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Rolf Sistermann/ Michael Wittschier: Problemorientierter Philosophieunterricht nach dem Bonbonmodell (erscheint in ZDPE 1/2015) Ein Gespräch aus der Praxis der Unterrichtsplanung und Lehrerausbildung Michael Wittschier (MW) ist Fachseminarleiter für Philosophie am Zentrum für schulpraktische Lehrerausbildung in Engelskirchen. Rolf Sistermann (RS) war Fachseminarleiter für Philosophie in Leverkusen. MW: Die meisten Philosophielehrer und -didaktiker sind sich inzwischen einig, dass Philosophieunterricht sinnvoller Weise problemorientiert stattfinden sollte. Ekkhard Martens 1 hat schon 1979 Philosophie als einen „problemorientierten Verständigungsprozess“ beschrieben und Markus Tiedemann hat 2012 in einem programmatischen Aufsatz noch einmal betont, dass Problemorientierung im Philosophieunterricht „ein substanzielles Prinzip“ sein muss 2 . Schließlich heißt es auch in dem neuen Kernlehrplan NRW für Philosophie von 2013 ganz am Anfang lapidar: „Ziel des Philosophieunterrichts ist die Befähigung zur philosophischen Problemreflexion. 3 Aber wie soll das genau gehen? Die Schüler mit einem schwierigen philosophischen Text zu konfrontieren und im Stillen zu denken „Jetzt habt ihr ein Problem!“ 4 , das kann es ja nicht sein. Gezielte Problemorientierung ist in der Alltagspraxis des Unterrichts leider durchaus noch nicht selbstverständlich. Nach meiner Erfahrung und Beobachtung gibt es sieben verschiedene Möglichkeiten, wie Unterrichtende mit dem Problem der Problemorientierung im Philosophieunterricht umgehen oder auch es umgehen können. Die 5-A-Methode (Anschreiben, Abschreiben, Auswendiglernen, Abfragen, Aufsagen), die Martin Luther für den Katechismusunterricht empfohlen hat 5 , will ich nicht dazu zählen, weil sie grundsätzlich unvereinbar ist mit einem kompetenzorientierten Philosophieunterricht. Ich habe die häufig anzutreffenden Methoden einmal in einer Reihenfolge zusammengestellt, in der die in meinen Augen schlechteste am Anfang und die beste am Schluss steht: 1 Ekkehard Martens: Dialogisch-pragmatische Philosophiedidaktik, Hannover u.a: Schroedel: 1979,57 2 Markus Tiedemann: Das Prinzip der Problemorientierung und seine Konsequenzen für den Philosophie- und Ethikunterricht, in: Mitteilungen des Fachverbandes Philosophie Nr. 52 /2012 , 26; überarbeitet auch als Markus Tiedemann: Problemorientierte Philosophiedidaktik. In: ZDPE 35/ 2013, H.1 3 Kernlehrplan Philosophie für die Sekundarstufe II Gymnasium / Gesamtschule in Nordrhein-Westfalen Herausgegeben vom Ministerium für Schule und Weiterbildung des Landes Nordrhein-Westfalen Düsseldorf 2013, 11 4 So karikiert M. Tiedemann in witziger Weise den traditionsorientierten Ansatz in dem oben genannten Aufsatz 5 nach Jürgen Hennigsen, Erfolgreich manipulieren, Methoden des Beybringens, Ratingen: Henn Verlag 1974, S.56

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Ein Gespräch aus der Praxis der Unterrichtsplanung und Lehrerausbildung

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Rolf Sistermann/ Michael Wittschier: Problemorientierter Philosophieunterricht nach dem Bonbonmodell (erscheint in ZDPE 1/2015)

Ein Gespräch aus der Praxis der Unterrichtsplanung und LehrerausbildungMichael Wittschier (MW) ist Fachseminarleiter für Philosophie am Zentrum für schulpraktische Lehrerausbildung in Engelskirchen. Rolf Sistermann (RS) war Fachseminarleiter für Philosophie in Leverkusen.

MW: Die meisten Philosophielehrer und -didaktiker sind sich inzwischen einig, dass Philosophieunterricht sinnvoller Weise problemorientiert stattfinden sollte. Ekkhard Martens1 hat schon 1979 Philosophie als einen „problemorientierten Verständigungsprozess“ beschrieben und Markus Tiedemann hat 2012 in einem programmatischen Aufsatz noch einmal betont, dass Problemorientierung im Philosophieunterricht „ein substanzielles Prinzip“ sein muss2. Schließlich heißt es auch in dem neuen Kernlehrplan NRW für Philosophie von 2013 ganz am Anfang lapidar: „Ziel des Philosophieunterrichts ist die Befähigung zur philosophischen Problemreflexion.3“ Aber wie soll das genau gehen? Die Schüler mit einem schwierigen philosophischen Text zu konfrontieren und im Stillen zu denken „Jetzt habt ihr ein Problem!“4, das kann es ja nicht sein. Gezielte Problemorientierung ist in der Alltagspraxis des Unterrichts leider durchaus noch nicht selbstverständlich. Nach meiner Erfahrung und Beobachtung gibt es sieben verschiedene Möglichkeiten, wie Unterrichtende mit dem Problem der Problemorientierung im Philosophieunterricht umgehen oder auch es umgehen können. Die 5-A-Methode (Anschreiben, Abschreiben, Auswendiglernen, Abfragen, Aufsagen), die Martin Luther für den Katechismusunterricht empfohlen hat5, will ich nicht dazu zählen, weil sie grundsätzlich unvereinbar ist mit einem kompetenzorientierten Philosophieunterricht. Ich habe die häufig anzutreffenden Methoden einmal in einer Reihenfolge zusammengestellt, in der die in meinen Augen schlechteste am Anfang und die beste am Schluss steht: 1. Die Schüler werden in der Hinführungsphase lediglich mit einem Text konfrontiert, der sie in vielfältiger Hinsicht zum Nachdenken anregen soll. Lehrerabsicht und Schülerinteresse gehen dabei eine nicht thematisierte Gemengelage ein.2. Der Unterrichtende hat eine klare Zielvorstellung, die er auch zu Beginn der Stunde bekannt gibt, z.B. „Ihr sollt heute verstehen, dass nach Thomas Hobbes die Gleichheit der Fähigkeiten zum Krieg aller gegen alle führt.“ Ob die Schüler am Erreichen dieses Ziels interessiert sind, wird nicht erwogen. Sie müssen das einfach lernen, und fertig.3. Der Unterrichtende hat eine klare Vorstellung vom zu erreichenden Stundenziel und führt seine Schüler ohne klar benannten Problemstellung mit Hilfe eines fragend-entwickelnden Unterrichtsgespräch bzw. mit Hilfe von Leitfragen zum richtigen Ergebnis, z.B. der Klärung zentraler Begriffe und/oder der Analyse der Argumentationsstruktur.4. Der Unterrichtende hat ein klar formuliertes Lehr-/Lernziel, aber nicht die dazu passende Problemstellung. Beispiel: „Die Schüler sollen auf der Grundlage einer angeleiteten Argumentationsanalyse selbständig erklären können, dass René Descartes im Schlussteil der 2. Meditation als Rationalist argumentiert („Nur der Geist kann erkennen, was Wachs ist.“) und wie er seinen Standpunkt begründet.“ Die Formulierung „Warum argumentiert Descartes als Rationalist?“ stellt lediglich das umformulierte Lehrziel dar, aber keine Problemstellung, durch dessen Bearbeitung die Schüler verstehen können, warum Descartes als Rationalist argumentiert.5. Zwei Problemstellungen, die gleichzeitig in den folgenden Phasen bearbeitet werden sollen, z.B. „Warum ist nur der gute Wille nach Kant gut?“ u n d „Warum ist nach Kant der gute Wille ohne Einschränkung gut?“ Das stiftet unnötig Verwirrung in den folgenden Problemlösungsphasen. Es ist besser und einfacher, erst die eine und dann die andere Frage zu beantworten.

1 Ekkehard Martens: Dialogisch-pragmatische Philosophiedidaktik, Hannover u.a: Schroedel: 1979,57

2 Markus Tiedemann: Das Prinzip der Problemorientierung und seine Konsequenzen für den Philosophie- und Ethikunterricht, in: Mitteilungen des Fachverbandes Philosophie Nr. 52 /2012 , 26; überarbeitet auch als Markus Tiedemann: Problemorientierte Philosophiedidaktik. In: ZDPE 35/ 2013, H.13 Kernlehrplan Philosophie für die Sekundarstufe II Gymnasium / Gesamtschule in Nordrhein-Westfalen Herausgegeben vom Ministerium für Schule und Weiterbildung des Landes Nordrhein-Westfalen Düsseldorf 2013, 114 So karikiert M. Tiedemann in witziger Weise den traditionsorientierten Ansatz in dem oben genannten Aufsatz

5 nach Jürgen Hennigsen, Erfolgreich manipulieren, Methoden des Beybringens, Ratingen: Henn Verlag 1974, S.56

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6. Die ursprünglich klar formulierte Problemstellung wird im Laufe der Stunde ständig umformuliert, erweitert oder modifiziert, weil sich herausstellt, dass sie nicht ergiebig genug ist und die Stunde nicht trägt. Natürlich stellen sich im Lernprozess immer wieder neue, interessante Fragen, aber man sollte die zu Beginn der Stunde mit den Schülern gemeinsam formulierte Problemstellung der Stunde nicht einfach unter der Hand verändern. Wenn ständig neue ‚Baustellen’ aufgemacht werden, kommt der Denkprozess nicht zu einem klar erkennbaren und begrifflich bearbeiteten Ziel.7. Mit Hilfe eines problemeröffnenden Impulses entwickeln die Schüler (möglichst selbständig) eine relevante, klar formulierte, sie interessierende Problemstellung. Zu dieser erarbeiten sie in den folgenden Phasen (intuitive und kontrollierte Problemlösung) eine (vorläufige) Antwort, die anschließend vertieft, problematisiert oder auf eine andere Situation übertragen wird.

RS: Wenn du mit der letzten Möglichkeit das Bonbonmodell meinst, bin ich natürlich ganz mit der Reihenfolge einverstanden. Aber wir kommen sicher noch darauf.

MW: Meine Zusammenstellung zeigt, dass eine gezielte und ergiebige Problemstellung sicher der Dreh- und Angelpunkt für eine gelungene Unterrichtsstunde ist. Aber hier gibt es auch die größten Schwierigkeiten. Ich überlege immer wieder, wie man diesen begegnen kann.

RS: Ich meine, wir müssen genauer darüber nachdenken, wie ein Problem, an dem sich der Unterricht orientieren kann, beschaffen sein muss und wie man ein philosophisch ergiebiges Problem finden kann. Denn nicht jede Frage ist ein Problem.

MW: Wie unterscheidet sich denn deiner Meinung nach eine Problemstellung von einer gewöhnlichen weiterführenden Unterrichtsfrage?

RS: Helmut Engels hat schon vor vielen Jahren einen Vorschlag gemacht, den Problembegriff im Unterricht genauer zu bestimmen. Er plädierte dafür, den Problembegriff auf Fragen einzugrenzen, bei deren Beantwortung zwei widersprüchliche Thesen sich gegenüberstehen. Dieser eingegrenzte Problembegriff „bezeichnet eine bestimmte Art von Schwierigkeit und enthält – das ist wichtig – eine Art Suchanleitung für den Lösungsversuch: er lenkt nämlich den Blick auf die beiden anscheinend widersprüchlichen Thesen und ihr Verhältnis zueinander.“6 Mit Niklas Luhmann kann man jedoch präzisieren, dass es nicht immer nur um zwei Positionen, sondern um eine überschaubare Zahl von Lösungen gehen muss. Sein unabhängig von der didaktischen Diskussion formulierter Problembegriff macht deutlich, warum es bei der Unterrichtsplanung schwer ist, eine genaue Problemstellung zu finden. Er lässt aber auch erwarten, dass ein Unterricht, der sich daran hält, einer spannenden Dramaturgie folgt. „Ein Problem wird mit Sätzen formuliert, die eine in Hinsicht auf Wahrheit/ Unwahrheit unentschiedene Meinung kommunizieren. Ein Problem funktioniert nur, wenn es die Zahl möglicher Problemlösungen limitieren kann, und es funktioniert schlecht, wenn die Zahl der Problemlösungen zu groß ist. In der Formulierung des Problems werden Bedingungen der Erkennbarkeit von Lösungen vorgegeben, und das steigert, je nach der Hintergrundsdramatik der Problemstellung, die Spannung, mit der man nach Lösungen sucht, und den Aha-Effekt, der das Finden der Lösung begleitet.“7

MW: Reicht das aber, damit der Schüler auch bereit ist, sich mit dem Problem zu beschäftigen? Muss er nicht merken, dass es dabei auch um ihn geht? Ich denke an das alte Prinzip : „Tua res agitur!“

RS: Ich denke, da berührst du einen wichtigen Punkt. In diese Richtung geht der Problembegriff Volker Gerhardts. Er schreibt: „Probleme erkennt man nicht wie einen Gegenstand, von dem man sich jederzeit wieder abwenden kann. Wenn es echte Probleme sind, die uns ganz berühren, dann fordern sie uns auch ganz und verlangen eine eigene, aus uns selbst kommende Aktivität.“8

MW: Mir fällt noch ein, dass es von Karl Popper eine Aufsatzsammlung gibt mit dem schönen Titel „Alles Leben ist Problemlösen“. Wahrscheinlich kann man darin auch noch genauere Eingrenzungen des Problembegriffs finden.

6 Helmut Engels: Vorschlag, den Problembegriff einzugrenzen , ZDP Heft 3/907 Niklas Luhmann: Die Wissenschaft der Gesellschaft , Frankfurt am Main: Suhrkamp 1992 , 4348 Volker Gerhardt : Selbstbestimmung, Stuttgart: Reclam 1999, 47ff

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RS: Ja, das stimmt. Popper beschreibt schon 1972 sehr genau in einem auf den Prozess der Evolution bezogenen Radiovortrag9, dass Probleme aus enttäuschten Erwartungen entstehen, die zu Lösungsversuchen in Form von Probierbewegungen, also Versuch und Irrtum, führen, wobei die Fehlversuche anschließend eliminiert und die gelungenen gespeichert werden. Schließlich ergeben sich aus dem Resultat neue Probleme.

MW: Wie müsste denn eine Unterrichtsplanung aussehen, die all diesen Bestimmungen des Problembegriffs gerecht wird?

RS: Die Planung muss 1. ein Problem finden, das die Schüler etwas „angeht“ und sie „berührt“ und dadurch eine aus ihnen selbst kommende Aktivität anregt. 2. Sie muss eine „in Hinsicht auf Wahrheit/ Unwahrheit unentschiedene Meinung“ zur Diskussion stellen. 3. Sie muss Möglichkeiten bereitstellen, die dem „Aufforderungscharakter“ des Problems entsprechen, so dass die Schüler in einer „von ihnen selbst kommenden Aktivität“ Lösungsversuche im Sinne von Probierbewegungen anstellen und dabei ihr Vorwissen intuitiv ins Spiel bringen. 4. Sie wird aber auch einplanen, dass die Schüler durch die „Hintergrundsdramatik des Problems“ und die „Spannung, mit der sie nach Lösungen suchen“, dazu motiviert sind, Texte von anerkannten Denkern der Vergangenheit und Gegenwart zu studieren und zu untersuchen, ob diese bei der Lösung weiterhelfen können. 5. Sie muss außerdem einplanen, dass die Fehlversuche eliminiert und die gelungene Lösung gespeichert werden, um in einer anschließenden oder späteren Lerneinheit darauf zurückkommen zu können.6. Schließlich muss die Planung Gelegenheit bieten, die gefundene Lösung in Frage zu stellen, an anderen Beispielen zu erproben und ihre Konsequenzen in Bezug auf anschließende Probleme weiterzudenken.

MW: Wenn du diese sechs Bedingungen so zusammenstellst, erinnert dies sicher nicht nur zufällig an das von dir entwickelte Bonbonmodell. Du bist seid langem der Meinung und hast dies ja auch in einigen Aufsätzen niedergelegt10, dass das Bonbonmodell das beste Instrument darstellt, um eine wirkliche Problemorientierung zu gewährleisten. Auch ich habe es in meinem Fachseminar als Hilfe bei der Planung von Unterrichtsstunden eingeführt und meinen Methodenbüchern zu Grunde gelegt11. Meine Referendare benutzen es, wie ich meine, mit gutem Erfolg, kommen aber auch immer wieder mit Fragen, die sich aus der Praxis ergeben haben und die ich gerne noch einmal mit dir durchgehen möchte. Vielleicht kannst du erst noch einmal zusammenfassen, welche Bedeutung die sechs Unterrichtsphasen nach dem Bonbonmodell haben.

RS: Das mache ich gerne. Ich unterscheide sechs Lernphasen. Eine Hinführung (1.Phase) , die von den Interessen der Schüler ausgeht, soll zu einer möglichst präzisen und für alle Schüler nachvollziehbaren Problemstellung (2. Phase) führen. Sie soll so eindeutig und nachvollziehbar sei, dass in der folgenden intuitiven, selbstgesteuerten Problemlösungsphase (3. Phase) die Schüler einzeln oder in Zusammenarbeit mit Mitschülern selbständig arbeiten können. So können sie sich in das Problem hineindenken und mögliche Lösungen antizipieren. Sie können dadurch dem Anspruch des Textes oder anderer Medien, mit dem sie in der angeleitet, kontrollierten Problemlösungsphase (4. Phase) konfrontiert werden, besser und leichter gerecht werden. In der Festigungsphase (5.Phase) sollten die Ergebnisse der kontrollierten Phase auf den Begriff gebracht, im Vergleich mit denen der intuitiven Phase befragt und in den Zusammenhang der Reihe gestellt werden. Schließlich geht es in der Transferphase (6.Phase) um Anwendung und Erprobung an Beispielen, kritische Stellungnahme und anschließende offene Fragen.

9 Karl R. Popper: Wissenschaftslehre in entwicklungstheoretischer und in logischer Sicht, Rundfunkvortrag für den NDR, 7. März 1972. in: ders.: Alles Leben ist Problemlösen über Erkenntnis, Geschichte und Politik, München: R. Piper 1994, 15ff

10 Zuerst in: Rolf Sistermann: Konsumismus oder soziale Gerechtigkeit? In: ZDPE Heft 1/ 2005; 16- 27 und zuletzt in Rolf Sistermann: Der Sinn des Lebens. Eine problemorientierte Unterrichtsreihe nach dem „Bonbonmodell“, in ZDPE 4/ 2012

11 Michael Wittschier: Gesprächsschlüssel Philosophie, München: BSV 2012, 12

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Phasen der Problemorientierung

1. Ein Problem finden, das die Schüler angeht und berührt.

2. Divergente, bisher noch unentschiedene Ansichten gegenüber- und in Frage stellen: 3. Das Vorwissen der Schüler zur Beantwortung der Problemfrage in Probierbewegungen aktivieren

4. Auseinandersetzung mit den Lösungen von Denkern der Vergangenheit u. Gegenwart iniziieren 5. Erarbeitete Problem- ‚Lösung‘ festhalten und Fehlversuche eliminieren 6.Problematisierung der gefundenen Lösung und/oder Erweiterung bzw. Vertiefung der Problemstellung

MW: Wie bist auf darauf gekommen?

RS: In meiner Referendarszeit wurden wir angehalten, den Unterrichtsentwurf nach einem Phasenplan zu gestalten, ohne dass uns erklärt wurde, wie dieser aussehen sollte. Empfohlen wurden uns die Lernpsychologie von Heinrich Roth12 und die von Werner Correll. Beide beziehen sich auf John Deweys Buch „Wie wir denken“. In beiden finden sich Beschreibungen von Lernphasen, die aber in bestimmten Punkten von einander abweichen. Roth nennt schon sechs Phasen einschließlich des Transfers, spricht aber nur von Schwierigkeiten, statt von einer gezielten Problemstellung. Correll nennt nur fünf Phasen, beschreibt aber den Unterschied der dritten und vierten Phase genauer. Es geht ihm nicht wie H. Roth nur um Planung und Ausführung einer Lösung, sondern er fordert, dass in der dritten Phase „jeder Schüler die Möglichkeit erhält, seine Vorstellungen über die Lösung des erfahrenen Problems tatsächlich zu äußern“13. Er bringt auch schon das Prinzip von trial and error ins Spiel. Entscheidend war aber wahrscheinlich die Auflage, den Phasenplan mit einer Spalte „Geplantes Lehrerverhalten“ und „Vermutetes Schülerverhalten“ zu versehen. Ich wurde dadurch darauf gestoßen, mich nicht nur mit der Frage zu befassen, was ich in der Stunde zu tun hatte, sondern mir die Frage zu stellen: „Was machen die Schüler eigentlich die ganze Zeit?“. Ich konnte unmöglich in die zweite Spalte immer nur schreiben: „Schüler beantworten die Frage des Lehrers“, sondern musste mir vor allem in der selbstgesteuert- intuitiven Phase ein sinnvoll motivierte produktive Selbsttätigkeit der Schüler einfallen lassen.

MW: Wie kam es denn zu der Bezeichnung „Bonbonmodell“?

RS: Sie stammt von einem Referendar. Als ich einmal im Seminar eine Skizze an die Tafel malte, mit dem ich klar machen wollte, welche Phasen eng geführt werden müssen und welche in die Breite gehen können, sagte er spontan: „Das sieht ja aus wie ein Bonbon.“

MW: Engführung? Das klingt nach lehrerzentriertem Unterricht. Ist denn so etwas heute noch vertretbar?

RS: Ein grundsätzlich lehrerzentrierter Unterricht sicherlich nicht. Aber der Wechsel von stärker lehrerzentrierten und stärker schülerzentrierten Phasen ist durchaus sehr sinnvoll. Es gibt Phasen, bei denen

12 Heinrich Roth, Pädagogische Psychologie des Lehrens und Lernens, 12.A., Berlin u.a.: Schroedel 1970, 208ff13 Werner Correll: Lernpsychologie, Grundfragen und pädagogische Konsequenzen, Elfte Auflage, Ludwig Donauwörth: Auer 1961, 63

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die Schüler möglichst selbständig ihren Einfällen und Ideen nachgehen sollten, und andere, bei denen eine engere Führung durch den Lehrer zweckmäßig ist. Sie können nicht alles, wozu große Denker Jahre gebraucht haben, innerhalb einer Unterrichtstunde selber finden. Wenn man versucht, sie mit noch so geschickter Fragetechnik weiter zu bringen, kann dies schnell zur Ostereierdidaktik führen. Die Schüler rätseln dann nur noch, wo der Lehrer das Ergebnis versteckt hat und was er wohl hören will. Man macht sich etwas vor, wenn man meint, alles aus ihnen herausholen zu können. Man muss ihnen manchmal auch etwas beibringen. Aber das Beigebrachte sagt ihnen nichts und wird schnell wieder vergessen, wenn sie sich nicht selbst schon einmal an dem Problem versucht haben.

MW: Wenn auf die breit angelegte Hinführungsphase eine enge Problemstellung folgt, scheint das so zu sein, dass hier nicht von den Problemen der Schüler ausgegangen wird, sondern der Lehrer die Problemstellung vorgibt. Ist es nicht besser, wenn die Schüler das Problem selber formulieren?

RS: Natürlich ist es schön und zeugt von einer besonders gut geglückten Hinführung, wenn ein Schüler das Problem selber formuliert. Aber es ist für einen gelungenen Lernprozess nicht unbedingt nötig. Viel wichtiger ist, dass alle Schüler das Problem nachvollziehen können, wissen, wie es sich ergeben hat, und bereit sind, daran zu arbeiten. Es ist eine Illusion, wenn man meint, immer von den Problemen der Schüler ausgehen zu können. Die Schüler haben nur in den seltensten Fällen ein gemeinsames Problem. Meist sind es nur ein oder zwei Wortführer, die angeblich die Probleme der Schüler einbringen. Wenn der Lehrende sich darauf einlässt, kann es schnell zu einem Zwiegespräch kommen, das die anderen Schüler nicht mehr interessiert. Wenn es wirklich ein gemeinsames Problem der Schüler geben sollte, das von der geplanten Problemstellung abweicht, spricht nichts dagegen, dieses erst einmal vorzuziehen und sich anschließend dem geplanten zuzuwenden.

MW: Wird im Bonbonmodell nicht zu viel erwartet? Können sich Schüler in 45 Minuten wirklich seriös um eine intuitive Problemlösung bemühen und gleichzeitig auch noch angemessen einen begrifflich anspruchsvollen Text analysieren?

RS: Was die Aufgabenstellungen in der intuitiven und der kontrollierten Phase angeht, so habe ich immer wieder festgestellt, dass die intuitiven Versuche, selbstständig Lösungen auf die Problemstellung zu finden, keine Zeitverschwendung darstellen. Wenn die Schüler sich selber schon einmal mit dem Problem beschäftigt haben, fällt ihnen die Analyse eines begrifflich anspruchsvollen Textes sehr viel leichter. Wichtig ist allerdings, dass es in beiden Phasen um genau die gleiche Problemstellung geht. Die selbstgesteuert- intuitive Phase darf also m. E. auf keinen Fall ausgelassen werden.

MW: Meine Referendare haben mich gefragt, ob das Bonbon-Modell eher für eine 45-, eine 60- oder eine 90-Minuten-Stunde geeignet ist.

RS: Das Bonbon-Modell ist kein Modell für eine Unterrichtsstunde mit einer bestimmten Länge, sondern beschreibt den natürlichen Lernprozess in einer gelungenen Unterrichteinheit. Dieser kann mit dem Ablauf einer Unterrichtsstunde zusammenfallen, kann sich aber auch über mehrere Stunden erstrecken. In der Regel wird man versuchen, bis zur Festigungsphase zu kommen, so dass sich die Hausaufgabe mit dem Transfer befassen kann. Wenn aber die Problemstellung die Schüler so beschäftigt und berührt, dass sie in der intuitiven Phase in eine intensive Diskussion zu genau diesem Problem geraten, so ist es durchaus möglich und sinnvoll, diese nicht abzubrechen, sondern bis zum Ende der Stunde weiterlaufen zu lassen. Nach einer Sicherung des Diskussionsstandes als Zwischenergebnis können die für die kontrollierte Problemlösung vorgesehenen Materialien in der nächsten Stunde eingesetzt oder als Hausaufgabe vorbereitet werden. Im übrigen muss man zwei Ebenen der Planung unterscheiden. Ich empfehle das Bonbonmodell in erster Linie bei der Planung jeder Unterrichtseinheit. Darüber hinaus macht es aber auch durchaus Sinn, dass die Unterrichtsreihe als ganze nach diesem Modell strukturiert ist.

MW Manche Referendare fühlen sich bei der Planung ihres Unterrichts durch das Bonbonmodell zu sehr in ein Schema gepresst. Muss denn jede Stunde nach diesem Schema verlaufen? Ich denke dabei an Möglichkeiten, einen Text zu inszenieren, oder andere Möglichkeiten des theatralen Philosophierens, wie sie Christian Gefert vorgeschlagen hat.

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RS: Es wäre sicher schade, wenn das Bonbonmodell solche Stunden verbieten würde. Aber ich meine, dass sie sich ohne weiteres damit verbinden lassen. Ich sagte ja schon, dass das Modell keine Vorschrift über die Länge der jeweiligen Phase, sondern nur über die sinnvolle Reihenfolge enthält. In den von dir genannten Fällen würde ich eine solche Stunde als eine ausgeweitete Hinführung ansehen, die zu einer Problemstellung führt, die in den nächsten Stunden bearbeitet werden müsste.

MW: Gibt es klar erkennbare, fachdidaktisch relevante Vorzüge desBonbon-Modells für den Philosophieunterricht gegenüber dem bekannten 3-E-Modell (Einstieg-Erarbeitung-Ergebnissicherung)?

RS: Es fehlen im 3-E-Modell die Phasen der Problemstellung, der selbstgesteuert- intuitiven Lösung und des Transfers. Die Problemstellung ist zwar die kürzeste, aber auch die entscheidendste Phase. Es ist empfehlenswert, dass die Problemstellung an der Tafel festgehalten wird, so dass die Schüler sie jederzeit vor Augen haben. Deshalb spreche ich auch nicht gerne von Einstieg, sondern von Hinführung, nämlich der Hinführung zu einer Problemstellung, die diesen Kriterien entspricht. Bei Einstieg muss ich immer an einen Dieb denken, der in einen Hühnerstall einsteigt. Dann flattern alle Hühner durcheinander und er versucht, irgend eines zu ergreifen. Wenn so das Thema der Stunde zustande kommt, ist das fatal.

MW: In NRW soll sich der Unterricht für Praktische Philosophie in Anlehnung an die Methodik von E. Martens am sokratischen Methodenparadigma orientieren und dabei dabei phänomenologische, hermeneutische, analytische, dialektische und spekulative Zugänge berücksichtigen. Wie verträgt sich das mit dem Bonbon-Modell?

RS: Man kann die genannten Methoden ohne weiteres den einzelnen Lernphasen folgender Maßen zuordnen: In der Hinführungsphase geht es darum, dass die Schüler mit phänomenologischen Methoden etwas wahrnehmen, das zur „Problemkonstituierung“ führt. In der selbstgesteuert intuitiven Problemlösungsphase sollen sie mit spekulativen Methoden weiterführenden Einfällen nachgehen. In der angeleitet kontrollierten Problemlösungsphase sollen sie mit hermeneutischen Methoden Texte verstehen lernen. In der Festigungsphase geht es um die Klärung von Argumenten und Begriffen mit Hilfe analytischer Methoden, und in der Transferphase schließlich sollen sie mit Hilfe dialektischer Methoden „Auseinanderssetzungen führen können.“

MW: Das sind noch ziemlich allgemeine Zuordnungen. Sollte man sich in den einzelnen Phasen des Bonbon-Modells bestimmter Methoden bedienen, oder ist es egal, wie man hier vorgeht?

RS: Es ist sicher nicht egal, wie man vorgeht, sondern es gibt Methoden, die sich besonders gut für bestimmte Phasen eigenen. Es ist ein besonderes Verdienst deiner Methodensammlung „Gesprächsschlüssel“14, dass hier zum ersten Mal Methoden den einzelnen Lernphasen im Sinne des Bonbonmodells zugeordnet sind. Auch dein „Medienschlüssel Philosophie“15, in dem du dreißig mediale Zugänge zu philosophischen Lernprozessen vorführst, orientiert sich am Bonbonmodell und stellt dabei jeden Zugang unter eine gezielte und ergiebige Problemstellung. In der Methodensammlung unseres Unterrichtswerks „Weiterdenken“16, in der ja alle Unterrichtseinheiten nach dem Bonbonmodell konzipiert sind, haben wir diese Zuordnung übernommen.

14 Michael Wittschier: Gesprächsschlüssel Philosophie, München: BSV 2012

15 Michael Wittschier: Medienschlüssel Philosophie, München: BSV 2013

16 Sistermann, Rolf (Hg): Weiterdenken, Braunschweig: Schroedel Bd. A, ab Klasse 5 (2009); Bd. B. ab Klasse

8 (2009); Bd. C ab Klasse 10 (2012)