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Schimmel über Berlin

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Ronald R. Klein und Stefan van Zwoll (Hg.): Schimmel über Berlin (Leseprobe) Literatur | Gespräche | Visual Art Oktober 2014, Klappenbroschur, 15 x 21 cm 304 S. mit zahlreichen Abbildungen www.verlag-reiffer.de ISBN 9783934896871

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Dienstag, 30. September 2014 18:22:31

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Ronald R. Klein und Stefan van Zwoll (Hg.)

SCHIMMEL ÜBER BERLIN

Literatur | Gespräche | Visual Art

reiffer

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Ronald R. Klein und Stefan van Zwoll (Hg.)Schimmel über BerlinLiteratur | Gespräche | Visual Art Umschlaggestaltung unter Verwendung eines Fotos von Sonja Hasemann

Redaktion: Hanna Falkenstein, Sonja Hasemann, Ronald R. Klein, Steffen Weidinger und Stefan van Zwoll 1. Auflage 2014, Originalausgabe© Verlag Andreas Reiffer, 2014 Satz/Layout: Stefan van ZwollLektorat: Max Lüthke ISBN 978-3-934896-87-1 Verlag Andreas Reiffer, Hauptstr. 16 b, D-38527 Meinewww.verlag-reiffer.dewww.facebook.com/verlagreiffer

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INHALT

IM GESPRÄCH

018 Olga Roh046 Jürgen Flimm070 Iggy Pop084 Christoph Schlingensief096 Ellen Allien122 Laibach152 Anne Clark & Murat Parlak168 Johan Edlund182 Dieter Meier202 Sylke Enders214 Alexander Scheer218 Jonathan Meese246 Wolfgang Joop274 Joe Rilla286 Kai-Uwe Kohlschmidt

VISUAL ART

103 Friederike Ablang . Jelly Lady114 Friederike Ablang . Lachvögel Karl-Marx-Allee121 Friederike Ablang . Irinas Lachvögel189 Friederike Ablang . Der Stuhl200 Friederike Ablang . Koppelkamms Angst258 Friederike Ablang . love you with all my arms261 Friederike Ablang . Kyzz272 Friederike Ablang . Monsterfete

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Gerda Arndt-Komarek . Eilig – ein Schicksalswort Stefan van Zwoll . einmaleins Theresa Schütz . Morgendliche Nachwehen, die Form suchten HEL Toussaint . BURGER BAIZ und LUXUSBAR Ole Robert Fimbul-Kiserud . Jeg kunne ha fortald deg alt

Kai Schubert . Die unsichtbaren Städte von Babylon Sebastian Lehmann . Ich war nicht dabei Heinrich Dubel . Im Zeitreisebüro Martin Strauss . Wie man einen Bären fängt Kai Grehn . AM ANDEREN ENDE DES BERGES Josefine Ehlert . Das Heckenkrieg Fragment Ronald R. Klein . do it yourself Susanne Götze . Friss mich, Stadt, friss mich Matthias Renger . Mehr Zeit für Informatiker Thomas Bauer . Berliner Augenblicke Martin A. Völker . Histo-Magier Yvonne Kaeding. Fluchtwege Torsten Schulz . Drei Geburtstage Sonja Hasemann . Die Rückkehr Stefan van Zwoll . LIBUS und die Zeit alic borNa . Klinik XIV: Der Durst. Björn Kuhligk . DEN JOB BEKOMMST DU! Jürgen Landt . lieber morgen erledigt sein ... Astrid Monet . Sie & Er Nicole Hahn . Der Brief Ilja Schneider . Eklektizismus der Provokation

LYRIK

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PROSA / DRAMA / ESSAYS

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VORWORT

Das mediale Zerrbild begann irgendwann in den 90er-Jahren auf-zutauchen. In den Seifenopern schlürften junge Menschen ohne Stil und eigene Denke, aber mit ausreichend Kleingeld ausgerüstet, neonfarbene Cocktails in holzvertäfeltenen Bars. Kurz darauf gab es diese Bars und Menschen wirklich. Und wir rätselten, ob die Fanta-sie von Fernsehredakteuren Realität erschuf, oder die TV-Menschen einfach Dinge sahen, die uns beim täglichen und nächtlichen He-rumstromern durch die Kieze von Friedrichshain, Kreuzberg, Mitte und Prenzlauer Berg verborgen blieben? Wir tippten auf ersteres und packten während oder nach dem Abitur schmollend unsere Koffer, verließen für eine Zeit den großen Abenteuerspielplatz Berlin und tauschten ihn gegen größere, andere ein. Wer wir sind? We are Legion. Und stellvertretend für die vielen nehmen die Herausgeber des Buches in Anspruch, einen Querschnitt von Stimmen zu sammeln, der einen Blick auf den Berliner Zustand ermöglicht.

Ähnlich wie eine Stadt sich verändert, kann ein Buchprojekt sich wandeln. Als wir vor zwei Jahren zusammentrafen, um eine LIBUS-Best-Of-Anthologie zu kompilieren, hatten wir vor, die besten Ma-gazin-Beiträge in Buchform zusammenzustellen. Das Periodikum LIBUS existierte zwischen 1999 und 2004 und enthielt literarische Beiträge, Interviews und Visual Art. Ein buntes Potpourri aus Under-ground Poetry, Gothic Culture, HipHop, Black Metal und der Liebe zu Theater und Kino. Doch schnell wurde die Idee verworfen, Altes aufzuwärmen – obwohl alle Texte eine Neuauflage verdient hätten.

Analog zum Kulturmagazin LIBUS vereint »Schimmel über Ber-lin« eine Auswahl von Texten, Bildern und Künstlern, die große Schnittmengen zu unserem Stadt-Gefühl aufweisen und uns lange Zeit begleiteten. Iggy Pop ist vielleicht am längsten dabei. Kaum eingeschult, grundierte das quirlige Chamäleon unsere Sympathie für das anarchische Aus-der-Rolle-Fallen. Wir praktizierten es mit Genuss. Parallel dazu fanden Yello-Kassetten, Punk- und HipHop-Tapes den Weg in die heimische Anlage. Eklektizismus? Mitnichten. Dieter Meiers Referenz auf individualanarchistisches Denken, Joe

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Rillas aka Hagen Stolls Mischung aus Berliner Schnauze und Herz-auf-dem-rechten-Fleck sowie Kai-Uwe Kohlschmidts Expeditionen in medizinische Grenzgebiete bestätigen die Zusammengehörigkeit, die sich nicht in Genre-Grenzen verorten lässt.

Letztlich bündelt ein Ort exemplarisch diese vermeintlich unter-schiedlichen Ästhetiken: Die Volksbühne in Berlin. Das größte Sprechtheater ergänzte in Jugendzeiten nicht nur unser Portfolio an Freizeitaktivitäten, bestehend aus Party, Versuchen an Kunst, Ex-zessen und kognitiven Übungen. Christoph Schlingensief beispiels-weise wurde unser Türöffner zum Theater, erster Interviewpartner in der Schülerzeitung (knapp vor AC/DC – sic!) und schließlich Ermöglicher von Theaterarbeit. Wir fanden in der Volksbühne Ar-beitsplatz und geistige Heimstatt. Dort spielten wiederholt Laibach, Sandow, Anne Clark, Murat Parlak und Dieter Meier. Christoph Schlingensief sprengte Theatergrenzen. Jonathan Meese führte kon-geniale Performances auf und überzeugte Ästhetiker, dass Kunst nicht zwangsläufig einen Beobachter braucht. Björn Kuhligk und Sebastian Lehmann stellen dort regelmäßig ihre Literatur vor – so sehr sich die Stadt und das Theater wandeln mögen, das Haus bleibt ein Hort des Abseitigen, des Querdenkens und uns deswegen sym-pathisch. Ein großes Stück Heimat.

Querdenken findet ohnehin nicht in gegenwärtigen Diskurskatego-rien wie Ost und West, U und E statt. Langweilig! So wie die Redak-tion des Buches sich aus einer Berlin-Baden-Württemberg-Hohen-zollern-Allianz zusammensetzt, so gilt das für die Künstler, die einen Blick auf Berlin werfen. Ost-West-International verschwimmt. Die Grenzen eines Nationalstaates sind unisono künstlich gesetzt. Analog dazu werfen unsere Autoren nicht nur einen Blick auf Berlin, sondern auch weit über seine Grenzen hinaus. Kai Grehn entdeckt den Nanga Parbat, während Susanne Götze die Spree gegen die Seine eintauscht und ihre Beobachtungen aus Paris mitteilt. Willkommen beim Ent-decken urbaner Perspektiven außerhalb vorformatierter Blickwinkel!

Die Herausgeber

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Sebastian LehmannIch war nicht dabei

AUTORTITEL

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ch komme am Görlitzer Park an, und die Sonne steht tief über den Dächern Kreuzbergs. Aus einem geöffneten Fenster dröhnt laute Elektromusik. Die Grasverkäufer auf der Skalitzer verkaufen jetzt auch Stoffbeutel und vegetarisches Sushi. Ein Junggesellenabschied wird zu recht von einem Motzverkäufer beleidigt. Sein hässlicher Hund mit den zu kurzen Beinen übergibt sich zu recht vor die Füße eines Immobilienmaklers im Anzug. Ein Touristenpärchen fotogra-fiert sich vor einem »Berlin Hates You«-Graffiti.

Ich bin zu spät. Kreuzberg war in den 80ern cool, Berlin in den 90ern. Für das Jahrzehnt jetzt gibt es nicht mal eine richtige Be-zeichnung: die 10er-Jahre – das klingt ja schon langweilig. Ich bin zu spät. Das SO36 ist vier Jahre älter als ich. Westbam könnte mein Vater sein. Blixa Bargeld mein Großvater, er sieht wenigstens so aus. In der Süddeutschen Zeitung steht, dass Berlin nicht mehr hip ist. Aber was wissen die schon, München war nie hip. Wenn München ein Berliner Stadtteil wäre, dann wäre es Spandau.

Ich schlendere weiter zur Eisenbahnstraße und betrete meinen Lieblingsspäti. Dicke Rauchschwaden wabern durch den kleinen La-den. Ein älterer Herr steht an der Theke und zeigt auf die Zigaretten im Regal.

»Einmal von den Gesunden«, sagt er. Der Späti-Verkäufer reicht dem Mann eine Packung Marlboro

Lights. Die beiden schauen sich tief in die Augen und lachen dann hustend. Oder husten lachend. So genau kann man das nicht un-terscheiden.

Der Verkäufer selbst hat eine nicht ganz so gesunde Kippe ohne Filter zwischen den Lippen hängen. Sein gelber Schnurrbart schim-mert ungesund wie die asbestverseuchte Dämmung des Forum Kreuzberg an der Adalbertstraße. Die orangenen Finger der beiden Raucher leuchten bestimmt auch nachts, denke ich.

Ich stelle eine Fritz-Cola ohne Zucker auf die Theke und lege noch einen Müsliriegel und das Greenpeace-Magazin daneben.

»Darf ’s vielleicht noch eine vegane Reiswaffel sein?«, fragt mich der Verkäufer freundlich.

»Oh ja, sehr gern!«, sage ich.Die beiden bekommen einen langen, sehr lauten Lach-Hustan-

fall, und ich verlasse schnell den Späti.

I

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Auf dem Gehweg der Eisenbahnstraße hat jemand kleine Fähn-chen mit dem Berlin-Wappen in Hundescheißhaufen gesteckt.

»Oh, nice. Kreuzburg Street-Art«, ruft eine Gruppe schwedi-scher Touristen im Chor und macht mit ihren iPhones Fotos davon.

Plötzlich steht der Marlboro-Lights-Mann aus dem Späti neben mir.»Auch Tourist?«, fragt er mich.»Nee, ick wohn hier, wa«, sage ich.»Das war ostberlinerisch«, sagt der Mann.»Entschuldigung«, sage ich. »Zigarette?«, fragt der Mann unbeeindruckt und hält mir die Pa-

ckung Gesunde hin.»Nee, ick rooche nich«, sage ich und verbessere mich schnell:

»Äh, rauche nicht.« »Lieber eine E-Zigarette?« Er holt ein seltsames Gerät hervor, das

aussieht wie ein Kinderfüller von Lamy.Ich schüttle den Kopf.»Vielleicht eine Schokoladenzigarette?«»Gerne, das erinnert mich an meine Kindheit«, sage ich, klemme

die Schokoladenzigarette hinters Ohr und schlendere weiter Rich- tung Oranienstraße.

Ich setzte mich in ein neues Café, das aussieht wie eins in Mün-chen-Spandau, und bestelle einen Ingwer-Minz-Aloevera-Tee. Dann stecke ich die Schokoladenzigarette in den Mund.

»Entschuldigung, Rauchen ist hier verboten«, schreit die Bedie-nung sofort. Ich esse die Zigarette einfach auf. Sie schaut mich ent-geistert an – und ich verlasse schnell das Café.

Vor dem Franken stolpere ich über ein paar Besoffene, die fried-lich auf der Straße schlafen. Ein Mädchen fragt mich: »Where can we find a party?«

Ich mache eine allumfassende Geste, die ganz Kreuzberg ein-schließt, und rufe: »Hier jibts überall lustige Feten.«

Sie lacht höflich, wendet sich ab und raunt ihrer Freundin zu: »Again a crazy guy who can’t speak German.«

Ich bin zu spät dran. Kreuzberg ist nicht mehr das, was es mal war. Glaube ich zumindest, ich war ja nicht dabei früher. Ich war noch nicht da, als das hier noch wirklich Kreuzberg 36 war, ich war nicht dabei, als Martin Kippenberger Geschäftsführer des SO36 war, ich hab die Einstürzenden Neubauten nicht live auf Mülltonnen

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trommeln hören, ich war nicht mit Sven Regener Schweinebraten in der Markthalle essen, ich habe keine Steine am 1. Mai geworfen, ich war nicht dabei, als alles noch kaputt und spannend und neu war.

Ich mag es trotzdem hier.Ein Junggesellenabschied radelt auf einem Bierbike an mir vor-

bei. Im richtigen Moment werfe ich einen Stock in die Speichen. Die Junggesellen fallen samt Bike um, und das Bier ergießt sich über ih-nen. Die Besoffenen vor dem Franken wachen auf und applaudieren.

Man kann auch in den 10er-Jahren noch Spaß in Kreuzberg haben.

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Thomas BauerBerliner Augenblicke

AUTORTITEL

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eschwingt biege ich, einen Rollkoffer voller Bücher hinter mir her ziehend, in die Budapester Straße ein, lasse die Kaiser-Wilhelm-Ge-dächtniskirche rechterhand zurück und gehe weiter Richtung Olof-Palme-Platz, um zum Zoologischen Garten zu gelangen. Dort werde ich etwa 80 Kindern mein Reisebuch vorstellen, in dem ich von meiner Suche nach einem der letzten frei lebenden Schneeleoparden im Himalaya erzähle.

Wieder einmal bin ich in Berlin – in jener Stadt, die jedes Mal, wenn ich sie besuche, an Reiz gewinnt. Unser erstes Aufeinander-treffen fand unter ungünstigen Umständen statt. Ich war gerade 16 geworden und mit zwei Kumpels unterwegs, die wie ich beschlossen hatten, ihre Grenzen zu testen. Bereits am ersten Abend hing ich mit einer Alkoholvergiftung über der Kloschüssel, und der Kater am nächsten Tag konterkarierte unnachgiebig meinen Annäherungsver-such an die deutsche Hauptstadt. Dem Kopfweh geschuldet blieben mir insbesondere verfallene Hausfassaden, mürrische Kioskbesitzer und entsetzlich lange U-Bahn-Fahrten im Gedächtnis. Immerhin be-schloss ich noch am selben Tag, Berlin einen weiteren Besuch abzu-statten, wenn ich wieder im Vollbesitz meiner geistigen Kräfte wäre.

Ich bekam mehr als eine Gelegenheit dazu, da meine Freundin wenige Jahre später in die Hauptstadt zog. Alle zwei Wochen fuhr ich zu ihr nach Charlottenburg. Mit jedem Besuch gewann ich Ber-lin neue positive Seiten ab. Dabei waren die Voraussetzungen hierfür alles andere als ideal: Ein Schwabe, noch dazu einer, der in Bayern eine neue Heimat gefunden hatte, wird in Berlin nicht automatisch zum Sympathieträger. Ich aber gewann bald die Schrulligkeit der Menschen im »hohen Norden« lieb, das Zackig-Preußische und die Tatsache, dass bei aller zur Schau gestellten Härte auch immer ein weicher Kern durchschien – auch wenn die meisten Berliner sich große Mühe geben, ihn zu verbergen.

Dass ich mich Berlin gemächlich annäherte, scheint mir symp-tomatisch für unsere heutige Zeit zu sein. Moderne Städte fordern einen langen Blick von uns. Sie wollen, dass wir uns mit ihnen auseinandersetzen. Das liegt daran, dass sie sich zunächst alle äh-neln. Wenn man mich mit verbundenen Augen in einer städtischen Fußgängerzone absetzte, hätte ich in den ersten Minuten Mühe, herauszufinden, wo ich bin. Berlin oder Barcelona, Hamburg oder Helsinki, München oder Mailand: In jedem Fall stoße ich rascher,

B

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als mir lieb ist, auf die immer gleichen Geschäfte. Starbucks steht neben Burger King, der wiederum mit Gucci oder Prada eine Reihe bildet. Als trügen die Straßen aller Großstädte denselben Anzug. Bei aller Einfallslosigkeit hat diese Uniformiertheit ihr Gutes: Das Gros der Touristen bleibt im Netz aus Stadtbussen, Einkaufspassagen und Fressmeilen kleben. Ihre Eigenheiten und Geheimnisse aber geben die urbanen Zentren nur demjenigen preis, der sich in ihren Neben-gassen verirrt, in ihren Hinterhöfen verliert. Erst dort, abseits der Werbeflächen, tritt der Charakter einer Stadt zutage. Er steckt in den bröckelnden Hausfassaden, den stillgelegten Busstrecken, den bemoosten Schienen und nicht zuletzt in den Geschichten der Be-wohner, und man entdeckt ihn am ehesten, wenn man auf Hilfe angewiesen ist.

Wie oft war ich in Großstädten auf Hilfe angewiesen! Das mag daran liegen, dass ich auf naive Art reise: An fremden Orten werfe ich als erstes den Stadtplan fort und vergesse die Informationen aus dem Reiseführer. Stattdessen gliedere ich mich ein in den Strom der Menschen, teile ihren Alltag und versuche auf diese Art, die Stadt zu entziffern. Worin bestehen ihre Rituale? Wer gibt den Ton an – die Jungen oder die Alten, die Lauten oder die Leisen? Wie präsentiert sie sich ihren Gästen – und wie ihren Bewohnern? Ist sie zurückhal-tend oder selbstbewusst, statisch oder dynamisch? Schleift sie ihre Vergangenheit mit wie eine Fußfessel, oder hat sie gelernt, auf ihr zu surfen wie auf einer Welle? Und dann: Welche Geräusche kenn-zeichnen sie, wie klingt der stadttypische Sound? Wonach riecht und schmeckt sie? Manchmal, sehr, sehr selten, kulminieren die Antwor-ten auf diese Fragen in einem einzigen Moment, schafft es ein Au-genblick, das Wesen einer ganzen Stadt auf den Punkt zu bringen. Diese Momente sind es, die ich suche. Sobald ich meine, einer Stadt für den Bruchteil einer Sekunde in die Augen geblickt und ihr We-sen erkannt zu haben, zwingt mich der Bazillus der Neugierde dazu, weiterzuziehen und in den nächsten Ort einzutauchen. Bei nüch-terner Betrachtung ist das natürlich ein sinnloses Unterfangen, da es auf der Illusion beruht, dass man einen Ort, der sich ständig ver-ändert, irgendwann einmal wirklich kennen könnte. Einigen Orten aber kommt man auf diese Weise zumindest für den Moment nahe.

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Ein tanzender Kobold in Buenos Aires

Ein junger Mann nähert sich mit federnden Schritten der Plaza Dorrego im Zentrum von Buenos Aires. Mitten auf dem Platz bleibt er stehen, schaut verschämt zu Boden und nimmt eine zerbeulte E-Gitarre von der Schulter. Bedächtig stellt er einen Verstärker vor seinen Füßen ab und bindet ein Mikrofon, das dem Aussehen nach aus den Anfangsjahren des Tangos stammt, notdürftig an einen sil-berfarbenen Ständer. Bis dahin ist der junge Mann für mich wenig mehr als eine Silhouette, deren Gesten ich von einem Straßencafé aus verfolge. Bis er sich die Gitarre umhängt und aufblickt. Sein Gesicht wirkt zehn Jahre älter als sein Körper. Auf seiner Stirn schmiegen sich Falten aneinander, eine Narbe zieht sich vom linken Auge hinab zu seinem Mund. Der sitzt schief in seinem Gesicht: das rechte Ende zeigt nach unten, während das linke durch die Narbe unnatürlich weit nach oben gezogen wird. Sanft, fast zärtlich, ruht sein Blick auf den Gitarrensaiten, ehe er ans Mikrofon tritt und ein weiches, hallendes »Hola« flüstert. Als er das erste Lied anstimmt, ist es, als sei der Schmerz der Welt in ihn gefahren und suche nun einen Weg nach draußen.

Tener duende, »den Kobold haben«: So heißt es im Spanischen, wenn ein Künstler seine Sache mit so viel bedingungsloser Hingabe ausführt, dass der Funke auf das Publikum überspringt. Der junge Künstler auf der Plaza Dorrego hat den Kobold. Schon nach den ersten Tönen verebbt das Gemurmel an den Cafétischen. Die drei Damen am Nebentisch vergessen, in ihren cafés con leche zu rühren. Der Kellner hält mitten in der Bewegung inne. Alle lauschen der in Moll gehaltenen Mischung aus Blues und Tango und blicken wie elektrisiert auf den Sänger, der sich kaum bewegt, nur leicht mit dem Oberkörper vor- und zurückwippt, und eine neue Welt um sich herum entstehen lässt. Eine Welt, die sich ausbreitet, jeder sieht die seltsame Stimmung auf sich zukommen, fühlt, wie sie ihn über-mannt und fortnimmt, weit weg von der Plaza, in ein Land, in dem die Einsamkeit grausam regiert und der Schmerz keine Grenzen mehr kennt. Ein Land, in dem die Worte knirschen und die Liebe ein Messer ist, eine Waffe, die zerstört statt eint. Niemand von uns will dieses Land betreten, und doch spüren wir eine unerklärliche Lust, darin umherzugehen, weil wir ahnen, dass wir seit jeher ein

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Stück von ihm in uns tragen. Bei allen Gästen auf der Plaza Dorrego wird heute eine Saite angestoßen, die lange nachhallt.

Ich ertappe mich bei dem Gedanken, wie es wäre, wenn der Nachwuchssänger sein Hemd halb öffnen, seine Narbe hervorheben und sich Tränen ins Gesicht tätowieren würde. Wenn hinter ihm leichtbekleidete Mädchen, die er niemals erreichen kann, rhyth-misch wippten. Er hat das Potenzial, eine Marke zu werden wie Coca Cola oder Madonna. Da spielt der Sänger bereits den letzten Akkord. Unsicher schauen wir uns um, bestellen, um irgendetwas zu tun, noch einen Kaffee. Der Sänger ist einer von vielen geworden. Aus den Augenwinkeln sehe ich, wie er mit zwei Kindern herumal-bert, sie auf seiner Gitarre herumzupfen lässt.

Da erst begreife ich es. Ich begreife, wie sehr er diesen Augenblick genießt und einfach nur dort stehen und Musik machen möchte, ohne an eine weltweite Verkaufsstrategie oder an morgen zu denken. Er versinnbildlicht mein Buenos Aires – all das, wofür ich hierher-gekommen bin. Eine Mischung aus Leidenschaft und Weltschmerz, die die Brasilianer Saudate nennen und der weit gereiste spanisch-französische Sänger Manu Chao malegria – ein Wortspiel aus dem spanischen alegria (Freude) und dem französischen mal (Unglück). Malegria ist nach Manu Chao »eine unerklärliche Trauer, die mit einem Lächeln bekämpft wird«. Sie setzt Temperament voraus und auch ein Quäntchen Unvernunft. Diese Lebenseinstellung zieht mich derart in ihren Bann, dass ich mir das Wort malegria auf die linke Wade habe tätowieren lassen.

Ich lege einen Schein auf den Verstärker des Musikers. Gracias, haucht er. A tí, gebe ich zurück: »Ich habe dir zu danken.« Habe ich doch dank dir einen Moment lang in die Augen von Buenos Aires geblickt. Denn natürlich hätte ich die Stadt ganz anders beschreiben können. Ich hätte sagen können, dass Buenos Aires, aus der Sicht eines Europäers, am ehesten einem Jugendzentrum gleicht: laut, chaotisch, heißblütig und voller Kultur. Dass ihre Lebendigkeit zum Zentrum hin zunimmt und dabei ganz wunderbar damit kontrastiert, dass sich die Häuser, akkurat zu Vierecken geordnet, schachbrettförmig bis zum Horizont ziehen. Für mich aber ist Buenos Aires für immer verbunden mit jenem malegria-Moment auf der Plaza Dorrego, der mir das We-sen dieser Metropole zusammenzufassen scheint. Manchmal braucht es einen traurigen Sänger, um zu erfassen, was eine Stadt ausmacht.

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Berlin – Unfertigkeit als Chance

Manchmal genügt auch die Frage einer Neunjährigen, um den Cha-rakter einer Stadt zu erkennen. Nach meinem Auftritt im Berliner Zoo kommt ein Mädchen zu mir nach vorne, und während ich ei-nes meiner Bücher signiere, lächelt sie keck und sagt: »Sie sind der glücklichste Mensch der Welt, oder?«

Das eben kann Berlin besonders gut: aufzeigen, worauf es an-kommt. Berlin besitzt Elemente aller Großstädte, in denen ich ei-nige Zeit leben durfte. Wie Paris trägt auch Berlin ein Übermaß an Geschichte mit sich herum, das es durch eine augenblicksfixierte Feierwut zu überdecken versucht, der wiederum ein Hang zur Gi-gantomanie innewohnt – die Love Parade und die Feier zum 14. Juli unter dem Eiffelturm sind Manifestationen davon. Wie in Sydney kann es auch in Berlin geschehen, dass man, wenn man zwei oder drei Stationen mit der U-Bahn gefahren ist, meint, in eine andere Stadt gelangt zu sein, weil sich rasch relativ homogene Gruppen – Kreative zum Beispiel oder Neureiche – finden, die ein Viertel, ei-nen Kiez prägen. Ein echtes Stadtzentrum sucht man hier wie dort vergebens. Wie Nairobi trägt auch Berlin zwei Gesichter: Nachdem die Arbeiter abends nach Hause gegangen sind, übernehmen die Nachtschwärmer die Straßenzüge, hauchen eben noch grauen Fa-brikanlagen Leben ein und stellen die Stimmung ganzer Viertel auf den Kopf. In Buenos Aires ist es ein trauriger Sänger. In Berlin die Frage eines neunjährigen Mädchens, die das Wesen einer Metropole auf den Punkt bringt.

»Sie sind der glücklichste Mensch der Welt, oder?« Die Frage hallt in mir nach, auch jetzt noch, da ich im Schleusenkrug sitze. Die kioskähnliche Kneipe der Familie Fistler am Landwehrkanal spiegelt vieles wider, was Berlin ausmacht. Sie ist geschichtsträch-tig: In den Sechzigern regelten hier DDR-Verwaltungsbeamte im Kellergeschoss den Schiffsverkehr, während ein Stockwerk höher West-Berliner ihr Bier genossen. Wie weite Teile der Innenstadt wird auch der Schleusenkrug derzeit von Touristen entdeckt. Doch auch das wird vermutlich nur eine Phase bleiben. Natürlich ist die Gentrifizierung des Stadtzentrums, die Abwanderung ärmerer und der Zuzug reicherer Bevölkerungsschichten, problematisch – für die Einwohner ebenso wie für den Ruf der Stadt. Berlin aber ist weitaus

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größer als der Korridor Charlottenburg-Mitte-Friedrichshain-Lich-tenberg, auf den viele Medien so gerne ihren Fokus richten. »Ber-lin ist keine Stadt, Berlin ist ein Heimatland«, singt die angesagte Multikulti-Combo RotFront. Und auch wenn die Band vermutlich selbst nicht genau weiß, welcher Stilrichtung ihre Musik – raubei-niger, mehrsprachiger Gesang über einer tanzbaren Mischung aus Rock, Ska und Klezmer – am ehesten entspricht oder aus wie vielen Mitgliedern sie eigentlich besteht, hat sie natürlich Recht, wenn sie auf diese Weise der Größe und Unverwechselbarkeit Berlins huldigt.

Man kann sich schwerlich einen anderen Ort in Deutschland vorstellen, an dem eine derartige Band solchen Zulauf hätte. Und nirgendwo sonst bin ich bisher gefragt worden, ob ich der glücklichs-te Mensch der Welt sei. Berlin packt einen beim Schopf und stößt einen mit der Nase ins pralle Leben, ob man will oder nicht. Das kann anstrengend sein. Andere Metropolen machen es Bewohnern und Gästen leichter, sie zu mögen. München, zum Beispiel, steht da in seiner Pracht, unverrückbar, stolz und geldbewährt. Da ist etwas abgeschlossen; da wartet etwas darauf, bewundert und genutzt zu werden. Berlin hingegen windet sich im Hier und Jetzt. Angesichts aller geschichtlichen Umbrüche und gesellschaftlichen Wechselspiele ist die einzige Konstante der Metropole ihre Unfertigkeit. Der noch immer fehlende Großflughafen ist hierfür nur ein Beispiel. Eben da-durch aber spiegelt die Hauptstadt unser eigenes Leben gut wider. Schlendert man durch München, schwingt die Annahme mit, dass das Leben eine breite Allee sei: geordnet, durchaus hübsch anzusehen und ein klein wenig langweilig. In Berlin scheint das Leben dem-gegenüber ein ecken- und kantenreiches Geflecht aus Gassen und Irrwegen zu sein. Hier kann man sich eher ausprobieren als anderswo und sich, wenn man falsch abgebogen ist, berappeln und in eine an-dere Richtung weitergehen. Die Alternativen liegen offener zutage. Was könnte es für einen Reisebuchautor Besseres geben?

Das eben wäre die Antwort auf die Frage des Mädchens gewesen. Vorhin, nach dem Auftritt, war ich nicht schlagfertig genug, dabei hat Heinrich Böll seinen Lebenskünstler Hans Schnier in den »An-sichten eines Clowns« sie bereits sagen lassen: »Ich bin ein Clown und sammle Augenblicke.« In den Momenten, in denen ich mich der Illusion hingeben kann, einem Ort, einer Stadt in die Augen zu blicken, bin ich tatsächlich glücklich.

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Wozu sammelt man Augenblicke? Vermutlich um das eigene Leben als das zu erkennen, was es wirklich ist: ein Geheimnis, ein Rätsel, das erkundet werden will. Ein Sinnbild dafür ist Berlin.

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Dieter MeierRonald R. Klein

Der Yello-Sänger im Jahre 2014 über die Vorzüge klei-ner Labels, seine liebevolle Sicht auf Berlin und über den lebenslangen Prozess der geistigen Anarchie.

IM GESPRÄCHMIT

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Ronald R. Klein: Bevor wir auf deine Platte zu sprechen kommen, wür-de ich gerne einen Sprung zurück zum Ende der 60er-Jahre machen. Hier startetest du mit Theater und Performancekunst und hast dich als Individualanarchisten bezeichnet. Dieter Meier: Fast. Ich würde gern ein Anarchist sein, nicht im Sinne von Bomben werfen und Häuser anzünden, sondern eher im Geiste einer permanenten Revolution, der Auflösung der beste-henden Systeme, auch der eigenen. Das ist ein lebenslanger Prozess, dieses Finden einer Form und deren Auflösung, um etwas Neues entstehen zu lassen.

Du kommst also vom Theater, von der Performance?Nicht wirklich vom Theater. Ich habe zwar an einem Theaterstück mitgearbeitet, dem »Dunkelkammerstück«, das spielte im Dunkeln, nur mit Geräuschen und Stimmen und Schauspielern, die sich auf dem Laufsteg durch das Publikum bewegt haben. Aber ich wür-de mich deshalb nicht als seriösen Theatermacher bezeichnen, das war eine einmalige Sache. In den späten 60ern hab ich mit sehr didaktischem Straßentheater angefangen, mit erhobenem Zeigefin-ger. Wir wollten, zum Beispiel, das Schauspielhaus räumen, um es vor Brecht’scher kommunistischer Indoktrination zu schützen. Und ich wollte auf Konsumterror aufmerksam machen und hab mit den Hell’s Angels Warenhauseingänge blockiert und in Endlosschleife Krippenspiel gespielt.

Erst spät habe ich Dinge begonnen, die viel mehr mit mir selbst zu tun hatten. Die erste Sache war, dass ich auf einem öffentlichen Platz 100.000 Metallstücke abgezählt habe, in Tüten zu 1.000. Täg-lich, eine Woche lang. Das war natürlich das absolute Nichts, die absolute Leere. Das war dumm, und jeder kann es machen. Aber es hatte die Schönheit, dass es nur auf der Welt war, weil ich es wollte, es war sozusagen der von allem Utilitarismus gelöste Willen, etwas zu erreichen, weil ich es wollte.

Wir sind auf diesen Planeten geworfen, kleine miniaturkosmi-sche Zufälle, eigentlich so wunderbar sinnlos, und wir halten diese Sinnlosigkeit – die wunderbare – gar nicht aus. Diese ganze falsche Sinnstiftung durch Staaten und Religionen bringt uns ja eigentlich nur davon weg. Sowohl die Krücke Religion als auch die Krücke des kapitalistischen Systems, deren einziges Dogma die Rentabilität

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des Kapitals ist. Dieses System kennt keine Moral und keine Ethik, obwohl es mit zunehmender Globalisierung hier und da so tut. Wie die Neandertaler der ersten Natur des Menschengeschaffenen, so be-gegnen wir immer mehr unserer zweiten, sind diesem völlig verrück-ten System, das ja eigentlich keines ist, ausgeliefert.

Und führte die Reflektion derart grundlegender Fragen zur Entschei-dung, dein Soloalbum auf einem kleinen Label, wie Staatsakt, und nicht auf einem großen Major erscheinen zu lassen?Ich denke, das Album ist da einfach besser aufgehoben. Wenn du etwas Artistisches machst, kannst du dich entweder total zurück-ziehen und sagen, ich will das gar nicht verkaufen. Aber wenn du einen Film oder auch Musik machst, willst du als eitler Exhibitionist trotzdem sehen, dass deine Kunst ein Publikum findet. Es ist eine große Herausforderung, das Fähnchen deiner künstlerischen Identi-tät angesichts des kapitalistischen Verwertungsprozesses aufrecht zu erhalten. Wenn einer einen Film für ein paar Millionen macht, dann soll er nicht so tun, als ob nichts wäre – das hat mit Geld zu tun. In der Malerei musst du zwei, drei Leute finden, die dein Bild mögen, als Schriftsteller brauchst du 30.000 Leute, die deinen Roman lesen, damit du einigermaßen die Wasserzinsen in deiner Wohnung bezah-len kannst. Und bei der Musik ist es ähnlich, und beim Film ist es nochmal anders, das empfinde ich als Herausforderung.

Man kann im Studio 10.000 Euro verbrennen, sich ein Jahr lang ein-schließen, oder man sieht zu, dass man die Parameter anders gestaltet …Klar, aber die Miete musst du trotzdem bezahlen. Und wenn du le-ben willst von deiner Musik, dann musst du ein paar Download-CDs verkaufen oder ein paar hundert Leute in deine Konzerte bringen.

Im Studio hast du dir nicht so viel Zeit gelassen, aber interessant ist es schon, dass du mit einem Soloalbum so lange gewartet hast.Weil bei mir alles lange dauert. Einerseits hab ich mir das nicht zu-getraut, und zum anderen kommen die Dinge eigentlich immer auf mich zu. Ich bin niemand, der final, ehrgeizig und verkrampft etwas verfolgt, sondern begegne einer Idee in einem chaotischen Zustand. Und wenn mich das dann irgendwie berührt, mache ich etwas da-mit. Der eigentliche Grund aber war die letzte Yello-CD, für die

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wir einen virtuellen Konzertfilm gemacht haben. Alles war ein Fake, nicht ohne Selbstironie: digital gesetzte Bühnen, über Green-Screen eingerechnet in größenwahnsinnige Szenen. Ich sollte mit diesem Film dann auf Tournee gehen in Deutschland, ein bisschen über Yello reden. Und das Ganze für 30 Euro Eintritt? Das war zu wenig für soviel Geld, also machte ich mit ein paar Musikern drei Lieder, die ich live gesungen habe. Das hat gut funktioniert, und man hat mich angefragt, ob ich das nicht konzertant machen könne, ein paar Lieder schreiben und eine Band zusammenstellen. Ich habe zuge-sagt, weil ich das als endloser Zweifler und Zauderer sonst nie in meinem Leben gemacht hätte. Nachdem ich dann in Argentinien einen Anruf bekam, dass es mit dem Projekt schon Engagements gäbe, zum Beispiel in der Volksbühne, ich aber noch keine Band hatte, erzeugte das einen sehr heilsamen Druck, ich konnte nicht mehr ausweichen. Ich habe wochenlang auf meiner kleinen Gitarre rumgeklimpert und chaotische englische Texte vor mich hergesagt. Plötzlich sind mir zwei Zeilen zugefallen, die haben dann zu einem Song geführt, zu einem zweiten, zu einem dritten, und innerhalb von vier, fünf Tagen waren zehn Songs da. Aber ich hätte das niemals gemacht, wenn es nicht diesen Zufall gegeben hätte, dass ich mit dem Film in Deutschland unterwegs war und fand, man müsse den Leuten mehr bieten.

Das heißt, das war ein anderer Arbeitsprozess als bei einer Yello-Platte?Absolut, bei Yello bin ich ja erst mit der Musik konfrontiert, wenn Boris mir seine Stücke als fertige Klangbilder zeigt. Im Kopf entste-hen dann Stimmungen und Szenen, ich erfinde eine Figur, die ich wie ein Schauspieler bediene. Ich habe dann nicht eine Identität als der Sänger Dieter Meier, sondern es sind verschiedenste Figuren, die ich darstelle.

Produziert wurde in Berlin.Von T.Raumschmiere und Nackt. Die haben ein wunderbares, sehr menschliches, sehr grungiges Studio, die Songs wurden mehr oder weniger live gespielt. Das war eine wunderbare Zusammenarbeit. Ich hab ihnen die Liveaufnahmen mit der ersten Band aus Mont-reux vorgespielt, fand dann aber dieses Soundkonzept eigentlich zu wenig klar und ausgearbeitet für eine CD. Die haben dann einfach

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zwei Stücke produziert, und es war mir zwar fremd, aber gerade das habe ich geliebt, dass es so anders war. Anders als Yello sowieso, aber eben auch anders als die Liveauftritte. Ich habe unglaubliche Freude bekommen an ihrer Interpretation der Songs, auch die Singerei war sehr schön, weil das wie live wirkte auf der Bühne in diesem Studio. Die meisten Stücke habe ich in einem Zug durchgesungen, anders als bei Yello. Das ist ein völlig anderer Arbeitsprozess, der auch viel technischer ist.

Das heißt, dass diese ganzen Ecken und Kanten, die das Album zum Glück hat, gewollt und zugelassen, aber nicht forciert sind?Zugelassen trifft es gut. Wir haben uns nicht überlegt, dass das Album grungig tönen soll, sondern es hat diesen warmen Livecharakter – auch dank meiner Stimme – und das bekommt dem Album sehr gut.

Wie habt ihr zueinander gefunden? Ich hätte dich nicht automatisch mit diesem Berliner Kollektiv in Verbindung gebracht.Das war das Label Staatsakt, das mir diese Leute nahegelegt hat. Das war jetzt nicht Liebe auf den ersten Blick, dann hab ich aber in Zü-rich eine Aufführung von Apparat gehört, und das hat mir sehr gut gefallen. Dann hab ich eben OK gesagt, macht zwei Songs, und mal schauen, ob das irgendwie funktioniert. Und das hat es! Und hat dieses Album, welches erst einmal auf Tour vorgestellt wurde, auch einen Schaffensprozess getriggert, der in Zukunft fortgesetzt wird?Sicher, ich hab mittlerweile unglaublichen Spaß daran und habe auch diesen eigenartigen Prozess des Songwritings ein bisschen mehr im Griff. Ich weiß, wie ich mich positionieren muss und wie lange es dauert, bis irgendetwas entsteht. Zudem passt es gut, dass Boris Blank ja vier Jahre an seinen 70 Klangbildern arbeitet, bis ich dann wieder im Studio bin. Und da ich gerne singe, habe ich jetzt eine Möglichkeit gefunden, das zu machen, einerseits meine CDs und dann die Liveauftritte. Die Dialoge mit dem Publikum, die Impro-visation auf der Bühne, das ist etwas, was ich unglaublich schätze. Beim Film und in der konstruierten Musik, da bist du im Studio und nimmst hundert Tracks auf und setzt das irgendwie zusammen. Das hat nix von dieser Spontaneität, wenn du mit deinem Publikum zusammen bist.

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Gab es im Vorfeld zum Album auch einen Kontakt mit Boris Blank à la: »Hör mal, ich brauche einen Rat bezüglich des Songwritings oder des Produktionsprozesses?«Nö, überhaupt nicht. Ich hatte die Songs gemacht und hab die Band zusammengestellt – alles sehr gute Jazzmusiker –, und die haben dann eine Woche lang geübt in einem Konzertsaal in Zürich, den wir tagsüber benutzen konnten. Und dann waren wir live auf der Bühne, und Boris hat es zum ersten Mal gehört.

Welche Musik läuft eigentlich bei dir zu Hause?Ich lege fast nie Platten auf, ich höre nur Radio. Das Radio ist ein wunderbares Medium, weil es dich überrascht. Ich hasse es, eine Auswahl zu treffen. Ich gehe auch am liebsten ins Theater, wenn ich gar nicht weiß, was gespielt wird. Ich gehe oft um fünf vor acht an die Kasse und kaufe zwei Karten für mich und meine Frau Gemah-lin, und wir lassen uns bespielen wie einst die Aristokratie. Zudem bin ich ein Ruderknecht, jeden Morgen bin ich 40 bis 50 Minuten an meiner Rudermaschine. Und damit ich mich da nicht allzu sehr langweile und diese Monotonie überwinde, höre ich immer Klas-sikradio und lerne so ganz viel kennen. Vor allem Komponisten, die jetzt nicht zur obersten Klasse gehören, bei mittelmäßiger und schlechter Musik lernt man so viel wie auch von schlechten Filmen Es ist jetzt zirka zehn Jahre her, dass ich im Radio diesen Carl Fried-rich Emanuel Bach entdeckt habe, der zu Lebzeiten viel berühmter war als sein Vater. Aber nachher hat der alte Bach den Carl Friedrich Emanuel sozusagen überdeckt. Den entdeckt man jetzt neu, weil auch die absoluten Titanen der Klassik sich auf ihn berufen. Haydn wollte ihn immer treffen, er ging sogar so weit zu sagen, dass es ohne Karl Friedrich Emanuel ihn selbst in dieser Weise überhaupt nicht gegeben hätte. Um den Bogen zurück zur Anarchie zu spannen: Man hört förmlich, wie er sich aus seiner barocken Zwangsjacke befreit und eine neue Form findet, er ist eigentlich der Anarchist der deutschen Klassik.

Der ja sehr lange hier in Berlin als Domcantor wirkte. Du kennst Ost-berlin noch, hast wahrscheinlich auch den Wandel der Stadt verfolgt. Wie wirkt das von außen?

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Man könnte das vielleicht mit einer Organtransplantation verglei-chen. Der Gesamtkörper Berlin musste die beiden Organe, die so unterschiedlich geprägt waren, irgendwie im gleichen Immunsys-tem zusammenwachsen lassen. Man sieht heute noch die Spuren des realexistierenden Sozialismus von den Parteibonzen. Plattenbauten, menschenverachtende Ziegenställe, die da dem Proletariat gebaut wurden. Es gibt wahrscheinlich keine andere Stadt auf der Welt, wo du einen Penner neben Matthias Döpfner in einer Bar stehen siehst – und für beide ist es ganz normal. In Berlin ist jeder immer am richtigen Ort. Natürlich sind das Artistische, das Grungige, das Nicht-Perfekte, das Verschmierte, das Verrückte vorhanden. Das fin-de ich alles absolut großartig, und die Symbiose unterschiedlicher Kulturen und Lebensstile funktioniert. Die Stadt ist zwar immer pleite, aber das spielt keine so große Rolle, das kann sich die Bun-desrepublik leisten. Und sie ist für mich die offenste, erfreulichste und zukunftsorientierteste Stadt der Welt, weil sie irgendwie eine menschliche Stadt ist.

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reiffer www.verlag-reiffer.de

SANDOW30 Jahre zwischen Harmonie und Zerstörung

Die offizielle Biografie von Ronald R. Klein

Die Band SANDOW wurde von Kai-Uwe Kohlschmidt und Chris Hinze im Alter von 13 Jah-ren im gleichnamigen Cottbusser Neubaugebiet aus der Taufe gehoben. Noch zu DDR-Zeiten entstanden mit »Schweigen und Parolen«, »Harmonie und Zerstörung« und »Born in the G.D.R.« Underground-Hits, die durch subversive Texte und kompakte Post-Punk-Arrangements den Nerv der unangepassten Jugend trafen. Nach dem Mauerfall galten SANDOW kurze Zeit als heißester Act und tourten mit Rio Reiser und den Toten Hosen. Statt griffiger Songs liefern SANDOW bis heute komplexe Kompositionen und poeti-sche Texte, die sich dem aktuellen Zeitgeschehen verweigern. Die erste und offizielle Bandbiografie zeigt zudem, dass die Bedeutung der Band weit über ihr musikalisches Schaffen hinausgeht.Die optional beiliegende CD »Im Feuer« wurde für den Deutschen Hörbuchpreis 2013 (Kategorie Bestes Hörspiel) nominiert.

»Gut bebildert, intim, laut und stark geschrieben.« hermann

2014, 180 Seiten, 14,5 x 20,5 cm, Klappenbroschur, zahlreiche AbbildungenISBN 978-3-934896-98-7 (ohne CD), 16,90 EURISBN 978-3-934896-99-4 (mit CD Im Feuer von SANDOW feat. A. Scheer), 23,90 EUREine Produktion in Zusammenarbeit mit dem Major Label

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Dienstag, 30. September 2014 21:05:05