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22 | Bauwelt 37 2005 Sant’Erasmo Ein Festungsturm in der Lagune von Venedig Die Lagune vor Venedig ist ein hybrider Raum mit fließenden Übergängen – und doch lässt dieser sich orten. Unzählige kleine Zeichen prägen das Bild, Räume werden durch das Zie- hen von Grenzlinien besetzt. Es ist die Reise durch ein von der Bauspekulation der letzten Jahrzehnte verschonte Landschaft. Die Umgestaltung der Insel Sant’Erasmo ist ein Vorreiter des Projekts, die gesamte Land- schaft der Lagune als kostbare Ressource für die Stadt Venedig zu begreifen. Die Insel liegt im nördlichen Teil der Lagune, im losen Gewirr der Inseln und Inselchen ist sie mit 325 Hek- tar bereits eine der größeren Flächen dieses Verbunds. Von jeher war sie ein Brennpunkt, von kriegerischen Auseinandersetzungen wie von Bewässerungs-Experimenten. Außerdem gehörte sie zum Schutzkordon des Lido, der die Lagune gegen das Meer hin abschirmte. Bis heute hat sie den Charakter dieser frühe- ren Bestimmung bewahrt. In diese homogene Textur der kleinen Felder und Gärten schnei- den die Eingriffe der Militäranlagen des 19. Jahrhunderts ein, ein netzartiges System aus etwa siebzig Anlagen, das über die Inseln ge- spannt wurde bzw. eine Insel als Ganzes ver- einnahmte. Das Projekt für Sant’Erasmo macht die Lesbar- keit der unterschiedlichen Strukturen der In- sel fassbar, um so die straffen und doch oft unsichtbaren Fäden zwischen der Landschaft am Wasser und dem landwirtschaftlich genutz- ten Land sowie zwischen den historischen Bau- ten nachzuspüren. Bestimmend war dabei der Architekten: C+S Associati, Venedig und Treviso Carlo Cappai, Maria Alessandra Segantini Mitarbeiter: Davide Testi, Barbara Acciari, Eva Horno Rosas, Daniele Della Valle, Alessandro Stefanoni, Andrea Tenuta Tragwerksplanung: Technital S.p.A., Venedig Landschaftsplanung: Alessandro Calzavara, Davide Folin, Ludovico Gherardi, Federico Maetzche, Roberta Rocco, Alessandro Vendramini Bauherr: Magistrato alle Acque di Venezia, Regione del Veneto, Comune di Venezia Bauwelt 37 2005 | 23 Die Torre Massimiliana gehört zu einem umfangreichen Befestigungs- system auf den Inseln der Lagune. Die Anlage auf der Isola Sant’Erasmo war über Jahrzehnte verlassen und zugewachsen. Das Projekt sah vor, den Turm inmitten eines neuen Erho- lungsgebiets für die Venezianer zu gestalten. Der Turm, der jetzt auf ei- ner freien Fläche steht, bietet Räu- me für Ausstellungen und dient als Belvedere. Lageplan im Maßstab 1 : 5000

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Sant’ErasmoEin Festungsturm in der Lagune von Venedig

Die Lagune vor Venedig ist ein hybrider Raummit fließenden Übergängen – und doch lässtdieser sich orten. Unzählige kleine Zeichenprägen das Bild, Räume werden durch das Zie-hen von Grenzlinien besetzt. Es ist die Reisedurch ein von der Bauspekulation der letztenJahrzehnte verschonte Landschaft. Die Umgestaltung der Insel Sant’Erasmo istein Vorreiter des Projekts, die gesamte Land-schaft der Lagune als kostbare Ressource fürdie Stadt Venedig zu begreifen. Die Insel liegtim nördlichen Teil der Lagune, im losen Gewirrder Inseln und Inselchen ist sie mit 325 Hek-tar bereits eine der größeren Flächen diesesVerbunds. Von jeher war sie ein Brennpunkt,von kriegerischen Auseinandersetzungen wievon Bewässerungs-Experimenten. Außerdem

gehörte sie zum Schutzkordon des Lido, derdie Lagune gegen das Meer hin abschirmte.Bis heute hat sie den Charakter dieser frühe-ren Bestimmung bewahrt. In diese homogeneTextur der kleinen Felder und Gärten schnei-den die Eingriffe der Militäranlagen des 19.Jahrhunderts ein, ein netzartiges System ausetwa siebzig Anlagen, das über die Inseln ge-spannt wurde bzw. eine Insel als Ganzes ver-einnahmte.Das Projekt für Sant’Erasmo macht die Lesbar-keit der unterschiedlichen Strukturen der In-sel fassbar, um so die straffen und doch oftunsichtbaren Fäden zwischen der Landschaftam Wasser und dem landwirtschaftlich genutz-ten Land sowie zwischen den historischen Bau-ten nachzuspüren. Bestimmend war dabei der

Architekten:

C +S Associati, Venedig und Treviso

Carlo Cappai, Maria Alessandra

Segantini

Mitarbeiter:

Davide Testi, Barbara Acciari,

Eva Horno Rosas, Daniele Della Valle,

Alessandro Stefanoni, Andrea Tenuta

Tragwerksplanung:

Technital S.p.A., Venedig

Landschaftsplanung:

Alessandro Calzavara, Davide Folin,

Ludovico Gherardi, Federico Maetzche,

Roberta Rocco, Alessandro Vendramini

Bauherr:

Magistrato alle Acque di Venezia,

Regione del Veneto, Comune di Venezia

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Die Torre Massimiliana gehört zueinem umfangreichen Befestigungs-system auf den Inseln der Lagune.Die Anlage auf der Isola Sant’Erasmowar über Jahrzehnte verlassen undzugewachsen. Das Projekt sah vor,den Turm inmitten eines neuen Erho-

lungsgebiets für die Venezianer zugestalten. Der Turm, der jetzt auf ei-ner freien Fläche steht, bietet Räu-me für Ausstellungen und dient alsBelvedere.

Lageplan im Maßstab 1 : 5000

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Vorsatz, den für den hiesigen Landstrich cha-rakteristischen Strukturen Ausdruck zu ver-schaffen. Gleichzeitig sollte für die beiden Er-neuerungsprojekte am südwestlichen und amnordwestlichen Ende der Insel ein infrastruk-turelles Konzept entwickelt werden, das einenneuen Blick auf den Landschaftspark der Nord-lagune gewährt.Die südwestliche Klammer formen die mar-kante Torre Massimiliana mit den dazu gehöri-gen Wallanlagen, das Hafenbecken, die öffent-liche Anlegestelle, der Strand und die agrargeprägten Gebiete, die sich dazwischen drän-gen. Unser Grundgedanke war, ein System her-auszuarbeiten, das den Turm neu in die Land-schaft einbindet. Wir fügten daher dem Bau ein Gebäude an, entworfen an Stelle des fehlen-den Schanzkleides. In dem Neubau finden alleerforderlichen Versorgungseinrichtungen wieHaustechnik und Kühlgeräte Platz, dazu die In-stallationen und das Lager für den Strandbe-trieb. Auf diese Weise ist der Turm selbst freivon Funktionen, die mit der ursprünglichenRaumwirkung des Baus nicht vereinbar sind.Von außen ist der flache Anschlussbau durchdie Reihung von Horizontalen geprägt: das blei-gedeckte, trauflose Dach, die gleichförmigenFensteröffnungen direkt unter dem Gebälk derDachkonstruktion und abschließend der Kies-belag, ein heller, lichter Streifen oberhalb desmit Gras bewachsenen Hangs, auf den das Ge-länder des neuen Brückenstegs filigrane Schat-ten wirft. Der bündig mit dem Steinsockel ab-schließende Innenausbau besteht aus Lärchen-

Seitlich des Turms wurde ein flacherGebäuderiegel gegen die Wallanlagegesetzt, wo die Technikräume, Lager,Servicebereiche für den Strandbetriebund ein kleiner Aufenthaltsraum un-tergebracht sind. Damit bleib der Turmfrei von Einbauten. Über die neue Anlegestelle ist Sant’Erasmo leicht er-reichbar.

Grundrisse und Schnitt im Maßstab1 : 750

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brettern, die von der Sonne gebleicht nur ei-nen farblosen Lackanstrich erhielten und wieHolzschindeln verarbeitet wurden.Der neue Bootssteg dient als südlicher Anlan-deplatz für die Insel. Die mit weißem PietraD’Istria gefasste Einfriedungsmauer geht in ei-nen etwas tiefer liegenden, mit Ziegeln gepflas-terten Quai am Ufer über, der als Umschlag-platz für die für Venedig bestimmten Agrarer-zeugnisse dient. Auf dieser Höhe schließt sichein Pontonsteg aus Yellow-Balaw-Bohlen an.Der Zugang zum Ufer führt – Reminiszenz andie einstige Situation als Strand zum offenenMeer hin – über einen Weg aus „Treibholz“. Am anderen Ende der Insel, im Nordwesten,sind kleine „Pavillons“ entstanden, wo aucheine Erste-Hilfe-Station eingerichtet ist. Das Fu-gen-Muster der Steinquader von den Mauernund Stützpfeilern erinnert an ein Schiffsdeck.Auf dem Steinsockel ist Ziegelmauerwerk, dar-über erneut Stein, der sich verjüngt, um Lichtzwischen den vertikalen Wandelementen undder Dachkonstruktion einzulassen. Das Bau-material Holz wird für die Außenhaut des Ge-bäudes, in welchem die Erste-Hilfe-Station un-tergebracht ist, wieder aufgegriffen. Nur zweischmale Öffnungen zu einem neu entstande-

nen Vorplatz hin unterbrechen die Schaltafelnaus Lärchenholz. Der Platz ist eine weitläufige,mit Ziegelmauern gesäumte Fläche, ein ein-ladender Ort der Ruhe, der den Besucher mitdem Schatten einer Pergola und dem leisenSprudeln des neuen Brunnens willkommenheißt. Das Lichtsystem, das alle Elemente mar-kiert, besteht aus schlanken weißen Metall-stäben, deren Spitzen bei Einfall der Dunkel-heit zu leuchten beginnen. Am Rand des Plat-zes ist eine weitere Holzplattform. Sie dientder Anbindung an die Straße, die zum kleinenTerminal für die Autofähre führt. Marco de Michelis schreibt zur neuen IsolaSant’Erasmo in dem beim Verlag Marsilio inVenedig erschienenen Buch „Infrastrutturedello Sguardo“ zur Umgestaltung der Insel un-ter anderem: „Die Architekten haben die Ver-gangenheit und die Bausubstanz des Turmsuntersucht, seine besondere Bedeutung, sei es im Kontext der Befestigungsanlagen in derLagune oder in Hinsicht auf die Morphologieder Siedelungsgeschichte von Sant’Erasmo,entschlüsselt; sie haben nicht nur die in denArchiven gelagerten Akten und Zeugnisse be-fragt, sondern auch die schwach erhaltenenSpuren auf den Ziegeln und den Steinen des

Abseits vom Festungsturm liegt an ei-ner „Piazza“ ein neues Bootshaus mitNebengebäude, wo sich eine Erste-Hilfe-Station befindet. Mit dem schlich-ten Ziegelmauerwerk auf Naturstein-sockel passen sich die Bauten den be-scheidenen Bauten der Umgebung an.

Fotos: Alessandra Chemollo und FulvioOrsenigo, Venedig; Fotos Seite 24 und 25: Marco Zanta,Venedig

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Gebäudes selbst. Auch wenn jede Anstrengungunternommen wurde, um den urspünglichenZustand des Objekts wieder herzustellen, fälltdas Ergebnis wohl kaum unter die Kategorie‚Restaurierung zum Substanzerhalt‘. Um eineeinfache Renovierung oder gar Restrukturie-rung handelt es sich dagegen auch nicht. Amnächsten kommt man der Sache wohl über dieDefinition als kleinerer architektonischer Ent-wurf auf Grundlage bereits vorhandener Bau-substanz. Von dieser Warte aus ist die Entscheidungleicht einsichtig, der durch den Verlust der äu-ßeren Schanzwerke erlittenen Verstümmelungzu begegnen, indem man den zylindrischenBaukörper nun in den Mittelpunkt eines lee-ren, kreisrunden Platzes stellte – eine Geste,

die nur ein nachlässiger Beobachter als Abwer-tung der monumentalen Bedeutung des Bausauffassen könnte. Im Gegenteil: Indem das Bo-denniveau tiefer gelegt wurde, ergibt sich fürden Besucher die Notwendigkeit, mit dem Blickeinen Schritt – einen Sprung – über die hori-zontale Linie der Wallanlagen hinweg zu ma-chen. So gelang es, dem kleinen Ensemble denursprünglichen Charakter einsamer Majestätzurückzugeben.Die Restaurierung, mit minutiöser Aufmerk-samkeit für Materialien und Details durchge-führt, konzentriert sich auf die Rekonstruktionder architektonischen Bedeutungsebene desBaus. Sie führt keine neuen Nutzungen ein,lässt Forderungen und Sachzwänge des Gegen-wärtigen oder gar Zukünftigen beiseite. Auf

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einfache, genial einfache Art beschränkt siesich darauf, unseren Blick zu schärfen. Zu se-hen und dabei zugleich zu erkennen, wie vieluns der Zustand des Zerfalls bisher vorenthal-ten hatte.Es ist ein Ort zum Ausruhen nach stundenlan-gem Geschaukel auf dem „Bacàn“, ein Ort alsTreffpunkt für die Liebhaber der Lagune vonVenedig, für die, die sie besser kennen lernenoder einfach nur mal mitreden wollen; ein Ob-servatorium, das einen lehrt, Orte, Pflanzenund den Lebensraum Meer wahrzunehmen;ein Ort, der scheinbar zwecklos ist – und ge-rade deshalb wunderbar frei.“ C+ S Associati

Aus dem Italienischen von Agnes Kloocke

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