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9 2/2004 STANDARDVARIATION WIE VIEL VARIATION VERTRÄGT DIE DEUTSCHE STANDARDSPRACHE ? Bericht von der 40. Jahrestagung des Instituts für Deutsche Sprache von Stefan Kleiner und Ralf Knöbl Sprachen sind dynamisch. Veränderungsmotor des offenen Systems Sprache ist dessen Gebrauch durch Sprecher. Bekanntermaßen wird die Verstehbarkeit der Sprachverwendung durch Konventionen ge- währleistet, die gleichzeitig allerdings durch den Gebrauch aushandelbar und flexibel sind. Am An- fang des 21. Jahrhunderts kann für die standard- sprachliche Situation in Deutschland festgestellt werden, dass primär durch außerlinguistische Verän- derungen angestoßene Entwicklungen im Bereich der Verwendung Spuren im System hinterlassen. Die Standardsprache ist im Prozess, von immer mehr Sprechern in immer mehr Verwendungskontexten gebraucht zu werden. Gleichzeitig scheint der Stan- dard Siebsscher Prägung, also der kodifizierte, schriftsprachorientierte Standard, immer seltener gesprochen zu werden. Aus dieser Situation ergeben sich der Sprachwissen- schaft Fragen und Probleme: Wie kann ein Beschreibungsobjekt Standardsprache definiert wer- den, wo sind die Grenzen zwischen dem standard-

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STANDARDVARIATION – WIE VIEL VARIATION

VERTRÄGT DIE DEUTSCHE STANDARDSPRACHE ?Bericht von der 40. Jahrestagung des Instituts für Deutsche Sprache

von Stefan Kleiner und Ralf KnöblSprachen sind dynamisch. Veränderungsmotor desoffenen Systems Sprache ist dessen Gebrauch durchSprecher. Bekanntermaßen wird die Verstehbarkeitder Sprachverwendung durch Konventionen ge-währleistet, die gleichzeitig allerdings durch denGebrauch aushandelbar und flexibel sind. Am An-fang des 21. Jahrhunderts kann für die standard-sprachliche Situation in Deutschland festgestelltwerden, dass primär durch außerlinguistische Verän-derungen angestoßene Entwicklungen im Bereichder Verwendung Spuren im System hinterlassen. Die

Standardsprache ist im Prozess, von immer mehrSprechern in immer mehr Verwendungskontextengebraucht zu werden. Gleichzeitig scheint der Stan-dard Siebsscher Prägung, also der kodifizierte,schriftsprachorientierte Standard, immer seltenergesprochen zu werden.

Aus dieser Situation ergeben sich der Sprachwissen-schaft Fragen und Probleme: Wie kann einBeschreibungsobjekt Standardsprache definiert wer-den, wo sind die Grenzen zwischen dem standard-

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sprachlichen und nicht-mehr-standardsprachlichenBereich? Wie angemessen bilden vorhandene Be-schreibungen die aktuelle Sprechwirklickeit ab? Istes deutscher Sprechstandard, was in Schulen gelehrtund nicht-deutschsprachigen Deutschlernern vermit-telt wird?Solche und weitere Fragen wurden auf der diesjäh-rigen IDS-Jahrestagung, die vom 9.-11. März unterder Leitfrage »Standardvariation – Wie viel Variationverträgt die deutsche Standardsprache?« stattfand, zubeantworten versucht.

Der Begrüßung durch IDS-Direktor Ludwig M.Eichinger folgten die Grußworte vom Baden-Würt-tembergischen Wissenschaftsministerium, über-bracht durch Klaus Herberger, und von der StadtMannheim, vertreten durch KulturbürgermeisterPeter Kurz. Der geladene Vertreter der Leibniz Ge-sellschaft musste leiderkurzfristig absagen.

Den Auftakt des wis-senschaftlichen Teilsder Jahrestagung bilde-te Heinrich Löfflers(Basel) umfangreicherVersuch zur Begriffs-klärung, was unterStandard/Standardspra-che bzw. dem Nicht-Standard und der Stan-dardvariation über-haupt zu verstehen sei.Er konnte zeigen, dasses in der Germanistikzahlreiche unterschied-liche Standarddefini-tionen gibt, die sichnicht nur terminologisch, sondern auch inhaltlichdeutlich voneinander unterscheiden. Allen gemein-sam ist, dass sich Standard nicht ohne komplemen-täre Begriffe wie z.B. Umgangssprache und Dialektoder – in modernerer Fassung – Substandard undNon-Standard definieren lässt. Es wurde deutlich,dass ein allgemein gültiges Gerüst zur Gliederungeines so komplexen Gebildes wie des sprachlichenKontinuums einer lebendigen Sprache nicht existiert.So stellt sich die Frage, wie man mit der Variation imRahmen dieser linguistischen Modelle umgehen soll,d.h. bezogen auf das Tagungsthema, welche Art vonVariation noch innerhalb des Standards anzusiedelnist, welche bereits außerhalb liegt. Die Beantwortungdieser Frage ist nicht nur akademischer Natur, son-dern hat auch ganz konkrete Auswirkungen u.a. fürdie Duden-Redaktion.

Auch der Tagungsvortrag von Ulrich Ammon (Duis-burg) hat einleitend versucht, die recht diffuse Termi-nologie-Situation zu klären, die bezüglich desTagungsthemas Standard und Variation bzw.varietätstektonischen Fragen allgemein herrscht. ImZentrum des Beitrags stand die Frage, wer wie be-mächtigt ist, geltende Normen der Verwendung vonSprache zu setzen (»das soziale Kräftefeld einerStandardvarietät«). Ein wesentlicher Unterschiedzwischen Standardvarietäten und Nonstandard-varietäten besteht laut Ammon darin, dass beide zwarGebrauchsnormen haben, jedoch nur die Normenvon Standardvarietäten den Status institutionalisier-ter und autorisiert vermittelter Vorschriften haben, dasie von verschiedenen mehr oder weniger institutio-nalisierten Instanzen gesetzt und kontrolliert werden.Wichtige normsetzende Instanzen mit standardisie-render Wirkung sind nach Ammon a) Modelltexte,

deren Modellhaftig-keit in der Öffentlich-keit der Äußerungs-situation und dem so-zialen Status derSprecher begründetist, b) Sprachkodizes,insbesondere diemeistens konsultier-ten Rechtschreibwör-terbücher, c) Sprach-experten, die sich mitden Normsetzungenin den Kodizes kri-tisch auseinanderset-zen und d) Sprach-normautoritäten, dieberuflich zur Sprach-korrektur berechtigtbzw. verpflichtet

sind. Die vier Instanzen sind teilweise unscharf ab-gegrenzt und stehen in einem wechselseitigenWirkungsverhältnis, was Ammon anhand des Bei-spiels der Neukodifizierung des österreichischenStandards im »Österreichischen Wörterbuch« zwi-schen der 35. und 36. Auflage demonstrierte. Für dieDurchsetzung der Gültigkeit sind letztlich die Norm-autoritäten verschiedener Ebenen verantwortlich;Legitimität gewinnen Normen durch ihre Vereinbar-keit mit linguistischen und außerlinguistischen Wer-ten der Benutzergemeinschaft.

Thema und Titel des letzten Grundlagenvortragswaren Grammatikalisierungs- und Pragmatikali-sierungserscheinungen im alltäglichen Sprachge-brauch. Leitfragen bei der Untersuchung von eigent-lich ungrammatischen Konstruktionen der sprech-

Ltd. Min. Rat Dr. Klaus Herberger, Baden-Württemberg

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sprachlichen Wirklichkeit sind für SusanneGünthner (Münster) a) die nach den Funktionen dervon der kodifizierten Norm abweichend verwende-ten Formen, b) deren Reichweite bzw. deren Poten-zial, als sedimentierte Diskursphänomene Eingang indie Standardsprache zu finden und c) die Notwendig-keit der Korrektur entweder der abweichenden For-men oder der normsetzenden Regelwerke. Das vonihr beschriebene Phänomen sind Konstruktionen mitden eigentlich subordinierend zu verwendendenKonzessiva obwohl und wobei als Diskurspartikel inder Vorvorfeldposition mit folgender Verbzweit-stellung, wie im Beispiel: »Gelber Sack, das ist dannjeden zweiten Montag.« (PAUSE) »Wobei das is sel-ten.« So verwendet werden obwohl und wobei zuMarkern bzw. Einleitern einer Korrektur entwederder eigenen oder der Rede anderer. In der Weiterent-wicklung der Korrektivfunktion wird insbesondereobwohl zur Dissensmarkierung eingesetzt, bei derdas Image des Gesprächspartners geschont wird. Diefeststellbare Verbreitung und Stabilisierung dieserKonstruktion, ggf. eine allgemein zunehmendePragmatisierung bzw. Diskursorientierung beim all-täglichen (Standard-)Sprechen lassen die Frage nachder Korrektur entweder der Sprechrealität oder derenBeschreibungwerke relevant erscheinen.

Stephan Elspaß (Münster) stellte in seinem Vortrag»Standardisierung des Deutschen: Ansichten aus derneueren Sprachgeschichte« die Ergebnisse einerAnalyse von Auswandererbriefen aus dem 19. Jh.vor. In diesen zeigen sich viele sprachliche Phäno-mene, die heute nur noch auf der Ebene der gespro-chenen Sprache zu finden sind. Häufig handelt essich dabei um sprachliche Regionalismen – wie diedoppelte Verneinung oder der Ausfall des ge-Präfixesbei Partizipien. Andere befänden sich »auf dem Wegzum Standard«. Dazu gehört die allseits bekannteVerbzweitstellung nach weil ebenso wie der Ge-brauch von wie als Komparativpartikel oder Sätze mitgetrenntem Pronominaladverb vom Typ »da weißich nichts von«. Von einer Einheitlichkeit des Deut-schen, wie sie die Schulgrammatiken des 19. Jhs. sug-gerieren, kann demnach keine Rede sein. Er plädiertein seinem Vortrag auch für eine »Sprachgeschichtevon unten«, die nicht nur die Sprache des gebildetenBürgertums zum Gegenstand hat, sondern auch dieschriftlichen Zeugnisse der breiten Bevölkerungs-mehrheit berücksichtigt und damit notwendigerweiseauch Variation innerhalb der Standardsprache in ihreForschung mit einbezieht.

In der ersten Hälfte des Beitrags »Regionale Standar-disierung, nationale Destandardisierung?« stelltePeter Auer (Freiburg) mehrere Modelle vor, an de-

nen die unterschiedlichen Beziehungen vonStandardsprachen zu den ihnen untergeordnetenregionalen Varietäten veranschaulicht wurden. Dabeisind innerhalb des deutschen Sprachgebiets je nachLand/Region ganz unterschiedliche Konstellationenzu beobachten, wobei für bestimmte Regionen erstnoch zu klären sei, welches Modell die sprachlicheRealität am besten abbildet und ob tatsächlich einesprachliche Entwicklung wie im Vortragstitel sugge-riert abläuft. Dazu nahm Helmut Spiekermann (Frei-burg) im zweiten Teil des Vortrags anhand der vonihm untersuchten Städte Freiburg, Stuttgart undHeidelberg Stellung. Durch die Gegenüberstellungder Auftretenshäufigkeit bestimmter lautlicher Phä-nomene in den 40 Jahre alten Aufnahmen des Pfef-fer-Korpus mit solchen aktuellen Datums zeigt sich,dass insgesamt ein starker Abbau regional-sprachlicher Elemente stattfindet. Am weitesten fort-geschritten ist dieser Abbau in der Sprache jungerFrauen aus höheren Bildungsschichten. Dennochlässt sich eine Zunahme an Formen nachweisen, dienicht der kodifizierten Standardsprache angehören.Dabei handelt es sich jedoch in aller Regel nicht umRegionalismen, sondern um sprechsprachliche Re-duktionen, die von Standardformen abgeleitet wer-den können, wie z.B. komm für kommen oder nichund is für nicht und ist.

Zum Abschluss der Vorträge zu »Geschichte undWandel« behandelte Peter Schlobinski (Hannover)mögliche Auswirkungen neuer Kommunikations-technologien auf allgemeine schriftsprachliche Kon-ventionen und -formen. Zentrale neue Technologiender »digitalen Revolution« bzw. der »zweiten Guten-berg-Revolution« sind das Internet und das Handy,deren verschiedene Kommunikationsformen seitEnde der Neunzigerjahre rasant ansteigend genutztwerden (wie E-Mail, Chat, SMS u.a.). Ein gemeinsa-mes Merkmal der neuen Medien ist, dass sie verschie-dene alte Medien wie Schrift, Ton und Bild in funk-tional abgestimmter Weise integrieren. Dabei entste-hen vernetzte multimediale bzw. hybride Medien, dieihre jeweils eigenen Gebrauchsnormen ausbilden.Die Hybridisierung schließt Mischformen deransonsten relativ getrennt gehaltenen BereicheMündlichkeit und Schriftlichkeit ein. Die durch dieSchnittstelle zwischen Sprechsprachlichkeit undmedial bedingter Schriftlichkeit entstehenden»Rückkopplungseffekte« wertet Schlobinski nichtkulturpessimistisch als Grund bzw. Hinweise aufSprachverfall, wohl aber als funktionale Varianten,die in Konkurrenz zu den standardisierten Formenund Normen stehen.Für das IDS-Projekt »Variation im gesprochenenDeutsch« präsentierte Nina Berend (IDS) unter an-

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derem erste Ergebnisse der Auswertung des König-Korpus. In diesen Mitschnitten von Interviews mitStudenten und Studentinnen aus 43 Städten der altenBRD werden Variablen aus allen sprachlichen Berei-chen untersucht. Beispielsweise ist bislang für dieApokope des -e der 1. Pers. Sg. in keiner Gramma-tik des Deutschen der Zusammenhang mit der Posi-tion des Pronomens beschrieben worden, obwohl beinachgestelltem ich die Apokope im gesprochenenDeutsch überall praktisch obligatorisch ist. Auf derBasis verschiedener gesprochensprachlicher Phäno-mene aus dem König-Korpus versuchte sie eine Ein-teilung der regionalen Gebrauchsstandards für dasGebiet der alten BRD. Demnach lassen sich vierAreale unterscheiden (Norddeutsch, Mitteldeutsch,Südwestdeutsch und Südostdeutsch), wobei vor al-lem der Südosten (Bayern) sich weniger durch eineeinheitliche Sprachform als durch besondere sprach-liche Konservativität auszeichnet. Berend betonteauch, dass es gerade für die Auslandsgermanistiknachteilig sei, dass bislang keine adäquaten Beschrei-bungen des tatsächlich gesprochenen Deutsch be-stünden und Deutschlerner von der sprachlichenRealität in den deutschsprachigen Ländern häufig zuwenig vermittelt bekämen. Insbesondere im Ver-gleich mit der Beschreibung der englischen Sprachezeigen sich für das Deutsche Defizite, die sich z.B. somanifestieren, dass in deutschen Aussprachewörter-büchern Variation explizit ausgeblendet wird, wäh-rend englische Pendants z.T. ihre Aufgabe geradedarin sehen, Varianten anzugeben und Formen, dietypisch sind für gesprochene Sprache (u.a. auch diesog. »weak forms«), umfassend zu beschreiben.

In seinem Beitrag zur lexikalischen Innovation derStandardsprache präsentierte Jannis Androutso-poulos (Hannover) die Bedingungen bzw. dieModellierbarkeit der Verbreitung von Neologismenaus dem Bereich Jugendsprache bzw. Szenesprache.Die Verbreitungschance eines innovativen Lexemsist nach Androutsopoulos abhängig von verschiede-nen Faktoren, u.a. vom Prestige der Quellszeneebenso wie von semantisch-funktionalen Faktoren.Er unterscheidet zwischen der Übernahme a) ausprimärem Benennungsbedürfnis und b) als Variantezu vorhandenen Ausdrucksmöglichkeiten, sowie ge-nerell zwischen »Akkommodation« und »Act ofidentity«, d.h. zwischen der kontaktbedingten loka-len Anpassung und dem bewussten Selektieren derFormen. Die Rolle der Massenmedien beimInnovationsprozess sieht er darin, einerseits einenfortgeschrittenen Akzeptanzgrad von Neologismenanzuzeigen, andererseits aber auch, stereotypeJugendsprachelemente einem nicht-jugendlichenPublikum zugänglich zu machen. Entscheidend für

die Karrierechancen innovativer Elemente ist dabeifür Androutsopoulos, ob diese innerhalb der Massen-medien bzw. von Modelltexten aus Eigen- oderFremdperspektive verwendet werden. Auffällig oftwürden jugendsprachliche Wörter wie chillen odergeil in den Massenmedien als »fremde Stimmen« ein-gesetzt. Die eigenperspektivische Verwendung, dieein Statusindikator des Lexems als »in RichtungStandardsprachbereich avancierendes Element« ist,konnte Androutsopoulos für cool belegen.

Ulrich Busse (Halle-Wittenberg) richtete in seinemVortrag den Fokus auf die lautliche Integration vonAnglizismen ins Deutsche. Vor dem Hintergrund vonphonetischen und phonologischen Unterschiedenzwischen dem englischen Quell- und deutschen Ziel-system der entlehnten Wörter können sich Produkti-ons- und Verstehensprobleme beim Gebrauch vonAnglizismen ergeben. Problemgründe schaffen Un-terschiede in den Phoneminventaren der beidenSprachsysteme, wie der einleitende Loriot-Sketch amBeispiel des im Deutschen nicht vorhandenen Den-tal-Frikativs [T] bzw. [D] illustrierte, oder phono-taktische bzw. subphonematische Unterschiede.Beispielsweise entstehen durch die »deutsche«entstimmte/fortisierte Auslautrealisierung von imenglischen stimmhaft/lenis realisierten Endlautenungewollte Homophonpaare wie der [fEt]-cup imDamentennis.

Nach der Skizzierung der Beschreibung der Ausspra-che von Anglizismen in verschiedenen Kodizes plä-dierte Busse für eine Kodifizierung, die anstelle einesAussprachestandards eine Variationsbreite (anhandbestimmter Beschreibungskriterien wie Alter, Be-kanntheitsgrad und Integrationsstatus des Lemmas)darstelle, also ein deutsches Aussprachewörterbuch,das sich an der Methodik des englischen ›LongmanPronunciation Dictionary‹ von J.C. Wells orientiert.

Richard Schrodt (Wien) behandelte Kongruenz-probleme bezüglich der Numerusanzeige bei Subjektund Prädikat, die trotz eindeutiger grammatischerRegelung nicht-okkasionell auftreten. Inkongruen-zen des Typs »Die Literatur und die Natur war zu derZeit sehr wichtig« entstehen dadurch, dass sich einesemantische Kategorie über den Numerus schiebt.Dies geschieht insbesondere bei abstrakten Begriffenin einer mehrgliedrigen Nominalphrase (siehe Bei-spiel), aber auch in anderen Fällen, in denen einmehrgliedriges Subjekt als Einheit gemeint sei undwirke. Eine den koordinierten Subjektelementenübergeordnete Ganzheit gilt Schrodt als »Term« (unddie Numeruskongruenz als »Termkongruenz«). DieTerm-Qualität, die Wirkung einer gemeinten Einheit,

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wird durch bestimmte semantische Relationen derSubjektglieder begünstigt. Semantische Nähe, dieRelation Kernbegriff-Satellit bzw. die Relation Hy-peronym-Hyponym fördern den Eindruck einerübergeordneten Ganzheit und damit ein singulari-sches Finitum, wohingegen Subjektelemente in einerGegensatzbeziehung die Pluralmarkierung des Verbsregelrecht fordern. (Vgl. die Beispiele: »Ihre Frauund sonstige Familie geht mit und Lachen undSchluchzen gerieten durcheinander.«)

In der Term-Qualität bzw. Termkongruenz sieht ereine subjektive grammatische Kategorie, bei der dieAusdrucksabsicht ein Fenster der Grammatik zurVariation nutzt. Die Tagungsfrage beantwortetSchrodt bezüglich der beschriebenen Redeabsichts-variation dann auch mit der Fenstermetapher: DerStandard verträgt so viel Variation, wie weit man dasFenster aufmachen will bzw. wie streng die Aufpas-ser sind.

Der Beitrag von Margret Selting (Potsdam) thema-tisierte prosodische, nämlich intonatorischeVariationsphänomene. Anhand von Daten aus demDFG-Projekt »Untersuchungen zur Struktur undFunktion regionalspezifischer Intonationsverläufe imDeutschen« (P. Auer, M. Selting, P. Gilles und J. Pe-ters) zeigte sie am Beispiel des Berlinischen Unter-schiede zwischen typischen Tonhöhenverläufen desStandarddeutschen und Berlinischen bzw. zwischen

standardnaher und standardfernerer Berliner Stadt-sprache. Dabei unterscheidet sie zwischen klein-räumigen intonatorischen Parametern wie die Syn-chronisierung von Tonhöhengipfel und Akzentsilbe(pitch-peak-alignment) oder Besonderheiten regio-naler Toninventare (z.B. steigend-fallende oder fal-lend-steigende Akzenttonkonturen) und großräumi-geren Strukturen wie regionaltypische globaleIntonationsphrasen und saliente holistische Intona-tionskonturen. Im Bereich des Toninventars stellte

sie folgende Unterschiedezwischen dem Standard-deutschen und Berlinischenfest: Das Berlinische hat kei-ne fallend-steigende nu-klearen Intonationsmuster(Akzente), die das Standard-deutsche im Interrogativ-modus verwendet. Im Berli-nischen tendieren die Spre-cher bei finaler Stellung derAkzentsilbe zur Realisie-rung des Tonhöhengipfelsnach der Akzentsilbe. Diese»verzögerten Gipfel« wer-den zur Markierung von Wi-derspruch bzw. Korrekturverwendet. Als typisch ber-linische globale Intonations-phrase präsentierte sie eineAbschluss-Kontur mit rela-tiv hoher pränuklearer Silbeund Abfall nach dem frühenTonhöhengipfel (low-fall-downstep). Eine holistische

Kontur des Berlinischen ist die »Treppe aufwärts«,die zur Signalisierung der Rederechtshalteabsichtverwendet wird bzw. wenn angezeigt wird, dass derreferierte Inhalt eigentlich bekannt ist. DieseTreppenkontur tritt bei standardfernen Sprechernwesentlich frequenter auf als bei standardnahen, wasauf den Status der Kontur als salientes (weil kontrol-lierbares) Regionalitätsmerkmal hinweist.

Am Donnerstag begann Jürgen E. Schmidt(Marbug) vom Deutschen Sprachatlas die Reihe derVorträge. Er sprach über »Die deutsche Standard-sprache: eine Varietät – drei Oralisierungsnormen«.Dabei ging er auf die geschichtliche Entwicklung dergesprochenen deutschen Standardsprache ein, diesich zu unterschiedlichen Zeiten jeweils an unter-schiedlichen Vorbildern ausgerichtet habe: Eine mitder allgemeinen Alphabetisierung größererBevölkerungsteile in der frühen Neuzeit zunächstkleinregional variierende Standardaussprache wurde

Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Jahrestagung 2004

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abgelöst von der am Ostmitteldeutschen orientiertenSprechsprache. Schließlich konnte sich seit 1930 mitder Einführung und raschen Verbreitung des Rund-funks das dort gemäß der Aussprachewörterbücherverwendete, primär auf norddeutschen Aussprache-formen basierende Deutsch als nationaleOralisierungsnorm durchsetzen und vermittelte soerstmals der Gesamtbevölkerung eine einheitlichelautliche Form der Standardsprache. Jüngste For-schungsergebnisse von Marburger Arbeiten (A.Lenz, C. Purschke und A. Lameli) zeigen, dass Pro-banden unabhängig von ihrem regionalsprachlichenHintergrund eine einheitliche Beurteilung dessenabgeben, was als standardkonform bzw. nicht mehrkonform gelten kann. Diese kognitiv gewonnenenDaten decken sich darüber hinaus mit den ausvariationslinguistischen Analysen theoretisch herge-leiteten Abgrenzungen von Varietäten und lassen soeine fundierte Unterscheidung von Standardspracheund regionalsprachlichen Sprechlagen zu.

Drei Vorträge von AuslandsgermanistInnen beleuch-teten unter der Überschrift »Perspektiven aufDeutsch als Fremdsprache« die Variation des Deut-schen aus ungarischer, britischer und katalanischerSicht.

So gewährte Peter Bassola (Szeged) einen Einblickin die veränderten Bedingungen, unter denen heutein Ungarn an Schulen und Universitäten Deutschun-terricht praktiziert bzw. gelehrt wird. Dabei ist alswesentlichste Veränderung vor allem das gestiegeneGewicht der gesprochenen Sprache anzusehen. Auf-grund der historisch engen Kontakte zum deutschenSprachraum (die sich nicht zuletzt auch in der Über-nahme des deutschen Schriftsystems durch die Un-garn widerspiegeln) ist Deutsch in Ungarn als Schul-sprache auch heute noch führend, wird aber baldvom Englischen überholt werden. Durch die Nach-barschaft zu Österreich spielt insbesondere auch dasösterreichische Deutsch in Ungarn eine besondereRolle. Beispiele für Variation in der Standardsprache(besonders auf nationaler Ebene) zeigen sich vor al-lem im Fachwortschatz, was er an Beispielen aus derRechtsterminologie veranschaulichte.

Die britische Perspektive wurde von StephenBarbour (Norwich) vermittelt. Er ging auf die unter-schiedlichen Konzepte von Standard im Deutschenund Englischen ein: Im Englischen umfasst Standardalle Register, die von gebildeten Sprachteilnehme-rinnen und -teilnehmern verwendet werden, alsoauch informelle Sprachformen, die im Deutschen üb-licherweise schon zum Bereich der Umgangssprache

gezählt werden. Das betrifft auch die Aussprache, daim Englischen regionale Akzente innerhalb des Stan-dards gesehen werden, während sie im Deutschenaußerhalb stehen. Auch auf die zahlreichen Anglizis-men im Deutschen ging er ein, die man keinesfalls als»englische Wörter« bezeichnen solle, da sie im Eng-lischen häufig so nicht existieren (prominentes Bei-spiel war der deutsche Beamer, der – was wohl fürdie meisten im Saal neu war – im Englischenpowerpoint projector heißt). Resigniert zeigte er sichallerdings über das in Großbritannien stark gesunke-ne Interesse an der deutschen Sprache, das dazuführt, dass germanistische Institute an dortigen Uni-versitäten geschlossen werden müssten. Akademi-sche Fragestellungen wie das Motto dieser Tagungwürden sich unter diesen Rahmenbedingungen baldohnehin von selbst erledigen.

Schließlich berichtete Marisa Siguan (Barcelona)über Standard und Varianz des Deutschen aus spani-scher/katalanischer Sicht. Die sprachlichen Verhält-nisse in Katalonien mit den beiden gleichberechtig-ten Sprachen Katalanisch und Spanisch prägen ganzwesentlich auch die Sicht auf das Deutsche. Um diekatalanischen Verhältnisse verständlich zu machen,ging sie deshalb ausführlich auf die ganz unter-schiedlichen geschichtlichen Wurzeln der katalani-schen und spanischen Sprache ein: Das Spanische isteine seit mehr als 500 Jahren kodifizierte Hochspra-che, das Katalanische wurde dagegen erst Anfangdes 20. Jh. als großregionale Hoch- und Schriftspra-che auf der Basis zahlreicher Dialekte neu normiert.Die katalanische Standardsprache befindet sichimmer noch in einem Entwicklungsprozess, der z.T.ganz bewusst von sprachplanerischen Einrichtungengesteuert und kontrovers diskutiert wird. Unter die-sen Voraussetzungen stoßen unterschiedliche Varie-täten und Variationen innerhalb der deutschenStandardsprache bei Lernenden ebenfalls auf Inter-esse und Akzeptanz.

Matthias Wermke (Mannheim), Leiter der Duden-Redaktion, beleuchtete das Tagungsthema vomStandpunkt des notwendigerweise pragmatisch undmarktwirtschaftlich handelnden Verlags aus. In sei-nem Vortrag zu »Deskriptivität und Normativität ausder Sicht des Dudens« machte er die Benutzer-orientiertheit der Duden-Werke klar: Auch wenn dieLinguistik generell Deskriptivität favorisiert, müsseder Duden die Ökonomie (»man kämpft in einemWörterbuch immer mit dem Platz«), vor allem aberdie Sprachbenutzer stärker im Auge haben. Doch diewollen eine klare, eindeutige Auskunft, keine Wahlzwischen Varianten, das werde auch durch die tele-fonische Sprachberatung immer wieder bestätigt. In

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diesem Spannungsfeld zwischen Deskriptivität undPräskriptivität wollte er die Duden-Werke als»Gebrauchswörterbücher« bezeichnet wissen. Dasgelte insbesondere für den Orthographieduden, dermit Abstand das bestverkaufte Werk des Verlags ist.In diesem Zusammenhang beklagte er auch, dass inder Schule keine Wörterbuchbenutzungskultur ver-mittelt wird und daher im Zweifelsfall derRechtschreibduden das einzige häusliche Nach-schlagewerk zur deutschen Sprache bildet.

Zum Tagungsabschluss beschrieb Ludwig M.Eichinger (IDS) die aktuelle Situation des Deutschenin Bezug auf die Tagungsfrage als dadurch bestimmt,dass nach den Anfängen der Standardisierung im 19.Jahrhundert der gesprochene Standard mit Verzöge-rung und auf Kosten der strengen Schriftsprach-orientierung heute als Alltagssprache weit verbreitetgebraucht wird. Ebenso ist das Setzen von für allegültige Normen in einer differenztoleranter werden-den Gesellschaft mit vielfältigen Realitäten und kon-kurrierenden Verhaltensweisen und Geltungsan-sprüchen erschwert. Auf diese veränderte Situationdes Standards könne man einerseits mit Verfalls-gedanken reagieren oder andererseits hervorheben,dass immer mehr Sprecher eine normative Überein-kunft bzw. ein Wissen bezüglich einer alltagssprach-

lich fundierten Standardsprachlichkeit teilen.Die linguistische Beschreibung des aktuellen Sprech-standards sollte auf breiter und bezüglich verschie-dener Interaktionstypen gewichteten empirischenGrundlage erfolgen, da sich Verhaltenspräferenzenund Konventionen interaktional, »auf dem Markt-platz«, durchsetzen. Die Norm als (Zwischen-)ergebnis von Stilpräsentationen auf dem Marktplatzkann also als interaktional ausgehandelter »Er-wartungserwartungskonsens« bezeichnet werden.Anhand dreier soziologischer Texte demonstrierteEichinger, wie innerhalb eines Textsortentyps dreiverschiedene (gesellschaftliche) Stile bzw. For-mulierungstraditionen funktionale Anwendung fin-den im Spannungsfeld zwischen Strategien der (fach-lich-autoritativen) Distanzierung und Verstehbarkeit,die im Wesentlichen mit der Verwendung von entwe-der schriftsprachlich orientierten oder eher sprech-sprachlichen Mustern einhergehen.

Die nächste Jahrestagung findet vom 15.-17.03.2005zum Thema »Textualität. Verständliche Texte – Text-verständlichkeit« statt.

Die Autoren sind wissenschaftliche Mitarbeiter am Institut für Deut-sche Sprache in Mannheim.

Fotos: Annette Trabold