka

Neben diesem ersten in Buchform veröffentlichten Text liegen bisher

einige kleinere Büchlein zum Thema vor, die vom Marpa TranslationCommitee unter Leitung des Autors herausgegeben wurden. Diese sindüber das Marpa Institut, Kathmandu erhältlich:

Khenpo Tsültrim Gyamtso RinpocheMarpa Institut for TranslationP.O. Box 4017G.P.O. Kathmandu I Nepal 154

~~1

Danksagung

Dieses Buch hätte eigentlich schon vor ca. einem bis zwei Jahren erscheinen sollen. Aber

so wie es bei einem durch Wellen aufgerührten See lange dauert, bis das Wasservollkommen klar und durchsichtig geworden ist, so war es auch hier: aufgrund der

Schwierigkeit des Stoffes war noch viel Klärungsbedarf im Detail notwendig.Ich möchte mich deshalb bei allen bedanken, die mit viel Geduld auf das Erscheinen des

Buches gewartet haben.

Ganz besonders bedanken möchte ich mich bei Khenpo Tsültrim Gyamtso Rinpoche -daftir, daß er versucht, uns mit so viel Geduld diesen Text zu lehren, um uns ein

Verständnis der Dinge, so wie sie sind, zu vermitteln. Mein ganz besonderer Dank gilt

auch Christiane Friedewald, die den Text neu übersetzte und ihn in vielen Gesprächen mit

Khenpo Tsültrim Gyamtso weiter und weiter verfeinerte. Unterstützung erhielt Christianehierbei durch Karl Brunnhölzl. Herzlichen Dank dafür.

Das Erscheinen des Buches wäre jedoch auch ohne die Mitarbeit vieler anderer Menschennicht möglich gewesen, von denen ich nicht einmal alle bei Namen kenne. Horst Rauprich

vom Kamalashila Institut erledigte die erste redaktionelle Überarbeitung. Roman Eckert

vom Bremer Zentrum Kagyü Samten Ling sorgte für viele Helfer, die die reichhaltigenund mühsamen Schreib- und Korrekturarbeiten besorgten. Allen namentlich genannten

und nicht genannten Helfern ein herzliches Dankeschön.Mein Dank gilt auch Herbert Giller von der Karma Kagyü Stiftung für seine Mithilfe und

Unterstützung bei der Herausgabe des Buches und für seine Geduld bezüglich des immer

wieder verschobenen Erscheinungstermines.

P.W., für den Verlag

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Page 79: Stufenweise Meditation

KAGYÜ-DHARMA-VERLAGSchloß Mechernich, D-53894 Mechernich

Weiter sind erschienen:

Khentin Tai Situ Pa; ... den Weg gehen

1986,124 S., 12Kalligraphien von Tai Situ Pa, ISBN 3-89233-011-5

Bokar Rinpoche, Die tägliche Praxis

1989,91 S., 18 Fotos, ISBN 3-89233-012-3

Bokar Rinpoche, Der Tod und die Kunst des Sterbens

1992, ISBN 3-89233-013-1

Kalu Rinpoche, Der Dharma, der wie Sonne und Mond alleWesen ohne Unterschied erleuchtet

1990,256S., 11Fotos,ISBN3-89233-014-X

Gendün Rinpoche, Wir haben vergessen, daß wir Buddhas sind

1991,160 S., 15Fotos, ISBN 3-89233-015-8

Der Kagyü-Dhanna-Verlag hat seinen Sitz im Kamalashila-Institut fürbuddhistische Studien, einer überregionalen Einrichtung zum Studiumund zur Praxis der buddhistischen Lehre.

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