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›7‹ Inhalt Vorbemerkung des Autors 9 Borges’ Hände, Spenders Mähne 11 Tondelli und andere Freiheiten 24 Ciao, Rushdie 39 Erinnerungen an Brusati 49 Auf der Bühne mit Ionesco und Robbe-Grillet 57 Der Schmerz des Lévinas 63 Bei L’Espresso 68 Moravia 78 Kurze Begegnung mit Bassani 99 Die Anti-Diva Giulio Einaudi 103 Manganelli in der Via Chinotto Nr. 8 131 Brodskys Profil 139 Das Beispiel der Doris Lessing 153 Das Gute im Herzen: Natalia Ginzburg 163 Der Goncourt für Ben Jelloun 178 In Marokko 185 In Tanger mit Choukri 195 Das Geheimnis des Paul Bowles 214 Fellinis Stimmchen 228 Die Entdeckung Jehoschuas 232 Mit Amos Oz und David Grossman 241 Heiner Müller liebte Schwarz 248 Stefan Heym, der Dinosaurier 257 Schriftsteller hinter der Mauer 262 Ein Foto mit Matt Dillon 277

Sapziergang mit Ferlinghetti - Buch.de filesalgeschichte der Niedertracht, Evaristo Carriego. Ich hatte den großen südamerikanischen Schriftsteller (der so überaus british war)

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Inhalt

Vorbemerkung des Autors 9Borges’ Hände, Spenders Mähne 11Tondelli und andere Freiheiten 24

Ciao, Rushdie 39Erinnerungen an Brusati 49

Auf der Bühne mit Ionesco und Robbe-Grillet 57

Der Schmerz des Lévinas 63Bei L’Espresso 68

Moravia 78Kurze Begegnung mit Bassani 99

Die Anti-Diva Giulio Einaudi 103Manganelli in der Via Chinotto Nr. 8 131

Brodskys Profil 139Das Beispiel der Doris Lessing 153

Das Gute im Herzen: Natalia Ginzburg 163Der Goncourt für Ben Jelloun 178

In Marokko 185In Tanger mit Choukri 195

Das Geheimnis des Paul Bowles 214Fellinis Stimmchen 228

Die Entdeckung Jehoschuas 232Mit Amos Oz und David Grossman 241

Heiner Müller liebte Schwarz 248Stefan Heym, der Dinosaurier 257Schriftsteller hinter der Mauer 262

Ein Foto mit Matt Dillon 277

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Spaziergang mit Ferlinghetti 283Lou Reed im Aufzug 293

Mr. Auster 300Der junge alte Wagenbach 305

Die unsympathische Agota Kristof 311Die flüchtige Anita Desai 321

London 2000 327Dank 348

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Vorbemerkung des Autors

Ich wünsche mir, dass dieses Buch wie ein Roman gelesen wird, auch wenn die Protagonisten, die es bevölkern, Schrift-steller, Intellektuelle oder Künstler aus Fleisch und Blut sind, einige noch lebend, andere verstorben. Es sind allesamt Menschen, die mir im Laufe zweier Jahrzehnte, vom Beginn der achtziger Jahre bis zur Jahrtausendwende, meist ohne es zu wissen, etwas geschenkt haben. Dieses Geschenk war, wie ich heute weiß, eine kulturelle Welt, eine Zivilisation, die ge-rade dabei war, unterzugehen und dem zu weichen, was wir in Ermangelung eines besseren Begriffs für gewöhnlich »die Gegenwart« nennen.

Anfangs war ich kaum mehr als ein Junge, der seinem Alter entsprechend nichts von den bevorstehenden Veränderungen ahnte: Junge Leute wissen nicht, was Zeit ist, und glauben, alles habe auf ewig Bestand. Indessen vergingen nur wenige Jahre und jene kulturelle Welt, die ich gerade noch als die meine kennen gelernt hatte – eine nicht nur von italienischen Menschen, Büchern, Verlagen, Zeitungen und Gemeinschafts-projekten geprägte Kultur –, sollte fast mit einem Schlag ver-schwinden, sei es aus Altersschwäche oder weil, wie Bob Dylan sang, the times they are a-changin’.

In letzter Zeit kam es mir häufiger vor, als sei ich Teil einer Gruppe von Außenseitern (ich werde hier nicht das Wort »Generation« benutzen), die, da sie weder ganz zur alten Welt noch ganz zur neuen Welt gehören, um etwas betrogen wurden: So als seien wir aufgrund eines unglücklichen Zu-

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vorbemerkung des autors

falls der Geschichte das fehlende Glied zwischen der frühe-ren Spezies und ihrer Nachfolgerin, von der man aber noch nicht weiß, ob sie ein Fort- oder Rückschritt der Evolution ist.

Irgendwann hatte ich das Gefühl, ich solle all jenen Men-schen, die ich in den letzten zwanzig Jahren des vergangenen Jahrhunderts kennen lernen durfte – was ein enormes Privi-leg war – und von denen ich manche geliebt habe, etwas von dem, was sie mir zu ihrer Zeit großzügig gaben, zurück-erstatten, indem ich sie den heutigen Lesern nahezubringen versuche und damit ein für alle Mal akzeptiere, nicht mehr als ein Bindeglied in besagter Entwicklungskette zu sein.

Aber wie in jedem Roman werden auch in diesem die Pro-tagonisten, obwohl ich sie nicht erfunden habe, in ganz und gar subjektiver Weise geschildert, sei es aus purer Lust am Erzählen oder einfach – was letztlich dasselbe ist –, um in Er-innerungen zu schwelgen.

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Borges’ Hände, Spenders Mähne

Im März 1981 kam Jorge Luis Borges nach Rom, um den Bal-zan-Preis entgegenzunehmen. Er war damals zweiundacht-zig und auf dem Höhepunkt seines Ruhms. Ich musste noch mein Hochschulstudium in Philosophie abschließen, ging aber bereits kleinen Gelegenheitsarbeiten nach, vor allem kultivierte ich die Liebe zur Literatur. Ich verehrte Borges, von dem ich fast alles gelesen hatte. Ich besaß seine Bücher in der Taschenbuchausgabe und schleppte sie überall mit hin: gelesen und wieder gelesen, ausgeliehen und manchmal wer weiß wohin verschwunden, Bücher voller Flecken und zer-knitterter, abgenutzter Seiten. Fiktionen, Das Aleph, Univer-salgeschichte der Niedertracht, Evaristo Carriego. Ich hatte den großen südamerikanischen Schriftsteller (der so überaus british war) durch Italo Calvino entdeckt, der keinen Hehl daraus machte, dass er von Borges’ kombinatorischer Ein-gebung fasziniert war. Ich erinnere mich, dass der Name des berühmten Argentiniers – wie es in Italien selten vorkam – nahezu in den allgemeinen Sprachgebrauch einging (so wie es mit Kafka oder Fellini geschah).

Zu dieser Zeit kam mir alles ziemlich borgesianisch vor. Die Welt, die Gefühle, das Leben selbst. Alles war oder konnte die Spiegelung von etwas anderem sein, seine Ver-doppelung. Die Träume waren die einzige Realität, der man sich sicher sein konnte. Ich schrieb nicht wenige kleine Ge-schichten nach seinem Vorbild, die ich später wegwarf: Texte, in denen sich die Perspektive des Erzählers kontinuierlich

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veränderte und verschob und die der bekannten borgesia-nischen Idee vom Menschen verpflichtet waren, der aus einem schrecklichen Alptraum erwacht und in diesem Au-genblick begreift, dass seine Existenz nur der Traum eines Anderen ist. Obwohl Borges bereits alt und in ziemlich schlechter Verfassung war, wirkte sein Beispiel mit einer Kraft und einem Überschwang, die ich jugendlich nennen würde. Ich könnte schwören: In jenen frühen achtziger Jahren waren seine italienischen Leser in der Mehrzahl ge-wiss junge Leute wie ich.

Später, als ich mit Alberto Moravia genau darüber sprach, meinte er, seines Erachtens habe Borges den postmodernen Geschmack, der kurz darauf in der westlichen Kultur um sich griff, meisterhaft vorweggenommen. Er bezeichnete den argentinischen Schriftsteller als »einen Antiquar, einen Mann, der in seinem literarischen Keller eine enorme Menge an Trödel angehäuft hat, aus dem er sich für seine eigenen Geschichten bedient«. Es war diese Haltung des Requi si-teurs, die laut Moravia die jungen, ein wenig naiven Leser anzog: die Idee, dass die Geschichte nichts anderes sei als eine Wunderkammer, der man nach Lust und Laune fabel-hafte, künstliche, zweideutige und unterhaltsame Gegen-stände jeder Art entnehmen könne.

Ich weiß nicht, ob Moravia mit seiner Deutung gänzlich richtiglag. Sicher ist, dass mein Interesse an Borges in jenen Jahren so stark war, dass es an Fanatismus grenzte. Als ich er-fuhr, er werde in Rom den Balzan-Preis entgegennehmen, war ich entschlossen, alles zu tun, um ihn zu sehen und zu hören. Mit Mühe ergatterte ich eine Einladung zu seinem Vortrag in einem alten Gebäude im Stadtzentrum. Borges wurde eskortiert und beschützt von einem Kordon an Be-gleitern, die jeden Kontakt unmöglich machten. Ich kann

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nicht mehr sagen, wovon sein Vortrag handelte: Ich erinnere mich eigentlich an überhaupt nichts mehr außer an die Tat-sache, dass viele Menschen zugegen waren und ich eher auf seine Gesten achtete, auf seinen Körper, auf die Kleidung, die er trug, als auf das, was er sagte. Er war ein Mann von kleiner Statur, mit einem Gesicht, das unaufhörlich in die Höhe ge-richtet war, als suche er in einem Punkt oberhalb seines Kopfes die Worte, die ihm helfen würden, auf die Fragen der anderen zu antworten. Er war grau gekleidet. Grau war der dominierende Ton seiner Person. Er hatte das gute Beneh-men eines Diplomaten im Ruhestand.

Mir kam es so vor, als sei er im Grunde kein Individuum im klassischen, gewöhnlichen Sinn, sondern gehöre vielmehr zu einer Gattung von Vermittlern zwischen der sinnlichen Welt und einem seltsamen, unkörperlichen Jenseits, zwi-schen Licht und Schatten: Nicht zufällig war er blind, wie Homer. Die Blindheit, fantasierte ich für mich, ist das Zei-chen, das Stigma seiner Herkunft aus einer anderen Dimen-sion, einer geheimnisvollen zweiten Dimension, vor der ich sogar Furcht empfand. Borges redete, als zöge er die Worte aus einem mysteriösen, im überfüllten Saal schwebenden Korb, aus etwas, das niemand sonst sehen und berühren konnte. Er lächelte oft: ein würdevolles Lächeln aus anderen Zeiten. In der Menge, die ihn umgab, hätte er sich mit einem Lidschlag auflösen können. Seine Stimme hatte etwas Flüs-siges an sich. In ihm die Substanz des Ektoplasmas.

Übrigens erzählte mir Chichita Calvino Jahre später von Borges’ leicht esoterischem Wesen. Sie sei einmal auf einer Party an ihn herangetreten, um ihn zu begrüßen, während ihr Ehemann Italo schweigend ein paar Schritte hinter ihr ge-standen habe. Da auch Chichita Argentinierin war, hatten die beiden kurz auf Spanisch miteinander geplaudert, bis sie ge-

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sagt hatte: »Jorge, hier ist auch Italo.« Darauf habe er erwi-dert: »Ich weiß, ich habe es an seinem Schweigen erkannt.«

An jenem Tag kehrte ich mit dem Gedanken heim, dem Vortrag des großen Schriftstellers beizuwohnen sei so etwas wie die Teilnahme an einer spiritistischen Sitzung gewesen. Ich kam mir unruhig und freudlos vor, beinahe so, als hätte ich etwas verloren. Seltsames Gefühl für einen jungen Mann, der seinen literarischen Mythos von nahem gesehen hatte. Statt mich durch diese Begegnung bereichert zu fühlen, hatte ich die gegenteilige Empfindung. Wenn man jung ist, geschieht es sehr selten, dafür aber mit unerklärlicher Heftigkeit, dass das soeben Erlebte mit einem Gefühl von Verarmung erwidert wird, von Leere, nicht Fülle. So scheint man für einen Augen-blick dem Herzen der Dinge näher zu rücken oder dem Wesen der Zeit und macht die Entdeckung, dass man, während die Welt sich enthüllt und die Jahre vergehen, immer weniger be-sitzt und keinen Sinn zu finden vermag.

In den folgenden Monaten vertiefte ich die borgesia nischen Lektüren, dehnte meine Interessen auch auf die Poesie und jene seiner trügerischen, die Gattungen vermischenden Bas-tardwerke aus, die er zusammen mit anderen Autoren verfasst hatte: Geschichte der Nacht, den Gedichtband Poemas 1923–1958, Die Ziffer. Und dann die Kurzen und außerordent lichen Erzählungen, das Buch von Himmel und Hölle, das Hand-buch der phantastischen Zoologie.

Nachdem ich Borges gelesen hatte, las ich Adolfo Bioy Casares und Silvina Ocampo und entdeckte eine Welt voller Verweise zwischen den Texten. Das Universum war folglich nichts anderes als eine Bibliothek, zusammengesetzt aus einer unabsehbaren Anzahl von Büchern, die miteinander kommu-nizierten. Jedes von ihnen blieb vollkommen unwirklich, so-lange der Leser nicht begann, es aufzublättern und so selbst

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zum Autor zu werden, gleichzeitig Schöpfer und Opfer des eigenen Schicksals. Eine solche Auffassung des Lebens hatte etwas Erregendes, ja Ursprüngliches an sich. Ich war völlig hingerissen.

Ein paar Jahre später ergab sich die große Gelegenheit. Das Italienisch-Lateinamerikanische Institut in Rom eröffnete eine Ausstellung mit dem Titel »Borges in Bildern«, und der Schriftsteller sollte an der Eröffnung teilnehmen.

Oktober 1984. Mondadori veröffentlichte just zu diesem Zeitpunkt den ersten Band der Reihe Meridiane mit Borges’ Gesammelten Werken. Ich hatte erst vor kurzem meine journalistische Karriere begonnen und arbeitete bei der Wochenzeitschrift Panorama, deren damaliger Direktor Carlo Rognoni war und die ebenfalls beim Verlag Mon-dadori erschien. Fabrizio Carbone, der in der römischen Redaktion teils mein Schutzengel, teils mein Lehrmeister war, schenkte mir in jenen Tagen den besagten Band der Meridiane.

Dieses Mal als Journalist, verschaffte ich mir ohne Schwie-rigkeit die Einladung zum opening der Ausstellung. Der Eröffnung sollte sich ein Umtrunk für ein handverlesenes Publikum anschließen, auch zu diesem wurde ich einge-laden. Ich war angespannt und aufgeregt wie ein Schüler.

Die erste Frage lautete: Was anziehen? Nicht, dass es Bor-ges wichtig gewesen wäre, ich glaube auch nicht, dass ihn junge Männer interessierten, zudem sah er uns ja nicht. Ich hatte allerdings irgendwo gelesen, dass er einige Farben in der Form von Schatten, Flecken, Nuancen wahrnehmen konnte. So versuchte ich, mich nicht auf den Kleidungstyp zu kon-zentrieren, sondern auf die Kombination der Farbtöne bei Hemd und Krawatte. Ich hatte den Ehrgeiz, wiedererkenn-bar zu sein, als ob die Entscheidung für die Farbtönung die-

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ses oder jenes Kleidungsstücks ein Signal aussenden könne, eine Schwingung, dazu imstande, mich in der ungenauen Masse von Figuren, die sich in seinem Gehirn zusammen-drängten, unterscheidbar zu machen.

Ohne es zu bemerken, wählte ich den Weg der schlichten, direkten Mimikry. Wenige Jahre zuvor hatte ich an der Klei-dung des Schriftstellers eine bestimmte Neigung zum hellen Grau ausgemacht, und so trug ich jetzt einen Anzug in der-selben Farbe, entschied mich für ein perlgraues, statt für ein weißes Hemd und für eine gestreifte Krawatte in derselben Farbabstufung. In gewisser Weise kleidete ich mich à la Bor-ges. Übrigens bin auch ich von grazilem Körperbau.

Wenn ich nicht irre, war die Ausstellung nicht besonders: Fotos, Erstausgaben, verschiedene Dokumente, der Typ von Ausstellung, die ein Publikum bibliophiler Literaturliebha-ber interessieren dürfte, auf mich hingegen keinen Eindruck macht. Auf borgesianische Art bin ich nämlich davon über-zeugt, dass die wahren Bücher eines bestimmten Autors nicht aus wertvollen Ausgaben oder Manuskripten bestehen, sondern aus denen, die in meinem Besitz sind. Die anderen betrachte ich als Kopien. Nicht umgekehrt. Deshalb interes-sieren mich Darbietungen dieser Art überhaupt nicht. Hinzu kommt meine totale Unfähigkeit, fremde Handschriften zu entziffern, und so mag man verstehen, wie unwichtig mir die Ausstellung war, der ich mich nun zuwandte.

Jedenfalls trieb ich mich eine Weile mit dem Ausdruck des nachdenklichen Kenners zwischen Vitrinen und Beschrei-bungstexten herum. Es waren allerhand Leute da. Allerdings nicht so viele wie bei der Verleihung des Balzan-Preises. An der Seite von Borges stand María Kodama, die seine Frau werden sollte (oder es seit kurzem war). Er wirkte müde, so-gar verwirrt, war hellgrau gekleidet wie das vorige Mal und

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erweckte erneut den Anschein eines alten Botschafters oder Konsuls, der angemessenes, wohlanständiges Verhalten an den Tag legt. Doch war noch etwas anderes an ihm festzu-stellen: eine Unbestimmtheit, ein gewisses Desinteresse. Es kam mir so vor, als lächelte er weniger. Beinahe sofort wurde er in den kleinen, der Ausstellung benachbarten Saal geleitet, wo die geladenen Gäste ein Glas Wein und einen Imbiss zu sich nehmen konnten und die Möglichkeit hatten, mit dem großen Schriftsteller zu plaudern.

Ich war unter den Ersten, die ihm folgten. Man sorgte da-für, dass Borges in einer Ecke Platz nahm, auf einem Sessel mit grünem Samt und hoher Rückenlehne. Niemand wagte es, sich auf den Zwillingssessel zu setzen, den man neben den seinen gerückt hatte. Ich nahm meinen ganzen Mut zusam-men, bat einen der Ausstellungsmacher, mich bei dem Schriftsteller einzuführen, und ließ mich neben ihm nieder. Ich wurde als junger Redakteur einer wichtigen Zeitung vor-gestellt. Borges wandte sein Lächeln in meine Richtung. Viel-leicht begriff er nicht, dass ich mich bereits gesetzt hatte, denn er nickte großzügig und feierlich, so als lade er mich dazu ein. Wir gaben uns die Hand. Seine war weich, ein we-nig feucht. Als ich meine Hand wieder zurückziehen wollte, ließ er sie nicht los und hielt sie zusätzlich mit der anderen fest. Für ein paar Augenblicke verharrten wir schweigend in dieser seltsamen Stellung. Dann beugte er sich in meine Richtung und sagte auf Englisch: »Sie haben wunderschöne Hände. Es ist ein Vergnügen, sie zwischen den meinen zu halten. Es sind sehr sensible, delikate Hände. Ich möchte Ihnen raten, sie nicht an den Journalismus zu verschwenden. Schreiben Sie etwas anderes. Schreiben Sie, was Sie wollen. Lassen Sie sich von ihnen leiten. Hände wissen viel mehr, als wir uns eingestehen. Ich bitte Sie, hören Sie auf meinen Rat.

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Machen Sie es für Ihre Hände.« In der Zwischenzeit folgte er mit dem Finger den Linien und der Form meines Hand-tellers.

Ich war sprachlos, murmelte: »Ja, danke«, nichts weiter, und verging vor Aufregung. Um uns herum war ein kleines Gedrängel entstanden. Viele lächelten, als wollten sie die ge-niale Extravaganz des Schriftstellers unterstreichen – eine Extravaganz, deren Gelegenheitsobjekt ich soeben geworden war. Ich stand auf, um meinen Platz jemand anderem zu überlassen. Borges suchte mich mit dem Kopf, nicht mit dem Blick, der leer und eisig war, und sagte noch in meine Rich-tung: »Es war ein Vergnügen, Ihre Hände zu berühren. Was für schöne Hände, so jung.« Dann, auf Italienisch: »Auf Wie-dersehen.«

Als Borges, fast zwei Jahre später, am 14. Juni 1986 in Genf starb, machte ich etwas Verrücktes. Ich öffnete meine Hände und legte sie aufs Gesicht. Weder weinte ich, noch war ich erschüttert. Ich verharrte nur ein paar Minuten schweigend, unbeweglich und mit geschlossenen Augen. Die offenen Hände, die die Form meines Gesichts empfingen, waren nicht die meinen, sondern die seinen – das war meine Art, ihm auf Wiedersehen zu sagen.

In den frühen achtziger Jahren besuchte ich häufig jene Ver-anstaltungsorte Roms, in denen illustre Redner aus aller Welt auftraten. Wir waren ein ziemlich kleines, doch ich glaube kenntnisreiches und auf unsere Art stolzes Publikum. Rom hatte sich nicht verändert, es war herrlich, aber provinziell. Nachdem die grauen, gewaltsamen Jahre der ideologischen Raserei zu Ende gegangen waren, die Jahre der verfeindeten extremistischen Ideen, der Stadtguerilla und all der katastro-phalen Dummheiten, die zu Terrorismus und verbreitetem

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Hass geführt hatten, schienen die achtziger Jahre der Stadt ein wenig Heiterkeit zu verleihen. Zumindest kam es mir so vor. Langsam entzündeten sich wieder die kulturellen Ener-gien, die unter der Asche des vorigen Jahrzehnts erloschen waren. Aus der international gemiedenen Hauptstadt wurde erneut ein Ziel oder mindestens eine Zwischenstation auf Reisen durch Europa.

Gewiss, es kam vor, dass man loszog, um große Schrift-steller zu hören, und feststellen musste, dass fast niemand sie wirklich kannte, weil die Wenigsten fähig waren, ein passables Englisch oder Französisch zu sprechen. Zumindest begann man wieder, über Bücher und Kunstwerke zu diskutieren, statt über Ermordete und pseudoproletarische Entführungen, die in Wirklichkeit sehr kleinbürgerlich waren. In den Gassen von Trastevere, zwischen dem einen oder anderen Drogen-abhängigen, begegnete man Cy Twombly, während man in San Lorenzo Susan Sontag in der Pizzeria treffen konnte. Das allein verbesserte schon die Laune nach all den Jahren, in de-nen selbst ernannte Propheten vom Massenarbeiter gepredigt und vermummte Fanatiker d’annunzianische Schauder ver-spürt hatten statt Hitze oder Juckreiz.

Eines Nachmittags beschloss ich, an einem Vortrag von Stephen Spender teilzunehmen. Über ihn wusste ich wenig bis nichts, nur dass er der dritte im bedeutenden politisch- literarisch-emotionalen Dreieck der dreißiger Jahre in Eng-land gewesen war, dessen andere beiden Spitzen Wystan Hugh Auden und Christopher Isherwood hießen. Da ich Auden und Isherwood nicht nur liebte, sondern abgöttisch verehrte, ging ich automatisch davon aus, auch Spender müsse ein Dichter und Schriftsteller ersten Ranges sein. Von ihm hatte ich aber noch nichts gelesen, weder in Versen noch in Prosa. Jedenfalls hätte ich mir niemals die Gelegenheit

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entgehen lassen, den letzten Repräsentanten einer kulturellen Generation zu sehen und zu hören, die, nach meinem Ge-schmack, vielleicht den Höhepunkt des gesamten 20. Jahr-hunderts darstellte.

Auden war 1973 verstorben, während Isherwood erst zu Beginn des Jahres 1986 aus dem Leben scheiden sollte, doch auch damals war er schon über achtzig und in schlechter Ver-fassung. Spender, von dem sich nur schwer Texte auf Italie-nisch auftreiben ließen, hatte vor kurzem die siebzig über-schritten und betrat immer noch die Bühnen der Lesungen und literarischen Festivals.

Ich bekenne, dass ich lange vor Veranstaltungsbeginn ein-traf. Ich wollte nicht das Risiko eingehen, gequetscht in den letzten Reihen eines überfüllten Saals zu stehen. Unnütze Besorgnis: Bei Beginn des Vortrags waren wir nicht mehr als vierzig Leute, und viele Plätze blieben leer.

Über seine erste Begegnung mit Spender schrieb Joseph Brodsky – den ich viele Jahre später kennen lernte und mit dem ich Umgang pflegte, ohne allerdings von seiner Freund-schaft zu dem großen englischen Dichter zu wissen: »Herein trat ein sehr hochgewachsener, leicht gebückter, weißhaari-ger Mann mit einem sanften, fast entschuldigenden Lächeln auf dem Gesicht. Er bewegte sich in seinem eigenen Esszim-mer mit der Scheu eines Neuankömmlings und nicht mit der Sicherheit des Hausherrn.« Dies schreibt Brodsky am 16. Juli 1995 nach dem Tode Spenders, der ihn sichtlich erschüttert. Und er fügt hinzu: »Ich erinnere mich nicht an die genauen Worte, aber ich erinnere mich, von ihrem Wohlklang über-wältigt worden zu sein.«

Besser lässt es sich nicht ausdrücken. Denkt man sich den Schauplatz weg, an dem das Treffen stattfand (in meinem Fall waren es nicht London und die Wohnung Spenders, sondern

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ein schlecht geheizter Saal des British Council in Rom), würde ich den Rest voll und ganz unterschreiben. Was an ihm zuerst beeindruckte, waren seine Größe und jene wun-derbare, sehr elegante, leicht zerzauste weiße Mähne eines jungenhaften Greises oder sagen wir eines Pianisten. Und diese beiden ausgesprochen auffälligen körperlichen Merk-male verbanden sich, nein, besser: bildeten einen perfekten Einklang mit dem schönsten Englisch, das ich je gehört habe. Brodsky bemerkt dazu: »Es kam mir vor, als ob aller Adel, alle Höflichkeit, alle Anmut und Gelöstheit der englischen Sprache plötzlich den Raum füllten.«

Den größten Teil des Vortrags widmete Spender an diesem Nachmittag den Erfahrungen seiner Reisen nach China und in andere entlegene Länder. Freilich richtete sich meine be-geisterte Aufmerksamkeit nicht auf das, was er sagte. Ich hatte nur Augen für den alten Mann und seine außergewöhn-liche Schönheit: außergewöhnlich, weil sie nichts mit dem Körper zu tun hatte, sondern von intimer geistiger oder bes-ser ethischer Natur war. Es schien, als hätte sich seine Physis den Erfordernissen der Seele angepasst. Über Spender hätte Brodsky jene Regel formulieren können, die ihm teuer war und sich zu seinem Leidwesen selten unmittelbar klar und deutlich zeigte, nämlich dass die »Ästhetik die Mutter der Ethik« sei.

Spender sprach gemächlich und lächelte nicht selten ins Publikum. Die Stimme ruhig, singend. China, der Orient, das Schreiben, die Fotografie: Um diese Pole kreisten seine Ge-danken. Ab und zu fuhr er sich mit der Hand durch das weiße Haar: eine langsame Geste, überhaupt nicht einstudiert, von unerbittlicher Harmonie. Viele Jahre später – mehr als zwan-zig – sollte mir diese Geste mit genau derselben Schönheit bei einem anderen englischen Dichter begegnen, bei Jamie

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McKendrick: ein Zeichen dafür, dass die Sprache, wenn man sich ihrer auf höchstem Niveau bedient, sehr viel mehr zu erreichen vermag als die Schönheitschirurgie.

Dennoch verwandelte sich solch apollinische Anmut jäh in Zorn und Groll, als David Leavitt 1993 den Roman While England sleeps (Während England schläft) veröffentlichte, für den er einige reale Ereignisse aus dem Leben Spenders verwendete, die er zu literarischer Fiktion vermengte. Der englische Dichter zeigte Leavitt an, brachte ihn vor Gericht und erreichte, dass das Buch des amerikanischen Schrift-stellers vom Markt genommen wurde. Ich habe mich immer gefragt, was ihn zu diesem so handfesten harten Schritt be-wegt hatte, ihn, der aus dem Stoff gemacht schien, aus dem die Wolken sind.

»Die Menschen sind, an was wir uns von ihnen erinnern. Was wir Leben nennen, ist letztlich das Flickwerk der Erin-nerung eines anderen«, sagt Brodsky. Ich maße mir nicht an, die Existenz eines der größten Dichter des vergangenen Jahr-hunderts anhand der bruchstückhaften Erinnerung an einen Vortrag in Rom in den frühen achtziger Jahren zu rekonstru-ieren, nicht einmal, wenn ich den zwillingshaften Eindruck einer Lyriklesung in der Royal Festival Hall ein Jahrzehnt später in London hinzufüge. In beiden Fällen könnte ich mich nur über Äußerlichkeiten verbreiten, die in der lite-rarischen Welt für gewöhnlich wenig zählen oder sogar Ver-achtung auslösen. Und dennoch, in den Erinnerungen Brodskys wie auch auf vielen Fotografien, sei es zusammen mit Auden und Isherwood, sei es allein, ist es gerade das rei-che und unsichere Lächeln Spenders, sind es jene zerzausten dünnen Haare, der Gang, die geschmeidige Größe des Kör-pers, die sich wie ein Merkmal der Wahrheit und der Distanz, der Anmut und der Intelligenz einprägen. Ein Merkmal, das

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in gewisser Weise, zumindest in meinen jungen Augen, die literarische Welt des ausgehenden 20. Jahrhunderts gekenn-zeichnet hat: etwas, das gerade noch einmal aufblitzte, bevor es endgültig in dem verschwand, was wir Historie nennen.