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Stefan Brakensiek / Heide Wunder (Hg.) Herrschaftsvermittlung im alten Europa - Sonderdruck - im Buchhandel nicht erhältlich 2005 BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN Vorwort Der Band versammelt die Beiträge einer Konferenz, die im April 2004 im Rahmen des von der Volkswagen Stiftung großzügig geförderten For- schungsvorhabens „Institutionen in ihrem sozialen Kontext. Praktiken lokaler Justiz, Politik und Verwaltung im internationalen Vergleich" an der Universität Kassel statt gefunden hat. Die m diesem Projekt kooperierenden Historikerinnen und Historiker aus Tschechien, Ungarn und Deutschland stellten ihre Ergebnisse zur Diskussion, zugleich wurde erprobt, ob in den für das Projekt grundlegenden internationalen Vergleich weitere Länder ein- zubeziehen sind. Zum Gelingen der Tagung haben Tobias Busch, Karin Gottschalk, Sylvia Lerche, Angelika Möller und Jennifer Villarama durch ihr organisatorisches Geschick maßgeblich beigetragen. Tom Clark und Beate Fujiwara haben mit ihren Übersetzungskünsten das wissenschaftliche Gespräch über die Sprach- grenzen hinweg ermöglicht. Ihnen allen sei ganz herzlich gedankt. Die Über- setzungen der englischen, französischen und tschechischen Beiträge stam- men von Karin Gottschalk, Bettina Bommersbach und Vaclav Prazak; ihnen schulden wir ein großes Dankeschön. Eine Tagung lebt wesentlich von der Diskussionskultur ihrer Teilnehmer. Dank Gudrun Andersson, Gyula Benda, Vaclav Büzek, Jörg Deventer, Peter Dominkovits, Heiko Droste, Peter Erdösi, Laurence Fontaine, Beate Fujiwara, Karin Gottschalk, Holger Th. Graf, Mark Hengerer, Erk Volkmar Heyen, Pavel Himl, Steve Hindle, Andre Holenstein, Josef Hrdlicka, Katrin Keller, Thomas Klingebiel, Petr Mat'a, Judit Pal, Vaclav Prazak, Andrea Pühringer-Gräf, Istvan Szijärtö, Andräs Van, Christian Windler und Tho- mas Winkelbauer ist dies geglückt. Kassel, im April 2005 Heide Wunder Stefan Brakensiek

Stefan Brakensiek / Heide Wunder (Hg.) Vorwort ...hg0090/pdfe/Brakensiek_Herrschaftsvermitt… · LOTTES, Artikel „Staat, Herrschaft", in: RICHARD VAN DÜLMEN (Hrsg.), Fischer Lexikon

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Stefan Brakensiek / Heide Wunder (Hg.)

Herrschaftsvermittlung im alten Europa

- Sonderdruck -im Buchhandel nicht erhältlich

2005

BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN

Vorwort

Der Band versammelt die Beiträge einer Konferenz, die im April 2004 imRahmen des von der Volkswagen Stiftung großzügig geförderten For-schungsvorhabens „Institutionen in ihrem sozialen Kontext. Praktikenlokaler Justiz, Politik und Verwaltung im internationalen Vergleich" an derUniversität Kassel statt gefunden hat. Die m diesem Projekt kooperierendenHistorikerinnen und Historiker aus Tschechien, Ungarn und Deutschlandstellten ihre Ergebnisse zur Diskussion, zugleich wurde erprobt, ob in denfür das Projekt grundlegenden internationalen Vergleich weitere Länder ein-zubeziehen sind.

Zum Gelingen der Tagung haben Tobias Busch, Karin Gottschalk, SylviaLerche, Angelika Möller und Jennifer Villarama durch ihr organisatorischesGeschick maßgeblich beigetragen. Tom Clark und Beate Fujiwara haben mitihren Übersetzungskünsten das wissenschaftliche Gespräch über die Sprach-grenzen hinweg ermöglicht. Ihnen allen sei ganz herzlich gedankt. Die Über-setzungen der englischen, französischen und tschechischen Beiträge stam-men von Karin Gottschalk, Bettina Bommersbach und Vaclav Prazak; ihnenschulden wir ein großes Dankeschön.

Eine Tagung lebt wesentlich von der Diskussionskultur ihrer Teilnehmer.Dank Gudrun Andersson, Gyula Benda, Vaclav Büzek, Jörg Deventer,Peter Dominkovits, Heiko Droste, Peter Erdösi, Laurence Fontaine, BeateFujiwara, Karin Gottschalk, Holger Th. Graf, Mark Hengerer, Erk VolkmarHeyen, Pavel Himl, Steve Hindle, Andre Holenstein, Josef Hrdlicka, KatrinKeller, Thomas Klingebiel, Petr Mat'a, Judit Pal, Vaclav Prazak, AndreaPühringer-Gräf, Istvan Szijärtö, Andräs Van, Christian Windler und Tho-mas Winkelbauer ist dies geglückt.

Kassel, im April 2005 Heide WunderStefan Brakensiek

Stefan Brakensiek

Herrschaftschaftsvermittlung im alten Europa

Praktiken lokaler Justiz, Politik und Verwaltungim internationalen Vergleich

Die Beiträge dieses Bandes befassen sich mit den Amtsträgern frühneuzeitli-cher Herrschaften in verschiedenen Teilen Europas. Es geht darum, dasHandeln eines Personenkreises näher zu bestimmen, der für die gesellschaft-liche Entwicklung der einzelnen Länder außerordentlich wichtig war. Dabeiwaren die folgenden Überlegungen zu Herrschaftsvermittlung, Herrschafts-verdichtung und Herrschaftspraktiken leitend;

Herrschaftsvermittlung

Jede Herrschaft ist auf die Kooperation zumindest von Teilen der ihr Un-terworfenen angewiesen. Diese Grundtatsache galt selbstverständlich auchfür die frühneuzeitlichen Monarchien, Fürstenstaaten und Adelsherrschaf-ten: Obrigkeitliche Befehle mussten an die Adressaten kommuniziert, In-formationen von und über Untertanen gesammelt und an die Herrschaftübermittelt, Soldaten ausgehoben, Steuern und Abgaben eingezogen undDienste nutzbringend verwendet werden.1 Herrschaft bedurfte also der re-

Anregende Überlegungen summen aus der Entwicklungssoziologie. Siehe dazuGERD SPOTLER, Abstraktes Wissen als Herrschaftsbasis. Zur Entstehungsgeschichtebürokratischer Herrschaft im Bauernstaat Preußen, in: Kölner Zeitschrift für Soziolo-gie und Sozialpsychologie 32, 1980, S. 574-604. Zur Begrifflichkeit vgl. GÜNTHERLOTTES, Artikel „Staat, Herrschaft", in: RICHARD VAN DÜLMEN (Hrsg.), FischerLexikon Geschichte, Frankfurt a.M. 1990, S. 300-326. Zu den Grundlagen staatlicherHerrschafspraxis in England siehe PAUL GRIFFITHS/ADAM FOX/STEVE HlNDLE(Hrsg.), The Experience of Authority in Early Modern England, Houndsmills/London 1996, S. 213-248. Zur Informationsbeschaffung von adligen Herrschaftenvgl, JAN PETERS, Informations- und Kommunikationssysteme in Gutsherrschaftsge-sellschaften des 17. Jahrhunderts, in: DERS. (Hrsg.), Gutsherrschaftsgesellschaften imeuropäischen Vergleich, Berlin 1997, S. 185-197. Wichtige konzeptionelle und empiri-sche Beiträge enthalten: JOHN BREWER/ECKHART HELLMUTH (Hrsg.), RethinkingLeviathan. The Eigtheenth-Cenmry State in Britain and Germany, Oxford 1999;HEINRICH KAAK/MARTINA SCHATTKOWSKY (Hrsg.), Herrschaft. Machtentfaltungüber adligen und fürstlichen Grundbesitz in der Frühen Neuzeit, Köln/Weimar/Wien

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gelmäßigen Zusammenarbeit zwischen den Inhabern von Herrschaftsrech-ten und den davon Betroffenen. Hinzu kommt, dass sich Monarchen, Fürs-ten und adlige Herren nicht einfach als Potentaten verstanden, sondern alschristliche Obrigkeiten.2 Zwar sollten ihre Anordnungen umgehend befolgtwerden und ihre Gerichtsurteile Geltung erlangen, Befehle und Urteiledurften im zeitgenössischen Verständnis jedoch keineswegs herrschaftlicherWillkür entspringen, sondern mussten religiösen, ethischen und juristischenNormen entsprechen.3 Freilich bestand - nach den Maßstäben eines demo-kratischen Verfassungsstaates - kein hinreichender Schutz vor willkürlichenEntscheidungen von Angehörigen der Herrschaftsstände. Damit ihren An-ordnungen Folge geleistet wurde, waren diese durchaus bereit, physischenZwang anzuwenden. Dabei handelte es sich aber lediglich um die ultima ra-tio, denn die ,Kosten' eines gewaltsamen Eingreifens, namentlich die Gefahreiner Unterminierung der Legitimitätsgrundlagen des jeweiligen Regiments,waren den Zeitgenossen durchaus bewusst. So sorgten zahlreiche Institutio-nen für rege Kommunikation zwischen Obrigkeiten und Untertanen, damit

2003; MARKUS MEUMANN/RALF PRÖVE (Hrsg.), Herrschaft in der Frühen Neuzeit.Umrisse eines dynamisch-kommunikativen Prozesses, Münster 2004,

2 Zum „Gegenüber" von Herrschaft vgl. MICHAEL STOLLEIS, Untertan - Bürger -Staatsbürger. Bemerkungen zur juristischen Terminologie im späten 18. Jahrhundert, in:RUDOLF VIERHAUS (Hrsg.), Bürger und Bürgerlichkeit im Zeitalter der Aufklärung,Heidelberg 1981, S. 65-99. Das paternalistischc Sclbstverständnis deutscher Fürsten ent-faltet PAUL MÜNCH, Die „Obrigkeit im Vaterstand". Zur Definition und Kritik des„Landesvaters" während der Frühen Neuzeit, in: Daphnis 11, 1982, S. 15—40. Zur Typo-logie adliger Herrschaftsstile vgl. MARTINA SCHATTKOWSKY, „... und wolle ich mit ih-nen in frieden und ruhe leben". Hintergründe zum HerrschaftsVerständnis adliger Rit-tergutsbesitzer in Kursachsen um 1600, in: JAN PETERS (Hrsg.), Konflikt und Kontrollein Gutsherrschaftsgescllschaftcn. Über Resistenz- und Herrschaftsverhalten in ländli-chen Sozialgebilden der Frühen Neuzeit, Göttingen 1995, S. 359-403; MARTINASCHATTKOWSKY, Adlige Herrschaftsstile in Kursachsen um 1600. Zur Problematik ei-ner Typologisierung, in: KAAK/SCHATTKOWSKY, Herrschaft, S. 49-66.

3 JUTTA BRÜCKNER, Slaatswissenschaft, Kameralismus und Naturrecht. Ein Beitragzur Geschichte der politischen Wissenschaften im Deutschland des späten 17. undfrühen 18. Jahrhunderts, München 1977; THOMAS WÜRTENBERGER, Artikel „Legi-timität, Legalität", in: OTTO B RUNNER/WERNER CONZE/REINHART KOSELLECK(Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 3, Stuttgart 1982, S. 677-742; ECKHARTHELLMUTH, Naturrechtsphilosophie und bürokratischer Werthorizont. Studien zurpreußischen Geistes- und Sozialgeschichte des 18. Jahrhunderts, Göttingen 1985; MI-CHAEL STOLtEIS, Grundzüge der Beamtenethik 1550-1650, in: ROMAN SCHNUR(Hrsg.), Die Rolle der Juristen bei der Entstehung des modernen Staates, Berlin 1986,S. 273-326; CHRISTOPH LINK, Anfänge des Rechtsstaatsgedankcns in der deutschenStaatsrechtslehre des 16. bis 18. Jahrhunderts, in; ebd., S. 775-795; HORST DREITZEL,Monarchiebegriff in der Fürstengesellschaft: Semantik und Theorie der Einherrschaftin Deutschland von der Reformation bis zum Vormärz, 2 Bde, Köln 1991; BERN-HARD DlESTELKAMP, Reichskammergericht und Rechtsstaatsgedanke. Die Kameral-judikatur gegen die Kabinettsjustiz, Heidelberg 1994.

Herrschaftschaftsvermittlung im alten Europa

Chancen bestanden, dass Anordnungen und Urteile aufgrund umfassenderKenntnis der obwaltenden Umstände erfolgten und von den Betroffenen alsangemessen, zumindest nicht als unbillige Härte empfunden wurden/

Zwar mündete die Kommunikation zwischen Obrigkeiten und Unterta-nen regelmäßig in eine Anordnung, ein Urteil, ein Gesetz, die der Formnach als Ausdruck des freien Willens des jeweiligen Herrschaftsträgers auf-traten. Solchen Anordnungen gingen jedoch üblicherweise mündliche Bera-tungen oder Schriftwechsel voraus, in denen die betroffenen Untertanen (oderzumindest privilegierte Gruppen unter ihnen) ihre Sicht in den Entschei-dungsprozess einbringen konnten.5 Ob einem herrschaftlichen Befehl dann

4 Theoretische Reflexion des Zusammenhangs bei THOMAS ELLWEIN, Über Verwal-tungskunst oder: Grenzen der Verwaltungsführung und der Verwaltungswissen-schaft, in: Staatswisscnschaften und Staatspraxis l, 1990, S. 89-104. Zu den verschie-denen institutionalisierten Orten der Kommunikation vgl. ANDRfi HO1.ENSTEIN, DieHuldigung der Untertanen. Rechtskultur und Herrschaftsordnung (800-1800), Stutt-gart 1991; CHRISTIAN WINDLER, Schwörtag und Öffentlichkeit im ausgehenden An-cien Regime. Das Beispiel einer clsässischen Stadtrepublik, in: Schweizerische Zeit-schrift für Geschichte 46, 1996, S. 197-225; RENATE BLICKLE, Laufen gen Hof. DieBeschwerden der Untertanen und die Entstehung des Hofrats in Bayern. Ein Beitragzu den Varianten rechtlicher Verfahren im späten Mittelalter und in der frühen Neu-zeit, in: PETER BLICKLE (Hrsg.), Gemeinde und Staat im Alten Europa, München1998, S. 241-266; ESTHER-BEATE KÖRBER, Öffentlichkeiten der frühen Neuzeit.Teilnehmer, Formen, Institutionen und Entscheidungen öffentlicher Kommunikationim Herzogtum Preußen von 1525 bis 1618, Berlin/New York 1998; GADI ALGAZI,Tradition als Gespräch der Ungleichen. Bauern und Herren in der spa'tmittelalterli-chen Dorfversammlung, in: STEFAN ESDERS/THOMAS SCHARFP (Hrsg.), Eid undWahrheitssuche. Studien zu rechtlichen Bcfragungspraktikcn in Mittelalter und früherNeuzeit, Frankfurt a.M. 1999, S. 191-210; LlESELOTT ENDERS, Kommunikation inmärkischen Provinz Städte n der Frühneuzeit, in: HELMUT BRÄUER/ELKE SCHLENK-RICH (Hrsg.), Die Stadt als Kommunikationsraum. Beiträge zur Stadtgeschichte vornMittelalter bis in 20. Jahrhundert, Leipzig 2001, S. 240-262; STEFAN BREIT, Das Ge-schenk der heiligen Frau Ayd. Legitimation bäuerlicher Interessen als soziales Wissen,in: RALF-PETER FUCHS/WINFRIED SCHULZE (Hrsg.), Wahrheit, Wissen, Erinne-rung. Zeugenverhö'rprotokolle als Quellen für soziale Wissensbestände in der FrühenNeuzeit, Münster 2002, S. 155-198; MAGNUS ERIKSSO N/BARBARA KRUG-RICHTER,Streitkulturen - Eine Einführung, in: DIESELBEN (Hrsg.), Streitkukuren. Gewalt,Konflikt und Kommunikation in der ländlichen Gesellschaft (16.-19. Jahrhundert),Köln/Weirnar/Wien 2003, S. 1-16.

5 ANDREAS WÜRGLER, Desideria und Landesordnungen. Kommunaler und landständi-scher Einfluß auf die fürstliche Gesetzgebung in Hessen-Kassel 1650-1800, in: BLICKLE,Gemeinde, S. 149-207; ANDRfi HOLENSTEIN, Die Umstände der Normen - die Nor-men der Umstände. Policeyordnungen im kommunikativen Handein von Verwaltungund lokaler Gesellschaft im Ancien Regime, in: KARL HÄRTER (Hrsg.), Policey undfrühneuzeitliche Gesellschaft, Frankfurt a.M. 2000, S. 1-46; LOTHAR SCHILLING, Kri-senbewältigung durch Verfahren? Zu den Funktionen konsensualer Gesetzgebung imFrankreich des 16. und frühen 17. Jahrhunderts, in: BARBARA STOLLBERG-RlLINGER(Hrsg.), Vormoderne politische Verfahren, Berlin 2001, S. 459-491.

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der erwartete Gehorsam folgte, ist nur im Einzelfall zu klären, denn dieUmsetzung konnte verweigert, umgangen oder uminterpretiert werden/'Auch die Implementierung von Gesetzen und die Umsetzung von Befehlenwaren demnach Gegenstand der Kommunikation zwischen ,oben' und ,un-ten'.7 In der neueren Forschung hat sich für diese Kommunikationsprozesseunter Ungleichen der Begriff „Aushandeln von Herrschaft" eingebürgert/Solches Aushandeln bedurfte nicht der Einmütigkeit zwischen Obrigkeitenund Untertanen, sondern lediglich der grundsätzlichen Bereitschaft zur Ko-operation - sei es aufgrund taktischer Überlegungen der Beteiligten, sei esaufgrund prinzipieller Anerkennung der Legitimität der Herrschaftsaus-übung von Seiten der Untertanen und der Partizipationsansprüche von Sei-ten der Obrigkeiten.

In komplexen Gesellschaften finden solche Aushandlungsprozesse nurausnahmsweise unmittelbar zwischen den Inhabern von Herrschaftsrechtcnund den von Herrschaft betroffenen Personen statt. Herrschaft bedarf hierder Vermittlung durch eigens dafür bestelltes Personal. So lagen in derFrühneuzeit zwischen den urbanen oder höfischen Zentren einerseits undden Kleinstädten oder Dörfern andererseits oft beträchtliche Distanzen,zum Teil weite räumliche, oftmals aber auch große kulturelle Unterschiedezwischen den Eliten und der Bevölkerungsmehrheit. Arntsträgern kamendeshalb wichtige kommunikative Funktionen zu, als räumliche Überbrückerund kulturelle Übersetzer, kurzum; als Vermittler von Herrschaft. Wennman in Erfahrung bringen will, wie frühmoderne Herrschaft funktionierte,woran sie oftmals scheiterte, was ihre Spezifika ausmachte, und welche ver-schiedenen Formen sie annehmen konnte, dann liefert die Untersuchung desvermittelnden Handelns von Amtsträgcrn innerhalb der Aushandlungspro-zesse von Herrschaft wichtige Teilantworten.9

6 JAMES C. SCOTT, Weapons of the weak. Everyday forms of peasant resistance, NewHavcn 1985.

7 ACHIM LANDWEHR, „Normdurchsetzung" in der Frühen Neuzeit? Kritik eines Beg-riffs, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 48, 200C, S. 146-162; DERS., Policey imAlltag. Die Implementation frühneuzeitlicher Policcyordnungen in Leonberg, Frank-furt/Main 2000; MARTIN SCHEUTZ, Zwischen Mahnung und Normdurchsetzung.Zur Rezeption von Normen in Zeugen verhören des 18. Jahrhunderts, in: FUCHS/SCHULZE, Wahrheit, S. 357-397.

8 Al.F LÜDTKE, Einleitung: Herrschaft als soziale Praxis, in: DERS. (Hrsg.), Herrschaftals soziale Praxis. Historische und sozialanthropologische Studien, Göttingen 1991,S. 9-63. Im angelsächsischen Sprachbereich sind parallele Entwicklungen zu beobach-ten, vgl. MICHAEL BRADDICK/JOHN WALTER, Imroduction. Grids of power: ordcr,hierarchy and Subordination in early modern society, in: DIESELBEN (Hrsg.), Negotiat-ing Power in Early Modern Society. Order, Hierarchy and Subordination in Britain andIreland, Cambridge 2001, S. 1-42.

9 Zur Geschichte von Bürokratie und Beamtenschaft vgl. BERND WUNDER, Geschichteder Bürokratie in Deutschland, Frankfurt/Main 1986; REINHART KOSELLECK/SANDRO ANGELD FUSCO/UDO WOLTER, Artike! „Verwaltung, Amt, Beamte", in:

Herrschaftschaftsvermiftlung im alten Europa

Grundsätzlich erzielt man bei der Untersuchung von Herrschaftssyste-men besonders aussagekräftige Ergebnisse, wenn man die Schnittstellenzwischen verschiedenen Herrschaftssphären in den Blick nimmt. Wo in derFrühneuzeit ständische und höfische Bereiche, oder aber kommunale undherrschaftliche Bereiche miteinander in Kontakt traten, wurden Personentätig, deren Aufgabe in der Vermittlung von Herrschaft bestand. Die Analysedieser Schnittstellen eröffnet faszinierende Einblicke in die Spielräume fürdas Makeln von Informationen, Macht und Ressourcen. Wer den Transfervon Gütern, Diensten und Informationen über diese Grenzen hinweg er-folgreich organisierte, dem winkten besonders hohe Profite, der war aller-dings auch besonders gefährdet durch Konkurrenten und Neider. Eine solcheSchlüsselstellung nahmen sowohl die lokalen Beamten von Territorialstaaten10,als auch die Amtsträger großer Adelsherrschaften11 ein. Wichtige Akteure an

BRUNNER/ CONXE/ KOSELLECK, Grundbegriffe, Bd. 7, 1992, S. 1-96; STEFANHAAS/ULRICH PFISTER, Verwaltungsgeschichte - eine einleitende Perspektive, in;ULRICH PHSTER/MAURICE DE TRIBOLET (Hrsg.), Sozialdisziplinierung - Verfahren -Bürokraten. Entstehung und Entwicklung der modernen Verwaltung, Basel 1999,S. 11-26; WOLFGANG REINHARD, Geschichte der Staatsgewalt. Eine vergleichendeVerfassungsgeschichte Europas von den Anfangen bis zur Gegenwart, München 1999;ANDR£ HOLENSTF.IN/FRANK KONERSMANN/JOSEF PAUSER, Der Arm des Geset-zes. Ordnungskräfte und gesellschaftliche Ordnung in der Vormodcrne als For-schungsfeld (Einleitung), in: DIESELBEN u.a. (Hrsg.), Policey in lokalen Räumen.Ordnungskräfte und Sicherheitspersonal in Gemeinden und Territorien vorn Spätmit-telalter bis zum frühen 19. Jahrhundert, Frankfurt a.M. 2002, S. 1-54.

10 Studien zur Amtsträgerschaft der frühmodcrnen Staaten liegen in großer Zahl vor.Überblicke bei: WOLFRAM FISCHER, Rekrutierung und Ausbildung von Personal fürden modernen Staat: Beamte, Offiziere und Techniker in England, Frankreich undPreußen in der frühen Neuzeit, in: REINHART KOSELLECK (Hrsg.), Studien zum Be-ginn der modernen Welt, Stuttgart 1977, S. 194-217; WILHELM BRAUNEDER, DieVerwaltung im Bcamtcnstaat nach dem Dreißigjährigen Krieg, in: GERHARD DlL-CHER (Hrsg.), Die Verwaltung und ihre Ressourcen. Untersuchungen zu ihrer Wech-selwirkung, Berlin 1991, S. 47-77; WOLFGANG REINHARD, Power Elites, State Ser-vants, Ruling Classes, and the Growth of State Power, in: DERS. (Hrsg.), Power Elitesand State Building, Oxford 1996, S. 1-18; CHRISTOF DlPPER, Government and Ad-ministration. Everyday Politics in the Holy German Empire, in: BREWER/HELL-MUTH, Leviathan, S. 203-223; STEFAN BRAKENSIEK, Staatliche Amtsträger und städ-tische Bürger, in: PETER LUNDGREEN (Hrsg.), Sozial- und Kulturgeschichte desBürgertums. Eine Bilanz des Bielefelder Sonderforschungsbereichs (J986-1997), Göt-tingen 2000, S. 138-172; BARBARA KRUG-RICHTER, Zwischen Dorf und Gericht.Tätigkeitsbereiche, Amtspraxis und soziale Stellung des Gcrichtsdieners in einer länd-lich-lokalen Gesellschaft der Frühen Neuzeit, in: HOLENSTEIN/KONERSMANN/PAUSER, Policey, S. 169-197.

11 HEINRICH KAAK, Vermittelte, selbsttätige und matcrnale Herrschaft. Formen guts-hcrrhcher Durchsetzung, Behauptung und Gestaltung in Quilitz-Fricdland (Lcbus/Obcrbarnim) im 18. Jahrhundert, in: PETERS, Konflikt, S. 54-117; ANDRÄS VÄRI,Herrschaftsvermittler auf dem ungarischen Großgrundbesitz am Anfang des 19. Jahr-hunderts, in: KAAK/SCHATTKOWSKY, Herrschaft, S. 263-296.

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einer weiteren Grenze waren die städtischen Magistratsmitglieder1"' undDorfvorsteher13. Die Beiträge dieses Bandes befassen sich vor allem mit derherrschaftsvermittelnden Tätigkeit von Amtsträgern der Territorialstaaten,der großen Adelsherrschaften und der Kommunen im Geflecht lokaler undweiträumiger Beziehungen.

12 O'ITO HlNTZE, Staatenbildung und Kommunalverfassung, in: DERS-, Staat und Ver-fassung- Gesammelte Abhandlungen zur allgemeinen Verfassungsgeschichte, Göttin-gen 1962, S. 216-241; CHRISTIAN SIMON, Untertanen v er h alten und obrigkeitlicheMoralpolitik. Studien zum Verhältnis zwischen Stadt und Land im ausgehenden18. Jahrhundert am Beispiel Basels, Basel 1981; OLAF MÖKKE, Der gewollte Weg inRichtung „Untertan". Ökonomische und politische Eliten in Braunschweig, Lüne-burg und Götringen vom 15. bis ins 17. Jahrhundert, in: HEINZ SCHILLING/HERMANDlEDERIKS (Hrsg.), Bürgerliche Eliten in den Niederlanden und in Nordwest-dcutschland. Studien zur Soziaigeschichtc des europäischen Bürgertums im Mittelal-ter und in der Neuzeit, Köln 1985, S. 111-133; WOLFGANG HERBORN, Der gradu-ierte Ratsherr. Zur Entwicklung einer neuen Elite im Kölner Rat der Frühen Neuzeit,in: ebd., S. 337-^tOO; WILFRIED ERBRECHT (Hrsg.), Verwaltung und Politik in Städ-ten Mitteleuropas. Beiträge zu Verfassungsnorm und Verfassungswirklichkeit in alt-ständischer Zeit, Köln 1987; CHRISTOPHER RICHARD FRIEDRICHS, Politik und So-ziaistruktur in der deutschen Stadt des 17. Jahrhunderts, in: GEORG SCHMIDT(Hrsg.), Stände und Gesellschaft im Alten Reich, Stuttgart 1989, S. 151-170; MICHA-EL STOLLEIS (Hrsg.), Recht, Verfassung und Verwaltung in der frühneuzeitlichenStadt, Köln 1991; FRANK GÖSE, Zwischen adliger Herrschaft und städtischer Frei-heit. Zur Geschichte kunnärkischer adliger Mediatstädte in der Frühen Neuzeit, in:Jahrbuch für Brandenburgiscbe Landesgeschichte 47, 1996, S. 55-85; NlCOLAS RÜGGE,Im Dienst von Stadt und Staat. Der Rat der Stadt Herford und die preußische Zent-ralverwaJturig im 18. Jahrhundert, Göttingen 2000; THOMAS RUDERT/HARTMUTZUCKERT (Hrsg.), Gemeindeleben. Dörfer und Städte im östlichen Deutschland (16.-18. Jahrhundert), Köln/Weimar/Wien 2001.

13 Vgl. KülTH WRIGHTSON, Two concepts of order: justices, constables and jurymen inseventeenth-century England, in: JOHN BREWER/JOHN STYLES (Hrsg.), An Ungov-ernable People. The Enghsh and their law in thc seventeenth and eighteenth centuries,New Brunswick/London 1980, S. 21-46; HEIDE WUNDER, Die bäuerliche Gemeindein Deutschland, Göttingen 1986; ULRICH LANGE (Hrsg.), Landgemeinde und früh-moderner Staat. Beiträge zum Problem der gemeindlichen Selbstverwaltung in Däne-mark, Schleswig-Holstein und Niedersachsen m der frühen Neuzeit, Sigmaringen1988; SIGRID SCHMITT, Territorialstaat und Gemeinde im kurpfälzischen OberamtAlzcy vom 14. bis zum Anfang des 17. Jahrhunderts, Stuttgart 1992; WILHELMPLELM, Obrigkeit und Volk. Herrschaft im frühneuzeitlichen Alltags Niederbayerns,untersucht anhand archivalischer Quellen, Passau 1993; MICHAEL FRANK, DörflicheGesellschaft und Kriminalität. Das Fallbeispiel Lippe 1650-1800, Paderborn 1995;BERND SCHILDT, Bauer - Gemeinde - Nachbarschaft. Verfassung und Recht derLandgemeinde Thüringens in der frühen Neuzeit, Weimar J996; KEITH WRIGHTSON,The Politics of the Parish in Early Modern England, in: GRIFFITHS/FOX/HINDLE,Experience, S. 10^6; URSULA LÖFFLER, Vermittlung und Durchsetzung von Herr-schaft auf dem Lande. Dörfliche Amtsträger im Erzstift und Herzogtum Magdeburg17.-18. Jahrhundert, Münster 2004.

Herrschaftschafts Vermittlung im alten Europa 7

Angesichts verbreiteter Sprachunterschiede (nicht nur zwischen Ethmen,sondern auch innerhalb ein und desselben Volkes) und in Anbetracht derdivergierenden Mentalitäten von Angehörigen urbaner oder höfischer Zent-ren einerseits und der Bewohner von Kleinstädten und Dörfern andererseits,erfüllten die Amtsträger sicherlich wesentliche politische und kulturelleMittler- und Ubersetzerfunktionen. Erfolg und Misserfolg von Herr-schaftsvermittlung (im Sinne von mehr oder weniger gelungener Kommuni-zierung herrschaftlicher Zwecke und Mittel) sind selbstverständlich daranzu messen, welche ethnischen, religiösen und sozialen Hürden sie zu neh-men hatte. Umgekehrt ist zu fragen, wie die lokalen Amtsträger ihrerseits indie Strategien von Klägern, Beklagten, Zeugen, Rügern, Gutachtern undAntragstellern einbezogen wurden.14 Und es steht zu untersuchen, in wel-chem Maße die Kommunikation zwischen zentralen Obrigkeiten und denverschiedenen Gruppen von Untertanen auf die Übersetzertätigkeit von lo-kalen Amtsträgern überhaupt angewiesen war. Im alltäglichen ,Betrieb' vonJustiz und Verwaltung war dies sicherlich der Fall. Die Beiträge von KarinGottschalk, Judit Pal und Christian Windler lassen freilich erkennen, dassdie Akteure sowohl in den Zentralen als auch an den Peripherien alternativeWege der Vermittlung oder des unmittelbaren Austausches suchten undfanden.

Herrschaftsverdichtung

In den Begriffen der .klassischen' Herrschaftssoziologie15 haben wir es in derfrühen Neuzeit mit mehreren Herrschaftsformen zu tun, zum einen mit derunmittelbaren, patrimonialen Herrschaft aufgrund von Herrenrecht, wie esMonarchen und Fürsten in ihren Territorien, aber auch Adlige auf ihrenGütern ausübten. Daneben trat Herrschaft aufgrund eines erblichen und/oder käuflichen Amtes, an denen der jeweilige Inhaber zwar einen Besitzti-tel besaß, das er jedoch gleichwohl in Vertretung eines abwesenden Monar-

14 REGINA SCHULTE, Bürgerliches Recht und bäuerliche Norm. Semamische Konflikt-linien im Dorf des 19. Jahrhunderts im Spiegel bayerischer Gerichtsakten, in: HEINZMOHNHAUPT u.a (Hrsg.), Vorträge zur Justizforschung. Geschichte und Theorie,Bd. 2, Frankfurt a.M. 1993, S. 405-425; WERNER TROßBACH, Raum, Zeit und Schrift.Dimensionen politisch-sozialen Handelns von Bauern in einigen Kleinterritorien (17.und 18. Jahrhundert), in: JAN PETERS (Hrsg.), Gutsherrschaft als soziales Modell.Vergleichende Betrachtungen zur Funktionsweise früh neu zeit! ich er Agrargcsellschaf-ten, München 1995, S. 405^18.

15 MAX WEBER, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie,5. Aufl., Tübingen 1976, S. 541-868; STEFAN BREUER, Entstehungsbedingungen desmodernen AnstaltsStaates. Überlegungen im Anschluß an Max Weber, in: STEFANBREUER/HUBERT TREIBER (Hrsg.), Entstehung und Strukturwandel des Staates,Opladen1982, S. 75-153.

Stefan Brakensiek

chen wahrnahm.16 Herrschaft im Rahmen eines Wahlamtes betraf dagegen inerster Linie die Adels- und Stadtrepubliken. Schließlich entstanden m wach-sendem Maße Formen delegierter Herrschaft im Auftrag eines Dritten - ei-nes Herrn, einer Republik, einer Körperschaft -, der über das originäre Her-renrecht verfügte. Es ist ein Signum der frühneuzeitlichen Epoche, dassdiese delegierten Herrschaftsformen immer wichtiger wurden.

Zugleich gilt die Frühneuzeit als eine Epoche der institutionellen Innova-tionen. Seither bedürfen Recht und Verwaltung, wollen sie Legitimität undGeltung beanspruchen, schriftlicher Formen. Mit den Schlagworten .Staats-bildung'1' und ^errechthcliung'13 hat man die miteinander verflochtenenProzesse der Ausdifferenzierung von Behörden und administrativen Verfah-ren sowie der Weiterentwicklung von rechtlichen Normen auf den Begriffbringen wollen. Hinzu trat als ein wichtiger Teil des Staatsbildungsprozes-ses die Formulierung verschiedener macht- und konfessionspolitischer''', po-

16 ILJA MlECK (Hrsg.), Ämterhandel im Spätmittelalter und im 16. Jahrhundert, Berlin1984; WOLFGANG REINHARD, Staatsmacht als Kreditproblem. Zur Struktur undFunktion des früh neuzeitlichen Ämterhandels, in: F.RNST HlNRICHS (Hrsg.), Absolu-tismus, Frankfurt a.M. 1986, S. 214-248.

17 ROLAND MOUSNIER, Les iostitutions de k France sous la monarchie absolue 1598-1789, Bd. 2: Les organes de l'etat et la societe, Paris 1980; HERMANN SCHULZ, DasSystem und die Prinzipien der Hinkünfte im werdenden Staat der Neuzeit, Berlin1982; DIETMAR WILLOWEIT, Allgemeine Merkmale der Verwaltungsorganisation inden Territorien, in: KURT G.A. Jl-SERICH/HANS POHL/GEORG-CHRISTOPH VONUNRUH (Hrsg.), Deutsche Verwaltungsgeschichte, Bd.l: Vom Spätrnittelaher bis zumEnde des Reiches, Stuttgart 1983, S. 289-360; THOMAS ERTMAN, Explaining Variati-on in Early Modern State Structure. The Gases of England and the German Territo-rial States, in: BREWER/HELLMUTH, Leviathan, S. 23-52; SHE1LAGH OGILVIE, TheState in Germany. A Non-Prussian View, in: ebd., S. 167-202; GEORG SCHMIDT, Dasfrühneuzeitliche Reich - komplementärer Staat und föderative Nation, in: HistorischeZeitschrift 273, 2001, S. 371-399; STEVE HlNDLE, The State and Social Change inEarly Modern England, c. 1550-1640, Basingstoke 2002.

18 RÜDIGER VOIGT, Verrechtlichung jrt Staat und Gesellschaft, in: DERS. (Hrsg.), Ver-rechtlichung. Analysen zu Funktion und Wirkung von Parlamentarisierung, Bürokra-tisierung und Justizinlisierung sozialer, politischer und ökonomischer Prozesse, Kö-nigstein 1980, S. 15-37; MICHAEL STOLLEIS, Geschichte des öffentlichen Rechts inDeutschland. Bd. 1: Reichspublizistik und Policeywissenschaft 1600-1800, München1988; KAI-OLAFMAIWALD, Die Herstellung von Recht. Eine exemplarische Unter-suchung zur Professionalisierungsgeschichte der Rechtsprechung am Beispiel Preu-ßens im Ausgang des 18. Jahrhunderts, Berlin 1997; SIEGRID WESTPHAL, Stand undTendenzen der Reichsgerichtsforschung, m: ANETTE BAUMANN u.a. (Hrsg.), Pro-zessakten als Quelle. Neue Ansätze zur Erforschung der Höchsten Gerichtsbarkeitim Alten Reich, Köln/Weimar /Wien 2001, S, 1-13.

19 Aus der abundanten Forschungsliteratur vgl. PAUL MÜNCH, Zucht und Ordnung.Reformierte Kirchen Verfassungen irn 16. und 17. Jahrhundert (Nassau-Dtllenburg,Kurpfalz, Hessen-Kassel), Stuttgart 1978; HEINZ SCHILLING (Hrsg.), Kirchenzuchtund Sozialdisziplinierung im frühneuzeitlichen Europa, Berlin 1994; HRIN7 SCHIL-LING, Das konfessionelle Europa. Die KonfessionaJisierung der europäischen Länder

Herrschaftschaftsvermittlung im aften Europa 9

liceylicher20 und aufklärerischer21 Agenden. Europaweit vollzogen sich dieseProzesse phasenverschoben: Die Ausgestaltung der Institutionen ,Adminis-tration' und ,Recht' durch die Produktion von Agenden, Normen und Ver-fahren eilte der personellen Verstärkung der Apparate regelmäßig voraus.Zwar wurden die Behörden und Gerichte in den Hauptstädten und Adelsre-sidenzen schubweise personell aufgestockt, mancherorts expandierten auchdie Provinzialbehörden, ein entsprechender Ausbau der Lokalverwaltungunterblieb jedoch zumeist. Vor Ort beließ man es häufig bei den bereits irnSpätmittelalter geschaffenen Exekutivorganen,22 Um die zeitgenössische Staats-Metaphorik aufzugreifen: Der politische Körper verfügte zwar über einenmächtigen Kopf und einen wachsenden Rumpf, der allerdings mit schwäch-lichen Gliedmaßen ausgestattet war. Die Historiographie hat nicht zuletztdeshalb in den letzten Jahren in Abkehr vom Absolutismus-Paradigma dieDurchsetzungsschwäche des frühneuzeitlichen Fürstenstaates betont." Diese

seit Mitte des 16. Jahrhunderts und ihre Folgen für Kirche, Staat, Gesellschaft undKultur, in: JOACHIM BAHLCKE/ARNO STROHMEYER (Hrsg.), Konfessionalisierungin Ostmitteleuropa. Wirkungen des religiösen Wandels im 16. und 17. Jahrhundert inStaat, Gesellschaft und Kultur, Stuttgart 1999, S. 13-62; KASPAR VON GREYERZ, Re-ligion und Kultur. Europa J 500-1800, Göttingen 2000.

20 HANS MAIER, Die ältere deutsche Staats- und Verwaltungslehre (Polizeiwissen-schaft). Ein Beitrag zur Geschichte der politischen Wissenschaft in Deutschland,2. Aufl., München 1980; KARL HÄRTER, Entwicklung und Funktion der Policeyge-setzgebung des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Naton im 16. Jahrhundert, in:Ins Commune 20, 1993, S. 61-141; MATTHIAS WEBER, Die schlesischen Polizei- undLandesordnungen der Frühen Neuzeit, Köln 1996; KARL HÄRTER (Hrsg.), Reperto-rien der Policeyordnungen der frühen Neuzeit, bisher 5 Bde., Frankfurt a.M. 1996—2004; ANDREA ISELI, Bonne Police. Frühneuzeitliches Verständnis von der gutenOrdnung eines Staates m Frankreich, Tübingen 2003; THOMAS SIMON, „Gute Poh-cey". Ordnungsieitbilder und Zielvorstellungen politischen Handelns in der FrühenNeuzeit, Frankfurt a.M. 2004.

21 GÜNTHER BlRTSCH (Hrsg.), Der Idealtyp des aufgeklärten Herrschers; Hamburg1987; WERNER TROfSBACH, Der Schatten der Aufklärung. Bauern, Bürger und Illu-minaten in der Grafschaft Wied-Ncuwied, Fulda 1991; ISABEL V. HÜLL, Sexuaüty,state, and civil society in Germany, 1700-1815, Ithaca 1996; ANDRE HOLENSTEIN,„Gute Policey" und lokale Gesellschaft im Staat des Anden Regime. Das Fallbeispieider Markgrafschaft Baden(-Durkch), 2 Bde, Tübingen 2003.

22 STEFAN BRAKENSIEK, Artikel „Amtmann", in: Enzyklopädie der Neuzeit, Bd. l, 2005.23 GERHARD OBSTREICH, Strukturprobleme des europäischen Absolutismus, in: Viertel-

jahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 55, 1968, S. 329-347; PETER BAUM-GART, Wie absolut war der preußische Absolutismus?, in: MANFRED SCHLENKE(Hrsg.), Preußen. Beiträge zu einer politischen Kultur, Berlin 1981, S. 89-105; NICHO-LAS HENSHALL, The myth of absolutism. Change and continuity in early modern Eu-ropean monarchy, London 1992; RONALD G. ASCH (Hrsg.), Der Absolutismus - EinMythos? Strukturwandel monarchischer Herrschaft in West- und Mitteleuropa (ca.1550-1700), Köln 1996; ERNST HlNRICHS, Fürsten und Mächte. Zum Problem deseuropäischen Absolutismus, Göttingen 2000.

10 Stefan Brakensiek

Perspektive ist geeignet, der ehedem hart konturierten Differenz zwischenstände- und fürstenstaatlich verfassten Regionen Europas etwas von ihrerSchärfe zu nehmen.24 Die Beiträge befassen sich nicht ausschließlich mit demHandeln von Amtsträgern der Fürstenstaaten (siehe dazu vor allem KarinGottschalk und Stefan Brakensiek), sondern auch mit dem Personal großerAdelsherrschaften bzw. adliger Selbstverwaltungsorgane {Christian Wind-ler, Josef Hrdlicka und Andräs Väri) sowie mit städtischen Magistraten (Ju-dit Pal und Gudrun Andersson) und dörflichen Amtsträgern (LaurenceFontaine, Pavel Himl und Steve Hindle).

Angesichts ihrer personellen Schwäche auf lokaler Ebene stellte sich für dieAmtsträger in den frühmodernen Staaten und Adelsherrschaften die Frage,wie sie dafür sorgten, dass ihren Anordnungen Folge geleistet wurde. Vonstrategischer Bedeutung waren dafür die kommunalen Autoritäten - die städ-tischen Magistrate und die Dorfvorsteher - die zwar ihrerseits von den Fürstenund deren Amtsträgern in vielen Hinsichten abhingen, ohne deren Koopera-tion jedoch auch ,kein Staat zu machen' war." Erst die Analyse des Dreiecks-verhältnisses zwischen den zentralen Autoritäten, ihrem eigenen Herrschafts-personal und den kommunalen Amtsträgern ermöglicht es, die spezifischeFunktionsweise des frühmodernen Herrschaftssystems zu erfassen.

Für die wachsende Einbeziehung von kommunalen Magistraten undAmtsträgem in den frühmodernen Staat hat sich in Deutschland der Begriff„beauftragte Selbstverwaltung"2'', in Großbritannien die Bezeichnung „self-

24 OTTO HlNTZE, Typologie der ständischen Verfassungen des Abendlandes, in: DERS.,Staat, S. 120-139; DERS., Die Wurzeln der Kreisverfassung in den Ländern des nord-östlichen Deutschland, in: ebd., S. 186-215; JOACHIM BAHLCKE, Die böhmischeKrone zwischen staatsrechtlicher Integrität, monarchischer Union und ständischemFöderalismus. Politische Entwicklungslinien irn böhmischen Ländcrverband vom 15.bis zum 17. Jahrhundert, in: THOMAS FRÖSCHE (Hrsg.), Föderationsmodellc undUnionsStrukturen. Über Staatenvcrbindungen in der frühen Neuzeit vom 15. zum18. Jahrhundert, Wien/München 1994, S. 83-103; WOLFGANG NEUGEBAUER, Raum-typologie und Ständeverfassung. Betrachtungen zur vergleichenden Verfassungsge-schichte am ostmitteleuropäischen Beispiel, in: JOACHIM BAHLCKE/HANS-JÜRGENBÖMELBURG/NORBERT KERSKEN (Hrsg.), Ständefreiheit und Staatsgestaltung inOstmitteleuropa. Übernationale Gemeinsamkeiten in der politischen Kultur vom 16.-18. Jahrhundert, Leipzig 1996, S. 283-310.

25 KLAUS SCHREINER/ULRICH MEIER (Hrsg.), Stadtregiment und Bürgerfreiheit.Handlungsspielräume in deutschen und italienischen Städten des Späten Mittelaltersund der Frühen Neuzeit, Göttingen 1994; WOLFGANG MAGER, Genossenschaft, Re-publikanismus und konsensgestütztes Ratsregiment. Zur Konzeptionalisierung derpolitischen Ordnung in der mittelalterlichen und frühneuzeitÜchen deutschen Stadt,in: LUISE SCHORN-SCHÜTTE (Hrsg.), Aspekte der politischen Kommunikation imEuropa des 16. und 17. Jahrhunderts. Politische Theologie - Res Publica-Verständnis -konsensgestützte Herrschaft, München 2004, S. 13-122.

26 LUISE WlESE-SCHORN, Von der autonomen zur beauftragten Selbstverwaltung. DieIntegration der deutschen Stadt in den Territorial Staat am Beispiel der Verwaltungsge-

Herrschaftschaftsvermittlung im alten Europa 11

government at the prince's command"27 eingebürgert. Das kommunale Perso-nal entstammte zumeist der jeweiligen lokalen Honoratiorenschaft und er-gänzte sich durch Kooptationsverfahren, bedurfte allerdings überwiegendfürstlicher Bestätigung. Die aus solcher Rekrutierung resultierende enge Ver-flechtung von sozialer Hierarchie und Ämterhierarchie limitierte die Verfüg-barkeit kommunaler Honoratiorenverwaltungen für die Zentralen in systema-tischer Weise. Sollten sich die Magistrate die zentralen Agenden zu Eigenmachen, setzte das eine gewisse Iiiteressenkonvergenz voraus, wobei dieseKonvergenz materielle Vorteile, Einfluss, Prestige und Moral betreffen konn-te. Zwar sparten die zentralen Obrigkeiten die beträchtlichen Mittel ein, dieeine tief gestaffelte, bis in die entferntesten Orte reichende Behördenhierarchieerfordert hatte. Dafür war der Preis zu entrichten, dass die ehrenamtlich täti-gen kommunalen Amtsträger die Autorität und die Machtmittel des Staateszur Durchsetzung der eigenen materiellen und immateriellen Interessen nutz-ten.2

Und doch sind in vielen Ländern Europas Prozesse der Herrschaftsver-dichtung zu beobachten, für die mehrere Faktoren maßgeblich sind: Erstenserbrachte Herrschaftsvermittlung - insbesondere die Gerichtsbarkeit - durchAmtsträgcr der Herrschaft regulative Leistungen für die lokalen Gesellschaf-ten, die zu einer grundsätzlichen Akzeptanz der Obrigkeit beitragen konnten.Diese Akzeptanz beruhte vor allem darauf, dass der Fürst bzw. seine Vertreterals unabhängige Schiedsrichter angerufen werden konnten, die aufgrund ihrerherausragenden Stellung lokalen Konflikten enthoben waren.2' Das setztefreilich Erreichbarkeit, Zugänglichkeit, Bezahlbarkeit und relative Verlä'ss-lichkeit der Gerichte und Behörden voraus, Erbrachten andere Organisatio-nen (beispielsweise ständische Behörden30 oder Rechtsfakultäten31) diese

schichte von Osnabrück und Göttingen in der frühen Neuzeit, in: Osnabrücker Mit-teilungen 82, 1976, S. 29-59.

27 STEVE HINDLE, County Government in England, in: NORMAN L. JONES/ROBERTL, TlTTLER (Hrsg.), Blackwell Compamons to Entish History. A Compamon to Tu-dor Britain, Oxford 2004, S. 98-115, hier S. 101.

28 Gedanke zuerst entwickelt bei: HERMANN REBEL, Peasant Classes. The Bureaucrati-zation of Property and Farnily Relations under Early Habsburg Absolutism 1511-1636, Princeton 1983.

29 Vgl. SABINE ULLMANN, Landesherr und Kaiser im Spiegel eines Zeugenverhörs desReichshofraies aus den Jahren 1575-1579, in: FUCHS/SCHULZE, Wahrheit, S. 257-290.

30 Das galt in erster Linie für Ostmitteleuropa. Vgl. hierzu WERNER BUCHHOLZ, Öf-fentliche Finanzen und Finanzverwaltung im entwickelten frühmodernen Staat. Lan-desherr und Landstände in Schwedisch-Pommern 1720-1806, Köln/Weimar/Wien1992; HERBERT KÜPPER, Autonomie im Einheitsstaat. Geschichte und Gegenwartder Selbstverwaltung m Ungarn, Berlin 2002.

31 PETER MICHAEL HAHN, Die Gerichtsbarkeit der ausländischen Gesellschaft imZeitalter des „Absolutismus". Die Gutachtertätigkeit der Helmstedter Juristenfakultätfür die brandenburg-preußischen Territorien 1675-1710, Berlin 1989.

12 Stefan Brakensiek

Leistungen, ging das Legitimität stiftende Momentum für die monarchischeoder fürstliche Spitze verloren. Dort, wo keine externe Organisation regu-lative Funktionen erfüllte, waren die Gemeinden auf sich selbst verwiesenund entwickelten die eigenständige Jurisdiktion (Dorf- und Stadtgerichte,Landsgemeinden, Familien- und Clanversammlungen etc.) entsprechendweiter.32

Zweitens perfektionierten die Herrschaften vielfach die KontroIImecha-nismen, um das eigene Vertrauen und das Vertrauen ,des Publikums' in dieFunktionsweise der Behörden und Gerichte zu steigern.33 Das erfolgte etwadurch Einrichtung zentraler Aufsichts- und RevisionsBehörden, die zu re-gelmäßigen Visitationen, Rechnungsabhörungen und stichprobenhafrenKontrollen berechtigt und verpflichtet waren.3J Des Weiteren wurden zumTeil behördliche ParalJelstrukturen (mit aus Kostengründen meist ehrenamt-lich tätigen Amtsträgern) geschaffen, so dass sich die Organisationen gegensei-tig überwachten." Und schließlich eröffnete man fest institutionalisierteKommunikationswege, auf denen Beschwerden, Suppliken und Gnadenge-

32 THOMAS RUDERT, Gutsherrschaft und ländliche Gemeinde. Beobachtungen zum Zu-sammenhang von gemeindlicher Autonomie und Agrarverfassung in der Obcrlausit7im 18. Jahrhundert, in: PETERS, Gucsherrschaft, S. 197-218; PETER BUCKLE, Wiemodern war die alteuropäische Stadt? Überlegungen zur Tradition des Verfassungs-patriotismus, fn: PETER BLICKLE/ANDREAS SCHMAUDER (Hrsg.), Die Mediarisie-rung der oberschwäbischen Reichsstädte im europäischen Kontext, Epfcndorf 2003,S. 291-297; GUDRUN GERSMANN, Orte der Kommunikation, Orte der Auseinander-setzung. Konfliktursachen und Konfliktverläufe in der frühneuzeitlichen Dorfgeself-schaft, m: ERIKSSON/KRUG-RICHTER, Streitkulturen, S. 249-268; ANDREAS SUTER,Vormoderne und moderne Demokratie in der Schweiz, in: Zeitschrift für HistorischeForschung 31/2, 2004, S. 231-254.

33 SHMUEL NOAH EISENSTADT/Luis RONIGER, The construction of trust in the socialOrder and its ambivalences: viewed from the dcvclopment of sociological theory, in:DIESELBEN (Hrsg.), Patrons, Clients and Friends. Interpersonal Relations and theStructure of Trust m Society, Cambridge 1984, S. 19-28; UTE FREVERT (Hrsg.), Ver-trauen. Historische Annäherungen, Göttingen 2003.

34 BERND WUNDER, Zum Problem der Kontrolle der Dienerschaft im 18. Jahrhunden,in; WERNER PARAVICINI/KARL FERDINAND WERNER (Hrsg.), Histoire compareede l'Administration (IV-XVIir siecles), München 1980, S. 182-187; ANDRE HO-LENSTEJN, „Local-Untersuchung" und „Augenschein". Reflexionen auf die Lokalitätim Vcrwaltungsdenken und -handeln des Ancicn Regime, in: WerkstattGeschichte 16,1997, S. 19-31; HEINZ SCHILLING (Hrsg.), Institutionen, Instrumente und Akteuresozialer Kontrolle und Disziplinierung im frühneuzeitlichen Europa, Frankfurt a.M.1999; THOMAS KLINGEST!., Ein Stand für sich? Lokale Amtsträger in der FrühenNeuzeit. Untersuchungen zur Staatsbildung und Gesellschaftsentwickiung im Hoch-stift Hildesheim und im älteren Fürstentum Wolfcnbüttel, Hannover 2002, S. 99-140(politische Visitationen).

35 Vgl. dazu den Beitrag von Christian Windler in diesem Band.

Herrschaftschaftsvermitllung im alten Europa 13

suche36 sowie Denunziationen37 von Untertanen unmittelbar an die Herr-schaft oder die zuständigen zentralen Behörden gelangten. Dadurch konn-ten die in der Ämterhierarchie angelegten Schaltstellen situativ überbrücktwerden, wodurch ein beachtliches Drohpotential für allzu selbstherrlicheHerrschaftsvermittler aufgebaut wurde.

Drittens beruhte die Funktionsweise frühneuzeitlicher Politik, Recht-sprechung und Verwaltung - und das .Wachstum der Staatsgewalt' - nichtallein auf Organisationen und ihren rechtlichen und administrativen Verfah-ren, sondern auch auf persönlichen Loyalitäten, die ihrerseits als Verwandt-schaft/8 Freundschaft," Landsmannschaft, Konfessionszugehörigkeit10 oder

36 HELMUT NEUHAUS, Supplikationen als landcsgcschichtliche Quellen. Das Beispielder Landgrafschaft Hessen im 16. Jahrhundert, in: Hessisches Jahrbuch für Landesge-schichte 28, 1978, S. 110-190,29, 1979, S. 63-97; NATALIE ZEMON DAVIS, Der Kopfin der Schlinge. Gnadengesuche und ihre Erzähler, Berlin 1988; ROBERT M U CHEM B LED,Le tcmps des supplices. De l'obeissance sous les rois absolus. XV'-XVIIF siecles,Paris 1992; BEAT K UM IN/A NDR E AS WÜRGLER, Petitions, Gravamina and the earlymodern state: local influcnce on central legislation m England and Germany (Hesse),in: Parliamcnts, Estates and Representation, Aldershot 1997, S. 39-60; ROSI FUHR-MANN/BEAT KÜMIN/ANDREAS WÜRGLER, Supplizicrende Gemeinden. Aspekte ei-ner vergleichenden Queilenbetrachtung, in: BLICKLE, Gemeinde, S. 267-323; RENATEBLICKLE, Supplikationen und Demonstrationen. Mittel und Wege der Partizipationim bayerischen Territorialstaat, in: WERNER RÖSENER (Hrsg.), Kommunikation inder ländlichen Gesellschaft vom Mittelalter bis zur Moderne, Göttingen 2000, S. 263-317; RALF-PETER FUCHS/WINFRIED SCHULZE, Zeugenverhöre als historische Quel-len - einige Vorüberlegungen, in: FUCHS/SCHULZE, Wahrheit, S. 7-40; ANDREHOLENSTEIN, Klagen, anzeigen und supplizieren. Kommunikative Praktiken undKonfliktlösungsverfahren in der Markgraf schaft Baden im 18. Jahrhundert, in: ERIKS-SON/KRUG-RICHTER, Streitkulturen, S. 335-369.

37 ARLETTE FARGE/MlCHEL FOUCAULT, Le Desordre des familles. Lettres de cachetdes Archives de la Bastille, Paris 1982; ANDRfi HOLENSTEIN, Normen und Praktikender Anzeige in der Markgrafschaft Baden-Durlach in der zweiten Hälfte des 18. Jahr-hunderts, in: MICHAELA HOHKAMP/CLAUDIA ULBRICH (Hrsg.), Der Staatsbürgerals Spitzel. Denunziation während des 18. und l9. Jahrhunderts aus europäischer Per-spektive, Leipzig 2001, S. 111-146; MICHAELA HOHKAMP/CHRISTIANE KOHSER-SPOIIN, Die Anonymisierung des Konflikts. Denunziationen und Rechtfertigungenals kommunikativer Akt, in: ERIKSSON/KRUG-RlCHTER, Streitkulturen, S. 389-416.

38 GlOVANNA BENADUSI, Rethinking the state. Family strategies in early modern Tus-cany, in: Social History 20, 1995, S. 157-178; WOLFGANG REINHARD/WOLFGANGWEBER, Power elites of Augsburg and Romc, 1500-1600. Experiences with prosopo-graphkal researth, in: JEAN-PHILIPPE GENET/GÜNTHER LOTTES (Hrsg.), L'£tatmoderne et les elites. XHI'-XVIir siecle. Apports et limites de k methode prosopo-graphique, Paris 1996, S. 213-231; JUAN L. CASTELLANO/jEAN-PlERRE DEDIEU,Reseaux, familles et pouvoirs dans le mondc iberiquc ä la fin de l'Ancicn Regime, Paris1998.

39 Zum emphatischen -Freundschaftsverständnis des 18. Jahrhunderts vgl. ECKHARDTMEYER-KRENDTLER, Freundschaft im 18. Jahrhundert. Zur Einführung in die For-schungsdiskussion, in: WOLFRAM MAUSER/BARBARA BECKEK-CANTARINO (Hrsg.),

14 Stefan Brakensiek

Patronage den Charakter einer gesellschaftlichen Institution tragen konn-ten.41 Herrschafts Verdichtung erfolgte somit oftmals nicht durch den unsvertrauten Ausbau von Bürokratien, sondern durch Aneignung und Anver-wandlung von vorgelagerten sozio-kulturelÜen Institutionen. Somit setztesich der frühmoderne Staat nur zum Teil aus inkorporierten Institutionali-sierungen (vor allem Recht und administrative Verfahren) zusammen, zuguten Teilen wurde er aus ganz anderen gesellschaftlichen Institutionen er-richtet. Entsprechend sahen sich zahlreiche gliedere' Amtsträger frühneu-zeitlicher Herrschaften veranlasst, eine Vielfalt informeller Beziehungen zuPersonen in der höfischen Sphäre und in ihrer lokalen Umgebung aufzubau-en und zu pflegen, um ihre AmtsstelJung im Sprengel abzusichern und ihrenAnweisungen den nötigen Nachdruck zu verleihen. Wie Andräs Van her-ausarbeitet, konnten informelle Verständigungsprozesse nicht nur Systemstabilisierende, sondern eventuell sogar Effizienz steigernde Effekte zeiti-gen."12 Allgemein lassen sich wesentliche Bestandteile der politischen Kulturdes frühneuzeitlichen Europa erschließen, wenn geklärt wird, in welcherWeise formale Verfahren und personale Beziehungen bei der Herbeiführungund Durchsetzung von Entscheidungen zusammen spielten, gegeneinanderwirkten und sich wechselseitig durchdrangen.

Frauenfreundschaft - Männerfreundschaft. Literarische Diskurse im 18. Jahrhundert,Tübingen 1991, S. 1-22. Zur Freundschaft als sozio-kultureller Institution vgl. L.YNNJOHNSON, Friendship, Coercion, and Intcrcst: Debating thc Foundations of Justicein Early Modern England, in: Journal of Early Modern History 8/1, 2004, S. 46-64sowie den Artikel von Heiko Droste in diesem Band.

40 WOLFGANG REINHARD, Oligarchische Verflechtung und Konfession in oberdeut-schen Städten, in: ANTONI MACZAK (Hrsg.), Klientelsysteme im Europa der FrühenNeuzeit, München 1988, S. 47-62.

41 HELMUT SCHELSKY, Zur soziologischen Theorie der Institution, in: DERS. (Hrsg.),Zur Theorie der Institution, Düsseldorf 1970, S. 10-26; GERT MELVILLE, Institutio-nen als geschichtswissenschaftliches Thema. Eine Einleitung, in: DERS. (Hrsg.), Insti-tutionen und Geschichte. Theoretische Aspekte und mittelalterliche Befunde, Köln1992, S, 1-24; GERHARD GÖHLER, Politische Institutionen und ihr Kontext. Begriff-liche und konzeptionelle Überlegungen zur Theorie politischer Institutionen, In:DERS. (Hrsg.), Die Eigenart der Institutionen. Zum Profil politischer Institutio-nentheorie, Baden-Baden 1994, S. 19-46; KARL-SIEGBERT REHBERG, Institutionenals symbolische Odnungen. Leitfragen und Grundkategorien zur Theorie und Analy-se institutioneller Mechanismen, in: ebd., S. 47-84; GERHARD GÖHLER, Der Zu-sammenhang von Institution, Macht und Repräsentation, in: DERS. u.a. (Hrsg.), Insti-tution - Macht - Repräsentation. Wofür politische Institutionen stehen und wie siewirken, Baden-Baden 1997, S. 13-62; REINHARD BLÄNKNER, Überlegungen zürnVerhältnis von Geschichtswissenschaft und Theorie politischer Institutionen, in: ebd.,S. 85-122.

42 HANS-ULRICH DERLIEN, Theoretische und methodische Probleme der Beurteilungorganisatorischer Effizienz der Öffentlichen Verwaltung, in: Die Verwaltung 7, 1974,S. 1-22.

Herrschaftschaftsvermittlung im alten Europa 15

Herrschafts praktiken

Bei der Untersuchung der gesellschaftlichen Institutionen, die für die Funk-tionsweise von frühneuzcitlicher Politik und Verwaltung bedeutsam waren,nehmen ^lientclismus' und .Patronage' seit langem besonders prominentePositionen ein.4' Allerdings konzentriert sich die Patronage-Forschung bis-lang zum einen auf den mediterranen Raum44 und die Alpengebiete"", zum

43 Zum Konzept vgl. VERENA BURKOLTER, The Patronage System. Theoretical Re-marks, Basel 1976; SHMUEL NOAH ElSENSTADT/RENE L-EMARCHAND (Hrsg.), Po-litical Clicntelism, Patronage and Development, Beverly Hills 1981; SHMUEL NOAHElSENSTADT/LUIS RONIGER, Personal relations, crust and ambivalence m relation tothc institutional order, in: DIES-, Patrons, S. 1-18; HANS-HEINRICH NOLTE, Patro-nage und Klientel: Das Konzept in der Forschung, in: DERS. (Hrsg.), Patronage undKlientel. Ergebnisse einer polnisch-deutschen Konferenz, Köln 1989, S. 1-17; CHARLESGlRY-DELOISON, Introduction, in: CHARLES GlRY-DELOISON/ROGER METTAM(Hrsg.), Patronages er clientelismes 1550-1750 (France, Angleterre, Espagne, Italic),Lilie 1995, S. 11-18; GUNNAR LIND, Great Friends and Srnall Friends. Clientelismand the Power Elite, in: REINHARD, Power Elites, S. 123-147. Die Denkfigur findetmitderweile auch in Zusammenhängen Verwendung, wo man sie bis vor Kurzemnicht vermutet hätte, zum Beispiel beim bäuerlichen Widerstandshandeln oder in Zu-sammenhang mit der Frage, wem Wohlfahrtsleistungen zu Gute kamen: DAVIDMARTIN LUEBKE, His Majesty's Rebels. Communities, Factions, and Rural Revolt inthe Black Forest, 1725-1745, Ithaca 1997; DOUGLAS HAY, Patronage, Paternalism,and Weifare: Masters, Workers, and Magistrates in Eighteenth-Century England, in:International Labor and Working-Class History 53,1998, S. 27-48.

44 ERNEST GELLNER/JOHN WATERBURY (Hrsg.), Patrons and Clients m Mediterra-nean Societies, London 1977; WOLFGANG REINHARD, Freunde und Kreaturen.„Verflechtung" als Konzept zur Erforschung historischer Führungsgruppen. Römi-sche Oligarchie um 1600, München 1979; EDUARDO GRENDI, The Political Systemof a Community in Liguria. Cervo in the Late Sixteenth and Early Seventeenth Cen-turies, in: EDWARD MUIR/GUIDO RUGGIERO (Hrsg.), Microhistory of the LostPeoples of Europe. Selections frorn Quadern! Storici, Baltimore 1991, S. 119-158;CHRISTIAN WINDLER, Lokale Eliten, seigneurialer Adel und Reformabsolutismus mSpanien (1760-1808), Das Beispiel Niederandalusien, Stuttgart 1992; SlMONA CE-RUTTI, Clientele et confiancc. Les confhts entre le gouvernement cemral et les elitesurbaines ä Turin aux XVIIe et XVIIIe siecles, in: GlRY-DELOISON/METTAM, Patro-nages, S. 149-164; CHRISTIAN WINDLER, Beziehungen mäkeln. Gemeinde und kö-nigliche Gerichte in Spanien im ausgehenden Ancicn Regime, in: Zeitschrift für His-torische Forschung 24/1, 1997, S. 53-87; DERS., Clienteies royales et clienrelesseigneuriales vcrs la fin de l'ancien rcgime. Un dossier espagnol, in: Annales. Histoire,Sciences Sociales 2, 1997, S. 293-319.

45 HARRIET G. ROSENBERG, A negotiated world. Three centuries of change in a FrenchAlpine Community, Toronto/Buffalo/London 1988; ULRICH PFISTER, PolitischerKlientelismus in der frühneuzeitlichen Schweiz, in: Schweizerische Zeitschrift fürGeschichte 42, !992, S. 28-68; LAURENCE FONTAINE, Migration and Work in theAlps (17—18 Centuries). Family Strategies, Kinship, and Clientelism, in: The His-tory of the Family 3, 1998, S. 351-369.

16 Stefan Brakensiek

anderen auf die höfische Sphäre,"' Dagegen ist für die Habsburger Monar-chie und das Alte Reich praktisch ungeklärt, welche Bedeutung Patronage inEntscheidungsprozessen erlangte, in welche Bereiche des politischen, admi-nistrativen und justiziellen Handelns sie hineinwirkte und in welche nicht.'17

Zur Klärung dieser Fragen liefern mehrere Beiträge des Bandes konzeptio-nelle und empirische Antworten.

Heiko Droste hat deutschsprachige Erziehungsschriften, Briefsteller undethische Traktate des 17. und 18. Jahrhunderts sowie einige zeitgenössischeKorrespondenzen von Diplomaten daraufhin untersucht, welcher Habituseine Person als Klienten geeignet erschienen ließ. Mark Hengerer stellt amBeispiel des Wiener Hofes kritische Überlegungen an, inwieweit sich Patro-nage überhaupt systematisch von anderen Institutionen (vor allem ,Ver-wandtschaft1 und ,amtlichen Verfahren') unterscheiden und analytisch nut-zen lässt. Und Vaclav Büzek leuchtet die Bedeutung der Institution „guteFreundschaft" innerhalb der böhmischen Adelswelt des 16. und 17. Jahr-hunderts aus. Dabei handelte es sich um ein Bündel von verbindlichen Ver-haltensweisen, die in erster Linie innerhalb adliger Familienverbände üblichwaren, die jedoch auf Beziehungen unter nicht-verwandten Personen aus-geweitet werden konnten. Alle drei Beiträge verdeutlichen, dass sich sozio-kulturelle Institutionen wie .Verwandtschaft', ,Patronage' oder Freund-schaft' aus ganzen Ensembles von habitualisierten Verhaltensweisen undentsprechenden Verhaltenserwartungen zusammensetzten und dass die stän-dig ablaufenden Prozesse der Entstehung, Umgestaltung und Auflösungvon sozio-kulturellen Institutionen mit dem Transfer, der Re-Kombination

46 ROLAND MULINIER, Les concepts d'„ordres", d'„etats", de „fidelite" et de „monar-chie absolue" en France de la fin du XV siede ä la fin du XVIir, in: Revue Histori-que 247, 1972, S, 289-312; DERS., Les fidelites et les clienteles en France aux XVI1',XVIF, et XVIir siecles, in: Histoire sociale 15, 1982, S. 35-46; SHARON KETTERING,Patrons, Brokers, and Clients in Seventeenth-Century France, New York-Oxford1986; DIES., The Historical Development of Political Clientelism, in: Journal of Inter-disciplinary History 18/3, 1988, S. 419-447; DIES., Patronage in Eariy Modern France,in: French Historical Studies 17/4, 1992, S. 839-862; RONALD G. ASCH (Hrsg.),Princes, patronage, and the nobihty. The court at the beginning of the modern age, c.1450-1650, Oxford 1991; ARLETTE JOUANNA, Des reseaux d'amitie aux clientelescentrah'sees: les provinces et ia cour {France, XVF-XVir siecle), in: GlRY-DELOISON/METTAM, Patronages, S. 21-38; CHRISTIAN WINDLER, Städte am Hof.Burgundische Deputierte und Agenten in Madrid und Versailles (16.-18. Jahrhun-dert), in: Zeitschrift für Historische Forschung 30/2, 2003, S. 207-250.

47 VOLKER PRESS, Patronat und Klientel im Heiligen Römischen Reich, in: MACZAK,Klientelsysteme, S. 19-46; MARK HENGERER, Macht durch Gunst? Zur Relevanzvon Zuschreibungen am frühneuzeitlichen Hof, in: VACLAV BÜ2EK/PAVEL KRAL(Hrsg.), Slechta v habsburskc monarchü a cfsarsky dvur (1526-1740), Ceske Budejovice2003, S. 67-100; DERS., Kaiserhof und Adel in der Mitte des 17. Jahrhunderts. Eine Mik-rogeschichte der Macht m der Vormoderne, Konstanz 2004.

Herrschaftschaftsvermittlung im alten Europa 17

und dem Bedeutungswandel einzelner Praktiken einherging, ja dass mandiese historischen Institutionalisierungsprozesse auch als, einen Wandel derPraxisformen beschreiben kann.

In dieser Perspektive erscheint die Analyse der individuellen Verhal-tensweisen von Akteuren sinnvoll, wenn geklärt werden kann, inwieweit essich dabei um habitualisierte Praktiken handelte, die in bestimmten typi-schen Problemlagen immer wieder zur Anwendung kamen.48 Die Untersu-chung der konkreten Nutzung solcher Praxisformen sowie die Bestimmungihres jeweils spezifischen Gewichts innerhalb von Institutionen bieten Mög-lichkeiten des Vergleichs auch zwischen weit voneinander entfernt liegendenRegionen mit unterschiedlicher Herrschaftsverfassung und variierenden po-litischen Entwicklungswegen.49 Zu erwarten ist ja zunächst, dass sich diePraktiken und die Ausprägungen der Institutionen von Region zu Regiondeutlich unterschieden. Möglicherweise lassen sich gleichwohl zu bestimm-ten Zeiten in weiten Teilen Europas recht ähnliche Praktiken in der Kom-munikation zwischen den Inhabern unmittelbarer Herrschaftsrechte, Herr-schaftsvermittlern und Untertanen feststellen.

Wie das Handeln lokaler Herrschaftsvermittler im Feld behördlicherDienstverhältnisse und informeller Beziehungen interpretiert werden kann,darüber geben die Beiträge von Josef Hrdlicka zur adligen Herrschaf tsver-waltung im südlichen Böhmen, von Andras Väri zum Komitat Szatmär imöstlichen Ungarn, von Laurence Fontaine zu den königlichen und den ge-meindlichen Amtsträgern in der Dauphine und von Christian Windler zurRechtsprechung und Administration auf dem adligen Großgrundbesitz inAndalusien Auskunft. Diese Beiträge legen den Gedanken nahe, dass in derzweiten Hälfte des 17. und im frühen 18. Jahrhundert die Kulturformen derPatronage50 europaweit bis in die kleinstädtische und dörfliche Lebensweltvorgedrungen waren. Sie deuten Patronage nicht ausschließlich instrumen-tell, sondern nehmen sie als eine soziale und kulturelle Praxis wahr, die derHerrschaftsvermittlung eine spezifische Sprache und Färbung gab und den

48 Gundlegung bei PIERRE BOURD1EU, Le sens pratique, Paris 1980; ANTHONY GlD-DENS, The Constituuon of Society. Outline of the Theory of Structuration, Cam-bridge 1984.

49 HARTMUT KAELBLE, Der historsche Vergleich. Eine Einführung zum 19. und 20.Jahrhundert, Frankfurt/New York 1999; Chris Lorenz, Comparative Historiography:Problems and Perspectives, in: History and Theory 38, 1999, S. 25-39; MATTHIASM1DELL (Hrsg.), Kulturtransfer und Vergleich, Leipzig 2000; JÜRGEN OSTERHAM-MEL, Geschichtswissenschaft jenseits des Nationalstaats. Studien zu Beziehungsge-schichte und Zivilisationsvergleich, Göttingen 2001; MlCHAKL WERNER/B^NEDIC-TINE ZlMMERMANN, Penser l'iustoire crolsee: entre empirie et reflexivite, in: Annales58, 2003, S. 7-36.

50 HK1KO DROSTE, Patronage in der Frühen Neuzeit - Institution und Kulturform, in:Zeitschrift für Historische Forschung 30/4, 2003, S. 555-590.

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Prozess der frühmodernen Herrschaftsverdichtung in diesem Zeitraum, zu-sammen mit anderen Praktiken, prägte. Denn es war offenbar niemals nureine gesellschaftliche Institution, auf der Vermittlung und Verdichtung vonHerrschaft allein beruhte. So bildeten die Suche nach und die Gewährungvon Krediten unter Rittern und Herren im Böhmen des 16. Jahrhunderts ei-ne komplementäre Institution, deren Praxisformen Gelegenheit boten, Be-ziehungen unter Ungleichen auszuhandeln, zu symbolisieren und auf einegewisse Dauer zu stellen.51 Ähnliches ließe sich von der Ämterkäuflichkeitsagen, die in Frankreich, wo sie eine gängige Vergabepraxis von Amterngleich welcher Art und Bedeutung darstellte, jeglicher Autorität einen kom-merziellen Charakter verlieh. Wenn Ämterkäuflichkeit auch anderswo ge-bräuchlich war, nirgends hat sie die politische Kultur so durchdrungen wiein der französischen Monarchie.

Ausblick: Politische Kulturen im frühneuzeitlichen Europa

Damit ist der Fluchtpunkt der Untersuchungen benannt: Der vorliegendeBand kann über die spezifische Thematik hinaus als ein Beitrag zur Ge-schichte politischer Kulturen im frühneuzeitlichen Europa gelesen werden."

51 Vgl. den Artikel von Josef Hrdlicka in diesem Band; dort auch die einschlägige Litera-tur.

52 KLAUS MALETTKE, Ämterkauf und soziale Mobilität: Probleme und Fragestellungenvergleichender Forschung, in: 1)ERS. (Hrsg.), Amterkäuflichkeit: Aspekte sozialerMobilität irn europäischen Vergleich (17. und 18, Jahrhundert), Berlin 1980, S. 3-30;ROLAND MOUSNIER, La venalite des offices et la mobilite sociale en France au XVIfet au XVIII0 siecles, in: ebd., S. 33-52; HORST MOLLER, Ämterkäuflichkeit in Bran-denburg-Preußen im 17. und 18. Jahrhundert, in: ebd., S. 156-176; GERHARD SÄL-TER, Amterkäuflichkeit und öffentliche Ordnung. Zur Ökonomie des Ämtcrhandclsbei Polixcibediensteten, Gerichtsdienern der Chätelet und Soldaten der städtischenWache in Paris um 1700, in: HOLENSTEIN/KONERSMANN/PAUSER, Policey, S. 131-149.

53 Die eine europäische Kultur, wie sie WOLFGANG REINHARD, Was ist euopaische po-litische Kultur? Versuch zur Begründung einer politischen Historischen Anthropolo-gie, in: Geschichte und Gesellschaft 27, 2001, S. 593-616 entwirft, stellt sich faktischals ein Ensemble verschiedener Praktiken dar. Das Interesse von Historikern und ih-ren Lesern richtet sich freilich eher auf die regionalen oder nationalen Spielarten, de-ren spezifischen Unterschiede zum Teil so beachtlich sind, dass die Gemeinsamkeitendagegen verblassen. Die Praktiken betreffen unterschiedliche Sachverhalte (Abschöp-fung, Rechtsprechung, Rekrutierung von Militär, Infrastruktur, Wohlfahrtsförderungetc.) und bedienen sich einer ganzen Palette von Medien (Sprachen, Symbole, Rituale,Verfahren, Mythen usf.), .Unterhalb' der .großen Erzählung' von der politischen Kul-tur Europas lassen sich andere, kleinformatige ,Kulturen* ausmachen. Vgl. dazu:J.G.A. POCOCK, The concept of a language and die metier d'historien: some consi-derations on practicc, in: ANTIIONY PAGDEN (Hrsg.), The Languagcs of political

Herrschaftschaftsvermittlung im alten Europa 19

Um zu einem umfassenderen Bild zu gelangen, bedarf es selbstverständlichder Analyse weiterer bedeutsamer politischer Handlungsfelder wie der Dip-lomatie, der Reichsinstitutionen, der Fürstenhöfe, der Stände und ihrer Ad-ministrationen und der Armeen. Auch auf lokaler Ebene ist das Spektrumpolitischer Felder bei weitem nicht abgedeckt; so fehlen Handwerkerzünfteund Kaufmannsgilden, Kirchengemeinden und Bruderschaften. Vollstän-digkeit war freilich nicht intendiert, sondern die Entfaltung einer innovati-ven Perspektive, die zur Untersuchung der anderen Handlungsfelder eben-falls mit Gewinn genutzt werden kann (und bereits genutzt wird), EineUntersuchung von Handlungsfeldern außerhalb der herrschaftlichen Appa-rate würde das Autonomie- und Partizipationspotential frühneuzeitlicherPolitik sicherlich stärker hervortreten lassen. Auch wird man den politi-schen Kulturen der frühen Neuzeit wohl nur gerecht werden, wenn diesymbolisch-rituellen Momente deutlicher herausgearbeitet würden, als esin den meisten der hier versammelten Aufsätze der Fall war (eine Ausnahmebildet der Beitrag von Gudrun Andersson).

Gleichviel, will man zu einem Bild der verschiedenen politischer Kultu-ren im frühneuzeithchen Europa gelangen, so wird man künftig politischeAgenden und kommunikative Praktiken in ihrer Verschränkung untersu-chen, Praktiken, die sich m bestimmten Zeiträumen zu gesellschaftlichen In-stitutionen verdichteten, die ihrerseits in ihrem Zusammenwirken die politi-sche Kultur einer Region, eines Landes, für einen historischen Momentvielleicht sogar des gesamten Kontinents bestimmten. Es lassen sich aber

theory in early-rnodern Europe, Cambridge u.a. 1987, S. 19-38; RUDOLF BRAUN,Staymg on Top. Socio-Cultural Rcproduction of European Power Elites, in: REIN-HARD, Power Elites, S. 235-259; STEFAN FISCH, Verwaltungskulturcn - GeronneneGeschichte?, in: Die Verwaltung. Zeitschrift für Vcrwaitungsrecht und Verwaltungs-wissenschaften 33, 2000, S. 303-323; WERNER JANN, Verwaltungskulturen im inter-nationalen Vergleich. Ein Überblick über den Stand der empirischen Forschung, in:Die Verwaltung. Zeitschrift für Verwaltungsrecht und Verwaltungswissenschaften 33,2000, S. 325-349; PETER BECKER, Überlegungen zu einer Kulturgeschichte der Ver-waltung, in: Jahrbuch für europäische Vcrwaltungsgeschichtc 15, 2003, S. 311-336;KLAUS-GERT LÖTTERBECK, Methodologische Reflexionen über eine politische Ideen-geschiente administrativer Praxis, in: ebd., S. 337-366; HANS MARTIN SlEG, Staats-dienst, Staatsdenken und Dienstgcsinnung in Brandenburg-Preußen im 18. Jahrhun-dert (1713-1806). Studien zum Verständnis des Absolutismus, Berlin 2003; HARRIETRUDOLPH, Rechtskultur in der frühen Neuzeit. Perspektiven und Erkenntnispotenti-alc eines modischen Begriffs, in: Historische Zeitschrift 278, 2004, S. 347-374.

54 BARBARA STOLLBERG-RILINGER, Zeremoniell, Ritual, Symbol. Neue Forschungenzur symbolischen Kommunikation in Spätmittelalter und Früher Neuzeit, in: Zeit-schrift für Historische Forschung 27/3, 2000, S. 389-405; MICHAEL ßRADDICK, Ad-ministrative pcrformance: the representation of political authority in early modernEngland, in: B RADDICK/WALTE R, Power, S. 166-187; JÄNOS B. SZABÖ/PETER ER-DÖSI, Ceremomes markmg the transfer of power in the Principality of Transsylvaniain East European context, in: Majestas 11, 2003, S. 111-160.

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auch die spezifischen Unterschiede zwischen verschiedenen politischen Ein-heiten genauer herauspräparieren, wie sie sich beispielsweise im Zusammen-hang der HerrschaftsVermittlung auftun zwischen den vergleichsweise klei-nen und einem hohen Homogenisierungsdruck ausgesetzten Territorien desReichs und den großen Nationalstaaten des Westens, in denen sich jederAnspruch auf herrschaftliche Durchdringung konfrontiert sah mit entmuti-gend großen regionalen Divergenzen, und schließlich mit dem multi-ethnischen Imperium der Habsburger, in dessen Rahmen ein Homogenisie-rungsanspruch von vornherein utopisch erscheinen musste - was Joseph II.bekanntlich nicht an dessen Formulierung und dem Versuch seiner Durch-setzung gehindert hat.

Möglicherweise lassen sich die politischen Kulturen im frühneuzeitlichenEuropa in einem Koordinatensystem verorten, das durch Institutionen per-sonaler Loyalität, versachlichter Amtsführung qua Verfahren und kommer-zieller Beziehungen abgesteckt werden kann. Politische Kulturen ließen sichdann als ein spezifisches Mischungsverhältnis bestimmen aus den Praktikendes Dienens und der Reziprozität (Gesten ritueller Subordination, Schenkenund Beschenktwerden, taktvolle Ehrenerweise, Anredeformen, Korrespon-denz), den üblichen Verfahrenspraktiken'6 (egalitäre Abstimmung oderständisch gestufte Entscheidung, normgerechte Rechtsfindung, Zeugenver-hör, aber auch die .kleinen Werkzeuge'57 wie Protokollführung, Rechnungs-

55 MORITZ CSÄKY/ANDREA LANZER (Hrsg.), Etatisation et bureaucratie. Symposionder österreichischen Gesellschaft zur Erforschung des 18. Jahrhundert, Wien 1990;PETER BECKER, „Kaiser Josephs Schreibmaschine". Ansätze zur Rationalisierung derVerwaltung im aufgeklärten Absolutismus, m: Jahrbuch für europäische Verwal-tungsgeschichte 12, 2001, S. 223-254; MARGRET FRIEDRICH, Gleichförmigkeit undGlückseligkeit. Zum mentalen Wandel irn Rechtsdenken des theresianischen Zeital-ters, in: FRANZ M. EYBL (Hrsg.), Strukturwandel kultureller Praxis. Beiträge zu einerkulturwissenschaftlichen Sicht des thercsianischen Zeitalters, Wien 2002, S. 112-130;ERNST WANGERMANN, Mit den Waffen der Publizität. Zum Funktionswandel derpolitischen Literatur unter Joseph II., Wien/München 2004.

56 BARBARA STOLLBERG-RILINGER, Einleitung, in: DIES., Verfahren, Berlin 2001, S. 9-24.

57 PETER BECKER/WILLIAM CLARK (Hrsg.), Linie Tools of Knowledge. Historical Es-says on Academic and Bureaucratk Practises, Ann Arbor 2001; STEFAN ESDERS/THOMAS SCHARFF, Die Untersuchung der Untersuchung. Methodische Überlegun-gen zum Studium rechtlicher Befragungs- und Weisungspraktiken in Mittelalter undfrüher Neuzeit, in: DIES., Eid, S. 11-47; MARGARETE WlTTKE, Alltag, Emotionen,Gewalt: Auswertungsmöglichkciten von Zeugenverhören der strafrechtlichen Gene-ralinquisition, in: FUCHS/SCHULZE, Wahrheit, S. 293-316; RANDOLPH HEAD,Knowing Like a State: The Transformation of Political Knowledge in Swiss Archives,1450-1770, in: The Journal of Modern History 75, 2003, S. 745-782; KARIN GOTT-SCHALK, Wissen über Land und Leute. Administrative Praktiken und Staatsbildungs-prozesseim 18. Jahrhundert, in: PETER COLLIN/THOMAS HORSTMANN (Hrsg.), DasWissen des Staates, Baden-Baden 2004, S. 149-174.

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legung und diverse Kontrolltechniken) sowie den einschlägigen kommer-ziellen Praktiken (Amterkauf, Amts- und Steuerpacht, Konzessionierung,.Nutzung' eines Amtes zum Sportelerwerb oder zur Aquisition von Diens-ten, Schmiergeldzahlung53). Die historische Dynamik ergäbe sich dann ausder Kornmunikation zwischen meist ungleichen gesellschaftlichen Akteu-ren, die bestimmte Praxisformen nutzen und dabei feststellen müssen, dassdie (möglicherweise habitualisierte) Kooperation misslingt, so dass sie zurRe-Kombination von alten Praktiken oder zu ganz neuen greifen müssen,wobei es notwendig zu Konflikten kommt. In einer derart handlungstheore-tisch fundierten Geschichte der politischen Kultur ist sowohl das Handelnder Eliten und die Partizipation der Vielen zu integrieren, ohne dass die Un-terschiede in Macht und Einfluss nivelliert werden.

58 JEAN-CLAUDE WAQUET, De la corruption. Moralc et pouvoir ä Florence aux XVIfet XVIIF siecles, Paris 1984; LINDA LEVY PECK, Court patronage and corruption inearly Stuart England, London 1990; AKIIIL GUPTA, Blurred boundaries: The dis-course of corruption, the culture of politics, and the imagined state, in: AmericanEthnologist 22/2, 1995, S. 375^02; VALENTIN GROEBNER, Angebote, die man nichtablehnen kann. Institution, Verwaltung und die Definition von Korruption am Endedes Mitrclalters, in: REINHARD BLÄNKNER/BERNHARD JUSSEN (Hrsg.), Institutio-nen und Ereignis. Über historischen Praktiken und Vorstellungen gesellschaftlichenOrdnens, Göttingen 1998, S. 163-184. Zur Bestechungspraxis in der Habsburgermo-narchic siehe den Beitrag von Judit Pal m diesem Band.