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Sozialkompass Europa Soziale Sicherheit im Vergleich Begleittexte zur Datenbank 3. Auflage 2013

Sozial Kompass Europa Soziale Sicherheit im Vergleich, 2013.pdf

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  • Sozialkompass EuropaSoziale Sicherheit im VergleichBegleittexte zur Datenbank

    3. Au

    flage

    2013

  • Redaktioneller HinweisAus Grnden der einfacheren Lesbarkeit wird auf geschlechtsspezifisch differenzierende Formulierungen - z.B. der/die Brger/in - verzichtet. Die in dieser Verffentlichung verwendete mnnliche Form gilt im Sinne der Gleichbehandlung grundstzlich fr Frauen wie Mnner gleichermaen.

  • Sozialkompass EuropaSoziale Sicherheit im VergleichBegleittexte zur Datenbank3. Auflage September 2013

  • Inhaltsverzeichnis

    Einleitung

    Europa in Daten 4

    Teil I - Sozialer Schutz in Europa

    Soziale Grundrechte in Europa 18Die Grundrechtecharta 50Finanzierung und Struktur 64

    Teil II - Soziales Europa fr alle

    Sozialsysteme koordinieren 881. Familie 982. Mutterschaft 1043. Krankheit 1084. Pflege 1165. Entgeltfortzahlung 1246. Behinderung 1287. Arbeitslosigkeit 1428. Arbeitsunfall 1509. Invaliditt 15410. Alter 15811. Hinterbliebene 170

    4

    16

    86

  • Arbeiten in Europa 17612. Kndigung 18413. Mitbestimmung 18814. Arbeitsstreitigkeiten 194

    Armut bekmpfen 20015. Soziale Notlagen 204

    Teil III - Die Lnder Europas

    Kennzahlen und Fakten 216Lnderkennzahlen 240

    Teil IV - Glossar von A-Z

    Teil V - Die Datenbank

    Aufbau und Nutzung 434

    Anhang

    Tabellenverzeichnis 462Literatur 464Links 468Impressum 470Bestellungen 471

    214

    298432

    462

  • 4Europa in Daten

    Die Europische Union hat seit Juli 2013 insgesamt 28 Mitglie-der. Allein seit Beginn dieses Jahrhunderts sind damit 13 neue Mitgliedstaaten hinzugekommen. Mit der sogenannten Ost- erweiterung, die am 1. Januar 2007 mit Bulgarien und Rum-nien komplettiert wurde, und mit Kroatien, das am 1. Juli 2013 der Europischen Union beigetreten ist, gestalten diese 28 Ln-der nun den Staatenverbund gemeinsam. Sie alle prgen damit die ebenso zahlreichen wie unterschiedlichen Politikbereiche der Europischen Union von der Wirtschaftspolitik ber die Auen- und Sicherheitspolitik bis hin zur Sozialpolitik. Heute leben mehr als 500 Millionen Menschen in den Mitgliedstaaten der EU auf rund 4,3 Millionen km Flche. Sie alle wnschen sich fr die eigene Zukunft und die der nachfolgenden Genera-tionen ein Leben in Frieden und sozialer Geborgenheit.

    Auf der einen Seite ist die Europische Union in den Jahrzehn-ten seit ihrer Grndung immer strker zusammengewachsen, auf der anderen Seite bedeutet die Erweiterung fr ihre alten wie neuen Mitglieder auch eine enorme Anstrengung, um die-sen Prozess weiter voranzutreiben. Die unterschiedlichen Kul-turen und Traditionen der europischen Nationen reprsen-tieren den groen kulturellen und historischen Reichtum der Union, sie stellen aber auch eine permanente Herausforderung dar, gemeinsame Normen und Regeln im Zusammenleben der Vlker und Mitgliedstaaten zu finden und zu etablieren.

    Diese Aufgabe, unterschiedliche politische Systeme, geografi-sche, historische und wirtschaftliche Voraussetzungen ebenso wie Traditionen und Denkweisen zusammenzufhren, macht den Alltag der Europapolitik aus. Dieser war besonders fr die 17 Mitgliedstaaten der Europischen Wirtschafts- und

    Einleitung

  • 5Europa in Daten

    Europa in Daten

    Die Europische Union hat seit Juli 2013 insgesamt 28 Mitglie-der. Allein seit Beginn dieses Jahrhunderts sind damit 13 neue Mitgliedstaaten hinzugekommen. Mit der sogenannten Ost- erweiterung, die am 1. Januar 2007 mit Bulgarien und Rum-nien komplettiert wurde, und mit Kroatien, das am 1. Juli 2013 der Europischen Union beigetreten ist, gestalten diese 28 Ln-der nun den Staatenverbund gemeinsam. Sie alle prgen damit die ebenso zahlreichen wie unterschiedlichen Politikbereiche der Europischen Union von der Wirtschaftspolitik ber die Auen- und Sicherheitspolitik bis hin zur Sozialpolitik. Heute leben mehr als 500 Millionen Menschen in den Mitgliedstaaten der EU auf rund 4,3 Millionen km Flche. Sie alle wnschen sich fr die eigene Zukunft und die der nachfolgenden Genera-tionen ein Leben in Frieden und sozialer Geborgenheit.

    Auf der einen Seite ist die Europische Union in den Jahrzehn-ten seit ihrer Grndung immer strker zusammengewachsen, auf der anderen Seite bedeutet die Erweiterung fr ihre alten wie neuen Mitglieder auch eine enorme Anstrengung, um die-sen Prozess weiter voranzutreiben. Die unterschiedlichen Kul-turen und Traditionen der europischen Nationen reprsen-tieren den groen kulturellen und historischen Reichtum der Union, sie stellen aber auch eine permanente Herausforderung dar, gemeinsame Normen und Regeln im Zusammenleben der Vlker und Mitgliedstaaten zu finden und zu etablieren.

    Diese Aufgabe, unterschiedliche politische Systeme, geografi-sche, historische und wirtschaftliche Voraussetzungen ebenso wie Traditionen und Denkweisen zusammenzufhren, macht den Alltag der Europapolitik aus. Dieser war besonders fr die 17 Mitgliedstaaten der Europischen Wirtschafts- und

    EU-28

    EU-15Osterweiterung 2004 und 2007Beitritt Kroatien1. Juli 2013

  • 6 Einleitung

    Whrungsunion gerade in jngster Zeit auch von Problemen und Krisen geprgt. Das Stichwort, das bei vielen Menschen das Bewusstsein der nachhaltigen Verdienste und der globalen Notwendigkeit eines weiteren Zusammenwachsens der Staa-ten Europas berlagert hat, lautet Euro-Krise.

    Die Menschen in Europa befinden sich hier in einem Dilemma. Denn einerseits kann ein weiteres Zusammenwachsen der Na-tionen Europas nur dann gelingen, wenn auch die politischen Systeme schrittweise und konsequent einander angenhert werden. Dazu gehren auch die Wirtschafts- und Finanzsyste-me der Mitgliedstaaten. Auf diese Notwendigkeit haben groe Europer wie Konrad Adenauer und Jacques Delors bereits frh hingewiesen. Andererseits geht ein solches Zusammen-wachsen fr alle Beteiligten immer auch mit einer Annhe-rung der Kulturen und Traditionen einher. Dieser Prozess wird Europa noch lange beschftigen, erffnet aber auch die Chance eines tieferen und nachhaltigen Zusammenwachsens, einer echten Gemeinschaft.

    Sozialkompass Europa

    Die Unterschiede der Traditionen, politischen Systeme, aber auch der konomischen Mglichkeiten und Gegebenheiten werden neben der Wirtschafts- und Finanzpolitik vielleicht in keinem anderen Politikbereich so deutlich wie in der Sozialpo-litik. Soziale Sicherung war und ist in den einzelnen Lndern der Europischen Union mit geprgt von der kulturellen Tra-dition einerseits und von der wirtschaftlichen und historisch-politischen Entwicklung andererseits. Daher ist es ein Ziel der EU, die unterschiedlichen Systeme des sozialen Schutzes und der sozialen Sicherung fr die Menschen in Europa aufeinan-der abzustimmen und diese zu modernisieren.

    Denn deutlich unterschiedliche soziale Systeme, wie sie das Europa der 28 heute noch immer aufweist, verlangsamen und erschweren den Prozess des Zusammenwachsens der Vlker in Europa. Dabei darf aber nicht vergessen werden, dass Europa gegenwrtig eine wirtschafts- und sozialpolitische Integrati-onsleistung von gewaltigem Ausma zu bewltigen hat.

    So will der Sozialkompass Europa die Unterschiede in den Systemen der sozialen Sicherung, ihrer Finanzierung und der Arbeitsbedingungen in den Mitgliedstaaten der EU aufzeigen und damit zu mehr Transparenz und besserer Vergleichbarkeit beitragen. Durch Gegenberstellung der rechtlichen Regelun-gen in den einzelnen Lndern soll den Lesern ein Vergleich der unterschiedlichen Gesetzgebungen und Verwaltungsablufe ermglicht werden. Dieser Vergleich ist jedoch angesichts der meist sehr komplexen Regelungen und Bestimmungen nicht bis in alle Details und Sonderflle mglich.

  • 7Denn deutlich unterschiedliche soziale Systeme, wie sie das Europa der 28 heute noch immer aufweist, verlangsamen und erschweren den Prozess des Zusammenwachsens der Vlker in Europa. Dabei darf aber nicht vergessen werden, dass Europa gegenwrtig eine wirtschafts- und sozialpolitische Integrati-onsleistung von gewaltigem Ausma zu bewltigen hat.

    So will der Sozialkompass Europa die Unterschiede in den Systemen der sozialen Sicherung, ihrer Finanzierung und der Arbeitsbedingungen in den Mitgliedstaaten der EU aufzeigen und damit zu mehr Transparenz und besserer Vergleichbarkeit beitragen. Durch Gegenberstellung der rechtlichen Regelun-gen in den einzelnen Lndern soll den Lesern ein Vergleich der unterschiedlichen Gesetzgebungen und Verwaltungsablufe ermglicht werden. Dieser Vergleich ist jedoch angesichts der meist sehr komplexen Regelungen und Bestimmungen nicht bis in alle Details und Sonderflle mglich.

  • 8 Einleitung

    Das Beitrittsdatum Kroatiens, der 1. Juli 2013, hat zudem zur Folge, dass fr dieses jngste Mitgliedsland der Europischen Union noch keine aussagefhigen Daten im europischen Vergleich vorliegen. Kroatien kann daher erst ab der nchs-ten Ausgabe des Sozialkompass Europa 2014 bercksichtigt werden. Statistische Zahlen und Werte, die sich auf die gesamte Europische Union beziehen, sind somit in dieser Ausgabe der Publikation noch auf das Europa der 27 (EU-27) beschrnkt.

    Um mglichst rasch auf Vernderungen in einem immer rascher sich entwickelnden und zunehmend komplexer wer-denden Europa reagieren zu knnen, werden die tabellarischen Vergleiche des Sozialkompass Europa bereits seit mehreren Jahren in Form einer Datenbank verffentlicht. Parallel zu dieser Publikation erscheint im Herbst 2013 die Version 3.0 der Datenbank Sozialkompass Europa (SKE). Diese wird in einem jhrlichen Rhythmus aktualisiert, oder aber bei wichtigen Ver-nderungen je nach Bedarf. Diese Datenbank ist dem Benutzer entweder online auf der Internetseite Sozialkompass.eu ver-fgbar oder dort als kompletter Download aller Daten. Ohne Internetanschluss kann der Sozialkompass Europa von der separat verffentlichten DVD installiert und genutzt werden.

    Der Vergleich der europischen Sozialsysteme, wie ihn die Pu-blikation Sozialkompass Europa des Bundesministeriums fr Arbeit und Soziales leistet, bietet also dem Leser und Benutzer zwei sich ergnzende Informationsebenen:

  • 9Europa in Daten

    Die Broschre

    Die vorliegende Publikation bietet im ersten Teil nach einer kurzen historischen Zusammenfassung zur Entstehung des sozialen Europas einen berblick ber die Finanzierung der Sozialleistungen in den einzelnen EU-Lndern. Grundlage bilden hierbei die Daten des Statistischen Amtes der Europi-schen Union (EUROSTAT) aus den einzelnen Mitgliedstaaten. Diese Darstellung sttzt sich auf die bei Redaktionsschluss Juli 2013 verfgbare EUROSTAT-Datenbasis von 2009. Zwar bot EUROSTAT zu diesem Zeitpunkt bereits Daten zu 2010 an, diese waren aber zu einem groen Teil noch unvollstndig, vorlufig oder nur geschtzt. Daher wurde hier von der Daten-lage 2009 als der verlsslichsten und vollstndigsten bei Redak-tionsschluss ausgegangen. Da die institutionelle Organisation der sozialen Sicherheit in Europa von Land zu Land teilweise stark abweicht, orientieren sich diese Zusammenstellungen an den verschiedenen sozialen Feldern und Risiken.

    In ihrem zweiten Teil finden sich berblicke zu den Elemen-ten der sozialen Sicherungssysteme der Europischen Union. Diese werden in insgesamt 15 kurzen Einfhrungstexten in die einzelnen Themenbereiche des Sozialwesens dargestellt von Familie bis Soziale Notlagen. Auch diese Darstellungen dokumentieren den Sachstand der EUROSTAT-Daten von 2009 und beziehen, wo mglich, darber hinausreichende Entwick-lungen ein.

    Der dritte Teil bietet Lnderkennzahlen zu den 27 EU-Mit-gliedstaaten. Sie verdeutlichen anschaulich die Vielfalt der Europischen Union und bilden mit ihren Informationen zu Land und Leuten die Basis fr einen Vergleich der europ-ischen Sozialsysteme.

  • 10 Einleitung

    Teil IV bietet dem Benutzer von Broschre und Datenbank ein ausfhrliches Glossar der wichtigsten Grundbegriffe der europischen Sozialpolitik sowie der allgemeinen Europa- und Sozialpolitik. Dieses Glossar ist als Hilfestellung fr die Auf-schlsselung und den Vergleich der vielfach komplexen Zu-sammenhnge der unterschiedlichen Sozialsysteme in Europa gedacht. Der interessierte Nutzer der Datenbank findet hier eine rasche Orientierung. Und berall dort, wo der Sozialkom-pass Europa zu Lehr- und Unterrichtszwecken eingesetzt wird, kann zudem auf das Glossar als Hilfe zurckgegriffen werden.

    Nutzung und Funktionalitt der Datenbank Sozialkompass Europa, insbesondere, was die Ausgabe und weitere Verwen-dung der Daten betrifft, werden in Teil V dieser Broschre erlutert. Dort finden sich ebenso Erklrungen zu den Hilfe-texten und Videos zur SKE-Datenbank in Leichter Sprache und Deutscher Gebrdensprache. Diese sind online verfgbar sowie auf der Sozialkompass-DVD.

  • 11Europa in Daten

    Teil IV bietet dem Benutzer von Broschre und Datenbank ein ausfhrliches Glossar der wichtigsten Grundbegriffe der europischen Sozialpolitik sowie der allgemeinen Europa- und Sozialpolitik. Dieses Glossar ist als Hilfestellung fr die Auf-schlsselung und den Vergleich der vielfach komplexen Zu-sammenhnge der unterschiedlichen Sozialsysteme in Europa gedacht. Der interessierte Nutzer der Datenbank findet hier eine rasche Orientierung. Und berall dort, wo der Sozialkom-pass Europa zu Lehr- und Unterrichtszwecken eingesetzt wird, kann zudem auf das Glossar als Hilfe zurckgegriffen werden.

    Nutzung und Funktionalitt der Datenbank Sozialkompass Europa, insbesondere, was die Ausgabe und weitere Verwen-dung der Daten betrifft, werden in Teil V dieser Broschre erlutert. Dort finden sich ebenso Erklrungen zu den Hilfe-texten und Videos zur SKE-Datenbank in Leichter Sprache und Deutscher Gebrdensprache. Diese sind online verfgbar sowie auf der Sozialkompass-DVD.

    Die Datenbank

    Das zweite Element des Sozialkompass Europa, eine um-fangreiche Fakten- und Datensammlung, ist der in Form einer Datenbank (SKE-Datenbank) tabellarisch aufbereitete Ver-gleich der einzelnen Felder des sozialen Lebens. Dieser ist auf der separat publizierten DVD beziehungsweise online und zum Download im Internet zugnglich.

    Der Vergleich beruht auf den Daten, die das auf Initiative der Europischen Kommission geschaffene Gegenseitige Infor-mationssystem zur sozialen Sicherheit (MISSOC) halbjhrlich verffentlicht. In dieser Auflage des Sozialkompass Europa werden die Daten mit Stand 1. Juli 2012 bercksichtigt. Alle Daten wurden von der Redaktion des Sozialkompass Euro-pa inhaltlich berprft, ergnzt, sprachlich und redaktionell berarbeitet und der besseren Verstndlichkeit und Lesbarkeit halber teilweise gestrafft.

    Die Bezeichnungen der einzelnen Kernbegriffe und Sozi-alleistungen werden auch in der jeweiligen Landessprache angefhrt, um dem interessierten Nutzer die Orientierung zu erleichtern. Zudem wird zu den einzelnen Bereichen auch die jeweilige rechtliche Grundlage angegeben.

    Hinzu kommt mit dieser Auflage von Datenbank und Brosch-re 2013 die umfangreiche Darstellung des fr die Sozialpolitik wichtigen und sehr differenzierten Themenbereichs Behin-derung. Die inhaltliche Gliederung der in der SKE-Datenbank erfassten, dargestellten und erluterten sozialen Felder und Bereiche folgt ansonsten der besseren Vergleichbarkeit und Nachvollziehbarkeit fr den Nutzer wegen dem Schema der Daten von MISSOC.

  • 12 Einleitung

    Somit ergibt sich folgende Gliederung der SKE-Datenbank in insgesamt 15 Themenfelder:

    1. Familie2. Mutterschaft3. Krankheit4. Pflege5. Behinderung6. Entgeltfortzahlung7. Arbeitslosigkeit8. Arbeitsunfall9. Invaliditt

    10. Alter11. Hinterbliebene12. Kndigung13. Mitbestimmung14. Arbeitsstreitigkeiten15. Soziale Notlagen

    Das neue Themenfeld Behinderung (5.) wurde in der Daten-bank ebenso redaktionell ergnzt wie die drei arbeitsrecht-lichen Themen (12. 14.), die von MISSOC nicht abgedeckt werden.

    Die einzelnen Themenfelder werden in der SKE-Datenbank nach den fr sie geltenden Versicherungs- oder Verwaltungs-systemen und den jeweiligen Geltungsbereichen sowie nach der Finanzierungs- und Leistungsseite gegliedert. Auerdem wird wdie jeweilige rechtliche Grundlage dargestellt.

    Die Angaben, insbesondere die einzelnen Prozentstze und konkreten Zahlenangaben, sind auf dem Stand vom Juli 2012 (Redaktionsschluss SKE-Datenbank). Zur besseren Vergleich-

    barkeit und Transparenz werden die Angaben in den nationa-len Whrungen auerhalb des Euroraums (EU-17) beibehalten. Die Umrechnung in Euro beruht auf den Wechselkursen mit Stand 1. Juli 2012.

    Vergleich der Sozialsysteme

    Generell gibt es bei einem Vergleich der verschiedenen europ-ischen Sozialsysteme natrlich kein fr alle EU-Lnder ein-heitliches Raster, auch wenn die Struktur der Datenbank dies bisweilen suggerieren mag. Tatschlich sind nmlich einzelne Risiken oder Leistungsfelder in den Mitgliedstaaten zum Teil ganz unterschiedlichen Zweigen der sozialen Sicherung zuge-ordnet. Zum Beispiel setzen einige Mitgliedstaaten Eltern- oder Erziehungsgeld nicht bei den Leistungen fr Familien, sondern bei denjenigen fr Mutterschaft/Vaterschaft ein. Hinzu

  • 13Europa in Daten

    barkeit und Transparenz werden die Angaben in den nationa-len Whrungen auerhalb des Euroraums (EU-17) beibehalten. Die Umrechnung in Euro beruht auf den Wechselkursen mit Stand 1. Juli 2012.

    Vergleich der Sozialsysteme

    Generell gibt es bei einem Vergleich der verschiedenen europ-ischen Sozialsysteme natrlich kein fr alle EU-Lnder ein-heitliches Raster, auch wenn die Struktur der Datenbank dies bisweilen suggerieren mag. Tatschlich sind nmlich einzelne Risiken oder Leistungsfelder in den Mitgliedstaaten zum Teil ganz unterschiedlichen Zweigen der sozialen Sicherung zuge-ordnet. Zum Beispiel setzen einige Mitgliedstaaten Eltern- oder Erziehungsgeld nicht bei den Leistungen fr Familien, sondern bei denjenigen fr Mutterschaft/Vaterschaft ein. Hinzu

  • 14

    kommt, dass es vielfach noch keine einheitliche Terminologie bei der Benennung derselben Sachverhalte gibt. Auch hier spiegeln die Schwierigkeiten bei der Erstellung einer solchen europischen Datenbank vielfach die Realitten der nationalen Sozialpolitik und zugleich die Notwendigkeit ihrer weiteren Annherung wider.

    In manchen Lndern sind einzelne Funktionen durch eine Flle von Sonder-, Ausnahme- und Zusatzregelungen derart berfrachtet, dass es nicht immer leicht ist, den roten Faden der betreffenden Bestimmungen und Strukturen sichtbar zu machen. Auch diesbezglich bietet die hier gewhlte flexi-blere Form der Darstellung in einer Datenbank, die nun in der dritten Auflage vorliegt und regelmig aktualisiert wird, den Vorteil, individuelle Gegebenheiten, nderungen und Ver-schiebungen zeitnah darstellen zu knnen.

    Die Sozialpolitik gewinnt in einem Europa, das die Notwendig-keit des weiteren friedlichen Zusammenwachsens der Men-schen und Nationen immer deutlicher vor Augen hat, mehr und mehr an Bedeutung. Sie prgt und bestimmt alle anderen Politikfelder mit und wird so auch entscheidend fr das Gelin-gen unserer Zukunft sein. Daher ist der Blick ber die eigenen Grenzen hinaus zu unseren europischen Nachbarn gerade im Bereich des Sozialwesens ein wichtiger Bestandteil der politi-schen Information. Dazu will der Sozialkompass Europa in seiner Doppelgestalt als Datenbank/Onlinepublikation und Informationsbroschre einen nachhaltigen Beitrag leisten.

    Einleitung

  • 15

    kommt, dass es vielfach noch keine einheitliche Terminologie bei der Benennung derselben Sachverhalte gibt. Auch hier spiegeln die Schwierigkeiten bei der Erstellung einer solchen europischen Datenbank vielfach die Realitten der nationalen Sozialpolitik und zugleich die Notwendigkeit ihrer weiteren Annherung wider.

    In manchen Lndern sind einzelne Funktionen durch eine Flle von Sonder-, Ausnahme- und Zusatzregelungen derart berfrachtet, dass es nicht immer leicht ist, den roten Faden der betreffenden Bestimmungen und Strukturen sichtbar zu machen. Auch diesbezglich bietet die hier gewhlte flexi-blere Form der Darstellung in einer Datenbank, die nun in der dritten Auflage vorliegt und regelmig aktualisiert wird, den Vorteil, individuelle Gegebenheiten, nderungen und Ver-schiebungen zeitnah darstellen zu knnen.

    Die Sozialpolitik gewinnt in einem Europa, das die Notwendig-keit des weiteren friedlichen Zusammenwachsens der Men-schen und Nationen immer deutlicher vor Augen hat, mehr und mehr an Bedeutung. Sie prgt und bestimmt alle anderen Politikfelder mit und wird so auch entscheidend fr das Gelin-gen unserer Zukunft sein. Daher ist der Blick ber die eigenen Grenzen hinaus zu unseren europischen Nachbarn gerade im Bereich des Sozialwesens ein wichtiger Bestandteil der politi-schen Information. Dazu will der Sozialkompass Europa in seiner Doppelgestalt als Datenbank/Onlinepublikation und Informationsbroschre einen nachhaltigen Beitrag leisten.

  • Teil I Sozialer Schutz in EuropaEuropa gestaltet mehr und mehr seine soziale Dimension. Es wird von den Menschen in Deutschland 2013 anders erlebt als noch vor wenigen Jahrzehnten. Die gemeinsame Whrung, das weitgehende Verschwinden der Binnengrenzen, die Frei-zgigkeit auf dem Arbeitsmarkt, gemeinsame Eckpfeiler der Wirtschaftspolitik, aber auch eine immer strker koordinierte Sicherheits- und Auenpolitik all das und noch vieles andere sind heute zur alltglichen Erfahrung geworden und prgen Alltag und Selbstverstndnis der Menschen in Deutschland und Europa.

  • 18

    Soziale Grundrechte in Europa

    Studieren in Grobritannien, Arbeiten und Wohnen in Frank-reich, Einkaufen im benachbarten Polen, Dnemark oder Lu-xemburg solche Entscheidungen sind fr die Europer heute ohne grere Schwierigkeiten zu treffen. Europa mit inzwi-schen 28 Mitgliedstaaten ist weiter zusammengewachsen und wird auch von auen immer mehr als ein gemeinsamer Politik-, Wirtschafts- und Sozialraum gesehen. Als Brger der jeweiligen Nationalstaaten sind wir alle Brger Europas.

  • 19Soziale Grundrechte in Europa

    Seit mehr als 60 Jahren setzen sich die Menschen auf unserem Kontinent nach den verheerenden Erfahrungen des Zweiten Weltkrieges fr den europischen Einigungsprozess ein. Das Zusammenwachsen der Nationen, Kulturen, Wirtschaftssyste-me und des gesellschaftlichen Lebens sehen wir heute als eine unumkehrbare Entwicklung an, die allen Menschen in Europa Frieden, Freiheit, Wohlstand und soziale Sicherheit gewhr-leisten soll. Heute werden der Wille zum weiteren Zusammen-wachsen und die Unumstlichkeit dieses Prozesses gerade aus Anlass der Errichtung des Euro-Rettungsschirms erneut und mit Nachdruck betont. Fr den Frieden in Europa

    Gerade mit der groen Erweiterung der Europischen Union von 2004 und 2007 und dem Beitritt Kroatiens am 1. Juli 2013 hat das Zusammenwachsen Europas einen neuen Akzent be-kommen. Europa das ist ein politisches Gebilde, das einstige Gegenstze miteinander vershnt, alte Fronten zum Verschwin-den bringt und ein neues Gefge in vielen Lebensbereichen schafft. Die Lnder Europas profitieren voneinander, sie sind aber gleichzeitig auch strker als zuvor aufeinander angewiesen.

    Dabei hat Europa einen langen und nicht immer einfachen Werdegang hinter sich und wohl noch etliche Herausforderun-gen vor sich. Wer die Geschichte des europischen Einigungs-gedankens betrachtet, dem zeigt sich vor allem, wie frhzeitig der Wunsch nach einer supranationalen, ber den Nationen und Vlkern in Europa stehenden Ordnung ausgesprochen wurde.

  • 20 Sozialer Schutz in Europa

  • 21Soziale Grundrechte in Europa

    Flche EU-Lnder 2009km2 in 1.000

    1 Ohne berseegebieteStand: Juli 2013Quelle: Eurostat

    FESD

    FINPL

    IGBROGRBG

    HPA

    CZIRL

    LTLVSK

    ESTDKNL

    BSLO

    CYL

    MEU-27

    544,01

    506,0441,4

    357,1338,4

    312,7301,3

    248,5238,4

    132,0111,0

    93,092,1

    83,978,9

    69,865,364,6

    49,045,243,141,5

    30,5 20,3

    9,32,60,3

    4.320,2

  • 22 Sozialer Schutz in Europa

    Groe Denker und Dichter haben in Europa seit dem ausge-henden 17. Jahrhundert den Gedanken eines einigen Europas vorbereitet und ihm immer wieder Gehr verschafft. Zu ihnen gehrten neben vielen anderen der Englnder William Penn mit seinem Essay ber den gegenwrtigen und knftigen Frie-den Europas (1682), der franzsische Abb de Saint-Pierre mit seinem Traktat fr einen ewigen Frieden in Europa (1712), der dann die Philosophen Jean-Jacques Rousseau und Immanuel Kant beeinflusste.

    Im 19. Jahrhundert waren es zum Beispiel Dichter, die sich fr den Prozess des europischen Zusammenwachsens aus-sprachen, auf deutscher Seite etwa Wieland und Novalis, auf franzsischer Victor Hugo. Sie sahen darin vor allem auch die Mglichkeit eines dauerhaften politischen Friedens in Europa, der einen sozialen Frieden zur Grundlage hatte.

    Vereinigte Staaten von Europa?

    Unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg hatte der britische Premierminister Winston Churchill in einer Rede vom Sep-tember 1946 diese Visionen wieder aufgegriffen und bekrftigt: Wenn Europa einmal eintrchtig sein gemeinsames Erbe ver-walten wrde, dann knnten seine drei- oder vierhundert Mil-lionen Einwohner ein Glck, einen Wohlstand und einen Raum ohne Grenzen genieen. Wir mssen eine Art Vereinigte Staaten von Europa schaffen. Nur dann knnen viele hundert Millionen arbeitender Menschen sich wieder den einfachen Freuden und Hoffnungen hingeben, die das Leben lebenswert machen.1

    1 Zit. nach Eichenhofer 2007, S. 72

  • 23Soziale Grundrechte in Europa

    Nur wenige Jahre spter wurde 1951 in Paris auf Vorschlag des franzsischen Auenministers Robert Schuman die Europi-sche Gemeinschaft fr Kohle und Stahl (EGKS) gegrndet. Sie ist auch unter dem Namen Montanunion in die Geschichte eingegangen. Die EGKS, die inzwischen aufgelst wurde, gilt als Vorluferin der Europischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG). Der deutsche Bundeskanzler Konrad Adenauer hatte damals den franzsischen Vorschlag sofort aufgegriffen. Denn nach dem Zweiten Weltkrieg ging es vor allem um eine Sicherung des Friedens in Europa, wie sie gerade durch ein wirtschaftli-ches Zusammenwachsen der Vlker erreicht werden konnte. Gleichberechtigt daneben stand aber auch die Hoffnung, soziale Gerechtigkeit fr alle zu verwirklichen und einen gemeinsamen Wohlstand zu erreichen.

    Diesseits und jenseits des Rheins wie in ganz Europa begannen die Menschen, sich auf ihre gemeinsamen Wurzeln und Tradi-tionen zu besinnen, um so einen grenzenlosen Raum fr Arbeit und Wohlstand zu schaffen.

    Als 1957 die Europische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) durch die Unterzeichnung der Rmischen Vertrge von den sechs Mitgliedstaaten der EGKS Deutschland, Frankreich, Ita-lien, Belgien, Niederlande und Luxemburg gegrndet wurde, sprach Konrad Adenauer sein berhmtes Wort: Die Einheit Europas war ein Traum weniger. Sie wurde eine Hoffnung fr viele. Sie ist heute eine Notwendigkeit fr alle.

    Die Europische Gemeinschaft (EG), in welcher die EWG ge-meinsam mit der Europischen Gemeinschaft fr Kohle und Stahl (EGKS) und der Europischen Atomgemeinschaft (EURA-TOM) aufging und die schlielich spter die Europische Uni-

  • 24 Sozialer Schutz in Europa

    on (EU) wurde, erfuhr 1973, 1980, 1986, 1994, 2004, 2007 und zuletzt 2013 Erweiterungen bis auf heute 28 Mitgliedstaaten. Mit dem Beitritt neuer Staaten erfllten sich dabei einerseits Hoffnungen, andererseits auch Notwendigkeiten.

    Anfnge einer gemeinsamen Sozialpolitik

    Aber der deutsche Bundeskanzler hatte auch damals bereits betont, dass Europa in vielen Politikbereichen eine Annhe-rung erreichen msse, in anderen eine Harmonisierung, dies aber nie die nationale Verantwortung und Eigenstndigkeit ersetzen knne und solle: Die Europische Integration darf nicht starr sein, sie muss so dehnbar und so elastisch sein wie eben mglich. Sie darf kein einschnrender Panzer sein fr die europischen Vlker, sie muss vielmehr ihnen und ihrer Ent-wicklung ein gemeinsamer Halt, eine gemeinsame Sttze fr eine gesunde, den berechtigten Eigenheiten eines jeden Ein-zelnen entsprechende Entwicklung sein. Die Einrichtungen, an die ich denke, mssen nicht unbedingt und smtlich sup-ranationalen Charakter tragen, wir wollen geeignete Formen whlen, um keinen Staat vom Beitritt abzuschrecken. Auf der anderen Seite darf das Wirken und das Wirksamwerden einer solchen Fderation nicht von dem Willen oder den vermeint-lichen Interessen eines einzelnen Mitgliedes abhngen. Ich bin berzeugt, dass sich ein Mittelweg zwischen den beiden Extre-men finden lsst.2

    Die Sozialpolitik blieb als grundstzliche Aufgabe Sache der Mitgliedstaaten, dennoch fanden Anstze zu einer gemein-schaftlichen Sozialpolitik bereits in die Rmischen Vertrge Eingang. Schon der Vertrag zur Grndung der Europischen

    2 Konrad Adenauer am 25. September 1956 in Brssel

  • Gemeinschaft fr Kohle und Stahl (EGKS) hatte 1951 sozialpoli-tische Bestimmungen enthalten, 1957 konnte der EWG-Vertrag daran anschlieen und nahm die Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen als Ziel einer europischen Integration auf.

    Die EWG erhielt damals nur in einem sehr geringen Umfang sozialpolitische Kompetenzen. Rechtsakte gab es lediglich in den Bereichen Freizgigkeit der Arbeitnehmer (Art. 48 EWG-Vertrag (EWGV), jetzt Art. 45 Vertrag ber die Arbeitsweise der Europischen Union - AEUV), den Manahmen zur Herstel-lung der Freizgigkeit (Art. 49 EWGV, jetzt Art. 46 AEUV) und in Artikel 51 EWGV (jetzt Art. 48 AEUV) System zur Sicher-stellung der Ansprche und Leistungen. Dort hie es: Der Rat beschliet einstimmig auf Vorschlag der Kommission die auf dem Gebiet der sozialen Sicherheit fr die Herstellung der Freizgigkeit der Arbeitnehmer notwendigen Manahmen. Schlielich war noch das Gleiche Entgelt von Mnnern und Frauen (Art. 119, Equal Pay) im EWG-Vertrag gesichert (jetzt Art. 157 AEUV).

  • 26 Sozialer Schutz in Europa

    Frderung des Dialogs

    Da die Mitglieder der EWG fr ihre Sozialpolitik weitestgehend allein verantwortlich waren, lautete die Aufgabe der EWG vor allem, Zusammenarbeit und Abstimmung zwischen den Staa-ten zu frdern. Um dies zu erreichen, wurde im EWG-Vertrag die Grndung des Europischen Sozialfonds (ESF) vereinbart. Er dient der Frderung von Manahmen zur Berufsausbildung und Umschulung und zur Schaffung von Arbeitspltzen im Nachkriegseuropa.

    Vier Jahre danach, 1961, wurde der Europische Sozialfonds schlielich formell eingerichtet. Der ESF hatte als oberstes Ziel die Erhhung der Beschftigungsquote. Seine konkrete Aus-richtung wurde jedoch im Laufe der Jahre immer wieder an die jeweiligen Erfordernisse angepasst. In den ersten Jahren stan-den Fragen der Migration der Arbeitnehmer innerhalb Europas im Mittelpunkt. Es war die Zeit des Wirtschaftswunders und viele Arbeitnehmer kamen als Wanderarbeiter (Gastarbeiter) aus den Nachbarlndern nach Deutschland.

    Spter richtete sich beim Europischen Sozialfonds das Augen-merk verstrkt auf die Bekmpfung der Arbeitslosigkeit unter jungen und schlecht ausgebildeten Arbeitskrften. Es brauchte jedoch noch viele kleine und grere Schritte und etliche Jah-re, bis das soziale Europa, der Sozialraum Europa seine heuti-ge Gestalt annahm.3 1974, also 13 Jahre nach der Grndung des Europischen Sozialfonds, wurde schlielich das erste europ-ische Sozialbudget vorgelegt.

    3 Eichenhofer 2007, S. 68-96

  • 27Soziale Grundrechte in Europa

    Die Europische Sozialcharta

    Ebenfalls im Jahr 1961 wurde am 18. Oktober in Turin vom Eu-roparat feierlich die Europische Sozialcharta verabschiedet. Sie trat 1965 in Kraft und sollte im Bereich der wirtschaftlichen und sozialen Grundrechte essenzielle soziale und wirtschaftli-che Rechte schtzen. Die Europische Sozialcharta enthlt in den Artikeln 1 bis 19 die Grundrechte auf

    Arbeit, gerechte, sichere und gesunde Arbeitsbedingungen, ein gerechtes Arbeitsentgelt, Freiheit zur Vereinigung, Kollektivverhandlungen, das Recht der Kinder und Jugendlichen auf Schutz, das Recht der Arbeitnehmerinnen auf Schutz, das Recht auf Berufsberatung und auf berufliche

    Ausbildung, das Recht auf Schutz der Gesundheit, soziale Sicherheit, Frsorge und das Recht auf Inanspruchnahme

    sozialer Dienste, das Recht behinderter Menschen auf berufliche

    Ausbildung und Eingliederung, das Recht auf Familienschutz, das Recht der Mtter und Kinder auf Schutz sowie Freizgigkeitsrechte, verbunden mit dem Recht

    auf Schutz und Beistand.

  • 28 Sozialer Schutz in Europa

    Auch viel spter noch, in der Prambel zur Einheitlichen Europischen Akte (EEA) von 1987, bezogen sich die Mitglied-staaten der Gemeinschaft auf die in der Sozialcharta festge-schriebenen Grundrechte, insbesondere Freiheit, Gleichheit und soziale Gerechtigkeit. Dieser Bezug findet sich heute in der Prambel zum Vertrag ber die Europische Union (EUV) wieder. Auch der Europische Gerichtshof (EuGH) hat in seiner Rechtsprechung wiederholt auf die Sozialcharta Bezug genom-men.4

    Soziale Rechtsprechung

    Die Sozialcharta diente dem EuGH, gemeinsam mit der 1950 in Rom unterzeichneten Menschenrechtskonvention (EMRK), als Vorgabe und Mastab seiner Rechtsprechung. Sozialcharta und EMRK zusammen wurden dann spter auch zum Modell

    4 Vgl. www.eufis.de

  • 29Soziale Grundrechte in Europa

    fr einen Groteil der Normen der Charta der Grundrechte, die im Jahr 2000 feierlich erklrt5 und 2009 mit dem Inkraft-treten des Vertrages von Lissabon verbindlich wurde.

    De facto beschrnkte sich die Sozialpolitik bis zur Verabschie-dung des ersten sozialpolitischen Aktionsprogramms auf den Europischen Sozialfonds. Das sozialpolitische Aktionspro-gramm wurde dann vom Europischen Rat (dem politisch hchsten Gremium der EU, bei dessen sogenannten EU-Gip-feltreffen die Staats- und Regierungschefs der Europischen Union zusammenkommen) im Dezember 1974 in Paris verab-schiedet. Mitte der 1970er Jahre wurden in der Europapolitik Schwerpunkte in den Bereichen des Schutzes und der Sicher-heit am Arbeitsplatz, der Frderung der Chancengleichheit von Frauen am Arbeitsplatz und der Eingliederung benachteiligter Gruppen in das Arbeitsleben gesetzt. 1975 wurde auch die erste Gleichberechtigungsrichtlinie ber gleiches Entgelt fr Frauen und Mnner erlassen.

    Erste Kompetenzen

    Abgesehen von den vorgenannten Bestimmungen des EWG-Vertrags war zu diesem Zeitpunkt allerdings immer noch keine spezifische Rechtsgrundlage vorhanden, auf der die Sozialpoli-tik der EWG htte grnden knnen. Sozialpolitische Program-me bedurften einstimmiger Entscheidungen des Rates der Europischen Gemeinschaften. Eine Ausweitung der sozial-politischen Kompetenzen der Gemeinschaft erfolgte dann vor allem durch die bereits genannte Einheitliche Europische Akte (EEA) von 1986: Mit Einfhrung von Artikel 118a (Ver-

    5 Stefan Hobe, Otto Kimminich, Einfhrung in das Vlkerrecht 2008, S. 448

  • 30 Sozialer Schutz in Europa

    besserung der Arbeitsumwelt; Mindestvorschriften) durch die AAE in den EWG-Vertrag erhielt die Gemeinschaft jetzt die ausdrckliche Kompetenz zum Erlass von Mindeststandards im Bereich des Arbeitsschutzes. Und Artikel 118b des EWG-Vertrages (Dialog zwischen den Sozialpartnern) versetzte die Kommission in die Lage, den sozialen Dialog zwischen Arbeit-gebern und Gewerkschaften auf EU-Ebene zu frdern.6

    Wichtiger noch war die Diskussion um die soziale Dimension der EG, die im Rahmen der EEA im Zusammenhang mit dem Binnenmarktprojekt angestoen wurde. Durch die Vollendung des Binnenmarktes beschleunigte sich die europische Integ-ration, und zahlreiche Hindernisse auf den Mrkten fielen weg. Das fhrte allerdings auch zu Befrchtungen vor allem bei den Gewerkschaften , dass es dadurch zu einer Schwchung des sozialen Schutzes kommen knnte.

    Auf dem Europischen Rat in Hannover wurde dann zwei Jahre spter 1988 ausdrcklich die Zusammengehrigkeit von wirt-schaftlichem Fortschritt und sozialer Gestaltung betont. Auf dem Gipfel fiel zugleich die Grundsatzentscheidung, dass eine gemeinschaftliche Sozialpolitik nicht zu Sozialabbau in der Ge-sellschaft fhren drfe. Mit dieser politischen Aussage wurden auch die Grundlagen fr weitere Entscheidungen des Europ-ischen Rates gelegt, in der Gemeinschaft den sozialen Aspekten den gleichen Stellenwert einzurumen wie den wirtschaftlichen.

    Die neue Sozialcharta von 1989

    Mit der Annahme der Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte ebenfalls kurz Sozialcharta genannt

    6 Dubler, in: Weidenfeld 2004a, S. 275

  • 31Soziale Grundrechte in Europa

    einigte sich schlielich die Europische Gemeinschaft (EG) 1989 auf eine umfassendere soziale Grundorientierung. Die neue Sozialcharta war ein wichtiger Schritt auf dem Weg der Annherung der europischen Sozialsysteme. In zwlf Kapi-teln wurden die Rechte von Arbeitnehmern festgelegt von der Freizgigkeit ber berufliche Bildung, Chancengleichheit von Mnnern und Frauen und Mitwirkung der Arbeitnehmer im Betrieb bis hin zum Arbeitsschutz und der Eingliederung von behinderten Menschen in Gesellschaft und Arbeitsmarkt. Die Sozialcharta entfaltete im Nachgang eine erhebliche Dyna-mik in der europischen Gesetzgebung.

    Neben deutlichen Fortschritten im Arbeitsschutz und bei der Verwirklichung der Chancengleichheit hatte schlielich vor al-lem die Verabschiedung der Richtlinie ber den Europischen Betriebsrat whrend der deutschen EU-Ratsprsidentschaft 1994 weitreichende Signalwirkung. In ihr wurden die Arbeit-nehmerrechte auf Information und Anhrung in grenzber-schreitenden Unternehmen gestrkt.

    Die europische Sozialpolitik wurde von nun an immer deut-licher einer der Kernbereiche der europischen Politik insge-samt: Diese Entwicklung lsst sich an den Aktionsprogrammen der Europischen Kommission zur Umsetzung der Sozialchar-ta bis zur Aufnahme eines Kanons zentraler Arbeitnehmer-rechte in die Charta der Grundrechte der Europischen Union (EU-Grundrechtecharta) ablesen.

    Der Weg zur EU-Grundrechtecharta

    Auf Initiative der Bundesregierung hatte der Europische Rat in Kln im Juni 1999 einem eigens dazu einberufenen Konvent das Mandat zur Ausarbeitung einer europischen Charta der Grund-

  • 32 Sozialer Schutz in Europa

    rechte erteilt. Innerhalb eines knappen Jahres gelang diesem die Ausarbeitung des Charta-Textes, welcher auch auf der oben beschriebenen Europischen Sozialcharta beruhte. Der Konvent unter Vorsitz des frheren Bundesprsidenten Roman Herzog setzte sich nicht nur aus Regierungsvertretern zusammen, son-dern bestand berwiegend aus Abgeordneten der damals 15 na-tionalen Parlamente der EU-Mitgliedstaaten und aus Abgeord-neten des Europaparlaments. Bundestag und Bundesrat waren mit je einem Vertreter an der Ausarbeitung der Charta beteiligt.Die EU-Grundrechtecharta wurde auf dem Europischen Rat in Nizza am 7. Dezember 2000 durch die Prsidenten von Eu-ropischem Parlament, Rat und Kommission feierlich erklrt7. Sie ist mit dem Inkrafttreten des Vertrages von Lissabon 2009 verbindlich geworden.

    Im Frhjahr 2002 trat unter Vorsitz des frheren franzsischen Staatsprsidenten Giscard dEstaing ein weiterer Konvent (Verfassungskonvent) mit dem Ziel zusammen, Vorschlge fr eine Reform der EU und fr eine europische Verfassung zu unterbreiten. Am 29. Oktober 2004 fand in Rom schlielich die feierliche Unterzeichnung des Europischen Verfassungs-vertrages durch die Staats- und Regierungschefs der EU-Mit-gliedstaaten statt.

    Er sollte am 1. November 2006 in Kraft treten, und die vom Konvent ausgearbeitete Grundrechtecharta sollte fester Be-standteil des Vertrages werden. Dieses Ziel wurde auch von Deutschland verfolgt. Doch nach dem Scheitern der Verfas-sungsreferenden in Frankreich (Mai 2005) und den Niederlan-den (Juni 2005) kam der Ratifikationsprozess ins Stocken, und der Vertrag erlangte zunchst keine Rechtskraft.

    7 Siehe den Text in: Thomas Lufer, Der Vertrag von Nizza, 2004, S. 199ff

  • Soziale Grundrechte in Europa 33

    Das Projekt, Grundrechte verbindlich zu machen, wurde damit aber keineswegs stillschweigend beerdigt: Auf dem Brsseler Gipfel vom Juni 2006 einigten sich die Staats- und Regierungs-chefs der 25 Mitgliedstaaten, im ersten Halbjahr 2007 unter deutscher EU-Ratsprsidentschaft einen neuen Anlauf in der Verfassungsdiskussion zu unternehmen.

    Schlielich schlossen die inzwischen 27 europischen Staats- und Regierungschefs durch ihre Unterschrift am 13. Dezem-ber 2007 den Vertrag von Lissabon ab, der als vlkerrechtlicher Vertrag zwischen den Mitgliedstaaten der Europischen Uni-on den Vertrag ber die Europische Union (EU-Vertrag) und den Vertrag zur Grndung der Europischen Gemeinschaft (EG-Vertrag) reformierte. Der Vertrag von Lissabon trat dann im Dezember 2009 in Kraft.

    So wurde nun gleichsam die Charta der Grundrechte der EU inklusive der darin festgeschriebenen Arbeitnehmerrechten rechtskrftig: Durch einen Verweis in Artikel 6 des durch den Lissabonner Vertrag genderten EU-Vertrages wird sie nun fr alle Staaten, ausgenommen das Vereinigte Knigreich und Polen, fr bindend erklrt. 2009 sagte der Europische Rat Tschechien zu, dieses sogenannte Opt-Out (englisch: nicht mitmachen) durch ein Zusatzprotokoll, das mit der nchsten Vertragsreform ratifiziert werden soll, auch auf Tschechien auszudehnen.

    So erlangte die EU-Grundrechtecharta nach dem Scheitern des Europischen Verfassungsvertrages am 1. Dezember 2009 gleichzeitig mit dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon Rechtskraft. Sie ist damit verbindlich.

  • 34 Sozialer Schutz in Europa

    Fortschritte der Sozialpolitik durch die Vertrge von Maastricht und Amsterdam

    Doch ungeachtet aller Debatten um eine europische Verfas-sung hatte die europische Sozialpolitik lngst groe Fort-schritte auf vielen Feldern gemacht. Diese sind vor allem durch die Vertrge von Maastricht (1992) und Amsterdam (1997) markiert. Gleichzeitig erweiterten diese Vertrge die Entschei-dungskompetenz des Europischen Rats (mit qualifizierter Mehrheit) ber den reinen Arbeitsschutz hinaus8. Auch soll da-nach das Europische Parlament grundstzlich nicht mehr nur angehrt werden, sondern es kann mitentscheiden. So kann seither auch ber Arbeitsbedingungen, Unterrichtung und Anhrung der Arbeitnehmer, die berufliche Eingliederung und

    8 Vgl. dazu und zur Entwicklung der europischen Sozialpolitik von Maas-tricht bis Amsterdam Otto Schulz, Maastricht und die Grundlagen einer Europischen Sozialpolitik, 1996, sowie ders., Grundlagen und Perspektiven einer Europischen Sozialpolitik, 2003

  • 35Soziale Grundrechte in Europa

    Fortschritte der Sozialpolitik durch die Vertrge von Maastricht und Amsterdam

    Doch ungeachtet aller Debatten um eine europische Verfas-sung hatte die europische Sozialpolitik lngst groe Fort-schritte auf vielen Feldern gemacht. Diese sind vor allem durch die Vertrge von Maastricht (1992) und Amsterdam (1997) markiert. Gleichzeitig erweiterten diese Vertrge die Entschei-dungskompetenz des Europischen Rats (mit qualifizierter Mehrheit) ber den reinen Arbeitsschutz hinaus8. Auch soll da-nach das Europische Parlament grundstzlich nicht mehr nur angehrt werden, sondern es kann mitentscheiden. So kann seither auch ber Arbeitsbedingungen, Unterrichtung und Anhrung der Arbeitnehmer, die berufliche Eingliederung und

    8 Vgl. dazu und zur Entwicklung der europischen Sozialpolitik von Maas-tricht bis Amsterdam Otto Schulz, Maastricht und die Grundlagen einer Europischen Sozialpolitik, 1996, sowie ders., Grundlagen und Perspektiven einer Europischen Sozialpolitik, 2003

    Chancengleichheit von Mnnern und Frauen auf dem Arbeits-markt mehrheitlich entschieden werden.

    Gebiete wie die soziale Sicherheit und der soziale Schutz der Arbeitnehmer sowie die kollektive Wahrnehmung von Ar-beitgeber- und Arbeitnehmerinteressen sind jedoch weiterhin einstimmig durch den Rat zu verabschieden; Arbeitsentgelt, Koalitions-, Streik- und Aussperrungsrecht bleiben dabei in der Zustndigkeit der Mitgliedstaaten.

    Gebiete wie die soziale Sicherheit und der soziale Schutz der Arbeitnehmer sowie die kollektive Wahrnehmung von Ar-beitgeber- und Arbeitnehmerinteressen sind jedoch weiterhin einstimmig durch den Rat zu verabschieden; Arbeitsentgelt, Koalitions-, Streik- und Aussperrungsrecht bleiben dabei in der Zustndigkeit der Mitgliedstaaten.

    Mit dem Vertrag von Amsterdam wurde das Konzept der Min-deststandards als durchgehendes sozialpolitisches Gestaltungs-konzept besttigt. Ferner bekrftigte man hier den sozialen Dialog, mit der Chance der europischen Sozialpartner, durch eigene Vereinbarungen an die Stelle des europischen Gesetz-gebers zu treten (Vorfahrt fr die Sozialpartner).

    Neu aufgenommen wurde durch den Vertrag von Amster-dam die Option, mit qualifizierter Mehrheit Manahmen zur Bekmpfung der sozialen Ausgrenzung und einstimmig Rechtsakte gegen Diskriminierungen zu beschlieen. Auf dieser Rechtsgrundlage wurden von 2000 bis 2003 vier EU-Antidiskriminierungsrichtlinien verabschiedet. Diese wurden in Deutschland 2006 mit einem einheitlichen Gleichbehand-lungsgesetz (Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz AGG) in nationales Recht umgesetzt. Danach sind im Arbeits- und

  • 36 Sozialer Schutz in Europa

    Zivilrecht Benachteiligungen aufgrund von Rasse, ethnischer Herkunft, Geschlecht, Alter, aufgrund einer Behinderung oder der sexuellen Ausrichtung verboten. Zudem erstreckt sich das arbeitsrechtliche Benachteiligungsverbot auf Diskriminierun-gen aufgrund einer bestimmten Religion oder Weltanschau-ung. Dieser Grundsatz der Nichtdiskriminierung (beziehungs-weise der Gleichbehandlung) ist eines der zentralen Prinzipien der EU und auch treibende Kraft bei der Rechtsfortbildung

    Von besonderer Bedeutung ist auch das Beschftigungskapitel, welches sich seit dem 1. Dezember 2009 im AEUV (Art. 145-150) befindet und das sich inzwischen bewhrt hat. Es hat den Weg zu einer koordinierten europischen Beschftigungsstra-tegie geebnet, die der Europische Rat von Luxemburg (1997) ber Kln (1999), Lissabon (2000) bis Laeken (2002) immer en-ger mit beruflicher Bildung, Weiterbildung und lebenslangem Lernen verknpft hat. Die Gemeinschaft ist dieser Linie konse-quent gefolgt mit dem Kernziel einer nachhaltigen Sicherung der vorhandenen und der Schaffung neuer Arbeitspltze.

    Der Vertrag von Nizza hatte bereits 2001 den vertraglichen sozialen Besitzstand konsolidiert. Er musste wie das gesamte EU-Recht (sogenannter acquis communautaire) auch von den mit den verschiedenen Erweiterungsrunden neu hinzu-kommenden Mitgliedstaaten bernommen und in nationales Recht berfhrt werden.

    Aufbau eines sozialen Europa

    Es war ein langer Weg mit vielen Etappen, Hindernissen und Fortschritten, um ein soziales Europa aufzubauen. Dieser Weg erstreckte sich ber ein halbes Jahrhundert: von der in Turin 1961 verabschiedeten frhen Europischen Sozialcharta

  • 37Soziale Grundrechte in Europa

    des Europarates ber die Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte der Arbeitnehmer von 1989 bis hin zur Integra-tion fundamentaler sozialpolitischer Prinzipien in die Charta der Grundrechte der Europischen Union (der EU-Grund-rechtecharta aus dem Jahr 2000) und deren Inkrafttreten durch den Vertrag von Lissabon am 1. Dezember 2009.

    Dieser Erfolg ist sichtbarer Ausdruck des gemeinsamen Willens von Europischem Parlament, Europischem Rat und Euro-pischer Kommission. Eine nachhaltige Strkung der sozialen Dimension Europas ist fr das weitere Zusammenwachsen sei-ner Vlker und Nationen, aber auch fr eine dauerhafte Akzep-tanz der gemeinsamen politischen Institutionen unerlsslich. Die europische Wirtschafts- und Whrungsunion bedarf der sozialen Flankierung.

    Wirtschaft und Wohlfahrt

    Auf dem Europischen Rat in Brssel (2006) beschlossen die Staats- und Regierungschefs eine Neubelebung der 2000 gefassten Zielformulierung, die mit dem Stichwort Lissabon-Strategie gekennzeichnet war: Die EU sollte bis zum Jahr 2010 zum wettbewerbsfhigsten und dynamischsten Wirtschafts-raum der Welt werden mit den tragenden Elementen Innova-tion, Wissensgesellschaft und sozialer Kohsion. Dabei wurde die Situation junger Menschen in den Mittelpunkt gestellt.

    Fr diese Ziele wurden auch im Einzelnen konkrete Messlatten angelegt: So sollte die Zahl der Schulabbrecher auf zehn Pro-zent gesenkt werden. Ein weiterer Anspruch war, fr 85 Prozent der 22-Jhrigen in der EU eine klare Perspektive zu schaffen, nmlich eine Ausbildung im Sekundarbereich II zu absolvie-ren. Zudem war das ehrgeizige Ziel gesetzt worden, bereits bis

  • 38 Sozialer Schutz in Europa

    Ende 2007 jedem arbeitslosen Schulabgnger eine Arbeitsstelle, Lehrstelle, eine Weiterbildung oder eine andere berufsvorbe-reitende Manahme anbieten zu knnen.

    Annherung der Wohlfahrtssysteme

    Parallel zur Ausgestaltung der Europischen Wirtschafts- und Whrungsunion vollzog sich so immer konkreter auch eine Annherung der Wohlfahrtssysteme, insbesondere des Arbeits- und Sozialrechts in der Gemeinschaft. Dabei ging es anders als bei der europischen Wirtschafts- und Whrungspolitik nicht um eine Harmonisierung oder gar Angleichung der unterschiedlichen nationalen Sozialsysteme. Vielmehr musste und konnte das Ziel im europischen Sozialraum allein eine weitgehende Koordinierung, also die Annherung der Systeme sein. Dass dieses Ziel gerade im Zuge der Osterweiterung der EU eine neue Bedeutung erhlt, ist evident.

    Unmittelbar nachvollziehbar ist jedoch auch, dass diese Ann-herung nicht auf allen Feldern der europischen Sozialpolitik in gleichem Tempo und in gleichem Umfang vonstatten gehen kann. Europas Strke liegt in seiner Vielfalt in Geschichte, Kul-tur, Sprache, nationalen Traditionen. Einebnung dieser Vielfalt um der Harmonisierung willen wre der falsche Weg.

    In Vielfalt geeint, das gilt fr das gesamte Europa, aber ganz besonders fr die Sozialpolitik. Mehr Einheit anstreben, die Vielfalt der unterschiedlich gewachsenen sozialen Lebensfor-men gleichzeitig aber erhalten und strken, heit auch, das Subsidiarittsprinzip in der Praxis der europischen Sozialge-setzgebung konsequent anzuwenden und umzusetzen.

  • 39Soziale Grundrechte in Europa

    Eigenverantwortung vor staatlichem Handeln das Subsidiarittsprinzip

    Stdte, Gemeinden oder Kommunen fr die Lsung und Umsetzung von Aufgaben zustndig sein. Wenn das unterge-ordnete Glied in der Lage ist, die Probleme und Aufgaben eigenstndig zu lsen, dann soll es dies auch im Sinne des Subsidiarittsgedankens tun. Wichtig ist jedoch dabei immer auch, dass das kleinste Glied dabei nicht berfordert werden darf und die bergeordnete Ebene unter Umstnden unter-sttzend ttig werden soll.

    Das Subsidiarittsprinzip ist damit auch eine wichtige Grundlage der Europischen Union. Es hilft dabei, die Grund-

  • 40 Sozialer Schutz in Europa

    entscheidungen bei den Mitgliedstaaten zu belassen, die Orga-ne der EU in der europischen Gesetzgebung auf das Wesent-liche zu beschrnken, und dient so auch der Vermeidung von Brokratie.

    Europische Regelungen im Sozialbereich mssen deshalb gem dem Subsidiarittsgedanken von einer inneren Not-wendigkeit getragen werden, die es rechtfertigt, sie fr die inzwischen 28 Mitgliedstaaten verbindlich zu machen.

    In Vielfalt geeint

    Vor diesem Hintergrund der Einheit in der Vielfalt mssen die Fortschritte in der Annherung der Sozialstandards in Europa bewertet werden. Am weitesten vorangekommen ist demnach der Arbeitsschutz einschlielich des sozialen Arbeitsschutzes. Hier konnten Mindeststandards vereinbart und in zahlreichen Richtlinien festgelegt werden.

    So hat auch die Durchsetzung der Chancengleichheit von Frauen und Mnnern beim Zugang zu Beruf und Arbeitsmarkt neuen Schwung erhalten. Unter dem Stichwort Gender Main-streaming ist Chancengleichheit inzwischen durchlaufendes Prinzip in der allgemeinen Politik der Mitgliedslnder (vgl. Art. 8 AEUV) und damit auch in der Sozial- und Beschfti-gungspolitik. Beispielhaft seien die seit dem Europischen Rat in Luxemburg 1997 jhrlich fortzuschreibenden Nationalen Aktionsplne auf der Grundlage der Beschftigungspolitischen Leitlinien der EU genannt.

    Auch im Arbeitsrecht, bei dem Beschlsse in der Regel nur einstimmig getroffen werden knnen, hat die EU beachtliche

  • Soziale Grundrechte in Europa 41

    Erfolge vorzuweisen. Hervorzuheben sind vor allem die nach fast 30-jhriger Mitbestimmungsdiskussion erreichte Verab-schiedung einer Richtlinie ber die Beteiligung der Arbeit-nehmer in der Europischen Aktiengesellschaft (2001) und die Neufassung der Richtlinie ber Europische Betriebsrte (2009). Damit sind die Rechte der Arbeitnehmer in grenzber-schreitend ttigen Unternehmen deutlich gestrkt worden.

    Einheit in Vielfalt und die Annherung der Sozialsysteme in Europa heien aber auch: Je enger Europa zusammenfindet, ein Europa, das bereits selbstverstndlich in einer Wirtschaftsunion mit in vielen Lndern geltender einheitlicher Whrung zusam-mengewachsen ist, desto wichtiger werden zwei Aspekte:

    Erstens, gemeinsam ber die Sicherung des sozialen Schutzes nachzudenken, die in allen Mitgliedstaaten auf dem Prfstand steht.

    Zweitens gilt es, den Austausch von Informationen und Best-Practice-Beispielen unter den Mitgliedstaaten, der in diesem Europa stndig zunimmt, zu frdern. Vieles kann hier gesche-hen, ohne in die Strukturen der unterschiedlichen Sozialsyste-me selbst einzugreifen.

    Die Offene Methode der Koordinierung

    Auf europischer Ebene befasst sich der 2000 gegrndete Rats-ausschuss fr Sozialschutz (SPC) unter anderem mit der Mo-dernisierung der Sozialsysteme. Es geht darum, voneinander zu lernen, etwa wie in Zeiten des demografischen Wandels am bes-ten Reformen im renten- und gesundheitspolitischen Bereich geplant, gemeinsame Zielvorstellungen entwickelt und deren

  • 42 Sozialer Schutz in Europa

    Realisierung anhand von Indikatoren berprfbar gemacht werden knnen.

    Das entsprechende Instrumentarium beziehungsweise den dazu erforderlichen Handlungsrahmen bietet die sogenann-te Offene Methode der Koordinierung (OMK). Im Mrz 2000 wurde nmlich auf dem EU-Gipfel von Lissabon vom Europ-ischen Rat ein neues Verfahren der europischen Zusammen-arbeit fr die Bereiche Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik eingefhrt. Durch diese offene Koordinierung wurde erstma-lig eine verstrkte Kooperation zwischen den Mitgliedstaaten angestrebt, um bisherige Erfahrungen und bewhrte Verfah-ren im Sozialschutzbereich auszutauschen und voneinander zu lernen.

  • Soziale Grundrechte in Europa 43

    Realisierung anhand von Indikatoren berprfbar gemacht werden knnen.

    Das entsprechende Instrumentarium beziehungsweise den dazu erforderlichen Handlungsrahmen bietet die sogenann-te Offene Methode der Koordinierung (OMK). Im Mrz 2000 wurde nmlich auf dem EU-Gipfel von Lissabon vom Europ-ischen Rat ein neues Verfahren der europischen Zusammen-arbeit fr die Bereiche Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik eingefhrt. Durch diese offene Koordinierung wurde erstma-lig eine verstrkte Kooperation zwischen den Mitgliedstaaten angestrebt, um bisherige Erfahrungen und bewhrte Verfah-ren im Sozialschutzbereich auszutauschen und voneinander zu lernen.

    In diesem Zusammenhang werden unter Beachtung der nati-onalen Zustndigkeiten verschiedene sozialpolitische Berei-che auf Basis gemeinsam festgelegter Ziele und Indikatoren bewertet. Den Mitgliedstaaten werden dabei Instrumente an die Hand gegeben, die Lsung gemeinsamer Probleme auch gemeinsam in Angriff zu nehmen.

    Die offene Koordinierung der Sozialpolitik kommt bisher in drei Bereichen zur Anwendung: Soziale Eingliederung (seit 2000), Alterssicherung (2001), Gesundheit und Langzeitpflege (2004). Im Rahmen der berarbeitung der Lissabon-Strategie im Jahr 2005 wurden auch die sozialen Ziele berarbeitet und zusammengefasst. Seit 2006 bilden diese Bereiche den Rahmen der OMK Sozialschutz und soziale Eingliederung:

    1. Beseitigung von Armut und sozialer Ausgrenzung 2. Sicherstellung angemessener und nachhaltiger Renten3. Bereitstellung zugnglicher, hochwertiger und

    nachhaltiger Gesundheitsversorgung und Langzeitpflege

    Die OMK Sozialschutz und soziale Eingliederung entwickelt sich positiv: Auf europischer Ebene wurden der Soziale Dialog und die Einbeziehung vieler Akteure gestrkt, zudem wurde die Aufmerksamkeit fr soziale Probleme europaweit geschrft. Im Bereich der Alterssicherung hat die OMK dazu beigetragen, dass sowohl die finanzielle Nachhaltigkeit als auch die gegenwrtige und zuknftige Angemessenheit von Alterssicherungssystemen vor dem Hintergrund soziodemografischer Entwicklungen und makrokonomischer Risiken ausgewogen diskutiert werden.

  • 44 Sozialer Schutz in Europa

    Bevlkerungsdichte EU-Lnder 2011Einwohner pro km2

    1 Daten aus dem Jahr 2010, da fr 2011 nicht vorhanden2 Eurostat-Schtzung3 Ohne berseegebieteStand: Juli 2013 | Quelle: Eurostat

    MNL

    BGB

    DIL

    CZDKPL

    PSKHFA

    SLOROCY

    EGRBGIRL

    LTLV

    ESTS

    FINEU-27

    1.318,6494,5

    364,3256,81

    229,0201,5200,4

    135,9129,7123,2114,5110,1107,2103,03

    102,2101,993,092,392,086,4

    67,566,9

    48,333,130,923,017,7

    116,92

  • Soziale Grundrechte in Europa 45

    Bevlkerung EU-Lnder 2011Einwohner gesamt

    81.751.60264.994.9071

    62.515.3921

    60.626.44246.152.926

    38.529.8662

    21.413.8151

    16.655.79911.309.88511.000.6382

    10.572.1571,2

    10.486.7311,2

    9.985.7229.415.570

    8.404.2527.369.4312

    5.560.6285.392.4462

    5.375.2764.570.7271,2

    3.052.5882

    2.074.6052

    2.050.1891.340.194839.751511.840415.8321,2

    502.369.2111,2

    DF

    GBIE

    PLRONLGR

    BP

    CZHSA

    BGDKSK

    FINIRL

    LTLV

    SLOESTCY

    LM

    EU-27

    1 Vorlufiger Wert2 ZeitreihenbruchStand: Juli 2013Quelle: Eurostat

  • 46 Sozialer Schutz in Europa

    Im Rahmen der Europa-2020-Strategie fr intelligentes, nach-haltiges und integratives Wachstum, die die Nachfolge der Lis-sabon-Strategie angetreten hat, wird nun ein strkeres Gleich-gewicht zwischen wirtschafts-, beschftigungspolitischen und sozialen Aspekten angestrebt. Sie hat sich unter anderen die folgenden Ziele gesetzt: Bis 2020 sollen in Europa mindestens 20 Millionen Menschen aus Armut und sozialer Ausgrenzung herausgefhrt werden. Die Beschftigungsquote der 20- bis 64-Jhrigen soll auf 75 Prozent erhht werden. Die Strategie 2020 wird seit 2010 von der Europischen Plattform gegen Ar-mut und soziale Ausgrenzung untersttzt und von der Agenda fr neue Kompetenzen und Beschftigungsmglichkeiten.

  • Soziale Grundrechte in Europa 47

    Im Rahmen der Europa-2020-Strategie fr intelligentes, nach-haltiges und integratives Wachstum, die die Nachfolge der Lis-sabon-Strategie angetreten hat, wird nun ein strkeres Gleich-gewicht zwischen wirtschafts-, beschftigungspolitischen und sozialen Aspekten angestrebt. Sie hat sich unter anderen die folgenden Ziele gesetzt: Bis 2020 sollen in Europa mindestens 20 Millionen Menschen aus Armut und sozialer Ausgrenzung herausgefhrt werden. Die Beschftigungsquote der 20- bis 64-Jhrigen soll auf 75 Prozent erhht werden. Die Strategie 2020 wird seit 2010 von der Europischen Plattform gegen Ar-mut und soziale Ausgrenzung untersttzt und von der Agenda fr neue Kompetenzen und Beschftigungsmglichkeiten.

    Damit wird auch eine strkere Ausrichtung auf die soziale Di-mension in Europa gelegt. Dies wird bereits durch die neue so-ziale Querschnittsklausel des Lissabon-Vertrags (Art. 9 AEUV) verdeutlicht. In diesem Rahmen bietet die Offene Methode der Koordinierung zahlreiche Mglichkeiten, aufzuzeigen, inwie-weit sich nachhaltiges Wachstum, bessere Beschftigung, ko-logische Verantwortung und soziale Kohsion als magisches politisches Viereck wechselseitig bedingen.

    Sozialschutz, soziale Eingliederung und soziale Sicherung sind damit Bestandteil nachhaltiger Wachstums- und Beschfti-gungsstrategien in einer sozialen Marktwirtschaft. Auf diese Weise ermglicht die OMK auch die wirksame Umsetzung des Subsidiarittsgedankens im politischen Alltag.

    Europa wchst zusammen

    Aber nicht nur fr die Politik in Brssel und den Hauptstdten der Mitgliedslnder ist ein solcher Blick hinber zu den Nach-barn immer wichtiger geworden. Wir alle in Europa knnen viel voneinander lernen, wenn wir uns die Antworten und L-sungen unserer Nachbarn auf zentrale Fragen der Sozialpolitik genauer anschauen.

    Denn die Probleme in den verschiedenen Lndern der Euro-pischen Union sind einander heute bei aller historischen Verschiedenheit und kulturellen Individualitt doch in vielen Bereichen immer hnlicher geworden.

    In einer globalisierten Welt der Medien, der Mobilitt und der High-Tech-Kommunikation haben sich Arbeitsprozesse, aber auch Mglichkeiten und Perspektiven beispielsweise in der

  • 48 Soziale Grundrechte in Europa

    Medizin und Sozialfrsorge zwangslufig immer mehr ange-nhert. Ein Prozess, der in rasanter Geschwindigkeit weiter voranschreitet.

    Grenzberschreitende Beziehungen und Partnerschaften sind inzwischen Teil der europischen Realitt, und auch die Mobi-litt innerhalb Europas nimmt zu. Europa wchst daher immer weiter zusammen, die Menschen arbeiten und leben mit ihren europischen Nachbarn in immer engerem Verbund.

    hnlich verhlt es sich auch mit den Antworten auf wichtige Fragen der sozialen Sicherung in unserer modernen Welt. Je mehr wir von unseren Nachbarn wissen, je genauer wir ihre Antworten auf die Fragen der Zeit kennen, umso besser kn-nen die Lsungen und Entwrfe fr eine Sozialpolitik der Zukunft auch in unserem Lande vorbereitet und die richtigen Weichen gestellt werden.

    Der Blick ber die Grenzen hinweg zu unseren europischen Nachbarn wird so mehr und mehr auch zu einem Blick in einen groen Spiegel, aus dem wir viel lernen und erfahren knnen: nicht nur ber diese Nachbarn, sondern auch ber uns selbst.

  • Soziale Grundrechte in Europa 49

    Medizin und Sozialfrsorge zwangslufig immer mehr ange-nhert. Ein Prozess, der in rasanter Geschwindigkeit weiter voranschreitet.

    Grenzberschreitende Beziehungen und Partnerschaften sind inzwischen Teil der europischen Realitt, und auch die Mobi-litt innerhalb Europas nimmt zu. Europa wchst daher immer weiter zusammen, die Menschen arbeiten und leben mit ihren europischen Nachbarn in immer engerem Verbund.

    hnlich verhlt es sich auch mit den Antworten auf wichtige Fragen der sozialen Sicherung in unserer modernen Welt. Je mehr wir von unseren Nachbarn wissen, je genauer wir ihre Antworten auf die Fragen der Zeit kennen, umso besser kn-nen die Lsungen und Entwrfe fr eine Sozialpolitik der Zukunft auch in unserem Lande vorbereitet und die richtigen Weichen gestellt werden.

    Der Blick ber die Grenzen hinweg zu unseren europischen Nachbarn wird so mehr und mehr auch zu einem Blick in einen groen Spiegel, aus dem wir viel lernen und erfahren knnen: nicht nur ber diese Nachbarn, sondern auch ber uns selbst.

  • Die Grundrechtecharta

    Die Charta der Grundrechte der Europischen Union aus dem Jahr 2000 wurde zunchst feierlich erklrt; sie wurde leicht gendert Bestandteil des Vertrages von Lissabon und damit verbindlich. Sie gliedert sich in eine Prambel und insgesamt 54 Artikel, die auf sieben Kapitel verteilt und im Amtsblatt der Europischen Union C 83/389 vom 30. Mrz 2010 abgedruckt sind. Diese Kapitel sind berschrieben mit: Die Wrde des Men-schen, Freiheiten, Gleichheit, Solidaritt, Brgerrechte, Justizi-elle Rechte und schlielich Allgemeine Bestimmungen. Der Schutz der Menschenwrde als Fundamentalnorm in Artikel 1 lehnt sich eng an das deutsche Grundgesetz an: Die Wrde des Menschen ist unantastbar. Sie ist zu achten und zu schtzen. Durch die Integration der zentralen sozialen Rechte werden die soziale Dimension der EU und die Unteilbarkeit der Grundrechte deutlich gemacht. Im Folgenden sind die Artikel der EU-Grund-rechtecharta mit sozialem Bezug abgedruckt.

  • 51

    KAPITEL IWRDE DES MENSCHEN

    Artikel 1 [Wrde des Menschen] Die Wrde des Menschen ist unantastbar. Sie ist zu achten und zu schtzen.

    Artikel 2 [Recht auf Leben]Artikel 3 [Recht auf Unversehrtheit]Artikel 4 [Verbot der Folter und unmenschlicher oder er-

    niedrigender Strafe oder Behandlung]Artikel 5 [Verbot der Sklaverei und der Zwangsarbeit]

    KAPITEL II FREIHEITEN

    Artikel 6 [Recht auf Freiheit und Sicherheit]Artikel 7 [Achtung des Privat- und Familienlebens]Artikel 8 [Schutz personenbezogener Daten]Artikel 9 [Recht, eine Ehe einzugehen und eine Familie zu

    grnden]Artikel 10 [Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit]Artikel 11 [Freiheit der Meinungsuerung und Informations-

    freiheit]Artikel 12 [Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit]Artikel 13 [Freiheit von Kunst und Wissenschaft]Artikel 14 [Recht auf Bildung] (1) Jede Person hat das Recht auf Bildung sowie auf

    Zugang zur beruflichen Ausbildung und Weiterbil-dung.

    (2) Dieses Recht umfasst die Mglichkeit, unentgelt-lich am Pflichtschulunterricht teilzunehmen.

    (3) Die Freiheit zur Grndung von Lehranstalten unter Achtung der demokratischen Grundstze

    Die Grundrechtecharta

  • 52 Sozialer Schutz in Europa

    sowie das Recht der Eltern, die Erziehung und den Unterricht ihrer Kinder entsprechend ihren eige-nen religisen, weltanschaulichen und erzieheri-schen berzeugungen sicherzustellen, werden nach den einzelstaatlichen Gesetzen geachtet, welche ihre Ausbung regeln.

    Artikel 15 [Berufsfreiheit und Recht zu arbeiten] (1) Jede Person hat das Recht, zu arbeiten und einen

    frei gewhlten oder angenommenen Beruf auszu-ben.

    (2) Alle Unionsbrgerinnen und Unionsbrger haben die Freiheit, in jedem Mitgliedstaat Arbeit zu suchen, zu arbeiten, sich niederzulassen oder Dienstleistungen zu erbringen.

    (3) Die Staatsangehrigen dritter Lnder, die im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten arbeiten drfen, haben Anspruch auf Arbeitsbedingungen, die denen der Unionsbrgerinnen und Unionsbrger entspre-chen.

    Artikel 16 [Unternehmerische Freiheit] Die unternehmerische Freiheit wird nach dem

    Unionsrecht und den einzelstaatlichen Rechtsvor-schriften und Gepflogenheiten anerkannt.

    Artikel 17 [Eigentumsrecht] (1) Jede Person hat das Recht, ihr rechtmig erwor-

    benes Eigentum zu besitzen, zu nutzen, darber zu verfgen und es zu vererben. Niemandem darf sein Eigentum entzogen werden, es sei denn aus Grn-den des ffentlichen Interesses in den Fllen und unter den Bedingungen, die in einem Gesetz vorge-sehen sind, sowie gegen eine rechtzeitige angemes-sene Entschdigung fr den Verlust des Eigentums.

  • 53Die Grundrechtecharta

    Die Nutzung des Eigentums kann gesetzlich ge-regelt werden, soweit dies fr das Wohl der Allge-meinheit erforderlich ist.

    (2) Geistiges Eigentum wird geschtzt.Artikel 18 [Asylrecht]Artikel 19 [Schutz bei Abschiebung, Ausweisung und Ausliefe-

    rung]

    KAPITEL IIIGLEICHHEIT

    Artikel 20 [Gleichheit vor dem Gesetz]Artikel 21 [Nichtdiskriminierung] (1) Diskriminierungen, insbesondere wegen des Ge-

    schlechts, der Rasse, der Hautfarbe, der ethnischen oder sozialen Herkunft, der genetischen Merkmale, der Sprache, der Religion oder der Weltanschauung, der politischen oder sonstigen Anschauung, der Zugehrigkeit zu einer nationalen Minderheit, des Vermgens, der Geburt, einer Behinderung, des Al-ters oder der sexuellen Ausrichtung, sind verboten.

    (2) Unbeschadet besonderer Bestimmungen der Vertrge ist in ihrem Anwendungsbereich jede Dis-kriminierung aus Grnden der Staatsangehrigkeit verboten.

    Artikel 22 [Vielfalt der Kulturen, Religionen und Sprachen]Artikel 23 [Gleichheit von Mnnern und Frauen] Die Gleichheit von Mnnern und Frauen ist in allen

    Bereichen, einschlielich der Beschftigung, der Arbeit und des Arbeitsentgelts, sicherzustellen.

  • 54 Sozialer Schutz in Europa

    Der Grundsatz der Gleichheit steht der Beibehal-tung oder der Einfhrung spezifischer Vergns-tigungen fr das unterreprsentierte Geschlecht nicht entgegen.

    Artikel 24 [Rechte des Kindes]Artikel 25 [Rechte lterer Menschen]Artikel 26 [Integration von Menschen mit Behinderung] Die Union anerkennt und achtet den Anspruch von

    Menschen mit Behinderung auf Manahmen zur Gewhrleistung ihrer Eigenstndigkeit, ihrer sozia-len und beruflichen Eingliederung und ihrer Teil-nahme am Leben der Gemeinschaft.

    KAPITEL IVSOLIDARITT

    Artikel 27 [Recht auf Unterrichtung und Anhrung der Ar-beitnehmerinnen und Arbeitnehmer im Unterneh-men]

    Fr die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer oder ihre Vertreter muss auf den geeigneten Ebenen eine rechtzeitige Unterrichtung und Anhrung in den Fllen und unter den Voraussetzungen gewhrleis-tet sein, die nach dem Gemeinschaftsrecht und den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflo-genheiten vorgesehen sind.

    Artikel 28 [Recht auf Kollektivverhandlungen und Kollektiv-manahmen]

    Die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sowie die Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber oder ihre jeweiligen Organisationen haben nach dem Ge-meinschaftsrecht und den einzelstaatlichen Rechts-vorschriften und Gepflogenheiten das Recht, Tarif-

  • 55Die Grundrechtecharta

    vertrge auf den geeigneten Ebenen auszuhandeln und zu schlieen sowie bei Interessenkonflikten kollektive Manahmen zur Verteidigung ihrer Inte-ressen, einschlielich Streiks, zu ergreifen.

    Artikel 29 [Recht auf Zugang zu einem Arbeitsvermittlungs-dienst]

    Jede Person hat das Recht auf Zugang zu einem unentgeltlichen Arbeitsvermittlungsdienst.

    Artikel 30 [Schutz bei ungerechtfertigter Entlassung] Jede Arbeitnehmerin und jeder Arbeitnehmer hat

    nach dem Gemeinschaftsrecht und den einzelstaat-lichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten Anspruch auf Schutz vor ungerechtfertigter Entlas-sung.

  • 56 Sozialer Schutz in Europa

    Artikel 31 [Gerechte und angemessene Arbeitsbedingungen] (1) Jede Arbeitnehmerin und jeder Arbeitnehmer

    hat das Recht auf gesunde, sichere und wrdige Arbeitsbedingungen.

    (2) Jede Arbeitnehmerin und jeder Arbeitnehmer hat das Recht auf eine Begrenzung der Hchstar-beitszeit, auf tgliche und wchentliche Ruhezeiten sowie auf bezahlten Jahresurlaub.

    Artikel 32 [Verbot der Kinderarbeit und Schutz der Jugendli-chen am Arbeitsplatz]

    Kinderarbeit ist verboten. Unbeschadet gnstigerer Vorschriften fr Jugendliche und abgesehen von begrenzten Ausnahmen darf das Mindestalter fr den Eintritt in das Arbeitsleben das Alter, in dem die Schulpflicht endet, nicht unterschreiten.

    Zur Arbeit zugelassene Jugendliche mssen ihrem Alter angepasste Arbeitsbedingungen erhalten und vor wirtschaftlicher Ausbeutung und vor jeder Arbeit geschtzt werden, die ihre Sicherheit, ihre Gesundheit, ihre krperliche, geistige, sittliche oder soziale Entwicklung beeintrchtigen oder ihre Er-ziehung gefhrden knnte.

    Artikel 33 [Familien- und Berufsleben] (1) Der rechtliche, wirtschaftliche und soziale

    Schutz der Familie wird gewhrleistet. (2) Um Familien- und Berufsleben miteinander in

    Einklang bringen zu knnen, hat jede Person das Recht auf Schutz vor Entlassung aus einem mit der Mutterschaft zusammenhngenden Grund sowie den Anspruch auf einen bezahlten Mutterschafts-urlaub und auf einen Elternurlaub nach der Geburt oder Adoption eines Kindes.

  • 57Die Grundrechtecharta

    Artikel 34 [Soziale Sicherheit und soziale Untersttzung] (1) Die Union anerkennt und achtet das Recht auf

    Zugang zu den Leistungen der sozialen Sicherheit und zu den sozialen Diensten, die in Fllen wie Mutterschaft, Krankheit, Arbeitsunfall, Pflege-bedrftigkeit oder im Alter sowie bei Verlust des Arbeitsplatzes Schutz gewhrleisten, nach Magabe des Unionsrechts und der einzelstaatlichen Rechts-vorschriften und Gepflogenheiten.

    (2) Jede Person, die in der Union ihren rechtmi-gen Wohnsitz hat und ihren Aufenthalt rechtmig wechselt, hat Anspruch auf die Leistungen der so-zialen Sicherheit und die sozialen Vergnstigungen nach dem Unionsrecht und den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten.

    (3) Um die soziale Ausgrenzung und die Armut zu bekmpfen, anerkennt und achtet die Union das Recht auf eine soziale Untersttzung und eine Untersttzung fr die Wohnung, die allen, die nicht ber ausreichende Mittel verfgen, ein menschen-wrdiges Dasein sicherstellen sollen, nach Magabe des Gemeinschaftsrechts und der einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten.

    Artikel 35 [Gesundheitsschutz] Jede Person hat das Recht auf Zugang zur Gesund-

    heitsvorsorge und auf rztliche Versorgung nach Magabe der einzelstaatlichen Rechtsvorschrif-ten und Gepflogenheiten. Bei der Festlegung und Durchfhrung aller Politiken und Manahmen der Union wird ein hohes Gesundheitsschutzniveau sichergestellt.

  • Soziale Grundrechte in Europa58

    Artikel 36 [Zugang zu Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse]

    Die Union anerkennt und achtet den Zugang zu Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse, wie er durch die einzelstaatlichen Rechts-vorschriften und Gepflogenheiten im Einklang mit dem Vertrag zur Grndung der Europischen Gemeinschaft geregelt ist, um den sozialen und territorialen Zusammenhalt der Union zu frdern.

    Artikel 37 [Umweltschutz] Ein hohes Umweltschutzniveau und die Verbesse-

    rung der Umweltqualitt mssen in die Politik der Union einbezogen und nach dem Grundsatz der nachhaltigen Entwicklung sichergestellt werden.

    Artikel 38 [Verbraucherschutz] Die Politik der Union stellt ein hohes Verbraucher-

    schutzniveau sicher.

  • 59Die Grundrechtecharta

    KAPITEL VBRGERRECHTE

    Artikel 39 [Aktives und passives Wahlrecht bei den Wahlen zum Europischen Parlament]

    Artikel 40 [Aktives und passives Wahlrecht bei den Kommu-nalwahlen]

    Artikel 41 [Recht auf eine gute Verwaltung]Artikel 42 [Recht auf Zugang zu Dokumenten]Artikel 43 [Der Brgerbeauftragte]Artikel 44 [Petitionsrecht]Artikel 45 [Freizgigkeit und Aufenthaltsfreiheit] (1) Die Unionsbrgerinnen und Unionsbrger ha-

    ben das Recht, sich im Hoheitsgebiet der Mitglied-staaten frei zu bewegen und aufzuhalten.

    (2) Staatsangehrigen dritter Lnder, die sich rechtmig im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats aufhalten, kann gem dem Vertrag zur Grndung der Europischen Gemeinschaft Freizgigkeit und Aufenthaltsfreiheit gewhrt werden.

    Artikel 46 [Diplomatischer und konsularischer Schutz]

    KAPITEL VIJUSTIZIELLE RECHTE

    Artikel 47 [Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf und ein unparteiisches Gericht]

    Artikel 48 [Unschuldsvermutung und Verteidigungsrechte]Artikel 49 [Grundstze der Gesetzmigkeit und der Verhlt-

    nismigkeit im Zusammenhang mit Straftaten und Strafen]

    Artikel 50 [Recht, wegen derselben Straftat nicht zweimal strafrechtlich verfolgt oder bestraft zu werden]

  • 60 Sozialer Schutz in Europa

    KAPITEL VIIALLGEMEINE BESTIMMUNGEN

    Artikel 51 [Anwendungsbereich] (1) Diese Charta gilt fr die Organe, Einrichtungen

    und sonstige Stellen der Union unter Wahrung des Subsidiarittsprinzips und fr die Mitgliedstaaten ausschlielich bei der Durchfhrung des Rechts der Union. Dementsprechend achten sie die Rechte, halten sie sich an die Grundstze und frdern sie deren Anwendung entsprechend ihren jeweiligen Zustndigkeiten, die der Union in den Vertrgen bertragen werden.

    (2) Diese Charta dehnt den Geltungsbereich des Unionsrechts nicht ber die Zustndigkeiten der Union hinaus aus und begrndet weder neue Zu-stndigkeiten noch neue Aufgaben fr die Union, noch ndert sie die in den Vertrgen festgelegten Zustndigkeiten und Aufgaben.

    Artikel 52 [Tragweite der garantierten Rechte] (1) Jede Einschrnkung der Ausbung der in dieser

    Charta anerkannten Rechte und Freiheiten muss gesetzlich vorgesehen sein und den Wesensgehalt dieser Rechte und Freiheiten achten. Unter Wah-rung des Grundsatzes der Verhltnismigkeit dr-fen Einschrnkungen nur vorgenommen werden, wenn sie erforderlich sind und den von der Union anerkannten dem Gemeinwohl dienenden Zielset-zungen oder den Erfordernissen des Schutzes der Rechte und Freiheiten anderer tatschlich entspre-chen.

    (2) Die Ausbung der durch diese Charta anerkann-ten Rechte, die in den Vertrgen festgelegt sind, er-

  • 61Die Grundrechtecharta

    folgt im Rahmen der in den Vertrgen festgelegten Bedingungen und Grenzen.

    (3) Soweit diese Charta Rechte enthlt, die den durch die Europische Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten garantierten Rechten entsprechen, haben sie die gleiche Bedeu-tung und Tragweite, wie sie ihnen in der genannten Konvention verliehen wird. Diese Bestimmung steht dem nicht entgegen, dass das Recht der Union einen weiter gehenden Schutz gewhrt.

    (4) Soweit in dieser Charta Grundrechte anerkannt werden, wie sie sich aus den gemeinsamen Verfas-sungsberlieferungen der Mitgliedstaaten ergeben, werden sie im Einklang mit diesen berlieferungen ausgelegt.

    (5) Die Bestimmungen dieser Charta, in denen Grundstze festgelegt sind, knnen durch Akte der Gesetzgebung und der Ausfhrung der Organe, Ein-richtungen und sonstigen Stellen der Union sowie durch Akte der Mitgliedstaaten zur Durchfhrung des Rechts der Union in Ausbung ihrer jeweiligen Zustndigkeiten umgesetzt werden. Sie knnen vor Gericht nur bei der Auslegung dieser Akte und bei Entscheidungen ber deren Rechtmigkeit heran-gezogen werden.

    (6) Den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten ist, wie es in dieser Charta be-stimmt ist, in vollem Umfang Rechnung zu tragen.

    (7) Die Erluterungen, die als Anleitung fr die Auslegung dieser Charta verfasst wurden, sind von den Gerichten der Union und der Mitgliedstaaten gebhrend zu bercksichtigen.

  • 62 Sozialer Schutz in Europa

    Artikel 53 [Schutzniveau] Keine Bestimmung dieser Charta ist als eine Ein-

    schrnkung oder Verletzung der Menschenrechte und Grundfreiheiten auszulegen, die in dem jewei-ligen Anwendungsbereich durch das Recht der Uni-on und das Vlkerrecht sowie durch die internati-onalen bereinkommen, bei denen die Union oder alle Mitgliedstaaten Vertragsparteien sind, darunter insbesondere die Europische Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten, sowie durch die Verfassungen der Mitgliedstaaten anerkannt werden.

    Artikel 54 [Verbot des Missbrauchs der Rechte] Keine Bestimmung dieser Charta ist so auszulegen,

    als begrnde sie das Recht, eine Ttigkeit auszu-ben oder eine Handlung vorzunehmen, die darauf abzielt, die in der Charta anerkannten Rechte und Freiheiten abzuschaffen oder sie strker einzu-schrnken, als dies in der Charta vorgesehen ist.

  • 63Die Grundrechtecharta

    Artikel 53 [Schutzniveau] Keine Bestimmung dieser Charta ist als eine Ein-

    schrnkung oder Verletzung der Menschenrechte und Grundfreiheiten auszulegen, die in dem jewei-ligen Anwendungsbereich durch das Recht der Uni-on und das Vlkerrecht sowie durch die internati-onalen bereinkommen, bei denen die Union oder alle Mitgliedstaaten Vertragsparteien sind, darunter insbesondere die Europische Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten, sowie durch die Verfassungen der Mitgliedstaaten anerkannt werden.

    Artikel 54 [Verbot des Missbrauchs der Rechte] Keine Bestimmung dieser Charta ist so auszulegen,

    als begrnde sie das Recht, eine Ttigkeit auszu-ben oder eine Handlung vorzunehmen, die darauf abzielt, die in der Charta anerkannten Rechte und Freiheiten abzuschaffen oder sie strker einzu-schrnken, als dies in der Charta vorgesehen ist.

  • Finanzierung und Struktur

    Menschliche Geborgenheit und persnliche Freiheit sind ohne soziale Sicherheit nicht denkbar. Die sozialen Netze schaffen Sicherheit fr die Brgerinnen und Brger in der Europischen Union. Damit diese Netze sich als zukunftsfhig erweisen, bedrfen sie stndiger Anpassung an vernderte Rahmenbe-dingungen. Denn gerade auch die wirtschaftliche Entwicklung einzelner Lnder hat deutlichen Einfluss auf Sozialbudgets und damit auf die Ausgestaltung der sozialen Sicherungssysteme. Dies hat in jngster Zeit das Beispiel mehrerer Mitgliedstaaten nicht nur im Sden der EU in der Nachfolge der weltweiten Wirtschafts- und Finanzkrise gezeigt.

  • 65Finanzierung und Struktur

    Schon auf den ersten Blick wird deutlich: Die Darstellung der Kosten der sozialen Sicherung anhand der EUROSTAT-Daten-basis 2008 mit den Vernderungen gegenber den Vergleichs-zahlen 2003 zeigt auf der Einnahmeseite also den Beitrgen der Arbeitnehmer und Arbeitgeber sowie den staatlichen Zu-weisungen erhebliche Unterschiede zwischen den einzelnen Mitgliedstaaten auf.

    Der Begriff Sozialschutz

    Um die Grundlage der hier abgedruckten Tabellen zu verste-hen, muss die sprachliche Unterscheidung zwischen Sozial-schutz und Sozialleistungen beachtet werden:

    Mit Sozialleistungen sind gemeint die Ausgaben fr die einzelnen oben genannten Funktionen, also die Ausgaben des Staates, die bei den Betroffenen (Familien, Rentnern, Arbeitslo-sen usw.) unmittelbar ankommen.

    Sozialschutz dagegen umfasst grundstzlich die Gesamt-einnahmen und -ausgaben fr die soziale Sicherung in den EU-Mitgliedstaaten. Sie setzen sich also zusammen aus den Sozialleistungen sowie zustzlich den Verwaltungskosten und sonstigen Ausgaben; auf der Einnahmeseite im Wesentlichen aus den Beitrgen von Arbeitnehmern, Arbeitgebern und staat-licher Beteiligung.

    Ein Beispiel: Deutschland gab im Jahr 2009 fr Sozialleistun-gen rund 718 Mrd. Euro, fr den Sozialschutz insgesamt aber rund 748 Mrd. Euro aus. Den Tabellen zur Finanzierung der Sozialausgaben in diesem Teil I der Broschre liegen in der Regel die Sozialleistungen zugrunde. Nur in einigen bersich-ten wird gem den verfgbaren Daten von EUROSTAT auf

  • 66 Sozialer Schutz in Europa

    den Sozialschutz insgesamt Bezug genommen, zum Beispiel bei den Pro-Kopf-Gesamtleistungen oder dem prozentualen Anteil am Bruttoinlandsprodukt.

    Staatliche Leistungen

    So bewegt sich der staatliche Anteil an der Finanzierung der sozialen Sicherungssysteme, also die durch Steuereinnahmen finanzierten staatlichen Leistungen, zwischen 64,1 Prozent in Dnemark und Polen, das mit 16,7 Prozent den niedrigsten staatlichen Anteil aufweist. Dnemark an der Spitze der Tabelle wird gefolgt von Irland (57,8 Prozent), Schweden (52,2 Prozent) sowie Zypern (50,1 Prozent) und dem Vereinigten Knigreich mit 49,4 Prozent. Am unteren Ende steht Polen, noch hinter Estland mit 18,0 Prozent, Tschechien (24,3 Prozent) und den Niederlanden mit 24,8 Prozent. Deutschland liegt mit 35,5 Pro-zent im Mittelfeld der EU-Lnder.

    Im Durchschnitt wenden die 27 Lnder der Europischen Uni-on 39,6 Prozent ihrer Einnahmen fr staatliche Beitrge zu den sozialen Sicherungssystemen auf.

    Arbeitgeberanteile

    Auffallende Differenzierungen ergeben sich auch bei den Arbeitgeberanteilen der sozialen Sicherungssysteme, also den Beitrgen, die in der Regel auf der Basis der Bruttolhne bezie-hungsweise der Lohnsummen der Mitarbeiter in die Sozialsys-teme flieen. Spitzenreiter sind hier ganz anders als bei den staatlichen Beitrgen Estland, Tschechien, Litauen und Polen.

  • 67Finanzierung und Struktur

    DKIRL

    SCYGBBGRO

    FINLPIE

    MLV

    GRDAHFB

    LTSLO

    SKNLCZ

    ESTPL

    EU-27

    64,0957,78

    52,1950,05

    49,3948,69

    48,0845,1745,12

    44,2843,841

    43,501

    43,3743,232

    38,3335,49

    34,9334,87

    34,1133,6733,481

    33,1726,95

    24,7724,33

    18,0016,72

    39,611

    1 Vorlufiger Wert2 Geschtzter WertStand: Juli 2013 | Quelle: Eurostat

    Staatliche Beitrge zur sozialen Sicherung 2009in % der Einnahmen insgesamt

  • 68 Sozialer Schutz in Europa

    In Estland sind die Arbeitgeber mit 77,8 Prozent weit vor allen anderen Lnder der EU. Danach folgen Tschechien mit 50,3Prozent sowie Litauen mit 50,0 Prozent und Polen, wo die Arbeitgeber mit 44,6 Prozent an der Finanzierung der Sozial-leistungen beteiligt sind.

    Am anderen Ende der Skala finden sich weit hinter allen an-deren Lndern der EU die Arbeitgeber Dnemarks, die mit nur 11,1 Prozent beteiligt sind, hinter Irland mit 23,6 Prozent und Zypern mit 23,8 Prozent.

    Bei einem EU-27-Durchschnitt von 36,4 Prozent rangiert Deutschland mit 33,7 Prozent auch hier im Mittelfeld.

    Arbeitnehmeranteile

    Der finanzielle Beitrag der Arbeitnehmer ist in den Mitglied-staaten der EU ebenfalls sehr unterschiedlich. Die Zahlen sprechen auch hier fr sich: Mit 38,8 Prozent beziehungsweise 32,2 Prozent werden die Arbeitnehmer in Slowenien und den Niederlanden am strksten belastet, Finnland (11,2 Prozent), Schweden und Estland (4,0 Prozent) haben die geringsten Ar-beitnehmeranteile an den Sozialschutzbeitrgen.

    Der EU-27-Durchschnitt liegt hier bei 20,1 Prozent. In Deutschland tragen die Arbeitnehmer mit 29,0 Prozent die dritthchsten Beitrge, whrend ihn beispielsweise Grobri-tannien (11,9 Prozent) und Spanien (12,1 Prozent) deutlich unterschreiten.

  • 69Finanzierung und Struktur

    Sozialbeitrge der Arbeitgeber 2009in % der Einnahmen insgesamt

    1 Vorlufiger Wert2 Geschtzter WertStand: Juli 2013 | Quelle: Eurostat

    ESTCZLTPL

    EFB

    SKLV

    IM

    FINAS

    ROD

    NLH

    GRGBBG

    PL

    SLOCY

    IRLDK

    EU-27

    77,7550,2549,951

    44,5543,001

    42,8342,6642,52

    41,682

    39,011

    37,9137,1736,98

    36,0735,12

    33,6533,3032,75

    31,9031,6131,19

    30,2927,00

    26,4123,8023,55

    11,0936,441

  • 70 Sozialer Schutz in Europa

    SLONL

    DA

    CZLBF

    GRDKSKH

    BGPLM

    CYI

    LTROIRL

    PLV

    EGB

    FINS

    ESTEU-27

    38,7632,18

    29,0126,35

    24,5123,26

    21,0920,7620,58

    20,1219,3519,28

    18,3717,84

    16,1315,97

    15,531

    15,511

    15,4715,00

    14,4314,182

    12,101

    11,9011,18

    9,643,97

    20,061

    1 Vorlufiger Wert2 Geschtzter WertStand: Juli 2013 | Quelle: Eurostat

    Sozialbeitrge der geschtzten Personen 2009 in % der Einnahmen insgesamt

  • 71Finanzierung und Struktur

    Sozialleistungsstruktur in der EU

    Whrend die Finanzierungssysteme der sozialen Sicherung recht unterschiedlich sind, weist die Sozialleistungsstruktur nur weni-ge Unterschiede auf. Bei nherer Betrachtung sind die Differen-zen jedoch durchaus bemerkenswert.

    So sind die Ausgaben fr Alter und Krankheit in allen Ln-dern die mit Abstand hchsten Posten bei den Sozialleistun-gen. Im Durchschnitt der EU-27 betrgt der Anteil beim Alter 38,8Prozent, bei Krankheit/Gesundheitsversorgung 29,5Pro-zent. Welchen Anteil an den Sozialleistungen die einzelnen Staaten fr ihre Rentner aufwenden, ergibt sich aus der Addition der beiden Positionen Alter und Hinterbliebene.

    Dann zeigt sich, dass Polen mit 60,7 Prozent, gefolgt von Italien mit 60,1 Prozent, an der Spitze steht, whrend Irland mit 24,5 Prozent am wenigsten ausgibt. Darber liegen dann mit deutlichem Ab-stand Luxemburg mit 36,3 Prozent und Dnemark (36,1 Prozent). Der EU-27-Durchschnitt liegt im Jahr 2009 bei 44,8. Deutschland befindet sich mit 40,4 Prozent unter diesem Durchschnittswert.

    Den Sozialleistungen im Bereich Alter und Hinterbliebene folgen 2009, wenn man den Durchschnitt der EU-27-Lnder betrachtet, die Aufwendungen fr Krankheit und Invaliditt (38,0 Prozent) mit klarem Vorsprung vor den Ausgabepositionen Familie (8,1 Prozent) sowie Arbeitslosigkeit (6,2 Prozent). Bei den Familienleistungen steht Luxemburg mit 17,8 Prozent, ge-folgt von Irland (14,0 Prozent), Litauen (13,5 Prozent) und Ungarn (13,1 Prozent) an der Spitze. Am unteren Ende liegt Polen mit 4Prozent, darber die Niederlande, Italien, Portugal und Spanien. ber dem EU-27-Durchschnitt befindet sich in diesem Bereich auch Deutschland mit 10,4 Prozent.

  • 72 Sozialer Schutz in Europa

    DKS

    FINL

    GBLT

    ESTRO

    HSK

    PNLBG

    DLVCZ

    ASLO

    BE

    PLFI

    IRLGRM

    CYEU-27

    15,1014,56

    12,2711,36

    10,3910,031

    9,949,59

    9,068,498,438,418,30

    8,077,787,737,64

    7,447,27

    7,021

    7,016,106,071

    5,144,744,70

    3,627,961

    1 Vorlufiger WertStand: Juli 2013Quelle: Eurostat

    Sozialleistungen nach ihrer Funktion 2009: Invalidittin % der Leistungen insgesamt

  • 73Finanzierung und Struktur

    EB

    IRLLV

    FINF

    DKEST

    DGR

    ASK

    LP

    CZNLCYLTHS

    BGM

    GBI

    SLOROPL

    EU-27

    14,931

    13,2511,76

    9,518,16

    6,736,59

    6,456,28

    5,895,795,70

    5,585,335,31

    4,854,83

    4,351

    4,194,17

    3,152,982,97

    2,781

    2,482,38

    2,106,151

    1 Vorlufiger WertStand: Juli 2013Quelle: Eurostat

    Sozialleistungen nach ihrer Funktion 2009: