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„Siehst du mich in meiner Trauer?“ Das Konzept der unerkannten Trauer bei Menschen mit Demenz Carmen Birkholz, Dipl.-Theologin Institut für Lebensbegleitung, Essen www.institut-lebensbegleitung.de

Siehst du mich in meiner Trauer Nacharbeit€¦ · Geiger, Arno (2011): Der alte König in seinem Exil, München: Carl Hanser. Kitwood, Tom (2008): Demenz. Der person-zentrierte Ansatz

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„Siehst du mich in meiner Trauer?“Das Konzept der unerkannten Trauer bei Menschen mit DemenzCarmen Birkholz, Dipl.-TheologinInstitut für Lebensbegleitung, Essenwww.institut-lebensbegleitung.de

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Demenz ist…� eine degenerative neurologische Erkrankung und kein natürlicher Alterungsprozess (WHO)� eine natürliche Art der Gehirnalterung (Peter Whitehouse & Daniel George)� eine »Ausdrucksform des vulnerablen Alters und eines Wegs aus dem Leben« (Klie 2014, S. 11)� eine »neue menschliche Seinsweise« (Dörner, 2012 S. 14)� eine Konstruktion, psychoanalytisch interpretiert: „Oder bedarf es in einer vom Todesverbot geprägten Gesellschaft einer so ungeheuren Widerstandskraft, daß die Verwirrung der Sinne, die Einschränkung oder Abbruch von Kontakt der einzige (verborgene) Weg ist, dem Tod ins Angesicht zu schauen?“ (Koch-Straube 2003, 355).

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Demenz konfrontiert mit dem Nicht-Verstehen� … mit dem Fremdwerden und Fremdsein. Wenn ich etwas nicht verstehe,wende ich mich entweder ab und blende es aus meinem Leben aus oder ichschöpfe aus meinem bisherigen Wissen und konstruiere mir ein Phänomen so, dass es für mich Sinn ergibt.� Ohne Verstehen ist die Welt bedrohlich und macht Angst. So macht das Fremdeoft Angst, wenn es nah an mich herankommt.� Die soziale Konstruktion von Wirklichkeit haben Peter Berger und Thomas Luckmann beschrieben (Berger und Luckmann 2016) und der Konstruktivismus hat deutlich gemacht, dass die Welt nicht einfach „objektiv ist“, sondern immer wieder sozial konstruiert wird.� Dies trifft auch auf die Deutungen des Phänomens Demenz zu und so lassen sicheine Vielfalt von Deutungsmöglichkeiten sozial beobachten.� In unserer Gesellschaft ist bisher die Medizin mit ihrer Deutung von Demenz als Krankheit vorherrschend, aber auch die Pathologie der Demenz ist eine Konstruktion neben anderen.

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Framinganalyse: Interpretationen und Rahmungen des Phänomen DemenzQuelle: Birkholz 2018b

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Ergänzungen aus Kontexten von Pflege und Begleitung von Menschen mit DemenzQuelle: Birkholz, 2018b

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Verluste und TrauerverstärkerVeränderungen

• Gedächtnis• Persönlichkeit• Kontrollverlust• körperlich (Inkontinenz, Immobilität

Medikalisierung des „Normalen“• „Kriegsopfer“ im Kampf gegen DemenzRollenveränderung

• Von der Selbstversorgung zur Pflegeperson• Geschäftsfähig – Abnahme der Geschäfte • Sexualpartner/in – Vertraute/r • Wirksamkeit – Unwirksamkeit

Verlust der Vertrautheit• Wohnung• Menschen• Gewohnheiten/Tagesablauf• Kulturell-spirituell

Verlust der Selbständigkeit• Berufliche Veränderung (Reduktion, Flexibilisierung)• Sozialer Rückzug

Trauerauslöser für Menschen mit DemenzReaktion der Umwelt

• Stigmatisierung• Sozialer Ausschluss• EntpersonalisierungVerlust „natürlicher“ Begegnungen

• Nicht „mit“ den Betroffenen sondern „über sie“ sprechen• Rollenbegegnungen statt natürlicheGewalterfahrungen

• seelische Gewalt• körperliche Gewalt• Missachtung• FixierungQuelle: Birkholz 2018a

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Kriterien der unerkannten Trauer bei Menschen mit Demenz� 1. Die Person wird abgewertet.� 2. Der Verlust wird nicht als Verlust erkannt.� 3. Die Trauerreaktion wird als Krankheitsäußerung bewertet (dementierendes Verhalten).� 4. Der persönliche Trauerstil wird pathologisiert (Depression, Aggression).� 5. Der Tod wird als (lang überfällige) Erlösung bewertet.� 6. Die Trauer der Angehörigen wird aberkannt.

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Demenz – Berichte Betroffener

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»Ich bin ein Mensch mit einem geschädigten Gehirn. Das ist jenes Körperteil, das von meiner Persönlichkeit und meiner Einstellung stark beeinflusst wird. Natürlich setzt die Krankheit mir zu, denn sie zerstört kontinuierlich meine Fähigkeiten, aber meine Individualität widersetzt sich einer derart simplen und endgültigen Kategorisierung meinesKrankheitsverlaufs. All diese Diagramme, Tabellen und Stadien ignorieren meine Individualität und schüren Zweifel, dass ich so viele Jahre nach meiner Diagnose immer noch sprechen kann« Christine Bryden (2011, S. 53).

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Demenz als Phänomen führt potentiell zu erschwerter Trauer� Personenbezogene Gründe:

� Menschen mit Demenz sind der Konfrontation mit ihren Verlusten durch ein beschädigtes Gedächtnis immer wieder ausgesetzt. � Ihnen gehen kognitive Bewältigungsstrategien verloren und sie verarbeiten stärker emotional mit notwendigen Copingstrategien, wie »Schuldzuweisungen«, leugnen, verdrängen. � Alte Trauergefühlen von Traumatisierungen kommen wieder hoch, die die Menschen der Kriegs- und Nachkriegsgeneration vielfältig betreffen.

� Soziale Gründe:� Bezugspersonen sind oft mit der immer wiederkehrenden »neuen« Konfrontation überfordert. � Kann die Person mit Demenz den Verlust überhaupt begreifen? Angehörige können dazu neigen, den Trauerschmerz nicht wahrzunehmen, da dementierenden Erleben und Verhalten pathologisiert wird.� Die vielfältigen unachtsamen bis gewalttätigen Reaktionen auf Menschen mit Demenz und ihre Angehörigen erschweren die Verarbeitung ihrer Verluste und können eine Traumatisierung durch den gesamten Demenzkontext an sich auslösen.

� Gesellschaftliche Gründe:� Die Stigmatisierung der Demenz als »diese schreckliche Krankheit«, die ein einziges langes Abschiednehmen sei, schwächt und verhindert die Unbefangenheit eines guten Lebens mit Demenz.� Die Begleitung der pflegenden Angehörigen bleibt überwiegend Privatsache.

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„Ich habe mal beobachtet, wie ein Sohn seiner dementen Mutterdabei zusah, wie sie ein Formular ausfüllte. Als sie die falscheTelefonnummer eintrug, nahm er ihr das Blatt weg, korrigiertees und sagte, ich möchte nicht, dass meine Mutter noch weiter Formulare ausfüllt.Und wie finden Sie das?Das ist bevormundend und entmündigend. Statt uns zu helfen,Dinge weiter selbst zu tun, werden wir hilflos gemacht. Und zwar von wohlmeinenden Menschen, die ständig nach unseren Fehlern Ausschau halten.Was hatte der Sohn besser machen sollen?Soll sie doch einfach die falsche Telefonnummer aufschreiben.Das ist doch nicht so wichtig. Ich bin mal mit meinen Enkeln spazieren gegangen, als meine Enkelin sagte, »Opa, du trägst ja zwei verschiedene Socken!« Ich schaute, nickte und sagte:»Ja, stimmt.« Was soll’s?“Richard Taylor (2010)

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Angehörigentrauer»Sein Anblick beim Rasenmähen stimmt mich sehr traurig. Es ist einer der schlimmen Momente. Richard hat sich jahrelang liebevoll um unseren Rasen und seine Gärten gekümmert. Er war so stolz auf ›seinen Rasen‹, aber die veränderten Muster in sei nem Kopf lassen sich fast ablesen am Weg, den der Rasenmäher nimmt. Er führt die Arbeit selten zu Ende. Er wird abgelenkt und fängt etwas anderes an, obwohl das Gras noch nicht fertig geschnitten ist, was er jedoch überhaupt nicht merkt« Linda Taylor (in: Richard Taylor, 2010, S. 28)

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Trauerauslöser und TrauerverstärkerAngst durch Veränderung• negative Zukunftsprognosen• Aufgabe eigener Lebenspläne

Rollenveränderung• Übernahme von Verantwortung• Sorgerolle• Organisation des Lebens des/der anderenVeränderung der Personen

• Veränderte Dementierende• Veränderte Betreuende

Tod• Erlösung?• Erschöpfung• Aberkannte Trauer

Veränderung des eigenen Lebens• Berufliche Veränderung (Reduktion, Flexibilisierung)• Soziale Isolation

Demenzbezogene Trauer von An- und Zugehörigen Kommunikation• Konfliktreich• Verändert• Verbal zu körperlich• zärtlich• verstummenZeug/innen der Würdelosigkeit

• Scham• Verwundbarkeit• OhnmachtFehlen gesell-schaftlicher Solidarität • fehlende Sorgegemeinschaft (Familie, Nachbarn, Freunde)• Professionalisierte Ghetto-Räume (Demenzdorf, Pflegeeinrichtung)Quelle: Birkholz 2018a

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Demenz – Berichte Angehöriger

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Trauerbegleiter/inSelbstreflexion

• Eigene Demenzbilder• Eigene Erfahrungen: Ängste, Chancen• Persönlichkeitsentwicklung unter dem Eindruck von Demenz

Feldkompetenz• Kennen der Lebenswelt der Betroffenen• Kennen von Institutionen und ihrer LogikRollenklärung

• Selber in Begegnung mit Menschen mit Demenz• Begleiten der Bezugspersonen durch den „Trauerprozess Demenz“

Ethik der Verletzbarkeit• Anerkennen der Verletzlichkeit• Schutz• Gewaltfreiheit• Sorgekultur

Selbstsorge• Grenzen kennen und setzen• Vernetzen• Supervision

Aufgabe von Trauerbegleiter/innenWissen

• Kritisches Aufnehmen dessen, was man meint, über Demenz zu wissenHospizbegleitung• Längere Prozesse begleiten• Verändertes Selbstverständnis der Lebensbegleitung bis zum Tode• Nonverbale und symbolische Kommunikation (Validation)Multiplikator/innen

• Für eine demenzfreundliche Welt• Unerkannte Trauer in anerkannte verwandelnQuelle: Birkholz 2018

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»Der tägliche Umgang mit dem Vater ließ mich nicht mehr nur erschöpft zurück, sondern immer öfter in einem Zustand der Inspiriertheit.Die psychische Belastung war weiterhin enorm,aber ich stelle eine Änderung meiner Gefühle dem Vater gegenüber fest. Seine Persönlichkeit erschien mir wiederhergestellt, es war, als sei er der Alte, nur ein wenig gewandelt. Und auch ich selber veränderte mich. Die Krankheit macht etwas mit uns allen«Arno Geiger (2011, S. 60).

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17 Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit� Peter Gaymann; Thomas Klie: Demensch. Postkartenkalender 2017

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Literatur I� Berger, Peter L.; Luckmann, Thomas (2016): Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit, unveränderter Nachdruck der 5. Auflage von 1977, Frankfurt a. M.: S. Fischer. � Birkholz, Carmen (2015). Bis mein Leben neue Knospen treibt. Ein Begleiter durch die Trauer, Ostfildern: Patmos.� Birkholz, Carmen (2017): Spiritual Care bei Demenz, München: Ernst Reinhardt.� Birkholz, Carmen (2018): Trauer und Demenz. Trauerbegleitung als verstehender Zugang und heilsame Zuwendung, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.� Birkholz, Carmen (2018): „Ich wusste gar nicht, dass das Spiritualität ist!“ Eine Hermeneutik der spirituellen Sorge um Menschen mit Demenz im Kontext von Palliative Care, Klagenfurt: unveröffentlichte Dissertation.� Bryden, Christine (2011): Mein Tanz mit der Demenz. Trotzdem positiv leben, Bern: Huber.� Buijssen, Huub (2013): Die magische Welt von Alzheimer. 25 Tipps, die das Leben mit Demenzkranken leichter und erfüllter machen, Weinheim, Basel: Beltz. � Dörner, Klaus (2012): Leben und sterben, wo ich hingehöre. Dritter Sozialraum und neues Hilfesystem, Neumünster: Paranus.

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Literatur II� Geiger, Arno (2011): Der alte König in seinem Exil, München: Carl Hanser.� Kitwood, Tom (2008): Demenz. Der person-zentrierte Ansatz im Umgang mit verwirrten Menschen, Bern: Huber.� Klie, Thomas (2014): Wen kümmern die Alten? Auf dem Weg in eine sorgende Gesellschaft, München: Pattloch.� Koch-Straube, Ursula (1997): Fremde Welt Pflegheim. Eine ethnologische Studie, Bern: Huber.� Taylor, Richard (2010): Alzheimer und Ich. „Leben mit Dr. Alzheimer im Kopf“, Bern: Huber.� Van Gorp, Baldwin; Vercruysse, Tom (2012): Frames and counter-frames giving mean-ing to dementia. A framing analysis of media content, in: Social Sience & Medicine, 2012 (74), 1274-1281. � Whitehouse, Peter J.; George, Daniel (2009): Mythos Alzheimer. Was Sie schon immer über Alzheimer wissen wollten, Ihnen aber nicht gesagt wurde, Bern: Huber.