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STAHLBETONBAU 17 Der Prüfingenieur Oktober 2010 1 Die Vorgeschichte Vor nur rund 125 Jahren fiel 1884 sozusagen der Startschuss für die Eisenbetonbauweise in Deutschland. Zu dieser Zeit hatte sich die Welt durch die fortgeschnittene industrielle Revolution bereits wesentlich verändert. Eine bedeutende Komponente war die mengen- und qualitätsmäßige Steigerung der Eisengewinnung. Schon Ende des 18. Jahrhunderts war von Henry Cort in Großbritannien das Puddel- verfahren zur Erzeugung von zähem, schmiedbarem und vor allem auch zugfestem Eisen erfunden wor- den. Der beschwerliche Puddelprozess ließ sich nur begrenzt industrialisieren, aber bis 1860 hatte Henry Bessemer das Konverterverfahren zum Erblasen von Flusseisen in größerer Quantität entwickelt. Dieses Verfahren war bereits allgemein im Einsatz [2]. Seit Beginn des 19. Jahrhunderts hatte sich Ei- sen mehr und mehr als neuer Baustoff etabliert. Eine weitere Komponente war das Aufkommen der Eisen- bahn, das gegen Mitte des 19. Jahrhunderts zu einer epochalen, heute kaum mehr nachzuempfindenden Verbesserung des Landverkehrs geführt hatte. Der er- ste Personenzug fuhr in Deutschland bekanntlich zwischen Nürnberg und Fürth im Jahre 1835. Rund 50 Jahre später existierte nach stürmischem Aufbau bereits ein dichtes Streckennetz. Personen und Güter konnten in großer Anzahl bzw. Menge über weite Entfernungen mit zuvor nicht vorstellbarer Ge- schwindigkeit sicher transportiert werden. Der Konstruktive Ingenieurbau, dessen Ent- wicklung um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhun- dert begonnen hatte, konnte bereits großartige Lei- stungen im Brückenbau, aber auch im Hochbau vor- weisen und hatte einen beachtlichen Stand auf wis- senschaftlicher Basis erreicht, der eng mit den gleich- zeitig zu verzeichnenden Fortschritten des Eisenbaus verknüpft war. Letztere hatte drei Impulse zur Vor- aussetzung. Der erste Impuls ging vom neuen Bau- Über die Wiege des Eisenbetonbaus in Deutschland Der Weg des Eisenbetons von Frankreich nach Deutschland führte über die Pfalz* Über 100 Millionen Kubikmeter Stahlbeton wer- den im Jahr in Deutschland verbaut. Stahlbeton ist damit der wichtigste Baustoff, der in Deutsch- land genutzt wird. In Deutschland begann der Sie- geszug des „Eisenbetons“ vor etwa 125 Jahren, 1884, als Conrad Freytag in Trier eine französi- sche Erfindung sah: Betonbauteile, die mit einer eingelegten Verstärkung aus Eisenstäben und Drahtgewebe hergestellt worden waren. Es han- delte sich um die Erfindung des Herrn Monier aus Paris. Freytag hatte wohl intuitiv eine Vorstellung von den Möglichkeiten, die in dieser neuen Bau- weise steckten. Was danach passierte, erzählt der folgende Beitrag. studierte von 1957 bis 1964 das Bauingenieurwesen an der TH Darmstadt, war von 1964 bis 1968 wissenschaftlicher Mitar- beiter von Prof. Dr.-Ing. E.h. Kurt Klöppel am dortigen Insti- tut für Statik und Stahlbau, pro- movierte 1969 zum Dr.-Ing. und war von 1971 bis 1980 leiten- der Angestellter in einem Inge- nieurbüro und bei der Fa. Hochtief AG; von 1980 bis 2002 war er Professor für Massivbau und Baukon- struktion an der Universität Kaiserslautern, von 1985 bis 1996 Mitglied im Beirat und ab 1992 des Vorstandes der VDI-Gesellschaft Bautechnik; er ist Träger der Emil-Mörsch-Denkmünze des Deutschen Beton- und Bautechnikvereins Prof. em. Dr.-Ing. Wieland Ramm * Überarbeiteter und ergänzter Nachdruck des Beitrags „Nicht nachlassen zwingt“ aus [1]

STAHLBETONBAU Über die Wiege des Eisenbetonbaus in …

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STAHLBETONBAU

17Der Prüfingenieur Oktober 2010

1 Die Vorgeschichte

Vor nur rund 125 Jahren fiel 1884 sozusagender Startschuss für die Eisenbetonbauweise inDeutschland. Zu dieser Zeit hatte sich die Welt durchdie fortgeschnittene industrielle Revolution bereitswesentlich verändert. Eine bedeutende Komponentewar die mengen- und qualitätsmäßige Steigerung derEisengewinnung. Schon Ende des 18. Jahrhundertswar von Henry Cort in Großbritannien das Puddel-verfahren zur Erzeugung von zähem, schmiedbaremund vor allem auch zugfestem Eisen erfunden wor-den. Der beschwerliche Puddelprozess ließ sich nurbegrenzt industrialisieren, aber bis 1860 hatte HenryBessemer das Konverterverfahren zum Erblasen vonFlusseisen in größerer Quantität entwickelt. DiesesVerfahren war bereits allgemein im Einsatz [2].

Seit Beginn des 19. Jahrhunderts hatte sich Ei-sen mehr und mehr als neuer Baustoff etabliert. Eineweitere Komponente war das Aufkommen der Eisen-bahn, das gegen Mitte des 19. Jahrhunderts zu einerepochalen, heute kaum mehr nachzuempfindendenVerbesserung des Landverkehrs geführt hatte. Der er-ste Personenzug fuhr in Deutschland bekanntlichzwischen Nürnberg und Fürth im Jahre 1835. Rund50 Jahre später existierte nach stürmischem Aufbaubereits ein dichtes Streckennetz. Personen und Güterkonnten in großer Anzahl bzw. Menge über weiteEntfernungen mit zuvor nicht vorstellbarer Ge-schwindigkeit sicher transportiert werden.

Der Konstruktive Ingenieurbau, dessen Ent-wicklung um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhun-dert begonnen hatte, konnte bereits großartige Lei-stungen im Brückenbau, aber auch im Hochbau vor-weisen und hatte einen beachtlichen Stand auf wis-senschaftlicher Basis erreicht, der eng mit den gleich-zeitig zu verzeichnenden Fortschritten des Eisenbausverknüpft war. Letztere hatte drei Impulse zur Vor-aussetzung. Der erste Impuls ging vom neuen Bau-

Über die Wiege des Eisenbetonbaus in DeutschlandDer Weg des Eisenbetons von Frankreich nach Deutschland führte über die Pfalz*

Über 100 Millionen Kubikmeter Stahlbeton wer-den im Jahr in Deutschland verbaut. Stahlbetonist damit der wichtigste Baustoff, der in Deutsch-land genutzt wird. In Deutschland begann der Sie-geszug des „Eisenbetons“ vor etwa 125 Jahren,1884, als Conrad Freytag in Trier eine französi-sche Erfindung sah: Betonbauteile, die mit einereingelegten Verstärkung aus Eisenstäben undDrahtgewebe hergestellt worden waren. Es han-delte sich um die Erfindung des Herrn Monier ausParis. Freytag hatte wohl intuitiv eine Vorstellungvon den Möglichkeiten, die in dieser neuen Bau-weise steckten. Was danach passierte, erzählt derfolgende Beitrag.

studierte von 1957 bis 1964 dasBauingenieurwesen an der THDarmstadt, war von 1964 bis1968 wissenschaftlicher Mitar-beiter von Prof. Dr.-Ing. E.h.Kurt Klöppel am dortigen Insti-tut für Statik und Stahlbau, pro-movierte 1969 zum Dr.-Ing. undwar von 1971 bis 1980 leiten-der Angestellter in einem Inge-

nieurbüro und bei der Fa. Hochtief AG; von 1980 bis2002 war er Professor für Massivbau und Baukon-struktion an der Universität Kaiserslautern, von1985 bis 1996 Mitglied im Beirat und ab 1992 desVorstandes der VDI-Gesellschaft Bautechnik; er istTräger der Emil-Mörsch-Denkmünze des DeutschenBeton- und Bautechnikvereins

Prof. em. Dr.-Ing. Wieland Ramm

* Überarbeiteter und ergänzter Nachdruck des Beitrags „Nichtnachlassen zwingt“ aus [1]

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stoff Eisen aus, der in zunehmend größerer Mengeund vor allem in immer besserer Qualität verfügbarwurde. Die feingliedrigen Eisenkonstruktionen hattenfür ihre systematisch fortschreitende Entwicklung ei-nen jeweils dafür hinreichenden Stand der statischenErkenntnisse zur Voraussetzung. Dieser zweite Im-puls hatte seine ursprünglichen Wurzeln in Frank-reich mit der Gründung der École des Ponts et Chaus-sées 1747 in Paris. Zwar waren schon seit der Renais-sance statische Fragen von Mathematikern und Phy-sikern aus wissenschaftlicher Neugier untersuchtworden, aber die gewonnenen Erkenntnisse hattenüber rund 150 Jahre mangels entsprechender Ausbil-dung der Baumeister keinen Eingang in den Entwurfder Tragwerke gefunden, der wie von altersher aufder Basis von tradierten Erfahrungsregeln erfolgte.Nunmehr wurden derartige Erkenntnisse für die prak-tische ingenieurmäßige Anwendung aufbereitet undweiterentwickelt. Der dritte Impuls für den Eisenbauging von dem schon erwähnten, sich geradezu explo-sionsartig vollziehenden Ausbau des Eisenbahnnet-zes aus. Vor allem Brücken wurden in großer Zahl,von hoher Tragfähigkeit und Steifigkeit und mit z.T.bisher nicht gekannten Stützweiten erforderlich, umdas neue Verkehrsmittel über Flüsse und Meeresarmesowie Täler und Schluchten hinwegzuführen [3].

Die erste weitgespannte Balkenbrücke auf demKontinent war bereits 1857 bei Dirschau über dieWeichsel erbaut worden [4]. Drei der ursprünglichsechs Felder dieser damals international beachtetenGitterbrücke sind bis heute im Originalzustand erhal-ten und bilden ein einzigartiges Denkmal der damali-gen Ingenieurbaukunst (Abb. 1).

Längst erregten schon kühne eiserne Rhein-brücken und zunehmend große Bahnhofshallen Auf-sehen und Bewunderung, als bewehrter Beton inDeutschland noch völlig unbekannt war. Immerhin:

Die Erfindung des Portlandzements in Großbritanni-en im Jahre 1824 durch Joseph Aspdin lag schonrund fünfzig Jahre zurück. Vermutlich haben aber erstder Sohn William Apsdin 1843 und Isaac CharlesJohnson 1844 Zementklinker bis zur Sinterung ge-brannt und damit „echten Portlandzement“ im heuti-gen Sinne hergestellt.

Die Möglichkeit, mit dem neuen hydrauli-schen Bindemittel Zement ein vorzügliches Kunstge-stein, eben Beton, in beliebiger Form herzustellen,wurde alsbald überall für die Fertigung von vielerleiBetonwaren, insbesondere auch von Röhren, genutzt(Abb. 2).

Abb. 1: Alte Weichselbrücke in Dirschau,a) Lithographie von 1855 als Animation der in Bau be-findlichen Brücke (Zeitschrift für Bauwesen, 1855)b) heutiger Zustand (Aufnahme des Autors)

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Aber auch für einfache Bauteile wie Mauern,Wände und insbesondere Fundamente wurde zuneh-mend Beton verwendet. So kam z. B. schon bei derPfeilergründung der Dirschauer Weichselbrücke Be-ton zum Einsatz, und zwar sogar als Unterwasserbe-ton.

Der wachsende Bedarf an Zement, derzunächst recht teuer aus Großbritannien eingeführtwerden musste, führte zur Gründung von Zementfa-briken auch auf dem Kontinent, so in Deutschland zu-erst in Züllchow bei Stettin durch den Chemiker Her-mann Bleibtreu im Jahre 1853. Zahlreiche weitereWerksgründungen folgten, hierunter 1864 die derPortland-Cement-Fabrik Dyckerhoff und Söhne inAmöneburg und 1868 die der Zementwerke in Hei-delberg.

Die geringe Zugfestigkeit des unbewehrten Be-tons bedeutete eine starke Einschränkung für die Ein-satzmöglichkeiten dieses neuen Baustoffs. Seine ho-he Druckfestigkeit ließ aber immerhin den Bau vonBogenbrücken zu. Engagierte Ingenieure und Unter-

nehmer errichteten damals eine Vielzahl solcherBrücken aus unbewehrtem Beton, und zwar nicht nurkleinere Durchlässe mit halbkreisförmiger Einwöl-bung, sondern auch Brücken mit flachen Bögen undteilweise respektablen Spannweiten (Abb. 3).

Bekanntlich blieb es nicht auf Dauer beimStampfbeton, wie der unbewehrte Beton genanntwurde, weil er recht steif angemacht und durchStampfen verdichtet wurde. Schon bald kamen findi-ge Köpfe auf die Idee, Betonteile, die sich häufig alsrecht zerbrechlich erwiesen, durch das Einbetten vonDraht oder Eisenstäben bezüglich ihrer Haltbarkeitund Tragfähigkeit zu verbessern. Zu nennen sindFrancois Coignet, Joseph Louis Lambot und JosefMonier in Frankreich, der Brite William BoutlandWilkingson und Thaddeus Hyatt in der USA [7]. Vondiesen wurde Monier, wie sich zeigen sollte, bedeut-sam für die Entwicklung in Deutschland. Zwar bliebihm, der von Haus aus Gärtner war, wohl zeitlebensdie Einsicht in das Grundprinzip der Eisenbeton-Ver-bundbauweise verwehrt, aber er betrieb einen syste-matischen Patentschutz und ein ausgesprochenesMarketing. So erhielt Monier auch bereits 1881 vomKaiserlichen Patentamt in Berlin ein DeutschesReichspatent zugesprochen, dies zu einer Zeit, als inDeutschland noch niemand daran gedacht hatte, Be-tonbauteile mit einer Bewehrung zu versehen.

2 Die Firma Freytag und Heidschuch in Neustadt a. d. Haardt

Am 7. August 1846 wurde in Lachen bei Neu-stadt a. d. Haardt, dem heutigen Neustadt a. d. Wein-straße, Conrad Freytag geboren, der eine zentraleRolle bei der Einführung der Eisenbetonbauweise inDeutschland spielen sollte. Er entstammte einer altenpfälzischen Bauernfamilie, war also von Haus auskein Baumensch. Seine Herkunft hatte ihm aberFleiß, Zähigkeit und die Zielstrebigkeit mitgegeben,nicht nur um die fehlenden, aber nötigen Kenntnissezu erwerben, sondern diese auch in schöpferischer,unternehmerischer Tätigkeit umzusetzen. „Nichtnachlassen zwingt“ war sein Wahlspruch, und seinLebensweg sollte eine permanente Bestätigung diesesLeitsatzes werden.

C. Freytag übersiedelte nach Neustadt und er-richtete dort 1871 in der Thalstraße ein Wohn- undGeschäftshaus, in dem später für lange Jahre dieHauptverwaltung der Wayss & Freytag AG ansässigsein sollte. Bevor es aber soweit kam, musste noch ei-ne Reihe von Entwicklungsschritten vollzogen wer-

Abb. 2: Stand der Dyckerhoff´schen Firmen auf der Gewer-be-Ausstellung des Königreichs der Niederlande und derniederländischen Kolonien im Jahre 1879 in Arnheim [5]

Abb. 3: Aquädukt aus unbewehrtem Beton von 1885 überdie Murg bei Langenbrand (Kreis Rastatt) mit einerSpannweite von 40 m [6]

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den, die von einigen wenigen Männern getragen wur-den und die aus heutiger Sicht durchaus spannendund teilweise fast abenteuerlich anmuten.

Vor 135 Jahren, am 15. Juni 1875, gründete C.Freytag im Alter von 28 Jahren zusammen mit sei-nem Schwager Carl Heidschuch die Offene Handels-gesellschaft Freytag und Heidschuch mit Sitz in Neu-stadt a. d. Hardt. Wie eine Zeitungsanzeige des Un-ternehmens verdeutlicht, war das primäre Geschäfts-ziel der Baumaterialien-Handel (Abb. 4). Die Inhabergewannen das Alleinvertretungsrecht bedeutenderHerstellerwerke wie der Keramikfabrik Villeroy u.Boch in Mettlach/Saar, der Stuttgarter Gipswerke unddes Zementwerks Heidelberg. Man begann, mit Er-folg selbst verschiedenerlei Betonwaren zu produzie-ren, insbesondere auch „Cementröhren“ mit verschie-dener Querschnittsform und Größe. Die bei der lau-fenden Kundenberatung erworbenen Kenntnisse ver-setzten das junge Unternehmen in den Stand, selbstzunehmend kleine Bauaufträge zu übernehmen, soinsbesondere sogenannte Zementarbeiten wie Estri-che und Bodenbeläge, aber auch Bauteile ausStampfbeton wie Fundamente, Wände und Gewölbe-kappen [8].

Getragen sicherlich auch von dem allgemeinenwirtschaftlichen Aufschwung im Gefolge der soge-nannten Gründerjahre, nahm die Firmengründung ei-ne günstige Entwicklung. Schon bald wurden von derFreytag und Heidschuch OHG Aufträge nicht nur inden übrigen Teilen der Pfalz, sondern auch in Elsaß-Lothringen, in Baden, Württemberg und Hessenübernommen und erfolgreich ausgeführt.

3 Der erste Schritt: Conrad Freytags Erwerb der Monier-Patente

1884 sah Conrad Freytag anlässlich einer sei-ner zahlreichen Geschäftsreisen in Trier etwas völligNeuartiges. Auf einer dortigen Baustelle wurden Be-tonbauteile mit einer eingelegten Verstärkung aus Ei-senstäben und Drahtgewebe hergestellt. Wie er in Er-fahrung brachte, handelte es sich um die patentge-schützte Erfindung eines Herrn Monier in Paris, derzu Werbezwecken in Trier einen Wasserbehälter undGeschossdecken ausstellen wollte. Freytag warhöchst beeindruckt und musste wohl intuitiv sogleicheine Vorstellung von den Möglichkeiten entwickelthaben, die in dieser neuen Bauweise steckten.

Nach Hause zurückgekehrt, nahm er sofort mitseinem Geschäftsfreund Philipp Jousseaux in Offen-bach a. M. Kontakt auf. Die dort ansässige FirmaMartenstein und Jousseaux hatte ein Abdichtungsver-fahren entwickelt, das von dem Unternehmen Freytagund Heidschuch in Lizenz eingesetzt wurde [9]. Nurwenige Wochen später reisten C. Freytag und Jous-seaux gemeinsam zu Monier nach Paris. Sie besich-tigten verschiedene Bauten, die nach dem Monier-schen Verfahren mit bewehrtem Beton ausgeführtwaren, und wurden sich mit Monier bald handelsei-nig. Der mittlerweile 38jährige Freytag erwarb fürseine Neustadter Firma die Rechte aus den deutschenMonierpatenten für Süddeutschland und sicherte sichzugleich das Vorkaufsrecht für Norddeutschland.Jousseaux war wesentlich zurückhaltender und er-warb die Rechte lediglich für ein Gebiet von 30 kmum Offenbach herum.

Der damals abgeschlossene Vertrag ist nichterhalten, aber aus einem späteren Erneuerungsvertragkann man die Modalitäten der vertraglichen Regelun-gen entnehmen [9]. Monier standen danach 50% desReingewinns zu, der sich nach Abzug folgender Ko-sten von der gezahlten Bausumme ergab:

■ Löhne der Arbeiter,■ Materialkosten und Transport,

Abb. 4: Anzeige der Firma Freytag und Heidschuch, Neu-stadt a. d. Haardt, von 1883 (Stadtarchiv Neustadt a. d.Weinstraße)

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■ Anreisekosten der Arbeiter,■ 15% allgemeine Geschäftskosten.

Monier hatte im Gegenzug die Hälfte der Ko-sten für die Werbung zu tragen, die zur Einführungder Bauweise in Deutschland notwenig war, aller-dings bei größeren Aufwendungen über tausendFrancs erst nach Rückfrage in Paris und Zustimmungvon dort.

Nunmehr lagen die Rechte für diese neue Bau-weise mit epochemachendem Potenzial praktisch fürganz Deutschland in den Händen einer kleinen Neu-stadter Firma mit beschränkter regionaler Bedeutung.Damit hätte diese Entwicklungslinie bereits zu Endesein können, wenn sich nicht zufällige Verbindungenförderlich ausgewirkt hätten.

Zunächst aber ging C. Freytag noch im Jahre1884 pragmatisch daran, die neue Bauweise selbst

auszuprobieren. Das erste „Bauwerk“ war kurioser-weise eine Hundehütte (Abb. 5). Diese ist sogar er-halten und befindet sich heute im Deutschen Museumin München. Des Weiteren entstand eine kleineFußgängerbrücke in einem Park in Neustadt (Abb. 6).

4 Der zweite Schritt: Freytags Verbindung mit dem Ingenieur G. A. Wayss

Etwa ein Jahr war vergangen, da trafen sich1885 Freytag und sein Schwager Heidschuch mitdem jungen Ingenieur Gustav Adolf Wayss (1851 –1917) im Hotel „Pfälzer Hof“ in Ludwigshafen [9].Das Ergebnis dieser Begegnung war zweierlei: Er-stens übertrugen Freytag und Heidschuch die Rechts-ansprüche an den Monierpatenten für ganz Deutsch-land mit Ausnahme von Süddeutschland an Wayss,und zwar kostenlos. Diese als zunächst wenig ge-schäftstüchtig anmutende Entscheidung von C. Frey-tag stellte sich, wie die Zukunft zeigen sollte, alsäußerst weitsichtig heraus. Zweitens wurde derGrundstein gelegt für eine Kooperation zwischen G.A. Wayss und C. Freytag, die sich trotz der menschli-chen Verschiedenheit beider Partner als fruchtbar undvon langjähriger Dauer erwies.

Wer war G. A. Wayss und wie kam die Verbin-dung mit C. Freytag zustande? Im Gegensatz zu Frey-tag war Wayss dem Bauen von Jugend an verbunden.Als Sohn eines schwäbischen Bauunternehmers hatteer an der Baugewerbeschule und am Polytechnikumin Stuttgart studiert. Nach einiger Zeit im württem-bergischen Staatsdienst, in der er bei Bahnbauten denEinsatz von Stampfbeton kennenlernte, gründete erschließlich 1879 in Frankfurt a. M. mit einem Partnerdie Firma Wayss und Diss, die Bürgersteige aus Be-ton herstellte [9].

Von Frankfurt aus besuchte G. A. Wayss 1885eine Gewerbeausstellung in Antwerpen. Dort kam erauf dem Stand der belgischen Firma Picha et Fréresmit Eisenbeton in Berührung. Diese Firma war näm-lich Moniers Lizenznehmerin in Belgien. AuchWayss muss von der neuartigen Bauweise unmittel-bar beeindruckt gewesen sein. Er suchte den Kontaktzu dem deutschen Lizenzinhaber C. Freytag, mögli-cherweise über eine Vermittlung durch Jousseaux inOffenbach.

G. A. Wayss (Abb. 7) war zwar ein ausgebilde-ter Ingenieur, aber im Grunde weniger theoretisch in-teressiert, dafür ein aktiver, unternehmerischer, zu-gleich aber auch recht unruhiger Mensch. Nach der

Abb. 5: Hundehütte aus Eisenbeton von 1884, erstes Ver-suchs-„Bauwerk“ von C. Freytag (heute im DeutschenMuseum in München) [14]

Abb. 6: Kleine Fußgängerbrücke aus Eisenbeton in Neu-stadt a. d. Haardt [14]

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Übernahme der deut-schen Monier-Rechteaußerhalb von Süd-deutschland beendeteer sein Engagement inFrankfurt am Mainund ging nach Berlinin die Hauptstadt desReiches, wo er dieBaufirma G. A. Wayssu. Co. gründete. Aus-führungsrechte an derneuen Bauweise fürPosen und Schlesien

verkaufte er sogleich an die Firma Gebr. Huber inBreslau.

Nun begannen ereignisreiche Jahre, in die dieNeustadter Firma Freytag und Heidschuch teilweiseeingebunden war.

Wayss besuchte im Zuge seiner intensiven Ak-quisitionsbemühungen auch die damals laufendeBaustelle des neuen Reichstagsgebäudes in Berlin.Hier traf er auf den Regierungsbauführer MatthiasKoenen (Abb. 8), der den Rohbau leitete. Dieser her-vorragend ausgebildete Ingenieur mit wissenschaftli-chem Scharfsinn stand dem Ansinnen von Wayss,beim Reichstag ei-senbewehrte Beton-wände einzusetzen,anfänglich äußerstskeptisch gegenüber.Koenen sah drei Pro-blempunkte, die dendauerhaften Erfolgvon mit Eisenstäbenbewehrtem Beton inFrage zu stellenschienen: Erstens ei-ne mögliche Rostge-fahr des Eisens imBeton, zweitens eineunzureichende Haf-tung zwischen denBewehrungsstäben und dem umgebenden Beton unddrittens die Zerstörung der Bauteile infolge unter-schiedlicher Ausdehnung der beiden Baustoffe bei ei-ner Erwärmung. Es gelang aber, durch gezielte Klein-versuche die ersten beiden Gegengründe auszuräu-men. Im Hinblick auf den dritten Einwand wurdeKoenen in einer französischen Fachzeitschrift fündig.Dort war für Beton eine Wärmedehnzahl angegeben,die mit der von Eisen nahezu übereinstimmte. Koe-nen war nun von dem Potenzial der neuen Bauweiseüberzeugt. „Von diesem Augenblick an war ich ent-schlossen,“ so schrieb er später, „der Sache meinevolle Aufmerksamkeit zu widmen, da ich mir voll be-

wusst war, nunmehr die Grundbedingungen für eineneue Bauweise vor mir zu haben“ [10].

Koenen entwickelte sogleich ein Bemessungs-verfahren für biegebeanspruchte Eisenbetonplatten.Entsprechende Versuche bestätigten zum Erstaunenaller das von Koenen vorausgesagte überaus günsti-ge Tragverhalten. Es galt nun, die Bauherren, insbe-sondere die Behörden zu überzeugen. Koenen veröf-fentlichte 1886 sein Bemessungsverfahren in einerkurzen Notiz im Centralblatt der Bauverwaltung(Abb. 9).Abb. 7: Gustav Adolf Wayss

(1851 – 1917)

Abb. 8: Matthias Koenen(1849 – 1924)

Abb. 9: Erste rechnerische Behandlung eines Eisenbeton-querschnitts: M. Koenens Veröffentlichung im Centralblattder Bauverwaltung [11]

Wayss führte gleichzeitig ein umfangreichesVersuchsprogramm durch, um die Leistungsfähigkeitder neuen Bauweise zu demonstrieren. Diese Bela-stungsversuche wurden aus dem Hintergrund vonKoenen entworfen und begleitet, der offiziell als Be-diensteter des preußischen Staates bei diesem Fir-menprojekt nicht in Erscheinung treten wollte. DieFa. Freytag und Heidschuch unterstützte das Vorha-ben, und einzelne Versuche fanden auch im Breslaubei der Fa. Gebr. Huber statt. In Berlin wurden 10von den insgesamt 14 Versuchsobjekten „durch dasKönigliche Polizei-Präsidium am 23. Februar 1886 inGegenwart einer großen Zahl bedeutender Architek-ten und Ingenieure erprobt“ (Zitat aus [12]). Das

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Messprotokoll wurde von der genannten Behörde be-glaubigt. Gleiches geschah bei den restlichen vierVersuchen durch einen Regierungs-Baumeister alsunabhängigem Fachmann. Die Versuchsanordnungenund die gewonnenen Ergebnisse, aber auch allgemei-ne Beschreibungen zur sogenannten „Monier-Bau-weise“ und ihren Anwendungsmöglichkeiten wurden1887 in der sogenannten Monier-Broschüre [12] vonWayss veröffentlicht und in einer groß angelegtenAktion in 10.000 Exemplaren kostenlos verteilt. Mit-verfasser bei wesentlichen Teilen dieses immerhin128 Seiten umfassenden Buches war aber wohl Koe-nen, was den etwas nebulösen Satz „Unter Mitwir-kung namhafter Architekten und Ingenieure“ auf der

Abb. 10: Titelseite der „Monier-Broschüre“ [12]

Abb. 11: Überschrift des Theorie-Kapitels in der „Monier-Broschüre“ mit dem Hinweis auf M. Koenen [12]

Titelseite erklären mag (Abb. 10). Lediglich unter derÜberschrift des Theorie-Kapitels der „Monier-Bro-schüre“ findet man einen namentlichen Hinweis aufM. Koenen (Abb. 11).

Wayss bedrängte Koenen fortwährend, alstechnischer Leiter in sein Unternehmen einzutreten.Als der Rohbau des Reichstags seiner Fertigstellungentgegenging, entschloss sich Koenen tatsächlich zudiesem gewiss nicht alltäglichen Schritt: Er verließden Staatsdienst trotz der sich abzeichnenden Karrie-reaussichten und vollzog am 1. Juli 1888 im Altervon 39 Jahren den Wechsel in das Wayss’sche Bauge-schäft. 1889 wurde dieses in die „Aktiengesellschaftfür Monierbau, vormals G. A. Wayss u. Co“ umge-wandelt. 1890 erwarb Wayss für das Berliner Unter-nehmen die Neustadter Firma Freytag und Heid-schuch, die damit ihre Selbstständigkeit verlor undfür einige Jahre als Niederlassung der Berliner Akti-engesellschaft tätig war [8]. Schon vier Jahre spätergeriet letztere aber in wirtschaftliche Schwierigkei-ten. Wayss verließ 1893 sein Berliner Unternehmen,das fortan mit dem Namen „Beton- und MonierbauAG“ unter der Leitung von Koenen weiterbestand.(Dieses Unternehmen existierte bekanntlich bis Endeder 70er Jahre des vergangenen Jahrhunderts).

C. Freytag konnte bei dieser Gelegenheit fürsein Neustadter Unternehmen die Selbstständigkeitdurch Rückkauf wiederherstellen, und der Fortgangder Geschichte spielt nun wieder in der Pfalz.

5 Der dritte Schritt: Die Gründung des Unternehmens Wayss & Freytag

1891 war Freytags Schwager Carl Heidschuchverstorben, und so lag die Leitung in Neustadt seit-dem allein in den Händen von C. Freytag. Bei demRückkauf der Neustadter Firma aus der Beton- undMonierbau AG erwarb C. Freytag auch deren Nieder-lassungen in Stuttgart, München und Luxemburg unddarüber hinaus eine Fabrik in Neckarau, in der Beton-rohre nach dem sogenannten Zissler-Verfahren pro-duziert wurden.

C. Freytag nahm den in Berlin ausgeschiede-nen G. A. Wayss in sein Unternehmen auf, das dar-aufhin am 1. Februar 1893 den Firmennamen „Offe-ne Handelsgesellschaft Wayss & Freytag“ annahm.Zunächst leitete C. Freytag das Unternehmen allein.1896 wurde sein Schwiegersohn Otto Meyer (1865 –1939) Teilhaber und unterstützte fortan Freytag in derverantwortlichen Leitung der Firma.

rechnung und Bemessung der Bauteilewar bereits eine der unbedingten Voraus-setzungen. Der ganze Prozess vollzogsich nach den erlassenen baupolizeili-chen Regelungen und Vorschriften. Fürdie neue Eisenbetonbauweise fehlten sol-che Genehmigungsgrundlagen bis dahinvöllig. Nicht nur existierten keine baupo-lizeilichen Vorschriften, es fehlten auch

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Der Briefkopf von 1898 (Abb. 12) weist aufden ersten Blick noch immer die alten Geschäftsfel-der auf, allerdings ergänzt um den hervorgehobenenHinweis „Spezialität: Monierbauten“. Der Zeit ent-sprechend und sicher werbewirksam waren die detail-lierten Angaben über eine Vielzahl von errungenenMedaillen und Diplomen.

Auf dem gleichen Briefbogen war am Rand ei-ne Auflistung über die angebotenen Bauteile undBauwerke abgedruckt (Abb. 13). Interessant ist hierder wiederholte Hinweis auf die Feuersicherheit undsogar die Diebessicherheit der Bauweise.

Schließlich wurde im Jahre 1900 die OHG indie Wayss & Freytag AG umgewandelt. Wayss, dersich in Neustadt kaum betätigt hatte und der seineHauptaktivität inzwischen in ein weiteresWayss´sches Unternehmen in Wien einbrachte, über-nahm bei der Wayss & Freytag AG den Vorsitz imAufsichtsrat. Der Vorstand bestand aus C. Freytagund O. Meyer.

6 Der vierte Schritt: Emil Mörsch wird Leiterdes Technischen Büros

Um 1900 waren die bauaufsichtliche Geneh-migung und kontrollierende Begleitung von Bauvor-haben durch die Bauaufsicht, sowohl bei der Planungals auch bei der Ausführung, eine staatlicherseits ge-regelte und längst etablierte Praxis. Die statische Be-

Abb. 13: Liste der angebotenen Leistungen der Fa. Wayss& Freytag auf deren Briefbogen von 1898 (StadtarchivNeustadt a. d. Weinstraße)

Abb. 12: Briefkopf der Fa. Wayss & Freytag von 1898(Stadtarchiv Neustadt a. d. Weinstraße)

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ner Arbeit in Buchform veröffentlicht. „Der Betonei-senbau“ war der heute recht seltsam klingende Titeldieses immerhin schon 118 Seiten umfassenden Bu-ches (Abb.16). Nach einem einleitenden Kapitel überdie „Entwicklung und Anwendung des Betoneisen-baus“ lieferte Mörsch bereits eine „Theorie der Be-toneisenkonstruktionen“, die nicht nur die Biegebe-messung für verschiedene Querschnittsformen ent-hielt, sondern sich auch schon mit Schub- und Haupt-spannungen auseinandersetzte, wobei sogar eine aller-dings noch unvollständige Bemessung von Bügeln

ausreichende undfundierte Bemes-sungs- und Nach-weisverfahren,wenn man einmalvon dem wenigenabsieht, das Koenenhierzu bereits veröf-fentlicht hatte.

Dieser Man-gel stellte sich mehrund mehr als einschwerwiegendesHindernis bei der

Akquisition von Aufträgen heraus. Offenkundig warein echter Durchbruch der Eisenbetonbauweise beidem damaligen fortgeschrittenen Stand des Ingeni-eurbaus an die Voraussetzung gebunden, dass sichere,theoretisch fundierte Berechnungs- und Nachweis-verfahren geschaffen wurden, die dann auch dieGrundlage für behördliche Vorschriften werdenkonnten. C. Freytag gelang es im Jahre 1900, für die-se Aufgabe einen jungen, äußerst begabten und wis-senschaftlich kreativen Ingenieur für das NeustadterUnternehmen zu gewinnen: Es war Emil Mörsch(1872 – 1950), (Abb. 14).

E. Mörsch wurde in Reutlingen als Sohn einesTuchmachers geboren [8]. Er hatte am Polytechni-kum in Stuttgart Bauingenieurwesen von 1890 bis 94studiert und war nun als junger Regierungsbaumei-ster im württembergischen Staatsdienst tätig, undzwar seit 1898 im Brückenbüro der Württembergi-schen Staatsbahn. C. Freytag begegnete Mörsch imZusammenhang mit Arbeiten der Stuttgarter Nieder-lassung, wobei ihm sogleich nicht nur die ernste, be-sonnene Art des jungen Mannes, sondern auch seineausgesprochene Ingenieurbegabung aufgefallen seinsoll. C. Freytag, wie immer schnell entschlossen,bemühte sich darum, diesen fähigen Ingenieur fürsein Unternehmen zu gewinnen, und zwar mit Er-folg: E. Mörsch verließ den Staatsdienst und über-nahm als 28-Jähriger am 1.2.1901 die Leitung desTechnischen Büros der Wayss & Freytag AG in Neu-stadt a. d. Haardt. Neben der alltäglichen Bearbei-tung laufender Projekte wurde ihm ausdrücklich dieübergeordnete Aufgabe zugewiesen, eine wissen-schaftliche Grundlage für die Arbeiten des Unter-nehmens zu schaffen.

Abb. 15 zeigt die neue Wirkungsstätte von E.Mörsch, das bereits erwähnte, 1871 von C. Freytag er-richtete Bürogebäude in der Neustadter Thalstraße,das jetzt Sitz der Hauptverwaltung der Wayss & Frey-tag AG war. Mörsch ging mit Feuereifer ans Werk,und schon im Mai 1902 wurde nach nur anderthalbJahren von dem Unternehmen ein erstes Ergebnis sei-

Abb. 14: Emil Mörsch(1872 – 1950) Abb. 15: Bürogebäude in der Neustadter Thalstraße, Sitz

der Hauptverwaltung der Wayss & Freytag AG [14]

Abb. 16: Titelseite des Buches „Der Betoneisenbau“

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Abb. 17: Prägung auf dem Einband von Mörschs Stan-dardwerk „Der Eisenbetonbau“, hier von Band II, 2. Teil,der vierbändigen Ausgabe von 1926 – 1933 [13]

mitgeteilt wurde. (Dieses Buch war der Beginn vonimmer neuen Auflagen, die fortlaufend verbessert underweitert wurden. Sie mündeten schließlich in dasvierbändige Werk, das mit dem Titel „Der Eisenbe-tonbau“ international bekannt wurde (Abb. 17 [13]).

E. Mörsch war nun als Dreißigjähriger bereitsein bekannter Fachmann. Er hielt Vorträge bei Sit-zungen des Deutschen Beton-Vereins, der schon 1898unter Mitwirkung von C. Freytag und M. Koenen ge-gründet worden war. Vor allem wirkte Mörsch bei derAusarbeitung der ersten Eisenbetonvorschriften mit,die in Preußen 1904 erlassen wurden. Im gleichenJahr erhielt der erst 32 Jahre alte Mörsch einen Rufan die ETH Zürich als Ordinarius für Statik,Brückenbau und Eisenbetonkonstruktion. Er über-nahm diese Aufgabe, aber der Kontakt zum Unter-nehmen Wayss & Freytag blieb bestehen.

Vier Jahre später trat C. Freytag erneut an E.Mörsch heran, und es gelang ihm, ihn zum zweitenMal für das Neustadter Unternehmen zu gewinnen. E.Mörsch gab seine Professur in Zürich auf und wurdeMitglied des Vorstandes und Technischer Direktorder Wayss & Freytag AG. 1912 erhielt der nun Vier-zigjährige die Ehrendoktorwürde der TH Stuttgart.1916 wurde E. Mörsch von dieser Hochschule aufden Lehrstuhl für Statik, Eisenbetonbau und gewölb-te Brücken berufen. Eine wechselseitig fruchtbareZusammenarbeit zwischen ihm und Wayss & Freytagblieb aber weiterhin erhalten.

7 Die erst zögerliche und dann stürmische Entwicklung um und nach 1900

Zu Beginn der neunziger Jahre des 19. Jahr-hunderts teilten sich in Deutschland vier Firmen dasAusführungsrecht für die Monier-Bauweise:

■ Freytag und Heidschuch (später Wayss & FreytagAG), Neustadt a. d. Haardt,

■ Martenstein und Josseaux, Offenbach a. M.,■ G. A. Wayss und Co. (später Beton- und Monier-

bau Aktien-Gesellschaft), Berlin,■ Gebr. Huber, Breslau.

Die Firmen betrieben im gemeinsamen Interes-se die Förderung der ihnen geschützten Bauweise[14]. Dennoch ging die Entwicklung aus verschiede-nen Gründen im nächsten Jahrzehnt nur zögerlichvoran:

■ Die Basis der vier Firmen war, gemessen an denpotenziellen Möglichkeiten, für eine schnelle Ent-wicklung zu schmal.

■ Das deutsche Monierpatent war heiß umstrittenund wurde zeitweise gerichtlich außer Kraft ge-setzt. Das Bemühen, sich die Exklusivität auf derGrundlage dieses Schutzrechtes zu erhalten,zwang dazu, erworbenes Wissen und Erfahrungenals Geschäftsgeheimnis nicht zu offenbaren. An-dererseits wurde hierdurch aber die Einführungder Bauweise bei Bauherren und Baubehördensehr behindert.

■ Schließlich begann um die JahrhundertwendeFrançois Hennebique als scharfer Konkurrent mitseiner monolithischen Bauweise, zugehörigen ei-genen Schutzrechten und zahlreichen Lizenzneh-mern den europäischen Markt zu überrennen.

Abb. 18 zeigt die prinzipielle Darstellung ei-nes Lagerhauses aus der „Monier-Broschüre“ [12],mit einem Aufbau, wie er von Wayss und Koenen an-

Abb. 18: Lagerhaus mit „Monier-Decken“ [12]

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Abb. 19: Das „System Hennebique“ [15]

fänglich gesehen wurde. Die Deckenplatten bestehenaus bewehrtem Beton und werden von in engem Ab-stand angeordneten Eisenträgern getragen. Bei demso genannten „System Hennebique“ wurden dagegenDecken, Balken und Säulen sozusagen aus einemGuss aus Eisenbeton hergestellt (Abb. 19). Diese mo-nolithische und dem Eisenbeton gemäße Bauweiseenthielt bereits das Konstruktionselement des Platten-balkens (Abb. 20). (Nach M. Koenen geht die Be-

Abb. 20: Plattenbalken mit Bewehrung nach Hennebique[16]

zeichnung „Plattenbalken“ auf E. Mörsch zurück.)Die Generalvertretung seines Systems für Deutsch-land hatte Hennebique dem Büro des damals inStraßburg wirkenden Ingenieurs Eduard Züblin über-tragen [17].

Die stürmische Ausweitung des Eisenbeton-baus kam erst nach 1900 in Gang, als die primärenSchutzrechte ausgelaufen waren und immer mehr derreinen Betonfirmen, die der Bewehrung mit Eisenstä-ben zunächst teilweise recht reserviert gegenüberstanden, sich der neuen Bauweise zuwandten. Ent-scheidend für die Beschleunigung der Entwicklung

war aber die wissenschaftliche Erforschung derGrundlagen vor allem auf experimentellem Wege.Wesentlich unterstützt wurde der Fortgang durch diegemeinsame Verbandsarbeit, insbesondere durch den1907 ins Leben gerufenen Deutschen Ausschuss fürEisenbeton [18]. Die ersten Richtlinien und Vor-schriften entstanden, um die so hinderlichen Schwie-rigkeiten bei den baupolizeilichen Genehmigungenauszuräumen. In Preußen wurden, wie schon er-wähnt, die ersten Eisenbetonvorschriften 1904 erlas-sen. In Bayern, zu dem damals auch die Pfalz gehör-te, erfolgte dies erst 1918, wie aus einem Schreibendes Bürgermeisteramts an das Stadtbauamt in Speyerhervorgeht (Abb. 21).

Abb. 21: Auszug aus einem Schreiben des Bürgermeister-amtes an das Stadtbauamt in Speyer vom 14. Mai 1918(Stadtarchiv Speyer)

Abb. 22: Isarbrücke in München von 1898 [14]

Abb. 23: Isarbrücke bei Grünwald von 1904 mit Bögenvon 2 × 70 m (Ansichtskarte, Stadtarchiv Neustadt a. d.Weinstraße)

Äußerst kühnmutet aus heutigerSicht der Vorschlageiner Rheinbrückeaus Eisenbeton an,den die SüddeutscheCement-Verkaufs-stelle 1912 dem Bür-germeister von Spey-er unterbreitete (Abb.24). Wie aus weiterenUnterlagen im Stadt-archiv Speyer hervor-geht, wurde über einsolches Projekt da-mals ernsthaft ge-sprochen.

Die Wayss &Freytag AG konntedas geografische Gebiet ihrer Tätigkeit immer mehrausdehnen, über die deutschen Grenzen hinaus undbis nach Übersee. Abb. 25 zeigt die Rückseite derNeustadter Zentrale, an der die Orte der zahlreichenNiederlassungen angeschrieben sind.

Abb. 26 zeigt Conrad Freytag, der in jungenJahren die ersten Schritte zur Einführung der Eisenbe-

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Abb. 27: Heutiger Zustand des Mausoleums der FamilieFreytag oberhalb des Neustadter Stadtteils Hambach(Foto des Autors)

Zwei Beispiele aus dem Brückenbau sollenstellvertretend für die zahlreichen verwirklichten Pro-jekte demonstrieren, welch großartige Leistungen be-reits in dieser Frühzeit des Eisenbetonbaus vollbrachtwurden. Schon 1898 errichtete Wayss & Freytag einesehr flach gewölbte Bogenbrücke über die Isar inMünchen mit einem Mittelpfeiler und zwei beider-seits davon angeordneten Korbbögen (Abb. 22).Sechs Jahre später entstand 1904, nun schon unter dertechnischen Leitung von E. Mörsch, die Isarbrückebei Grünwald (Abb. 23). Die beiden Bögen über-spannten eine Stützweite von je 70 m, eine zu dieserZeit wahrlich kühne Ingenieurleistung. Man musssich vor Augen halten, dass es bis dato noch keineVorschriften für den Eisenbetonbau und schon garnicht für derartige Brückenbauwerke gab.

Abb. 24: Vorschlag für eine Rheinbrücke aus Eisenbeton,Schreiben der Süddeutschen Cement-Verkaufsstelle an denBürgermeister von Speyer vom 2. September 1912 (Stadt-archiv Speyer)

Abb. 25: Rückseite der Zentrale von Wayss & Freytag inNeustadt a. d. Haardt (vermutlich um oder etwas nach1910) [14]

Abb. 26: Conrad Freytag(1846 – 1921)

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8 Literatur

tonbauweise in Deutschland vollzogen hatte, im be-reits fortgeschrittenen Alter. Die Technische Hoch-schule Darmstadt verlieh ihm im Jahre 1918 die Wür-de eines Doktoringenieurs ehrenhalber „In Anerken-nung seiner Verdienste für die Einführung und Ent-wicklung des Eisenbetonbaus in Deutschland und inWürdigung seiner großzügigen Förderung der wissen-schaftlichen Erforschung dieser Bauweise“.

Am 2. Juli 1921 starb Conrad Freytag nachlängerer, schwerer Krankheit im Alter von fast 75Jahren. Seine Urne wurde im Mausoleum der Familie

Freytag beigesetzt. Dieses Mausoleum hatte Freytagselbst errichten lassen. Der Baustoff war, wie konntees anders sein, Beton in unterschiedlicher Gestaltung.Das kleine Bauwerk befindet sich oberhalb des Neu-stadter Stadtteils Hambach im beginnenden Wald desHaardtrandes. Es ist heute von hohen Bäumen um-wachsen (Abb. 27).

„Nicht nachlassen zwingt“, dieser Wahlspruchdes Pfälzers Conrad Freytag hätte auch über derganzen Frühzeit der Eisenbetonbauweise in Deutsch-land stehen können.

[1] 50 Jahre Vereinigung der Prüfingenieure für Baustatik inRheinland-Pfalz e.V., Jubiläumsschrift Oktober 2005.

[2] Johannsen, O.: Geschichte des Eisens. Dritte völlig neu be-arbeitete Auflage, Verlag Stahleisen m.b.H., Düsseldorf,1953.

[3] Ramm, W.: Über die Geschichte des Eisenbaus und das Ent-stehen des Konstruktiven Ingenieurbaus. Stahlbau 70, 2001,Heft 9, S. 628 – 641. Verlag Ernst und Sohn, Berlin.

[4] Ramm, W.: Zeugin der Geschichte: Die Alte Weichsel-brücke in Dirschau. Technische Universität Kaiserslautern,Fachgebiet Massivbau und Baukonstruktion, 2004, ISBN 3-00-014775-6.

[5] Klaas, G.v.: Weit spannt sich der Bogen. Die Geschichte derBauunternehmung Dyckerhoff & Widmann. Verlag fürWirtschaftspublizistik H. Bartels KG, Wiesbaden, 1965.

[6] Stiglat, K.: Brücken am Weg. Frühe Brücken aus Eisen undBeton in Deutschland und Frankreich. Verlag Ernst & Sohn,Berlin, 1997.

[7] Stark, J. und Wicht, B.: Geschichte der Baustoffe. Bauver-lag, Wiesbaden u. Berlin, 1998.

[8] 100 Jahre Wayss & Freytag Aktiengesellschaft. Festschriftdes Unternehmens, 1975.

[9] Huberti, G.: Vom Caementum zum Spannbeton. Bd. I. Bau-verlag, Wiesbaden u. Berlin, 1964.

[10] Zur Entwicklungsgeschichte des Eisenbetons. (PersönlicheErinnerungen von Generaldirektor Dr.-Ing. E. h. M. Koe-nen). Der Bauingenieur, 1921, S. 347 – 349.

[11] Berechnung der Stärke der Monierschen Cementplatten.Centralblatt der Bauverwaltung, 1886, S. 462.

[12] Das System Monier (Eisengerippe mit Cementumhüllung)in seiner Anwendung auf das gesamte Bauwesen. UnterMitwirkung namhafter Architekten und Ingenieure, heraus-gegeben von G. A. Wayss, Ingenieur, Inhaber des Patents„Monier“. Berlin, 1887.

[13] Mörsch, E.: Der Eisenbetonbau – Seine Theorie und An-wendung. Verlag von Konrad Wittwer, Stuttgart, 1926 -1933.

[14] Festschrift aus Anlass des fünfzigjährigen Bestehens derWayss & Freytag AG, Verlag von Konrad Wittwer in Stutt-gart, 1925.

[15] Herzog M.: 150 Jahre Stahlbetonbau (1848 – 1998). Bau-technik Spezial. Ernst & Sohn, Verlag für Architektur undtechnische Wissenschaften, Berlin, 1999.

[16] Marti, P., Monsch, O. und Schilling, B.: Ingenieur-Beton-bau. Gesellschaft für Ingenieurbaukunst, vdf Hochschulver-lag AG an der ETH Zürich, 2003.

[17] Everts-Grigat, S. und Fuchs, K.: Züblin, 100 Jahre Bautech-nik, 1898 – 1998. Ed. Züblin AG, Stuttgart, 1998.

[18] Ramm, W.: Über die faszinierende Geschichte des Beton-baus. Beitrag in „Gebaute Visionen“, 100 Jahre DeutscherAusschuss für Stahlbeton 1907 – 2007. Beuth VerlagGmbH, Berlin, Wien, Zürich, 2007.

[19] Ramm, W.: Matthias Koenen – Schöpfer der ersten Biege-bemessung für Eisenbetonplatten und Mitbegründer der Ei-senbetonbauweise in Deutschland. Schriftenreihe „Heraus-ragende Ingenieurleistungen in der Bautechnik“, Jahrbuch1998 der VDI-Gesellschaft Bautechnik. VDI-Verlag GmbH,Düsseldorf, 1998.

[20] Ramm, W.: Conrad Freytag, Wegbereiter der Eisenbeton-bauweise in Deutschland. Schriftenreihe des Institutes fürTragwerke und Baustoffe, Heft 19. Technische UniversitätDresden, 2002.