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    39

    Schneneue Demokratie

    Michael Brie (Hrsg.)

    Elemente totaler Herrschaft

  • Rosa-Luxemburg-StiftungTexte 39

  • Karl Dietz Verlag Berlin

    MICHAEL BRIE (HRSG.)

    Schne neue Demokratie Elemente totaler HerrschaftMit einem Essay von Rainer Rillingzur US-amerikanischen Imperialittsdiskussion

    Rosa-Luxemburg-Stiftung

  • Rosa-Luxemburg-Stiftung (Hrsg.)Schne neue Demokratie Elemente totaler Herrschaft(Reihe: Texte / Rosa-Luxemburg-Stiftung; Bd. 39)

    ISBN 978-3-320-02116-0 Karl Dietz Verlag Berlin GmbH 2007

    Satz: Elke SadzinskiUmschlag: Heike Schmelter unter Verwendung eines Fotos von Michael BrieDruck und Verarbeitung: MediaService GmbH BrenDruck und WerbungPrinted in Germany

  • Inhalt

    Vorwort 7

    Christina Kaindl: Neoliberale Produktionsweise, Mobilisierung der Subjekteund das Erstarken des Rechtsextremismus 9

    Morus Markard: Wir alle Universalisierung von Verantwortungals kollektive Indienstnahme 25

    Lutz Brangsch: Die neuen Angstregime 35

    Katrin Reimer: Widerstandspotenziale gegen Autoritarmus/Rechtsextremismus in Staat und Zivilgesellschaft 44

    Alex Demirovic: ... ist das noch demokratisch? 55

    Dirk Jrke: I prefer not to vote warum es fr immer mehr Brgergar nicht so dumm ist, nicht zur Wahl zu gehen 76

    Volker Caysa: Das Versklavungstheorem und die Kritikder politischen konomie der Krper 88

    Werner Ruf: Barbarisierung der Anderen Barbarisierung des Wir 97

    Erhard Crome: Die Neuen Kriege 107

    Michael Brie: Auswege aus selbstverschuldeter Barbarei 125

    Rainer Rilling: Imperialitt. US-amerikanische Diskurse seit 9/11 141

    ThomasHervorheben

    ThomasHervorheben

    ThomasHervorheben

    ThomasHervorheben

    ThomasHervorheben

    ThomasHervorheben

  • 7Vorwort

    Whrend jene, die den Zweiten Weltkrieg berlebten, sich in aller Unterschied-lichkeit, ja Gegenstzlichkeit im Nie wieder! einig waren, sehen wir, ihre Nach-geborenen, Zeichen, dass diese Selbstverstndlichkeit der Vergangenheit angehrenknnte. Und unsere Kinder wiederum und deren Kinder werden nicht einmal mehrwissen, dass es jemals eine derartige Selbstverstndlichkeit gab.

    Auschwitz ist zu Geschichte geworden ein unerhrter Vorgang. Politiker, diesich jenseits der Gedenkrituale noch auf den europischen Judenmord, auf denDreiigjhrigen Krieg in Europa zwischen 1914 und 1945 beziehen, tun dies, umein Handeln zu begrnden, was in keinerlei Zusammenhang mit den geschichtlichenEreignissen steht. Mal dient Slobodan Milosevic, mal Saddam Hussein, mal Mah-mud Ahmadinedschad als Hitler der Gegenwart. Die Abwehr der Barbarei als Be-grndung fr Barbarei war und ist der gngige Casus belli des 20. wie offensichtlichdes 21. Jahrhunderts.

    Gerade der vllig beliebige und instrumentelle Umgang mit den Zivilisations-brchen des 20. Jahrhunderts signalisiert, wie oberflchlich das Bewusstsein um diewirklichen Gefahren der Rckschritte in die Barbarei geworden ist. Dabei ist dieBarbarei seit Jahrtausenden der unheilvolle Schatten des Fortschritts wie der Reak-tion. Die Befreiung von der geistigen Knechtschaft der Papstkirche ffnete das Torfr den Dreiigjhrigen Krieges im 17. Jahrhundert. Die Franzsische Revolutionsetzte die Gewalt eines groen europischen Krieges frei. Die Russische Revolutionvon 1917 mndete in einen Brgerkrieg, der gleichfalls ein zehnmillionenfachesLeichenfeld zurcklie. Auf den Bauernaufstand folgte das Bauernmorden, auf dasFreidenken das Verbrennen, auf den Kampf um soziale Grundrechte die brutale Dik-tatur. Der globale Sklavenhandel, der organisierte Vlkermord und die Nuklearwaf-fen sind die Kehrseiten einer Moderne, die dem Profit, der Gewalt, der techni-schen Machbarkeit keine Fesseln aufzuerlegen vermochte. Unendlich teuer wurdedie mhseligen Fortschritte bei der Bndigung dieser Gewalten bezahlt, unglaublichleichtfertig werden sie heute zur Disposition gestellt.

    Das vorliegende Buch schreibt an gegen das Wegsehen im Anblick der Freiset-zung von Elementen der totalen Herrschaft und Barbarei, gegen den verbrecheri-schen bermut derer, die glauben, die Kollateralschden ihrer aggressiven Strate-gien beherrschen zu knnen, gegen den Leichtsinn, mit der die alltgliche Aufgabeder Zivilisierung unserer Gesellschaften anderen wichtigeren Zielen im globalenWettbewerb und der Standortkonkurrenz geopfert wird. Die Autoren machendeutlich, dass der Kampf gegen die Barbarei immer der wichtigste Kampf ist auchin der Hoffnung, dass aus ihm der Kampf fr eine menschliche, eine wahrhaft de-mokratische, humane, naturerhaltende, eine sozialistische Gesellschaft wird.

    Michael Brie

  • 9Christina Kaindl

    Neoliberale Produktionsweise, Mobilisierung der Subjekteund das Erstarken des Rechtsextremismus

    Mit dem Ende des Realsozialismus und der berfhrung einiger Diktaturen wiedem sdafrikanischen Regime in eine reprsentative Demokratie wird oft voneiner weltweiten Ausweitung der Demokratie gesprochen, die aber mit einerEntzauberung (Claus Offe) einhergehe: der Verunsicherung vieler Menschen,ob die Demokratie ihre materiellen Grundlagen und Leistungsversprechen einl-sen kann. Heitmeyer u. a. untersuchen entsprechend Demokratieentleerung1, diein verschiedenen Dimensionen operationalisiert werden und als Teil des Surveyzur Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit (GMF) aufgenommen wird. In denempirischen Ergebnissen zeigt sich, dass ber 80 Prozent der Befragten der Aus-sage eher oder voll zustimmen, dass letztendlich die Wirtschaft in unserem Land[entscheidet] und nicht die Politik2, knapp 90 Prozent stimmen der Aussagen eheroder voll zu, dass die demokratischen Parteien alles [zerreden] und die Problemenicht [lsen]3 und ber 90 Prozent, dass die Politiker mehr dafr tun [sollten],Zweifel an der Demokratie auszurumen4. Die Autoren knnen Korrelationenaufweisen zur Wahrnehmung der Befragten, dass die sozialen Spaltungen zunh-men5. Doch Korrelationen knnen nichts ber die inneren Zusammenhnge sagen:Welche Sinnzusammenhnge stellen sich fr die Einzelnen dar?

    Die Frage lenkt den Blick auf das alte Problem der Vermittlung von Strukturund Handlung, das hier von Heitmeyer weitgehend nicht gestellt, bzw. in Korre-lationen aufgelst wird. Anders gelagert ist der Versuch von Bourdieus Elend derWelt6: hier werden konkrete Strukturanalysen mit den aus Interviews entwickel-ten Begrndungen der Menschen ins Verhltnis gesetzt. Es bleibt auch hier dasProblem, dass sich Strukturaussagen und individuelle Begrndungen uerlichgegenberstehen, auch wenn durch Einfhlung und soziale Nhe in den Inter-views die Strukturen in den individuellen Beschreibungen herausprpariert wer-den sollen, ohne den Betroffenen Probleme oder Sichtweisen aufzudrngen.

    Ich mchte im Folgenden die gesellschaftlichen Vernderungen mit Bezug aufihre den Subjekten zugewandte Seite hin untersuchen und fragen, welche An-

    1 Wilhelm Heitmeyer; Jrgen Mansel: Entleerung der Demokratie. Die unbersichtlichen Folgen sind weitrei-chend. In: Wilhelm Heitmeyer (Hrsg.): Deutsche Zustnde. Folge 2, Frankfurt/M, S. 35-60.

    2 Ebenda, S. 43.3 Ebenda, S. 44.4 Ebenda.5 Ebenda, S. 51.6 Pierre Bourdieu u. a.: Das Elend der Welt. Zeugnisse und Diagnosen alltglichen Leidens an der Gesellschaft.

    Konstanz 1997.

  • 10

    forderungen, aber auch welche Versprechen damit fr die Einzelnen verbundensind und welche Denk- und Handlungsbegrndungen ihnen darin begegnen.

    Kmpfe um Produktions- und Lebensweise

    Die Anforderungen und Versprechen an die Subjekte mchte ich in Anlehnung anGramscis Konzept der Produktions- und Lebensweise diskutieren. Damit wird esmglich, die aktuellen gesellschaftlichen Vernderungen nicht nur unter dem Ge-sichtspunkt politischer Theorien und Konzepte betrachten, nicht nur als Abbauvon sozialen Rechten und Durchmarsch von Neoliberalismus und Marktwirtschaft,sondern mit den Vernderungen des globalen Kapitalismus zusammen zu denken.Der Blick wird auf den Zusammenhang von konomischen und politischen Ver-nderungen gelenkt und auf die Subjekte, die von diesen Vernderungen betroffensind, sie tragen und reproduzieren.

    Die Bereitschaft, sich entsprechend den Anforderungen der Produktionsweisean subjektive Umgangs- und Bewltigungsweisen zu verhalten, analysiert Gramsciin der Anfangszeit des Fordismus anhand von gesellschaftlich verbreiteten Moral-vorstellungen, Kampagnen des (erweiterten) Staates fr Monogamie und gegenAlkoholismus und gleichzeitig als Kampf um alltgliche Hegemonie, die aus ei-nem Zueinander von Konsens und Zwang, von Lebensentwrfen von unten undherrschaftlichen Anrufungen (Althusser) besteht. Die Herausbildung einer neuenLebensweise kann also nicht als einfache top-down-Anordnung verstandenwerden. Sie greift unerlsslich fr die Herstellung von Hegemonie auf oppo-sitionelle, alternative und reformerische Forderungen und Lebensweise zu undreartikuliert sie im Kontext der aktuellen Produktionsweise.

    Die Vermittlung von Produktions- und Lebensweise, die Ausarbeitung solchregulierender Ideologien ist u. a. Aufgabe der Intellektuellen im weiten Sinne im Bezug auf den Fordismus betraf das eben Henry Ford selbst, aber auch die Kir-chen und andere Institutionen, die sich an der Verbreitung und Ausarbeitung derVorstellungen vom guten und richtigen Leben beteiligten. Dies betrifft auchdie Kultur- und Unterhaltungsindustrie: Ausgehend von Gramscis Beobachtung,dass die USA keine Gruppe von groen Intellektuellen geschaffen hat, die dasVolk im Bereich der Zivilgesellschaft fhren knne7 und das durch das Fehlender traditionellen Intellektuellen zu einer massiven Herausbildung aller moder-nen Superstrukturen gekommen8 ist, argumentiert Barfuss, dass den organischenIntellektuellen der Star und das Starsystem zur Seite tritt9. Der Star sei nicht

    7 Antonio Gramsci: Gefngnishefte. Bd. 4 (Hrsg. v. Klaus Bochmann, Wolfgang F. Haug unter Mitwirkung vonPeter Jehle). Berlin-Hamburg 1992. Heft 6, 10, S. 719.

    8 Antonio Gramsci: Gefngnishefte. Bd. 7 (Hrsg. v. Klaus Bochmann, Wolfgang F. Haug und Peter Jehle unter Mit-wirkung von Ruedi Graf und Gerhard Kuck). Berlin-Hamburg 1996. Heft 12, 1, S. 1510.

    9 Thomas Barfuss: Konformitt und bizarres Bewusstsein. Zur Verallgemeinerung und Veraltung von Lebenswei-sen in der Kultur des 20. Jahrhunderts. Hamburg 2002, S. 74.

  • 11

    nur eine Schlsselfigur konomischer Rationalisierung, sondern ebenso Aus-druck einer rationalisierten fordistischen Zivilgesellschaft, auf deren Terrain Wn-sche gebndelt und Mehrheiten hergestellt und reprsentiert werden10.

    Ich mchte im Folgenden der Frage nachgehen, welche Vermittlungen sich ak-tuell aufweisen lassen, welche vermittelnden Vorstellungen dabei eine Rolle spie-len. Dabei mchte ich sowohl Zustimmung organisierende, Konsens schaffendeMomente wie zwingende oder gewaltsame untersuchen beide Seiten gehrenzum Hegemonieverstndnis nach Gramsci, in dem es gerade nicht einfach umVorherrschaft oder Unterdrckung, auch nicht um bloe Zustimmung geht, son-dern um das Zueinander der beiden Momente, Konsens und Zwang.

    Mobilisierung der Subjekte als Aspekte der neoliberalen Lebensweise

    Die aktuellen Prozesse zur Herausbildung einer neuen Lebensweise und zur Her-stellung von zumindest passiver Zustimmung lassen sich auf den unterschiedlichs-ten Ebenen analysieren. Sie sind nicht nur ein Prozess gouvernementaler Diskurseim Sinne der Vernderung von Managementkonzepten und ISO-Din-Normen das auch , sie finden sich in den Grundlagen der Soziastaatsreformen, in denHartz-Konzepten, in den einschlgigen Reden, in Fernsehshows wie Popstars undBig Brother. Sie organisieren Zustimmung, Wnsche werden gebndelt und Mehr-heiten hergestellt und reprsentiert11. Setzt man politische Hochglanztexte fr dieneoliberale Lebensweise mit Zeugnissen von alltglichen Denkweisen ins Verhlt-nis, lsst sich die Auftreffstruktur skizzieren. Als gewaltsame und mit Zwangarbeitende Variante der Herstellung der aktuellen Lebensweise untersuche ich ei-nige Aspekte der Hartz-Gesetze. Als Material fr die alltglichen Denkweisen die-nen mir Interviews aus dem Band Gesellschaft mit begrenzter Haftung, derdeutschen Anschlussstudie zu Bourdieus Elend der Welt12.

    Der Kampf um Hegemonie verluft nicht unwidersprochen. Anforderungensind nicht bereits mit ihrer Erfllung gleichzusetzen, wie in der Tradition derGouvernementalittsstudien angenommen, sondern als Nahelegungen zu ver-stehen, die mit den Begriffen der Kritischen Psychologie gesprochen zu Pr-missen subjektiver Handlungsbegrndungen werden knnen13. Ausma und Formder Nahelegungen sind gerade Ausdruck oder Aspekt von Hegemonieverhltnis-sen: welche Denk- und Deutungsangebote ragen in meinen Mglichkeitsraum hin-ein, welche alternativen, oppositionellen oder gegenhegemonialen Konzepte sindwahrnehmbar. Erst wenn gesellschaftliche Anforderungen und subjektive Hand-lungsgrnde, Prmissen etc. analytisch getrennt gedacht werden, knnen psychi-

    10 Ebenda.11 Ebenda.12 Franz Schultheis, Kristian Schulz (Hrsg..): Gesellschaft mit begrenzter Haftung. Zumutungen und Leiden im

    deutschen Alltag. Konstanz 2005.13 Klaus Holzkamp: Grundlegung der Psychologie. Frankfurt/M. 1983.

  • 12

    sche Kosten und Widerstandsmglichkeiten sichtbar werden. Insofern darf dieKonfrontation der unterschiedlichen Textsorten in meinem Beitrag nicht mit einerAbleitung verwechselt werden.

    Die Subjektanforderungen stehen im engen Zusammenhang mit den vernder-ten Anforderungen an Arbeitskrfte Produktions- und Lebensweise. In Anleh-nung an Ursula Huws spricht Candeias14 von der Herausbildung eines Kybertariatsund Prekariats:

    Das Kybertariat meint die hochqualifizierten, flexiblen, in Projektarbeit be-schftigter Individuen, die den alten Habitus des Arbeiters abgelegt haben, gewerk-schaftlichen Organisationsstrukturen skeptisch bis ablehnend gegenberstehen,deren Ttigkeiten durch die Bedienung/Beherrschung von I&K-Technologien ge-prgt sind. Sie drfen sich angesprochen fhlen von der Hochglanzseite des Neo-liberalismus: die Freisetzung von Kreativitt, die Verflachung von Hierarchien,Selbstverwirklichung und Selbstbestimmung in der Arbeit scheint hier realisiert.Die Autonomie ist allerdings nicht ohne Selbstausbeutung zu haben und wird ge-handelt um den Preis erhhter Arbeitsbelastung und eines hohen Konkurrenz-drucks: Prekarisierungsngste, wie wir sie selbst in den Sektoren mit hoch qua-lifizierter Informationsarbeit finden, sind subjektiv nicht minder belastend alsPrekarittserfahrungen15. Das Prekariat betrifft ein wachsendes Subproletariatin unsicheren Beschftigungsverhltnissen und geringer Entlohnung16, das unteranderem durch die Reformen des Sozialstaates hergestellt wird. Am anderen Endeweiten sich prekre Arbeitsformen und Niedriglohnbereiche aus: Eingezwngt indie schnellen tempi der neuen Produktionsweise existieren die Restttigkeiten,die unter den alten Bedingungen von Hitze, Lrm und Schmutz monotonrepetitiveTeilfunktionen auf sich konzentrieren.17 In den Maquiladoras und Sweat-Shosder freien Wirtschaftszonen sind scharfer Blick und geschickte Hnde gefragt,daher trifft es oft junge Frauen, die diese Ttigkeiten ausfhren. So kommt es hierzu einer Feminisierung der Arbeit. Zum Zwang zur Niedriglohnarbeit durch Ar-mut und den Abbau von Sozialleistungen kommt der Einsatz von Leih- und Zeit-arbeit, die Entstehung von neuen Branchen, deren Arbeitswirklichkeit mit der neo-liberalen Regierungspolitik der Verbreitung des Niedriglohnsektors auch in denindustriell entwickelten Lndern aller Hoffnung auf eine Humanisierung der Ar-beit Hohn spricht18. Sicherlich sind beide Phnomene nicht immer klar vonein-ander abzugrenzen, sie werden sich gegenseitig durchwirken und gerade ideolo-

    14 Mario Candeias: High-Tech, Hartz und Hegemonie. In: Christina Kaindl (Hrsg.): Subjekte im Neoliberalismus.Marburg 2007 (im Erscheinen).

    15 Klaus Drre; Klaus Kraemer; Frederic Speidel: Marktsteuerung und Prekarisierung von Arbeit Nhrboden frrechtspopulistische Orientierungen? In: Joachim Bischoff; Klaus Drre; Elisabeth Gauthier u.a. (Hrsg.): Moder-ner Rechtspopulismus. Ursachen, Wirkungen, Gegenstrategien. Hamburg 2004, S. 94.

    16 Mario Candeias: High-Tech, Hartz und Hegemonie. A. a. O.17 Frigga Haug: Humanisierung der Arbeit. In: Wolfgang Fritz Haug (Hrsg.): Historisch-kritisches Wrterbuch des

    Marxismus. Bd. 6.1. Hamburg 2004, S. 542.18 (Haug 2004, 542). Die empirische Relevanz der jeweiligen Gruppe kann hier nicht Gegenstand meiner Untersu-

    chung sein.

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    gisch oft auf der einen Seite mit den anderen der Gefahr des Hinabsinkensoder dem Leitbild von Selbstndigkeit, Kreativitt und Selbstverwirklichung Politik gemacht wird. Ich mchte den Blick eher auf die Frage richten, wie beideFormen als Teil der Herausbildung einer neuen Lebensweise und neuen hegemo-nialen Diskursen ber Subjekte sind.

    Zivilgesellschaft und politische Gesellschaft sind nicht scharf voneinander zutrennen: Architekt der aktuellen Sozialpolitik vornehmes Feld zur Herstellungeiner der Produktionsweise angemessenen Lebensweise ist bekanntlich PeterHartz. In seinem Buch Job Revolution19 versucht er explizit, die Umorganisie-rung von Unternehmen und individuellen Ansprchen und Lebensweisen zusam-men zu denken und zusammen zu bringen, und zwar als Mischung aus Verspre-chungen und Drohungen20. Als Vorsitzender der nach ihm benannten Kommissionder Bundesregierung finden sich seine Vorstellungen entsprechend in den Grund-gedanken der Arbeitsmarktreform wieder, die nun das Leben von Millionen Men-schen unmittelbar betreffen. Mit den Pfeilern Zumutbarkeit, Eigenverantwortung,Beschftigungsfhigkeit und Aktivierung verallgemeinert der sozialstaatlicheAktivierungsgedanke [] auch die individuelle Internalisierung der Marktlogikenaus der Sphre des unmittelbaren Produktionsprozesses zu einem umfassendengesellschaftlichen Leitbild21. Der Bericht der Hartz-Kommission endet wiederummit einem Aufruf an zivilgesellschaftliche Akteure hier genannt die Profis derNation, von Journalisten und Kulturschaffenden ber Sozialarbeiter bis zu Un-ternehmen und Politik , sich an der Verbreitung von Problemsicht und Lsungs-anstzen zu beteiligen; die Aktivierung der Einzelnen wird ergnzt durch die Ak-tivierung der Zivilgesellschaft:

    Unser Ziel soll es sein, die in unserer Gesellschaft vorhandenen vielfltigenKompetenzen zu aktivieren und auf das gemeinsame Ziel hin auszurichten. [ Je-der ist] gefordert, sich auf sein spezifisches Knnen und auf seine Strken zu kon-zentrieren und mit anzupacken, wo immer es geht.22

    hnlich bewegte sich Horst Khler vom zivilgesellschaftlichen zum im enge-ren Sinne staatlichen Akteur, der als Mann der Wirtschaft und Pragmatiker, dersagt was notwendig ist, versucht, Aufrufe zu Verzicht und Versprechen von Pros-peritt zu verbinden. Kritik an den Sozialstaatsreformen verweist er in die Schran-ken der internationalen Vergleichsmastbe von Armut: Wissen wir eigentlich,was es heit, von weniger als zwei Euro am Tag leben zu mssen wie ber drei

    19 Peter Hartz: Job Revolution. Wie wir neue Arbeitspltze gewinnen knnen, Frankfurt/M. 200120 Vgl. Frigga Haug: Schaffen wir einen neuen Menschentyp. Von Henry Ford zu Peter Hartz. In: Das Argument

    252 (2003), S. 606-617; Christina Kaindl: Rechtsextremismus und Neoliberalismus. In: Dies. (Hrsg.): KritischeWissenschaften im Neoliberalismus. Marburg 2005, S. 180-200.

    21 Mario Candeias: Neoliberalismus, Hochtechnologie, Hegemonie. Grundrisse einer transnationalen kapitalisti-schen Produktions- und Lebensweise. Eine Kritik. Hamburg 2004, S. 595.

    22 Peter Hartz u. a.: Moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt. Vorschlge der Kommission zum Abbau der Ar-beitslosigkeit und zur Umstrukturierung der Bundesanstalt fr Arbeit. Berlin 2002, S. 286.

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    Milliarden Menschen auf diesem Planeten?23 Er weist verantwortungslosenErwartungshaltungen die Schuld an den gesellschaftlichen Problemen zu dieBrger lieen sich gern immer neue Wohltaten versprechen und Geschenke ma-chen. Deshalb ist die Arbeitslosigkeit ber Jahrzehnte immer weiter gestiegen.24Schlielich ruft er dazu auf, die eigenen Ideen permanent auf den Markt zu wer-fen: Jeder Einzelne hat Ideen, Sie und ich. Aber wir kmpfen nicht genug um ihreVerwirklichung.25

    Auch die einstige Gegenspielerin von Khler, Gesine Schwan, bedient diesenDiskurs. Bei der Frage, welche Aufgaben sich die Sozialpolitik stellen sollte, for-dert sie unter anderem: Es gibt Schmarotzer in allen Schichten der Gesellschaft,mehr: eine weit verbreitete Mentalitt, den Staat zu schrpfen und zu berlisten.Gerechtigkeit verlangt, solchen Missbrauch des Staates, d. h. der Allgemeinheit,abzustellen.26 Zentral sei, die Reformanstrengungen wirtschaftlich auf die Er-neuerung von Produkten und Produktionsverfahren, auf eine kreative Antwort aufneue Marktbedrfnisse zu richten27 wozu aber eben nicht nur technologischeErneuerung gehre, sondern auch wirtschaftliche Aktivitten hingen weitgehendvon kulturellen Faktoren ab, von den Grundeinstellungen der Menschen, vonihrer Fantasie, Vielseitigkeit, Initiativbereitschaft, Neugier, Risikobereitschaft, vonder Fhigkeit, in Alternativen zu denken und zu handeln, insgesamt von ihremSelbst und Zukunftsvertrauen. Reform braucht also ganz wesentlich kulturelle Er-neuerung28. Dass hier die alternative Bundesprsidentschafts-Kandidatin geradekeine politische Alternative formuliert, kann als Aspekt der hegemonialen Situa-tion gewertet werden: zumindest auf der Ebene der Reprsentation sind Alternati-ven nicht denkbar, bzw. werden keine alternativen Deutungsangebote sichtbar29.Kannegiesser, Prsident des Arbeitgeberverbandes Gesamtmetall und einer derfhrenden Kpfe der Initiative neue soziale Marktwirtschaft, fordert ebenfallseine mentale Vernderungen, es gehe darum auch um der Freiheit willen per-snliche Initiative, persnliche Verantwortung und persnliche Risiken in zumut-barer Weise von jedem Einzelnen einzufordern. [] Innovation in allen Lebens-bereichen heit nicht nur Finanzierbarkeit sondern auch Anstrengung, Mhe,

    23 Horst Khler: Wir knnen in Deutschland vieles mglich machen. Antrittsrede am 1. Juli 2004 im DeutschenBundestag. Berlin 2004, S. 2 (www.bundespraesident.de).

    24 Horst Khler: Die Ordnung der Freiheit Rede beim Arbeitgeberforum Wirtschaft und Gesellschaft am15. Mrz 2005 in Berlin. Berlin 2005 (www.bundespraesident.de).

    25 Horst Khler: Wir knnen in Deutschland vieles mglich machen. A. a. O., S. 5.26 Gesine Schwan: Das Vertrauen der Menschen in die soziale Demokratie zurckgewinnen. In: Stephan Lessenich;

    Andrea Nahles; Jrgen Peters; Barbara Stolterfoht und u. a. (Hrsg.): Den Sozialstaat neu denken. Hamburg 2005,S. 83.

    27 Ebenda, S. 84.28 Ebenda.29 Was nicht bedeuten soll, dass es innerhalb der Kapitalfraktionen nicht auch Auseinandersetzungen um die Frage

    gibt, welche Konzeption innerhalb der herrschenden Fraktionen fhrend und fhig zur Einbindung ausreichendersubalterner Fraktionen ist. Das Konzept der SPD ist nicht einfach dasselbe wie das der CDU, sondern beharrt aufdem Moment der Armenfrsorge vgl. fr die britische Diskussion (Hall 2004).

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    Konkursgefahr und zwar durch alle Bevlkerungsschichten30. Die Existenzrisi-ken der Menschen sollen hier umfassend privatisiert werden, was als Schlieungeiner Gerechtigkeitslcke daherkommt: nicht nur das Kapital soll den Existenz-risiken ausgeliefert sein im brgerlichen Diskurs waren diese Risiken, die sonstdem Kapital vorbehalten waren, die ideologische Rechtfertigung fr die privateAneignung des Mehrwertes.

    Die einheitliche Forderung aus Politik und Kapital zielt auf eine Vernderungder Erwartungshorizonte der Menschen, einen Mentalittswandel, der sie befhigensoll, sowohl mit den schwindenden Leistungen des Sozialstaates zurecht zu kom-men, vor allem den vernderten Anforderungen durch Arbeitsmarkt und Kapi-tal nachzukommen: lebenslngliche Lernanstrengung, kein Beharren auf Qualifi-kationen und Erfahrungen, Flexibilitt in Raum, Arbeitszeit, Qualifikation undEinkommen. Die Forderung nach Unterwerfung unter die gesellschaftliche For-men kommt immer wieder als Negation fordistischer Konformitt, mit dem neuenKonformittszwang des Nonkonformismus daher: Es lebe der kreative Unter-schied31, kann als Versprechen gelesen werden, queere Lebensweisen, Plurali-sierung der Lebensstile zu akzeptieren und sie zugleich verwertbar zu machen wie zu sehen an der erfolgreichen Einbindung weiter Teile des grnen Klientels indas neoliberale Projekt der letzten Jahre. Khler bindet daran das Versprechen derProsperitt: in allen Lebensbereichen Mut, Kreativitt und Lust auf Neues, ohneAltes und Alte auszugrenzen. Das sind neue Grnderjahre.32

    Die hegemoniale Bindekraft der Diskurse kommt aus der Anrufung der ehe-mals kritisch gegen den Fordismus gewendeten Forderungen der westdeutschensozialen Bewegungen um 1968. Gerade deren Hinwendung zu Kulturproduktionund ihr Versuch, darin dissidente, selbstverwirklichende und kreative Existenzenzu fhren, die sich nicht am starren 9-5 orientieren, werden in den Versprechenund Werbetexten neoliberaler Politik um Lebensweisen immer wieder aufgerufen neben ihrer Staatskritik, die jetzt als Sozialstaatskritik artikuliert wird.

    Boltanski und Chiapiello33 haben herausgearbeitet, dass die Kulturschaffendenals die role models schlechthin fr neue Formen von selbstbestimmter undselbstverantwortlicher Arbeit propagiert [] und ihr spezifisches Arbeiten wirdzum Erfolgrezept fr den gesamten Arbeitsmarkt erklrt [wird]. Managern ebensowie Arbeitslosen werden die Knstler als Vorbilder fr Tugenden hingestellt, diegroenteils aus der Not geboren sind: Eigenverantwortung, Risikobereitschaft, In-novation34. Barbara Ehrenreich etwa analysiert, dass in den letzten Jahren zu-30 Martin Kannegiesser: Der Sozialstaat nach dem Sozialstaat ein Angebot an die Gewerkschaften. In: Stephan

    Lessenich; Andrea Nahles; Jrgen Peters; Barbara Stolterfoht und u. a. (Hrsg.): Den Sozialstaat neu denken.Hamburg 2005, S. 69.

    31 Peter Hartz: Job Revolution. A. a. O., S. 15.32 Horst Khler: Wir knnen in Deutschland vieles mglich machen. A. a. O., S. 2.33 Luc Boltanski; Eve Chiapello: Der neue Geist des Kapitalismus. Konstanz 2003.34 Daniela Bhmler; Peter Scheiffele: berlebenskunst in einer Kultur der Selbstverwertung. In: Franz Schultheis;

    Kristina Schulz (Hrsg.): Gesellschaft mit begrenzter Haftung. Zumutungen und Leiden im deutschen Alltag.Konstanz 2005, S. 423.

  • 16

    nehmend die Anforderung an Unternehmensmitarbeiter und Management gestelltwird, dass sie sich leidenschaftlich ihrer Aufgabe verschreiben, was durch die Un-sicherheit des Angestelltendaseins und die immer fter wechselnden Anstellungenso grausam und pervers35 sei. Nicht einmal von Prostituierten wird erwartet,dass sie jedes Mal Leidenschaft an den Tag legen.36 Fr Knstler allerdings istdiese Identifikation mit ihrer Arbeit geradezu konstitutiv, und im ideologischenBild des brotlosen Knstlers werden Prekaritt und Innovation (von oben undunten) als notwendige Zwillinge aufgerufen. Indem die leidenschaftliche Bin-dung an ihre Ttigkeit und das Versprechen auf Anerkennung [] als Legitimati-onsgrundlage fr den eigenen prekren Status37 dient, ist das Bild des Knstlersauch anknpfungsfhig fr arbeitspolitische Diskurse der neuen Zumutbarkeit.

    In Gesellschaft mit beschrnkter Haftung werden verschiedene Interviewsmit Kulturschaffenden analysiert, die zumeist in prekren Verhltnissen leben undber diese Engpsse mit Ironie und Galgenhumor berichten. Thomas Barfuss hatherausgearbeitet, wie Ironie als Mittel zur Bewltigung der neoliberalen Anforde-rungen, der Gleichzeitigkeit von Kooperation und Konkurrenz, Nhe und Distanzdient, wie sie die Beweglichkeit sichert, die heute ein Kennzeichen der gehobe-nen Berufe, der gut ausgebildeten und flexiblen Spezialisten, Projektarbeiter undManager, die sich damit im Rennen halten und auf diese Manvrierfhigkeit ihrSelbstbewusstsein grnden38. In den Interviews mit den Kulturschaffenden zeigtsich, dass das fr Prekarisierte nicht minder gelten muss. [I]ronisch, selbstrefle-xiv und vergleichsweise selbstbewusst mit ihren Miseren und ihrer prekren Le-bens- und Arbeitssituation umgehen zu knnen, erlaubt diese Miseren vor sichund den anderen als das Ergebnis einer bewussten Entscheidung und eines selbstgewhlten Verzichts darstellen zu knnen39. Den Punkt der Entscheidung ma-chen auch die Sprachregelungen der Hartz-Gesetze stark, wenn sie den bergangin Frhverrentung ohne Rentenausgleich, die Erfindung einer Ich-AG, die ur-sprnglich freiwillige bernahme eines so genannten 1-Euro-Jobs, aber auchdie Abmeldung von der Arbeitsagentur, wenn man von deren Manahmen nichtweiter belstigt werden mchte, positiv in eine solche Entscheidungsrhetorik klei-den: Die neue Zumutbarkeit ist eine der Grundbestandteile der neuen Hartz-Gesetze (Abschaffung des Rechtsanspruchs, keine Sicherung des Qualifikations-niveaus, keine Sicherung des erworbenen Lebensstandards usw.) aber sie kommtimmer mit dem Zwilling neue Freiwilligkeit daher.

    Eine Orientierung weg von langfristigen Absicherungen, Perspektiven und Be-rufslaufbahnen, hin zu Jobfamilien und kurzfristigem Engagement, kurzfristi-

    35 Barbara Ehrenreich: Qualifiziert und arbeitslos. Mnchen 2006, S. 243.36 Ebenda.37 Daniela Bhmler; Peter Scheiffele: berlebenskunst in einer Kultur der Selbstverwertung. A. a. O., S. 423.38 Thomas Barfuss: Schaffe dir Ironie! Ironische Haltungen in Konsum und Arbeit. In: Christina Kaindl (Hrsg.):

    Subjekte im Neoliberalismus. Marburg 2007, im Erscheinen.39 Daniela Bhmler; Peter Scheiffele: berlebenskunst in einer Kultur der Selbstverwertung. A. a. O., S. 425.

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    gen Anforderungen des Unternehmens oder des Arbeitsmarktes und flexibler Le-bensfhrung ist zentraler Bestandteil der Anforderungen den neuen Produktions-weise40.

    Fr die interviewten Kulturschaffenden ist das Durchfhren von Projekten oderan solchen Mitzuwirken zentral das Leben wird als eine Abfolge und eine Durch-dringung von Projekten erfahren, wobei vom Ausstellungen-Initiieren, Veran-staltungen-Organisieren, Forschungsprojekte-Durchfhren, Bcher-Schreiben oderKonzipieren und Wissensbestnde-Aktualisieren bis zum Ditplne-Schmieden,Dem-Fitnessclub-Beitreten und Liebesbeziehungen-Retten beinahe alles zum Pro-jekt erklrt wird und berall Beschftigung signalisiert wird. Dabei klebt an die-sem Zustand des pausenlosen Beschftigtsein wie eine zweite Haut das perma-nente schlechte Gewissen, man arbeite nicht genug41. Hier scheint Khlers Satz,dass wir alle nicht genug fr unsere Ideen kmpfen, nachzuklingen schlielichist aus seinem Mund, da er gerade der erste Mann im Staate geworden war, derSelbstaktivierungssatz einigermaen berraschend, was heit das dann erst fr dieNormalen!

    Die Projektorientierung weitet die Grenzen des Arbeitstages, so dass es keineklare Grenze zwischen Arbeit und Privatleben gibt, sie werden permanent ver-wischt und berschritten, aber auch wieder etabliert und erstritten [] Gerade dieTatsache, dass die Grenzen nicht einfach verschwunden sind, sondern man mitdieser stndigen Pendelbewegung zwischen Entgrenzung und neuer Grenzzie-hung zu kmpfen hat, ist ein nie versiegender Quell des Leidens42. Gleichzeitigliegt darin auch ein Moment der Einbindung, weil ja die hier von Bhmler impli-zit gewnschte und verteidigte Trennung von Arbeits- und Freizeit auch nicht perse wnschenswert ist, sondern sich unter den spezifischen gesellschaftlichen For-men der Lohnarbeit herausgebildet hat worin selbstverstndlich auch der Kampfum die Grenzen des Arbeitstages seinen Sinn hat. Jenseits der Lohnarbeit, sozu-sagen in der utopischen Negation, ist diese Trennung aber gerade eine, die aufzu-heben wre nicht damit die Menschen endlos arbeiten, sondern weil die Unter-ordnung unter fremde oder eigene (Verwertungs-) Interessen wegfallen wrde.Diesen kleinen utopischen Funken und die oben beschriebenen Effekte der Ent-grenzung der Arbeit macht sich eine Lohnarbeitsorganisation, die auf Stechuhrund fremdbestimmte Zeitvorgaben verzichtet, zu Nutze Zielvereinbarungen,oder Vertrauensarbeit sollen den Arbeitenden Mndigkeit und ein hohesMa an Selbstdisposition und -organisation43 ermglichen mit dem Ergebnis,dass sich selbst bei Krankenkassen unbezahlte berstunden hufen: Im Rahmenvon Zielvereinbarungen werden keine berstunden mehr angeordnet, knnendann auch nicht abgerechnet oder abgefeiert werden.

    40 Vgl. Peter Hartz: Job Revolution. A. a. O., S. 68 ff.41 Daniela Bhmler; Peter Scheiffele: berlebenskunst in einer Kultur der Selbstverwertung. A. a. O., S. 438.42 Ebenda.43 Vgl. Peter Hartz: Job Revolution. A. a. O., S. 15.

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    Entsprechend uert eine der Kulturschaffenden: Ich glaube, das ist wahr-scheinlich der einzige Luxus, den ich habe ich habe den Luxus, mich mit Frage-stellungen und Dingen zu beschftigen, die ich fr mich immer wieder als Her-ausforderung empfinde.44 Gleichzeitig fhlen sie sich in einer Dauerschleifevon Selbstausbeutung und Unsicherheit45 unentgeltlich geleistete Projekterfin-dung, Beantragung, Lobby-Arbeit, dann ggf. bezahlte Durchfhrung, gleichzeitigmuss der Prozess schon von neuem losgehen. Prekaritt als Herausforderung zuerleben, bedeutet gleichzeitig, dass die Gescheiterten unversehens auf der Seiteder Unengagierten landen das Scheitern wird fast immer auf sich selbst zu-rckbezogen46.

    Dem Aktivierungsgedanken entsprechend, ist Unttigkeit und Arbeitslosigkeitein Problem mangelnden Engagements und mangelnder Aktivierung. Unter denneuen Hartz-Gesetzen mssen die Arbeitssuchenden von sich aus nachweisen,was sie zur Erlangung einer neuen Arbeit getan haben. Dadurch ist die Nahelegungproduziert, die Arbeitsmarktprobleme seien im Prinzip durch Eigeninitiative ausdem Weg zu rumen, sie werden damit klar personalisiert und in die Verantwortung/Schuld der Einzelnen gestellt. In einem Interview mit einer Ostberliner Psychia-terin, die aus ihrer Praxis von einer Vielzahl von Depressionen und anderen psy-chischen Erkrankungen berichtet, die nach 1990 explosionsartig ausgebrochensind, schildert sie den Zusammenhang von Arbeitslosigkeit und psychischer De-stabilisierung bei ihren Klientinnen. Besorgte oder mitleidige Nachfragen vonFamilie und Freundeskreis werden zunehmend als unertrglich empfunden undfhren zu einem sozialen Rckzug. Die Individualisierung der Schuld, die Ver-knpfung von Misserfolg und mangelndem Engagement ist bei den Betroffenenvoll angekommen: Du glaubst es nicht, es sind Leute dabei, die bringen mir ihreAktenordner mit, mit ihren hunderten von Bewerbungen, weil sie mir zeigen wol-len, was sie gemacht haben, dass sie nicht schwindeln und dass sie sich wirklichMhe gegeben haben.47

    Vergleichbar versuchen die Kulturschaffenden dauernd von geplanten oderbevorstehenden Projekten zu berichten, um ja nicht den Eindruck zu erwecken,man befinde sich in einer Notsituation und suche verzweifelt nach einer Anschluss-mglichkeit, denn bedrftig zu sein und zu wirken kann [] die Chancen, dieman auf dem Markt der symbolischen Gter hat, empfindlich reduzieren.48

    Die Kulturschaffenden haben zu ihrem Status und den sich wandelnden Anfor-derungen des Kulturmarktes durchaus eine kognitive Distanz die sich schon inihrem selbstironischen Umgang zeigte sie reflektieren die prekren Lebens- und

    44 Daniela Bhmler; Peter Scheiffele: berlebenskunst in einer Kultur der Selbstverwertung. A. a. O., S. 443.45 Ebenda, S. 439.46 Ebenda, S. 442.47 Margarete Steinrcke: Soziales Elend als psychisches Elend. In: Franz Schultheis und Kristina Schulz (Hrsg.):

    Gesellschaft mit begrenzter Haftung. A. a. O., S. 203.48 Daniela Bhmler; Peter Scheiffele: berlebenskunst in einer Kultur der Selbstverwertung. A. a. O., S. 443.

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    Arbeitssituation, zumeist aber nur, um ihr flexibilisiertes Arbeiten im selbenAtemzug als privilegierte, selbst bestimmte oder leidenschaftliche Ttigkeit her-vorzuheben und dies mit der Formulierung von Diziplinierungserfordernis an sichselbst zu verbinden49.

    Das Gefhl des Privilegs wird durch das relative Schreckensszenario der Sozial-reformen potenziell gesttzt. Mit der Umsetzung der so genannten Hartz-Reformenhat sich der hier vor allem werbend und versprechend erscheinende Diskurs frMillionen von Menschen zum Zwang materialisiert. Damit sind die ideologischenNahelegungen, die damit verbunden sind, den Menschen sozusagen auf diePelle gerckt.

    Da mit der Dauer der Arbeitslosigkeit auch die Zumutbarkeit von Arbeitsstel-len auerhalb der eigenen Qualifikation, bisherigen Entlohnung oder dem bishe-rigen Lebensmittelpunkt anzunehmen, steigen auch Druck und Zwang.

    Die Verunsicherung soll die Arbeitsintensitt und -dauer steigern und tut esauch: Das sind hufig Leute, die kommen, die sind vllig am Ende, Frauen, auchmeistens mit Kindern, die ganz schnell so einen kleinen Posten bekommen, einekleine Leitungsfunktion, die erst mal total stolz sind und auch geschmeichelt sind,dass sie jetzt diese Verteilung berwachen drfen. Ja, und dann halten sie nochlnger durch, und dann kommt irgendein Punkt, da sind die so erschpft und phy-sisch nicht mehr in der Lage, das weiterzumachen und so verzweifelt, da nichtrauszuknnen. Dann ist meistens schon das Bild einer schweren Erschpfungsde-pression50

    Die Hartz-Reformen behandeln das Problem der Arbeitslosigkeit als eines desMissmatches, entsprechend ist die Marktorientierung ein zentraler Bezugspunktder Aktivierung. Ist die Marktorientierung erfolgreich, zeigt sich das in der(konkreten) Beschftigungsfhigkeit, die sich darin zeigt, dass Beschftigunggefunden wurde. Candeias analysiert fr Beschftigte unter den neuen Manage-ment- und Unternehmenskonzepten, dass es den Unternehmen gelungen sei, denDruck der Marktkonkurrenz als Handlungsanforderung auf die Arbeiter zu erwei-tern bzw. zu bertragen51. Die Verbindung vom Druck der unsicherer Arbeitsver-hltnisse mit den Bedrfnissen nach Selbstverwirklichung fhre dazu, dass dieBeschftigten in Verbindung mit einer Ideologie des Erfolgs die Flexibilitts-und Effizienzanschauung in ihre eigenen Denk- und Handlungsmuster52 interna-lisieren.

    Der Mobilisierungs- und Aktivierungs-Diskurs verweist durchgngig gesell-schaftliche Probleme in die Verantwortlichkeit der Einzelnen. Er erfordert einneues subjektives Selbstverhltnis, in dem z. B. die Emotionalitt ein Teil des sub-jektiven Kapitals wird, das es jederzeit bereit zu halten und zu investieren gilt. Im49 Ebenda.50 Margarete Steinrcke: Soziales Elend als psychisches Elend. A. a. O. S. 203.51 Mario Candeias: Neoliberalismus, Hochtechnologie, Hegemonie. A. a. O., S. 195.52 Ebenda.

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    Umkehrschluss ist mangelnder Erfolg keine Frage struktureller Ungleichheit, ge-sellschaftlicher Ausgleichsstrukturen, der Umgang damit keine Frage demokrati-scher Entscheidungsfindungen, sondern der Grund liegt im Versagen der Einzelnen,in ihrem mangelnden Engagement, eben der nicht gelungenen Selbst-Mobilisie-rung. Hegemonial werden solche Diskurse, Sichtweisen und Politiken nicht da-durch, dass eine Mehrheit ihnen emphatisch zustimmt. Auch der Mangel an alter-nativen Vorstellungen, die fr viele Menschen ein leidvolles nach innen nehmender Anforderungen bedeutet, ist Teil einer passiven Zustimmung oder doch passi-ver Anerkennung der hegemonialen Verhltnisse.

    Rechtsextreme Antworten

    Die Mobilisierung und Aktivierung der Subjekte, die Individualisierung von Ver-antwortung und Vorsorge wirft die Einzelnen auf sich selbst zurck. Dieser Pro-zess verluft nicht ohne psychische Kosten, wie oben gezeigt wurde, und er bleibtnicht unwidersprochen. Er ist umkmpft von unterschiedlichen politischen Sei-ten und auf unterschiedlichen gesellschaftlichen Ebenen, auch auf der kulturellen,wie ich unten am Beispiel der Dresdner Weber, zeigen mchte.

    Die Frage, in welchem Rahmen Alternativen gedacht und geuert werden (kn-nen) ist wiederum eine der Hegemonie und der Reprsentation: Sind alternative Ver-gesellschaftungsformen berhaupt am gedanklichen Horizont der Gesellschaft ver-treten? Argumentieren sie auf der Hhe der Zeit oder sind sie rckwrtsgewandt?

    Die extreme Rechte hat in den letzten Jahren ihre Konzepte verndert parallelzur neoliberalen Wende der sozialdemokratischen Parteien Europas. Von Vorreiternder neoliberalen Vernderungen, die sie noch bis Anfang der 1990er waren, sind siezu Kritikern von Neoliberalismus und Globalisierung geworden.53 Ich mchte dafrpldieren, dieses Auftreten nicht einfach als Trick oder Betrug abzutun.

    Zentrale Mobilisierungspunkte der extremen Rechten sind derzeit: gegen Glo-balisierung, Liberalismus, Sozialabbau, fr eine Verteidigung der guten alten Ar-beit und der Arbeiterrechte auch gegen Imperialismus und Krieg. Gleichzeitigsind diese Argumentationen eingebunden in Konzepte von vlkischen Solidarge-meinschaften, die die Frage von Arbeitspltzen und Sozialleistungen auf Kostenvon so genannten Auslndern oder sozial Schwachen lsen sollen und sich gleich-zeitig nach oben abgrenzen, gegen die Manager und Bosse, die Politiker, dieallesamt zu viel bezahlt bekmen. Die internationale Wirtschaftsideologie wirdzum Feind Nummer 154, dem ein Modell der Volkswirtschaft entgegen gehalten

    53 Dabei gibt es vor allem bei rechtsextremen Parteien an der Macht berschneidungen, wie sich etwa in der itali-enischen Regierungskoalition zeigt. Dennoch stellt die Widersprchlichkeit der unterschiedlichen rechtsextremenParteien hier weniger einen Nachteil im Sinne einer nichtkohrenten Politik dar, vielmehr gelingt es, unter-schiedliche Klientels zusammenzubinden.

    54 Hans-Georg Betz: Radikaler Rechtspopulismus im Spannungsfeld zwischen neoliberalistischen Wirtschaftskon-zepten und antiliberaler autoritrer Ideologie. In: Wilhelm Heitmeyer; Dietmar Loch (Hrsg.): Schattenseiten derGlobalisierung. Frankurt/M. S. 171.

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    wird, die gleichermaen durch multinationale Konzerne wie durch die Anwesen-heit von so genannter auslndischer Bevlkerung zersetzt wird, weil beide die kul-turelle Selbstbestimmung der Vlker untergraben. Ausgehend vom Vordenker derNeuen Rechten in Frankreich, Benoist, wandelt sich der europische Rechtsextre-mismus.

    Das Europische Forschungsprojekt Siren55 orientiert sich in seinen qualitativenInterviews an Bourdieus Konzept des Verstehens56. Die Siren-Forscher rekonstru-ieren, wie Subjektanforderungen der vernderten Produktionsweise rechtsextremverarbeitet, in rechten Konzepten gedacht werden. Dabei konnten unterschiedli-che Typologien herausgearbeitet werden, die die jeweils sehr unterschiedlichenErfahrungen von prekarisierten Putzfrauen bis hoch qualifizierten IT-Arbeiternformulieren. Gemeinsam scheinen ihnen zwei Grundformen der Reproduktionrechtsextremer Vorstellungen zu sein: 1. der aufgekndigte Vertrag und 2. Angstvor Deklassierung.

    Der Vertrag bezieht sich auf die implizite Vorstellung, dass sich harte Arbeitgegen gesellschaftliche Absicherung, Lebensstandard und Anerkennung tau-sche; die Interviewten uern durchaus Bereitschaft, angesichts der gesellschaftli-chen Vernderungen hrter zu arbeiten, mehr zu leisten, mssen aber feststellen,dass legitime Erwartung in Bezug auf von Arbeit, Beschftigung, sozialen Statusoder Lebensstandard dauerhaft frustriert werden: Der Vertrag ist einseitig gekn-digt worden. Dies fhrt zu Ungerechtigkeitsgefhlen und Ressentiments in Bezugauf andere soziale Gruppen, die sich den Mhen der Arbeit anscheinend nicht ingleichem Mae unterziehen und fr die besser gesorgt werde oder die ihre Sachen(illegal) selbst arrangierten: einerseits Manager, Politiker mit hohem Einkommen,die sich grozgige Pensionen zusprechen etc., andererseits Menschen, die von derWohlfahrt leben statt zu arbeiten oder Flchtlinge, die vom Staat untersttzt werden.Diese gestrte Balance in ihrem Bezug zur Arbeit bei gleichzeitigem Mangel an le-gitimen Ausdrucksformen fr das Leiden scheint in vielen Fllen der Schlssel frdas Verstndnis des Zusammenhangs zwischen soziokonomischen Wandel und po-litischen Reaktionen zu sein.57 Ein Kernthema derjenigen, die sich rechtsextremenArgumenten zuwenden, ist, dass die ordentlichen und hart arbeitenden und dahermoralisch berlegen Menschen betrogen werden. Politische Botschaften und Ideo-logien des Rechtspopulismus, die die zweifache Abgrenzung des Volkes von Eli-ten oben und Ausgestoenen unten in Anschlag bringen, finden hier Resonanz. DieAbgrenzung von angeblichen unttigen Leistungsempfngern, also Flchtlinge, So-zialhilfeempfnger, Kranke und Behinderte, findet sich dabei bis in die hchstenHierarchieebenen der Beschftigten (oft auch als Wohlstandschauvinismus bezeich-net) und ist auch in gewerkschaftlichen Kreisen verbreitet.

    55 Jrg Flecker; Gudrun Hentges: Rechtspopulistische Konjunkturen in Europa. In: Joachim Bischoff, Klaus Drreund Elisabeth Gauthier u. a. (Hrsg.): Moderner Rechtspopulismus. Hamburg 2004.

    56 Pierre Bourdieu u. a.: Das Elend der Welt. A. a. O., S. 779 ff. 57 Jrg Flecker; Gudrun Hentges: Rechtspopulistische Konjunkturen in Europa. A. a. O., S. 142.

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    Im Zentrum des zweiten Begrndungsmusters stehen Angst vor Deklassie-rung, Unsicherheit und Ohnmachtgefhle, die mit industriellem Niedergang,prekrer Beschftigung und Entwertung von Fhigkeiten und Qualifikationen ver-bunden sind. Die Erfahrung, Spielball der konomischen Entwicklung oder ano-nymer Mchte zu sein, wird verbunden mit rechtspopulistischen Mobilisierungen,die die Bevlkerung als passives Opfer von bermchtigen Gegenspielern anspre-chen. hnlich funktioniert die nostalgische Wertschtzung der guten alten (Ar-beiter-)Zeiten, und die populistische Glorifizierung von traditionellen Gemein-schaften. Die vom Rechtspopulismus angezogenen Menschen hatten das Gefhl,sich nur auf sich selbst verlassen zu knnen und dieses Gefhl entspricht denoben analysierten arbeitspolitischen Diskursen, die gerade eine Schuldzuweisungber Aktivierung der Einzelnen vornimmt. Die traditionellen Vertreter der Ar-beiterklasse, wie etwa die Sozialdemokratien, werden eher als Anwalt der Ge-genseite, denn als Interessenvertreter wahrgenommen.

    Es existiert also eine Lcke oder Krise in der Reprsentation: Ab einem be-stimmten Punkt ihres geschichtlichen Lebens lsen sich die gesellschaftlichenGruppen von ihren traditionellen Parteien, das heit, die traditionellen Parteien indieser gegebenen Organisationsform, mit diesen bestimmten Mnnern, die sie bil-den, sie vertreten oder fhren, werden von ihrer Klasse oder Klassenfraktion nichtmehr als ihr Ausdruck anerkannt. Wenn diese Kreisen eintreten, wird die unmittel-bare Situation heikel und gefhrlich, weil das Feld frei ist fr die Gewaltlsungen,fr die Aktivitt obskurer chte, reprsentiert durch die Mnner der Vorsehungoder mit Charisma.58 Die eingangs zitierten Ergebnisse der Heitmeyer-Untersu-chung zur Demokratieentleerung knnen dabei als Teil einer solchen Reprsenta-tionskrise verstanden werden. Sie speist sich aus den Erfahrungen der verndertenund verschrften Anforderungen an die Einzelnen in der Arbeitswelt, die keine po-litische Artikulation finden hierzu passend ist auch der Befund, dass rechtspo-pulistisch orientierte Personen [] durchgehend kritischere Positionen vertretenals die brige Bevlkerung59.

    Die ffentliche Anerkennung der Probleme von Prekarisierung und sozialemAbstieg ist hier ein Vorteil rechtsextremer Parteien und Mobilisierungen. Ebensovermag ihre Thematisierung von nationalen oder subnationalen Einheiten als Tr-ger kollektiver Interessen die Ohnmachtgefhle der Menschen anzusprechen, diesich nicht nur auf individuelle Ebene beziehen, sondern auch kollektive Einheitenwie Regionen, die Arbeiterklasse, die Nation.

    Kmpfe um Lebensweisen

    Der Kampf um Hegemonie verluft nicht unwidersprochen, Anforderungen wer-den nicht einfach durchgestellt, sie sind umkmpft: politisch und kulturell. Die58 Antonio Gramsci: Gefngnishefte. Bd. 7. A. a. O., S. 1577 f.59 Wilhelm Heitmeyer; Jrgen Mansel: Entleerung der Demokratie. A. a. O., S. 47.

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    allgegenwrtigen Forderungen nach Selbstmobilisierung die in ihrem Zwangs-moment immer auch Selbstdemtigung ist60 sind Gegenstand etwa der Dres-dner Weber des Dresdner Staatsschauspielhaus (so Volker Lsch und StefanSchnabel). Hier wird die Politik um neue Lebensweisen, die Anrufungen des ak-tivierenden Sozialstaates konfrontiert mit subjektiven Erfahrungen und Verarbei-tungen. Als Material werden Interviews mit Hartz-4-Empfngern aus dem Umfelddes Dresdner Staatstheaters genutzt, die zu Perspektiven, Erfahrungen, Sichtwei-sen auf Gesellschaft und Utopien und Vernderungen befragt wurden. Die Ant-worten werden zumeist im Chor vorgetragen und damit ins Kollektive gehoben.Die alltglichen Anrufungen und Anforderungen sind bers Bhnenbild prsen-tiert wohnst du noch oder lebst du schon und durch das bergroe Logo derAgentur fr Arbeit und ber die ffentlichen Hegemonie-Arbeiter, die organi-schen Intellektuellen des herrschenden Blocks an der Macht: Sabine Christiansen,BILD, Khler usw.

    Wie bei den Webern von Gerhart Hauptmann stehen sich alte und neue Ar-beitsweisen, Lebensansprche und Verwertungsinteressen gegenber. Die Webervon 1844 sollten noch fr eine Quarkstulle arbeiten oder Gras fressen, dieDresdner Weber berichten von ihren Erfahrungen mit Hartz, Aktivierung und Zu-mutbarkeiten.

    Ich habe nen Treppenreinigungsjob. Viermal im Monat, vom 3. Stock biszum Erdgeschoss, fr 66 Euro im Monat. Davon darf ich fuffzehn Prozent behal-ten, das sind 9 Euro 90.61

    In den Antworten auf die Frage Sie bewerben sich um einen Arbeitsplatz. Wasknnen sie besser als jeder andere?62 finden sich die gespenstischen Widergngerder Casting-Shows63: Sie ziehen sich pltzlich unmotiviert aus, bieten Sex,Massagen, Ausspionieren der Kollegen, jederzeitige Einsatzbereitschaft, Durch-setzungsvermgen, die Fhigkeit, sich zum Obst zu machen, Dnger zu werden,sich selbst zu verdauen64 an, sie singen pltzlich, spielen Blockflte und bietendie ganze Breite ihre Emotionalitt zur Verwertung an.

    Die Weber von 1844 weisen Anrufungen an Opferbereitschaft, Flei und Ge-meinschaftssinn im Namen von Knig, Gtzen und Vaterland zurck und strmenschlielich die Fabrikantenvilla.

    Khlers Aufruf, zu Opferbereitschaft das Programm sei hart, dennoch: Un-ser Land sollte uns etwas wert sein65 wird auf der Bhne die Rede des Fabri-

    60 Candeias, Mario: Erziehung der Arbeitskrfte. Rekommodifizierung der Arbeit im neoliberalen Workfare-Staat,in: Utopie kreativ 165/166 (2004), S. 595.

    61 Dresden, Staatsschauspiel (Hrsg.: Die Dresdner Weber. Eine Hommage an Gerhart Hauptmann. de werden nochfer'ne Quarkschnitte arbeiten, Dresden 2004, S. 38.

    62 Ebenda, S. 12.63 An anderer Stelle (Kaindl 2005a) habe ich gezeigt, dass die Aktivierungsdiskurse auch durch Formate wie Big

    Brother oder Casting-Shows wie Popstars vermittelt werden. 64 Ebenda, S. 27.65 Horst Khler: Wir knnen in Deutschland vieles mglich machen. A. a. O., S. 2.

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    kanten an seine protestierenden Arbeiter. Die Dresdner Weber antworten mit Hei-nes Weberlied von 1844:

    Deutschland wir weben dein Leichentuch,wir weben hinein den dreifachen Fluch[]Ein Fluch dem falschen Vaterlande,Wo nur gedeihen Schmach und Schande

    Die Dresdner Weber richten ihre Verweigerung, ihre Wut und ihre Gewaltfan-tasien gegen die Hegemone aus Politik und Kultur Schrder, Khler, SabineChristiansen. Der goldene Wagen, in dem Christiansens Sendung Wutdemos imOsten ist die Angst gerechtfertigt? nachgespielt wird, wird erstrmt und zer-trmmert. Khlers Wir sind jetzt als ein Volk gefordert66 zerschellt an Differen-zen zwischen Elite und Ausgegrenzten, und der Hohn in den Ohren der Angeru-fenen wird hrbar frs Theaterpublikum.

    Die Auffhrungen der Dresdner Weber hatten ein groes Echo; Vorstellungen,wie etwa Gerhard Schrder in eine Laufband zu sperren, dass ihn zu einem ber-hhten Arbeitstempo sinnloser Ttigkeit zwingt, unentwegt seine eigene Stimmezu hren, wie sie sagt es gibt kein Recht auf Faulheit ist auf spontanen Applausund lauthalse Zustimmung gestoen. Die Erleichterung, die alltgliche Last vonAktivierung und Demtigung nicht mehr individualisiert, sondern in die ffentli-che damit auch wieder demokratische Aushandlung gehoben zu sehen, warfrmlich greifbar.

    Doch die Utopien der Dresdner sind zerrissen; hier zeigt sich nicht einfach einneues politisches Subjekt. In den Kampf sind auch die rechtsextremen Akteureeingetreten und sie haben mit ihren vlkischen Solidarkonzepten nicht wenig Er-folg.

    Die Collage der Utopien zwischen autoritrer gewaltsamer Beseitigung derVerantwortlichen, Ausschaltung Aller, die ber 100 000 Euro besitzen, dieEinrichtung von Straflagern, Todesstrafe, Pranger und andere Forderun-gen, die als Grundlage und Echo rechtsextremer Diskurse zu erkennen sind, undKommunen, Alle sind gleich und Alles fr Alle und zwar umsonst spanntdas Feld fr emanzipatorische Interventionen im Ringen um eine neue Lebens-weisen und eine andere Gesellschaft.

    66 Horst Khler: Wir knnen in Deutschland vieles mglich machen. A. a. O., S. 11.

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    Morus Markard

    Wir alle Universalisierung von Verantwortungals kollektive Indienstnahme

    In einem Artikel ber Verhandlungen zur Freilassung inhaftierter RAF-Mitgliederanalysierte Peter Tzscheetzsch 1995 im Forum Kritische Psychologie, wie derpolitische Charakter der RAF bzw. die politischen Motive ihrer Mitglieder gegenderen Willen durch dafr bemhte psychiatrische Gutachten zugunsten einer pa-thologisierenden Klassifizierung eskamotiert werden sollten.1 Wie im direktenGegensatz dazu wehrt sich Inge Vieth, eine Zeitlang von der DDR gedecktes undverstecktes und dann nach deren Befreiung zum Kapitalismus verhaftetes und zumehreren Jahren Haft verurteiltes Mitglied der Bewegung 2. Juni in ihrer Auto-biografie gegen die psychologisierende Enteignung ihrer politischen Motive: NichtMomente wie Vernachlssigung durch die Mutter und Heimerziehung htten siezum 2. Juni gefhrt, sondern die soziale Klte einer herzlosen Kriegsgeneration,die ihre beispiellosen Verbrechen leugnete oder verdrngte, die unfhig war, unsanderes als Besitzdenken und Anpassung zu lehren, die den Vietnamkrieg unter-sttzte, weil sie ohne Umschweife von der Vernichtungsstrategie gegen die Jdi-sche Weltverschwrung zur Vernichtungsstrategie gegen die BolschewistischeWeltverschwrung bergegangen war; weitere Stichpunkte sind: Konsum-Klim-bim, Talmi-Moral, Elite-Gesellschaft, die aus Eigennutz, Profit und Machtge-lsten oder aus traditioneller Beschrnktheit letztendlich immer nur Zerstrungauf breiter Bahn zustande bringt, etc.2 Mir kommt es hierbei weder auf analyti-sche Einzelheiten noch auf strategische Debatten an, sondern nur darauf, dass IngeVieth ihre Motive politisch versteht und sie als politische gegen Psychologisie-rungen verteidigt.

    Wenn man sich etwas aktueller Analysen des islamistisch inspirierten Ter-rorismus ansieht3, zeigt sich wieder zwischen der Einschtzung des Terrorismusals politischer Strategie oder psychischem Wahn eine gewisse Tendenz zur Pri-vilegierung pathologisierender Deutung. Der Psychoanalytiker Bohleber bspw.versucht sich zunchst noch in einer mentalittsorientierten Deutung, die aber infnf angeblichen anthropologischen Konstanten (psychosexuelle Entwicklung,Geschwisterrivalitt, Mutterbeziehung, Urszene und dipuskomplex4) versandet1 Peter Tzscheetzsch: Psychologisierung politischen Widerstands. Forum Kritische Psychologie 35. Berlin 1995,

    S. 134; vgl. auch den Spiegel Nr. 43/1994, S. 86 ff.2 Inge Viett: Nie war ich furchtloser. Autobiographie. Hamburg 1996, S. 18.3 Ilka Raddatz: Strategie oder Psychologie? Der Beitrag psychologischer Theorien zur Analyse des Terrorismus.

    Unverffentlichte Diplomarbeit am Studiengang Psychologie der FU Berlin 2004.4 Werner Bohleber, (2002): Kollektive Phantasmen, Destruktivitt und Terrorismus. Psyche Zeitschrift fr Psy-

    choanalyse und ihre Anwendungen 2002, S. 708.

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    und schlielich in zwei aus zweiter Hand referierten Bespielen narzisstischerKrnkungen verendet, denen man z. B. entnehmen kann, dass eigentlich und inletzter Instanz und besttigt durch eine Tante die Eltern eines Selbstmord-Attentters Schuld sind5.

    Die von Skrupeln kaum angefressene, keineswegs auf das Gebiet des Terroris-mus beschrnkte psychologische Pathologisierung anderer liegt durchaus auch inder Tradition der Frankfurter Schule, fr die Psychologie weitestgehend identischmit Psychoanalyse war; dass sich der aktuelle theoretische Blinddarm der KritischenTheorie, die Antideutschen, nur noch von Wahnsinnigen umgeben sieht, wre mitseinem eigenen analytischen Instrumentarium leicht als Projektion retour zu kut-schen, aber das wre ja nur Teil eben des Problems, mit dem ich mich auseinan-dersetzen will. Dieses Problem ist das der Psychologisierung.

    Bevor ich mich damit weiter auseinandersetze, will ich den begrifflichen Rah-men, in dem ich selber psychologisch operiere, bezglich der (lebenspraktischen)Vermittlung der individuellen mit der gesellschaftlichen Reproduktion explizie-ren. Die Kritische Psychologie richtet sich sowohl gegen eine krude Umwelt- bzw.biographische Determiniertheit des Verhaltens als auch gegen die Vorstellungeines Lebens in weltentbundenen subjektiven Sinnstiftungen. Psychologisch vonBedeutung sind objektive Lebens-Bedingungen als konomische, kulturelle, sym-bolische Handlungsmglichkeiten bzw. Handlungsbehinderungen, zu denen sichdas Individuum verhalten kann und muss ebenso wie es sich zu sich selber undden anderen Menschen verhalten kann und muss. In der individuellen Art undWeise, in der das Individuum Handlungsmglichkeiten und behinderungen nachseinen Bedrfnissen interpretiert, werden diese Bedingungen fr das Individuumdessen Handlungs-Prmissen. Prmissen in diesem Sinne meinen den subjektivbegrndete Weltbezug des Individuums. Subjektives Handeln, Empfinden, Leidensind deswegen nicht aus Bedingungen abzuleiten, ihnen gegenber allerdings auchnicht beliebig6.

    Dies bedeutet nun dreierlei:1. Deterministische Positionen scheiden aus: Frigga Haug bspw. irrt, wenn sie

    meint, dass der deterministische Behaviorismus zwar zynisch sei, zugleich abermassenhaft tatschlichem Verhalten bzw. seinen nderungen entspreche7. Adornohat denselben falschen Gedanken schon 1957 methodisiert: Dort, wo dieMenschen unter dem Druck der Verhltnisse in der Tat auf die Reaktionsweisevon Lurchen (hier verweist Adorno auf die Dialektik der Aufklrung, M. M.)heruntergebracht werden, wie als Zwangskonsumenten von Massenmedien undanderen reglementierten Freuden, passt die Meinungsforschung, ber welche sichder ausgelaugte Humanismus entrstet, besser auf sie als etwa eine verstehendeSoziologie: Denn das Substrat des Verstehens, das in sich einstimmige und sinn-

    5 Ebenda, S. 715.6 Klaus Holzkamp: Grundlegung der Psychologie. Frankfurt/M. 1983, S. 349.7 Frigga Haug: Lernverhltnisse Selbstbewegungen und Selbstblockierungen. Hamburg 2003. S. 134.

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    hafte menschliche Verhalten, ist in den Subjekten selbst schon durch bloes Rea-gieren ersetzt.8

    Eben nicht: Eine Theorie ber Opportunismus, Anpassung und Verbldung istmit dem Behaviorismus nicht oder eben nur scheinbar zu haben. Oder mitHolzkamp9: Organismische Anthropologie ist Denkweise, nicht Realitt. Theore-tisch und methodisch ist eine menschlich spezifische Differenz zwischen gesell-schaftlichen Anforderungen mit ihren Handlungsbedeutungen und Nahelegungenund der Art und Weise, wie sich Individuen dazu tatschlich emotional, kognitivund praktisch verhalten, zu bercksichtigen differenziert nach den Freiheitsgra-den natrlich, die die Anforderungen lassen. Unter diesem Aspekt sind Behaup-tungen ber (neue) Subjekt(ivitts)formen immer sehr kritisch zu beugen. Sichergibt es die althusserschen Anrufungen aber es gibt auch, um in derselben Meta-pher zu bleiben, Anrufbeantworter und abgestellte bzw. nicht abgenommene Tele-fone. Allgemein: Der Umstand, dass verschiedene Menschen objektive Umstndeverschieden erfahren und sich verschieden darin und dazu verhalten, ist keinernsthafter empirischer Befund, sondern begrifflich schon vorausgesetzt. Dass(viele) verschiedene Menschen sich hnlich verhalten, ist danach kein determini-stischer Effekt, sondern auf die jeweilige subjektive Funktionalitt bzw. (typische)Prmissen-Grnde-Zusammenhnge hin zu analysieren. Auf diese Weise ist esauch zu vermeiden, Menschen klassifikatorisch ber einen Leisten zu schlagen unddamit komplexittsreduzierende Sortier- und Ordnungserwartungen zu bedienen,die allenthalben an die Psychologie gestellt werden, und mit denen sich eine Kri-tische Psychologie anlegen muss.

    2. Handeln, Empfinden, Leiden, auch Gestrtsein zu verstehen, heit, denZusammenhang von Grnden und Prmissen in einem Begrndungsdiskurs zu re-konstruieren. Das heit aber auch: Verstehen ist Verstehen eines subjektiven Welt-bezuges, nicht einer weltlosen Innerlichkeit. Ein Prmissen-Grnde-Zusammen-hang muss keineswegs bewusst sein, er ist aber zu rekonstruieren und kann imZuge dieser Rekonstruktion bewusst gemacht werden. Die Rede vom Unbewus-sten als psychischer Dynamik macht im brigen nur im BegrndungsdiskursSinn. Im Bedingtheitsdiskurs ist dagegen weder die Rede vom Bewussten nochvom Unbewussten sinnvoll: Lackmus-Papier frbt sich zwar gewiss nicht be-wusst blau oder rot, aber eben auch nicht unbewusst.

    3. Handeln und Empfinden knnen psychologisch nicht als irrational abqua-lifiziert werden, auch z. B. das von Anti-Deutschen nicht. Vielmehr ist, was miran mir selber und an anderen irrational erscheint, in seiner Begrndetheit, in sei-nem Prmissen-Grnde-Zusammenhang (noch) nicht aufgeklrt.10 Ich kann natr-

    8 Theodor W. Adorno: Soziologie und empirische Forschung. In: Gesammelte Schriften. Frankfurt/M. 1997, S. 202 f.9 Klaus Holzkamp: Wissenschaftstheoretische Voraussetzungen kritisch-emanzipatorischer Psychologie (1970).

    In: Ders.: Kritische Psychologie. Vorbereitende Arbeiten, Frankfurt/M. 972, 75-146.10 Dies kann an einer kleinen Geschichte veranschaulicht werden: Eine Frau kauft bei IKEA einen Kleiderschrank,

    den sie im Schlafzimmer erfolgreich zusammensetzt; der Schrank bleibt aber nur so lange stehen, bis die Straen-

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    lich meine Handlungen, Denkweisen, Empfindungen und die anderer an meinenbzw. irgendwelchen gesellschaftlichen Rationalittsmastben messen und bewer-ten; dies ist aber etwas anderes, als (mir) die jeweiligen Beweggrnde verstnd-lich zu machen (die ich allerdings wiederum zu externen Rationalittsmastbenins Verhltnis setzen kann).

    Zurck zum Problem der Psychologisierung, das ich an den Terrorismusbeispie-len einfhrte. Psychologisierung ist eine allgemeine Denkweise mit zwei Varianten,man knnte auch sagen, eine brgerliche Medaille mit zwei Seiten, die ich zunchsterlutern mchte, um dann zu zeigen, wie diese mchtige Denkform im neolibera-len Verantwortungsdiskurs so auf den praktischen Begriff kommt, dass selbst man-cher Psychologiekritik bzw. kritischen Psychologie der Kopf verdreht wird.

    Als Motto der allgemeinen Denkweise der Psychologisierung kann die Mittei-lung der Mutter allen Neoliberalismus, Margret Thatchers gelten, sie kenne nurIndividuen und Familien, aber keine Gesellschaft. Alles, was als Gesellschaft im-ponieren kann, lst sich danach in das Handeln der vielen Individuen auf. Jede(r)handelt fr sich selber und ist fr sich verantwortlich. Das moralische Credo lau-tet: Wenn jede(r) an sich denkt, ist an alle gedacht.

    Thatcher war mit ihrer Auffassung durchaus auf der Hhe einer Psychologie,die mein akademischer Lehrer, Klaus Holzkamp, folgendermaen beschrieb: Esist charakteristisch fr die bestehende Psychologie, dass sie das Einzelindividuumunbefragt als das Konkrete bestimmt und demgegenber Konzeptionen wieGesellschaft als Resultat generalisierender Abstraktion ansieht, die an den Ver-haltensweisen konkreter Einzelindividuen ansetzt, so dass Gesellschaft alsetwas blo Gedachtes erscheint, das im Verhalten von Einzelindividuen seine ein-zige Grundlage hat.11

    Im Anschluss an Marx nannte Holzkamp dies eine Verkehrung von Konkretheitund Abstraktheit, die von den gesellschaftlichen Vermittlungen individuellen Han-delns absieht (abstrahiert). Was konkret erscheint, ist in Wirklichkeit abstrakt odermit einem Wort von Karel Kosk12 pseudokonkret und bspw. Grundzug einerindividuumsbesessenen und gesellschaftsvergessenen Diagnostik.

    bahn vorbeirattert. Auch ein erneuter Aufbau bersteht das Vorberattern der Straenbahn nicht. Ein freundlicherIKEA-Mitarbeiter lsst sich erweichen, selber den Aufbau vorzunehmen. Als er damit fertig ist, wird beschlos-sen, dass er die nchste Straenbahn abwartet und zwar (mit Taschenlampe) im Schrank, damit er einen poten-ziellen Zusammenbruch des Schrankes von innen verfolgen kann. Whrend nun die Frau dem freundlichenIKEA-Mitarbeiter ein Bier holt, passiert, was in solchen Geschichten immer passiert: Der Ehemann der Fraukommt zu diesem Zeitpunkt jedenfalls berraschend nach Hause. Im Schlafzimmer sieht er den neuenSchrank und ffnet ihn: Was machen Sie denn hier?, fragt er fassungslos den Fremden im Schrank. Ich warteauf die Straenbahn. Die (wissenschaftliche) Moral der Geschichte: Die Antwort des Fremden Ich warte auf die Straenbahn istnur fr den irrational, der die Prmissen des Fremden nicht aufgeschlsselt hat, bzw. das nicht kann oder nichtwill. Irrationalitt ist also nicht das positive Resultat einer Analyse, sondern deren Abbruch bzw. das Einge-stndnis, sie nicht zu Ende fhren zu knnen.

    11 Klaus Holzkamp: Wissenschaftstheoretische Voraussetzungen kritisch-emanzipatorischer Psychologie. A. a. O.,S. 101.

    12 Karel Kosk: Die Dialektik des Konkreten. Frankfurt/M. 1967.

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    Personalisierung bedeutet vor diesem Hintergrund in der ersten Variante (bzw.in der einen Medaillenseite), von den Lebensumstnden der Menschen derart zuabstrahieren, dass gesellschaftliche Beschrnkungen in subjektive Beschrnktheituminterpretiert werden. So wird aus einer alleinerziehenden Mutter mit fnf Kin-dern in zwei Zimmern mit flieend Wasser von allen Wnden das psychologischeProblem der mangelnden Frustrationstoleranz dieser Frau oder aus dem hyperak-tiven Kind, wie Klaus Weber analysierte13, umstandslos ein Anwendungsfall frdas Medikament Ritalin, aber kein Anlass fr ein berdenken von Zustnden inder Schule14.

    Vor dem Hintergrund teilweise skandalser Ausblendungen der Vermitteltheitvon Verhalten und Verhltnissen wird verstndlich, wieso in der Tradition einergesellschaftskritisch inspirierten Psychologie bzw. Psychoanalyse (im Sinne vonFromm, Brckner, Mitscherlich) diskutiert wurde, die den Individuen gesellschaft-lich zugefgten Beschrnkungen und Beschdigungen so zu theoretisieren, dassder Begriff der (psychischen) Krankheit auf die Gesellschaft selber zu bertragensei, also von einer Pathologie der Normalitt15 zu reden, gegenber der das Er-kenntnisinteresse psychoanalytischer Sozialpsychologie dann darin zu bestehenhabe, gesellschaftliche Einrichtungen (Institutionen) und ihren komplexen Zu-sammenhang zu untersuchen, die dazu dienen, den Ausbruch sozialpathologischerStrungen zu verhindern oder ihn zu befrdern16. In diesem Sinne meinteAdorno, man knne den Charakter eines Menschen beinahe ein System vonNarben nennen, die nur unter Leiden, und nie ganz, integriert werden. Die Zuf-gung dieser Narben ist eigentlich die Form, in der die Gesellschaft sich im Indi-viduum durchsetzt, nicht jene illusorische Kontinuitt, zu deren Gunsten (...) vonder schockhaften Struktur der einzelnen Erfahrung abgesehen werde17.

    Entsprechend ist der Pathologie des Normalen weder individuell zu entkom-men, noch ist ihr individuell beizukommen. Diese psychologische Kritik der Psy-chologisierung benennt also auf spezifische Weise jene gesellschaftlichen Struk-turen, die das psychologisierende Denken ausblendet.

    Die zweite Variante der Psychologisierung (bzw. die andere Seite der Medaille)ist die Reduktion gesellschaftlicher auf psychologische Fragen, anders (und mitAdorno18) formuliert, die Denkweise, gesellschaftliche Zustnde aus dem Seelen-leben ihrer Opfer zu erklren allgemeiner, psychologische Muster auf gesell-schaftliche Sachverhalte auszudehnen, ein Prozess, der durch die Entpolitisierung

    13 Weber, Klaus: Wann ist (m)ein Kind normal? Oder: Wie Erziehungsratschlge Verwirrung stiften. In: Forum Kri-tische Psychologie 45 (2002), S. 131-145.

    14 Annette Raggatz: Subjektive Theorien von Lehrern zum Verhltnis von Unterricht und ADS. Unverffentlichtepsychologische Diplomarbeit am Fachbereich Erziehungswissenschaft und Psychologie der Freien UniversittBerlin 2003.

    15 Thomas Leithuser; Brigitte Volmerg: Psychoanalyse in der Sozialforschung. Opladen 1988, S. 16.16 Ebenda, S. 17 f.17 Theodor W. Adorno: Die revidierte Psychoanalyse (1952). In: Gesammelte Schriften. Frankfurt/M., Bd. 8, S. 24.18 Ders.: Minimal Moralia (1951). Gesammelte Schriften. Frankfurt/M., Bd. 4, S. 36.

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    der Gesellschaft begnstigt wird. Zygowski zeigte schon 1987, wie in dieser Denk-weise Armut als gesellschaftliches Phnomen sich in Arme auflse; Rogers emp-fahl zur Gesellschaftsvernderung die Therapierung der Mchtigen, Moreno ludauf dem Hhepunkt der Kubakrise Kennedy und Chruschtschow zu einem Psy-chodrama ein, Watzlawick interpretierte diese Krise als Interpunktionsproblem,Stierlin rekonstruierte Aktionen der RAF familiendynamisch.19

    Ein fr mich in diesem Zusammenhang schlagendes aktuelles Beispiel ist dieAuflsung von Geschichtspolitik in unterschiedliche Formen des Gedchtnisses(individuelles, Familien-, kollektives und kulturelles Gedchtnis20): Indem auchgesellschaftlich-politische Auseinandersetzungen unter den psychologischen Be-griff des Gedchtnisses subsumiert werden, werden sie gleichzeitig ihres politischenCharakters weitestgehend beraubt, die Gesellschaft wird enteigentlicht und lst sichin Psychologie auf.

    Psychologie wird, so die Konsequenz beider Seiten der Psychologisierung bzw.der Entpolitisierung der Gesellschaft, zu einem umfassenden Paradigma der Inter-pretation der gesellschaftlichen Verhltnisse befrdert (vgl. auch Sonntag 1993).Eine der zentrale Denkfiguren dabei ist die malose Aufblhung des im Titel mei-nes Beitrages angefhrten Verantwortungsbegriffs, durchaus im Zusammenhangmit der von Adorno benannten Illusion der Ohnmchtigen, ihr Schicksal hingevon ihrer Beschaffenheit ab21: Verantwortungszuschreibung als psychologisie-rende Kehrseite gesellschaftlicher Marginalisierung.

    Mit meiner bisherigen Argumentation habe ich mich den Workshop-Charak-ter unseres Unternehmens sozusagen ausnutzend in folgende Probleme hinein-manvriert, die ich zumindest hier nicht in Gnze lsen, sondern eher nur ex-plizieren kann und zur Diskussion stellen will:

    1. Es ist fr die Analyse des Verantwortungsproblems notwendig, die bewusstepolitische Strategie, die Einzelnen fr das Gesamte verantwortlich zu machen, vondem psychologischen Irrtum zu trennen, auf die damit verbundene Psychologisie-rung hereinzufallen; ich bin mir brigens nicht sicher, inwieweit die verschiede-nen foucault-inspirierten Gouvernementalittsstudien zwischen diesen Polenchangieren, das Konzept der Gouvernementalitt seinen intellektuellen Siegeszugdem Umstand verdankt, dass es letztlich psychologistisch ist, sich im psychologi-schen Paradigma verfngt.

    2. Gegenber einem psychologischen/psychologistischen Paradigma der Ge-sellschaftsdeutung muss eine ihres Geltungsbereichs bewusste und insofern wis-senschaftlich haltbare Psychologie verteidigt werden als eine psychologischeBasis der Kritik des Psychologismus.

    19 Nach Peter Tzscheetzsch: Psychologisierung politischen Widerstands. A. a. O., S. 137.20 Vgl.: Aleida Assmann: Vier Formen des Gedchtnisses. In: Erwgen Wissen Ethik, 13, H.2 (2002), S. 183-

    190.21 Theodor W. Adorno: Zum Verhltnis von Soziologie und Psychologie. In: Gesammelte Schriften, Bd. 8, S. 54.

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    3. Es ist zu analysieren, in wieweit der, wie geschildert, kritisch inspiriertenKonzeption der Pathologie des Normalen, die Tendenz innewohnt, den Patho-logiebegriff so aufzublhen, das letztlich doch im allgemeinen Wahn Gesellschaftund Individuen in psychologistischer Manier verschmelzen.

    Meine These ist nun, wie ja schon angedeutet, dass die neoliberale Umstruktu-rierung, wie sie sich vor allem in den Vernderungen der Arbeitsverhltnisse unddes Sozialsystems zeigt (vgl. etwa Seppmann 2005, Wolf 2005, Ferchland 2005),psychologisierendes Denken wesentlich plausibler macht, als es ohnehin schonwar.

    Auffllig ist dabei, dass in dieser aktuellen Psychologisierung die Gesellschaftnicht mehr ausgeklammert werden muss, sondern als integraler Bestandteil psycho-logisierenden Denkens fungiert: Die vielfltig vermittelte Gesellschaft(lichkeit)wird nach dem Muster einer unmittelbaren Gemeinschaft dargestellt, wobei dannGlobalisierung nur heit, dass es berall auf der Welt (die ja ein Dorf gewordenist) so zugeht. Die Parole Du bist Deutschland spitzt das nur ebenso blde zuwie die triumphale Versicherung Wir sind Papst.

    Die Verantwortung der Einzelnen fr sich und das Ganze reduziert dieses aufein natrlich klassenloses Beziehungsgeflecht. Man knnte fast meinen, Marx httesich dagegen prophylaktisch gewehrt, als er im Kapital schrieb: Weniger alsjeder andere kann mein Standpunkt, der die Entwicklung der konomischen Ge-sellschaftsformation als einen naturgeschichtlichen Proze auffat, den einzelnenverantwortlich machen fr Verhltnisse, deren Geschpf er sozial bleibt, sosehr ersich auch subjektiv ber sie erheben mag.23

    Und in eben diesem Sinne stellt Engels (1886) klar: Wenn ich in dem Sinnewie hier und anderwrts von der Gesellschaft als einer verantwortlichen Gesamt-heit spreche, die ihre Rechte und Pflichten hat, so versteht es sich, da ich damitdie Macht der Gesellschaft meine, diejenige Klasse also, die gegenwrtig die po-litische und soziale Herrschaft besitzt und damit zugleich auch die Verantwort-lichkeit fr die Lage derer trgt, denen sie keinen Teil an der Herrschaft gibt.24

    Demgegenber kommt die psychologisierende Diffusion von Verantwortung,auch wenn sie kritisch gemeint ist, etwa in folgenden Passagen bei Ute Osterkampzum Ausdruck, wenn sie schreibt, dass die Verantwortung fr die Flchtlingspoli-tik alle trifft25 bzw. dass die Verantwortung fr die offizielle Abschreckungs-politik ... bei uns allen liegt26. Wenig spter konstatiert sie, dass die gngigen

    22 Werner Seppmann: Dynamik der Ausgrenzung. ber die soziostrukturellen Konsequenzen der gesellschaftlichenSpaltungsprozesse. In: Utopie kreativ 179 (September 2005), S. 781 795; Michael Wolf: Aktivierende Hilfe.Zu Ideologie und Realitt eines sozialpolitischen Stereotyps. In: Utopie kreativ 179 (September 2005), S. 796 808; Rainer Ferchland: Ein regierungsamtliches Paradoxon. Zum Zweiten Armuts- und Reichtumsbericht derBundesregierung. In: Utopie kreativ 179 (September 2005), S. 809 818.

    23 Karl Marx: Das Kapital. Erster Band. In: MEW, Bd. 23, S. 16.24 Friedrich Engels: Lage der arbeitenden Klasse in England. In: MEW, Bd. 2, S. 324 (Funote zur Ausgabe von

    1886).25 Ute Osterkamp: Rassismus als Selbstentmchtigung. Hamburg 1996, S. 56.26 Ebenda.

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    psychologischen Theorien von der individuellen Verantwortung fr das Verhal-ten der jeweils anderen ablenken27. Hier wird die Absurditt der Verantwortungaller Einzelnen fr gesellschaftliche Zustnde konkretisiert auf die Verantwortungeines jeden fr den jeweils anderen mit der aparten Folge, dass eigentlich kei-ne(r) mehr fr sich verantwortlich sein kann, weil es ja jemand anders schon ist,gleichwohl alle verantwortlich sind. Die psychologisch relevante Frage, inwieweitich das Verhalten anderer so beeinflusse, dass ich dafr mit verantwortlich bin,kann so als offene Frage gar nicht mehr gestellt werden. Den Vergewaltiger, dersich eingeladen sieht, wirds freuen.

    Unbeschadet solcher Ungereimtheiten impliziert die Verantwortungsuniversa-lisierung eine Verstrickung, aus der Befreiung nicht mehr gedacht werden kann:Denn auch wenn ich mich bspw. bis an die Grenzen meiner Mglichkeiten gegenRassismus oder barbarische Flchtlingspolitik einsetze, bleibt ja das Problem,dass es sozusagen ohne Ende weitere Probleme gibt, gegen die ich dann nichtsunternehmen kann etwa Gewalt gegen Kinder, neo-imperialistische Kriege,Fleischskandale, AIDS-Politik, religise Umtriebe, etc. Trotzdem soll ich dafrverantwortlich sein. Meine so existenziell gegebenen wie strukturell uneinlsbareVerantwortung haftet mir an wie die Erbsnde in der katholischen Kirche nurdass es im psychologistischen Verantwortungsuniversum nicht einmal die Taufegibt.

    hnliche Probleme bringt der Verantwortungsdiskurs in der Aufarbeitung vonGeschichte mit sich, sofern er die kritisierte horizontale oder synchrone Entgren-zung der Verantwortung durch eine vertikale oder diachrone Entgrenzung ergnztund bei den so Beschuldigten jenen Reflex nach dem Schlussstrich nahe legt,welcher mit einer strukturell informierten Argumentation nicht zu kriegen ist. Umes provokatorisch zuzuspitzen: Heute 20-Jhrige als Tterenkel in eine Verant-wortungshaftung zu nehmen, ist so sinnvoll, wie mir eine Verantwortung amErsten Weltkrieg anzudienen.28 Anders und allgemein: Mit dem Mittel derartigerPsychologisierungen drfte eine Politisierung von Jugendlichen kaum klappen.

    Entgegen dem ggf. intentionswidrig bedienten und befrderten psychologi-stischen Paradigma der Deutung gesellschaftlicher Zustnde, das Politiker/innennatrlich interessiert allenthalben im Munde fhren, um sich zu entlasten undsich mit dem von ihnen dazu gemachten kleinen Mann gemein zu machen,muss eine kritische Psychologie darauf bestehen, dass individuelle Verantwortungnicht strukturell diffundiert29.

    27 Ebenda, S. 59.28 Wenn schon, wrde ich persnlich dann lieber die Mitverantwortung fr die Grndung des Spartakusbundes

    bernehmen.29 Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass das Aufkommen Haftungs- und Versicherungsberlegungen ge-

    rade dazu diente. Individuelle Unsicherheiten und Verantwortlichkeiten zu reduzieren, sei es bezglich der Fol-gen von Handlungen (etwa Haftpflichtversicherung), sei es bezglich kontingenter Ereignisse (etwa Hausrats-versicherung), und dass demgegenber der Abbau des Sozialstaates die Verantwortung des Einzelnen faktischwieder ausdehnt ideologisch gesttzt eben dadurch, dass der kritisierte Verantwortungsdiskurs Verantwortung

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    Der neoliberalen kollektiven Indienstnahme durch einen universal aufgeblh-ten Verantwortungsbegriff, der psychologisierendem Denken eine aktuelle Noteverleiht, durch dieses sich gesellschaftstheoretisch gebrden kann, ist m. E. aufgleichem Felde kaum zu begegnen, sondern nur so, dass der Verantwortungsbe-griff hinterfragt wird: Wenn ich fr etwas die Verantwortung bernehmen soll,muss ich fragen, inwieweit das, was ich bernehmen soll, in meinem Interesse ist,eine Problem- oder Fragestellung, die der gleicht, mit der ich zu tun kriege, wennich motiviert werden soll, also wenn ich auch wollen soll, was ich (tun) soll.Hier hat Ute Osterkamp zur Kritischen Psychologie das Konzept des innerenZwangs30 beigetragen, das ich fr meine Problemstellung fr wesentlich halte.Ich kann gegen eine Anforderung Widerstand leisten oder ich kann zu ihrer ber-nahme gezwungen werden.

    Innerer Zwang als die dritte Variante bedeutet, dass ich den Zwangscharak-ter so verinnerliche, dass ich zu wollen meine, was ich soll mit der Implikation,dass diese Konstellation fr mich widersprchlich ist, weil ich gegenlufige Im-pulse abdrngen muss. Ein Beispiel dafr wren Leistungsentuerungen in Kon-kurrenzsituationen, in denen ich in sozusagen Verfolgung meiner Leistungszielegleichzeitig meine sozialen Beziehungen ruiniere, dies aber in seiner Bedeutungabwerte. (Die Fhigkeit zu einem so verselbstndigten Willen ist brigens nachAuffassung der Kritischen Psychologie der psychische Ermglichungsgrund derAusbeutbarkeit31.)

    ohnehin ins Endlose ausdehnt. Mit der bernahme einer derartigen Verantwortung kann man sich aber nur ber-nehmen. Es passt zu dieser Entwicklung, wie in sozialer Arbeit der Begriff der Ressourcen, dessen ursprng-liche Intention darin bestand, Menschen, die Hilfe brauchen, nicht (nur) unter Defizit-Gesichtspunkten zu se-hen, nunmehr so personalisiert wird, dass man sich geflligst auf sich selber besinnen und Krisen auch dann alsChance wahrnehmen soll, wenn man keine hat. Hier wre interessant, Begriffe wie Empowerment, Gemein-deorientierung, Prvention, Gesundheitsverhalten auf Funktionswandel und damit verbundene Zumutun-gen zu analysieren (vgl. Jochen Kalpein : Case Management: Methode zwischen Emanzipation und Affirmation?Unverffentlichte Abschlussarbeit zum Weiterbildungsstudium Psychosoziale Arbeit Studiengang SystemischesCasemanagment 2005 an der Alice-Salomon-Fachschule Berlin; Morus Markard: Fr Jugendliche und mit Ju-gendlichen oder: Zum Verhltnis von Willen und Wohl. Unverffentlichtes Manuskript 2005).Bayertz hat Genese und Problematik des Verantwortungsbegriffs rekonstruiert (Kurt Bayertz: Eine kurze Ge-schichte der Herkunft der Verantwortung. In: Ders. (Hg.), Verantwortung. Prinzip oder Problem? Darmstadt1995, S. 3-71). Graumann hat, was die Psychologie angeht, darauf verwiesen, dass dort Verantwortung sozu-sagen in zwei Sparten existiert: verantwortlich gemacht werden in den Attributionstheorien, verantwortlichsein oder sich fhlen (oder auch eben nicht) in Theorien zu prosozialem Verhalten (Carl Friedrich Graumann:Verantwortung als soziales Konstrukt. In: Zeitschrift fr Sozialpsychologie, 25, H.3/1994, S. 184-191). Ich kanndem hier nicht weiter nachgehen.Demirovic hat in seinem Aufsatz Verantwortung und Handeln verschiedene struktur- und handlungstheoreti-sche und Argumentationslinien nachgezeichnet und damit verbundene Verantwortungszuschreibungen, diffusio-nen und -bernahmen diskutiert (Alex Demirovic: Verantwortung und Handeln. In: Frankfurter Arbeitskreis frpolitische Theorie & Philosophie (Hrsg.): Autonomie und Heteronomie der Politik. Politisches Denken zwischenPost-Marxismus und Poststrukturalismus. Bielefeld 2004, S. 143-169).

    30 Ute Osterkamp: Grundlagen der psychologischen Motivationsforschung 2. Die Besonderheit menschlicher Be-drfnisse Problematik und Erkenntnisgehalt der Psychoanalyse. Frankfurt/M. 1976, S. 342 ff.; Klaus Holz-kamp: Grundlegung der Psychologie. Frankfurt/M. 1983, S. 412 ff.

    31 Klaus Holzkamp: Grundlegung der Psychologie. A. a. O., S. 323.

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    Interesse ist aus meiner Sicht der Begriff, mit dem Verantwortung bzw. Ap-pelle, Verantwortung zu bernehmen, zu hinterfragen sind. Dabei wre es allerdingsunsinnig, Interessen nur so aufzufassen, dass man diese allein individuumszen-triert oder auf unmittelbare Gruppenbeziehungen zentriert begreifen kann. Denndas hiee, dass mein Interesse mein ein und alles wre, und das Interesse aller an-deren ihr ein und alles, was wiederum bedeutete, dass keiner fr den anderen sichinteressierte, dass das mich Interessierende das fr den/die anderen Uninteressantewre32.

    Handlungsvorstze bzw. Handlungen sind, wie oben dargestellt, in Prmissenals subjektiven Weltakzentuierungen und nach Magabe individueller (auf Welt-verfgung/Lebensqualitt gerichteten) Lebensinteressen33 begrndet. Interessenergeben sich hufig nicht von selber, sondern sie sind argumentativ zu entwickeln.Horkheimer 1936 hat in seiner Schrift Egoismus und Freiheitsbewegung dieGegebenheiten reflektiert, unter denen die Vertretung eigener Interessen auf Kos-ten anderer geht, insofern die Vertretung eigener Interessen im negativen Sinneegoistisch ist.34 Die Frage ist also, unter welchen Bedingungen die Vertretung ei-gener Interessen berhaupt ein Problem ist. Denn eine Gesellschaft, in der keinerseine Interessen vertrte, kann ja wohl auch nicht das Interesse aller sein jeden-falls nicht in jener Perspektive, in der die freie Entwicklung eines jeden die Vor-aussetzung der freien Entwicklung und damit der freien Interessenentfaltung aller ist.

    Wenn sich in dieser Perspektive das bernehmen von Verantwortung als eigenepsychische Qualitt oder als besondere Aufgabe herauskristallisiert, msste ei-gentlich ausgeschlossen werden knnen, dass sie neoliberal entgrenzt oder imSinne einer Indienstnahme instrumentalisiert ist,35 man sich also mit der ber-nahme von Verantwortung fremdbestimmen lsst bzw. strukturell bernimmt.

    Unter diesem Aspekt ist es eher problematisch, wenn man sich, wie MatthiasPlatzeck 2005 damit brstete, sich nie vor Verantwortung gedrckt zu haben;andererseits wurde er dafr von allen Flgeln der SPD herzlich gedrckt und mitca. 103,8 Prozent der Stimmen zum Parteichef befrdert worden, was ja laut Plat-zeck-Vorgnger Franz Mntefering das schnste Amt neben dem Papst ist, waswir ja wiederum jetzt alle sind eine Verantwortung, vor der man sich sowiesonicht drcken kann.

    32 Morus Markard: Wenn jede(r) an sich denkt. Ist an alle gedacht. Zum Problem Verallgemeinerbarkeit von Inter-essen/Handlungen zwischen kollektiver Identitt und Universalismus. Erscheint in: Forum Kritische Psychologie49 (2006), S. 106-123.

    33 Klaus Holzkamp: Alltgliche Lebensfhrung als subjektwissenschaftliches Grundkonzept. In: Das Argument 212(1995), S. 817- 846.

    34 Max Horkheimer: Egoismus und Freiheitsbewegung (1936). In: Ders.: Traditionelle und kritische Theorie. FnfAufstze. Frankfurt/M 1992, S. 43-122.

    35 Es ist dann jeweils ausfindig zu machen, was der Prsident der Akademie der Knste in Berlin, Adolf Muschg,bei der Erffnung einer Ausstellung zu Leben und Werk Edgar Hilsenraths so formulierte: Verantwortung istschon lange der Deckname der Macht. (Tagesspiegel vom 22. November 2005, S. 25)

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    Lutz Brangsch

    Die neuen Angstregime

    ber Demokratie zu sprechen bedeutet ber Macht und Herrschaft zu sprechen,ber einen Weg, Herrschaft und Macht auszuben. Verndern sich die Akteure indiesen Beziehungen, gewinnen oder verlieren sie Einfluss oder ndert sich derGegenstand der Auseinandersetzung um Macht, verndert sich damit untrennbarauch der Charakter der Demokratie. Will man diese Vernderungen fassen, sollteman an erster Stelle die Konstante in ihnen bestimmen. Soweit Demokratie eineArt und Weise der Machtausbung darstellt und damit staatliche Institutionen, ge-sellschaftliche Organisationen usw. hervorbringt, ist sie nicht passive Hlle, son-dern wirkt aktiv auf die Entwicklung der Machverhltnisse in der Gesellschaftzurck. Gegenstand der hier anzustellenden berlegungen soll die Frage sein, wiedas gegenwrtige demokratische politische System auf Motivationen, Antriebezum Handeln in der Gesellschaft wirkt und damit auch den Charakter von sozia-len Beziehungen beeinflusst.

    Eine zentrale Frage des berlebens einer jeden Gesellschaft besteht darin, obund inwieweit sie ihrer Struktur nach in der Lage ist, die Fhigkeiten und Fertig-keiten ihrer Mitglieder in einer sie selbst stabilisierenden Weise freizusetzen. Sta-bilisierend ist dabei nicht einfach als Konservierung eines gegebenen Zustandeszu verstehen. Vielmehr bedeutet Stabilitt in dem hier zu betrachtenden Sinne,dass:

    - Gesellschaft in ihrer Totalitt (Ganzheitlichkeit) fhig ist, der Ttigkeit ihrer Mitglieder eine bestimmte Richtung zu geben,

    - Gesellschaft Mglichkeitsfelder schafft, in denen Varianten eigener (d. h. sowohl der Gesellschaft als auch ihrer Mitglieder) Entwicklung praktizierbar und diskutierbar werden

    - Gesellschaft Raum fr die Umsetzung von bestimmten, auch widersprch-lichen Interessenkonstellationen in Handeln schafft und neue Interessenlagenproduziert.

    Eine stabile Gesellschaft produziert so bestndig die Voraussetzungen eigenerWeiterentwicklung als Totalitt. Dies bedeutet nicht, dass diese stabile Gesellschaftfrei von Unsicherheit wre. Gerade die kapitalistische Gesellschaft schpft ihreAntriebe vor allem aus Unsicherheit und Angst, die notwendige Momente derKonkurrenz sind.

    Das Handeln der Einzelnen, der sozialen Gruppen wie auch der Gesellschaftinsgesamt vollzieht sich ausgehend von der eigenen Interessenlage auf der einenund unter der Bewertung von Mglichkeiten, die die Gesellschaft in ihrer gege-benen Struktur bietet (oder zu bieten scheint) auf der anderen Seite. Aus der Wech-selwirkung dieser beiden Komponenten erwachsen die Motivationen und Trieb-

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    krfte, Werte, Rechte und Pflichten, die mehr oder weniger vermittelt Handelnnach sich ziehen. Gegebene Produktionsverhltnisse und Widersprche durchlau-fen, obwohl im tglichen Handeln der Menschen bestndig reproduziert, immerdiesen aus der Totalitt von Gesellschaft erwachsenden und von dieser Totalittgeprgten Umwandlungsprozess, bevor sie wiederum selbst handlungsbestimmendwerden.

    Die gegebene relative Selbstndigkeit der einzelnen Elemente dieser Totalittmacht Entwicklung von Gesellschaft berhaupt erst mglich, bedingt aber auchden Fakt, dass Antriebe, Motive und Triebkrfte, also letztlich Grnde fr den Ein-zelnen oder Menschengruppen, sich auf bestimmte Art zu verhalten, eine eigen-stndig zu bearbeitende Bedeutung besitzen, aber auch in gewissen Grenzen ge-staltbar sind. Macht erwchst aus der Fhigkeit, diesem bestndigen Wandel vonInteressen und Bedingungen Raum zu geben und gleichzeitig die Frchte dieserDynamik zu monopolisieren, z. B. durch Rechtskonstruktion, Repression, Inkor-poration und geistige Hegemonie.

    Es war eine der vornehmsten Aufgaben des brgerlich-demokratischen