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Sabine Gruber - Über Nacht

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Ein einziger schicksalhafter Augenblick verändert Leben.In ihrem neuen Roman erzählt Sabine Gruber die Geschichte zweier Frauen in zwei verschiedenen Städten, Mira in Rom und Irma in Wien. Beide Frauen leben mit einem beunruhigenden Verdacht: Mira ist Altenpflegerin und sorgt sich um ihre Ehe. Der eigene Mann wird ihr immer fremder, sie findet sich in der Rolle der Detektivin wieder, spioniert ihm hinterher. Warum schläft ihr Mann nicht mehr mit ihr? Irma zieht ihr Kind allein groß, sie ist Kul-turjournalistin und interviewt Menschen mit auss-terbenden Berufen, stellt sich aber vor allem selbst Fragen: Wer ist der Tote, der ihr mit seinem Spend-erorgan ein neues Leben ermöglicht? Wie lebt es sich mit einem fremden Teil im eigenen Körper? Wie als Überlebende?Zwei Frauen auf Spurensuche, zwei Frauen voller Liebes- und Lebenssehnsucht. Was verbindet die beiden?«Über Nacht» ist auch ein Buch über das Alter als Realität und Utopie, über den Zufall als Lebens- und Todesmacht und über die Verquickung von Leben und Schreiben.Locker anknüpfend an die Thematik ihres vielgelob-ten Romans «Die Zumutung», erzählt Sabine Gruber in ihrer schönen, bilderreichen Sprache von den Überraschungen des Lebens und der Willkür des Gerettetwerdens, von der Zerbrechlichkeit der Liebe.

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  • Sabine Gruber | ber NachtC.H.Beck Roman

  • Zum Buch

    Ein einziger schicksalhafter Augenblick verndertLeben.In ihrem neuen Roman erzhlt Sabine Gruber dieGeschichte zweier Frauen in zwei verschiedenenStdten, Mira in Rom und Irma in Wien. BeideFrauen leben mit einem beunruhigenden Verdacht:Mira ist Altenpflegerin und sorgt sich um ihre Ehe.Der eigene Mann wird ihr immer fremder, sie findetsich in der Rolle der Detektivin wieder, spioniertihm hinterher. Warum schlft ihr Mann nicht mehrmit ihr? Irma zieht ihr Kind allein gro, sie ist Kul-turjournalistin und interviewt Menschen mit auss-terbenden Berufen, stellt sich aber vor allem selbstFragen: Wer ist der Tote, der ihr mit seinem Spend-erorgan ein neues Leben ermglicht? Wie lebt essich mit einem fremden Teil im eigenen Krper?Wie als berlebende?Zwei Frauen auf Spurensuche, zwei Frauen vollerLiebes- und Lebenssehnsucht. Was verbindet diebeiden?ber Nacht ist auch ein Buch ber das Alter alsRealitt und Utopie, ber den Zufall als Lebens- undTodesmacht und ber die Verquickung von Lebenund Schreiben.Locker anknpfend an die Thematik ihres vielgelob-ten Romans Die Zumutung, erzhlt Sabine Gruberin ihrer schnen, bilderreichen Sprache von denberraschungen des Lebens und der Willkr desGerettetwerdens, von der Zerbrechlichkeit der Liebe

  • und dem Aufflammen einer neuen, von Freund-schaft und Frsorge und vom Tod, der erfinderischmacht.

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  • ber die Autorin

    Sabine Gruber wurde 1963 in Meran geboren undstudierte Germanistik, Geschichte und Politikwis-senschaft in Innsbruck und Wien. 19881992Universittslektorin in Venedig. Sie lebt in Wien. Sieerhielt u.a. den Frderungspreis der Stadt Wien, dasSolitude-Stipendium, den Priessnitz-Preis und denFrderungspreis zum sterreichischen Staatspreissowie das Heinrich-Heine-Stipendium der StadtLneburg und das Elias-Canetti-Stipendium derStadt Wien. Neben Erzhlungen, Hrspielen undTheaterstcken verffentlichte sie die RomaneAushusige (1996) und Die Zumutung(C.H.Beck, 2003) sowie den Lyrikband Fang oderSchweigen (2002).

  • Das Leben Hausiererware:Penis und Stirn und Rumpf.Und Schicksal heit es paarensich Raum und Zeit. Die Vernunftbeugt sich solcher Macht nur unterZwang; doch bist auch duder Parze verfallen munterschaust du ihr beim Spinnen zu.Joseph Brodsky

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  • Fr Karl-Heinz

  • IAnfangs waren es noch einzelne Punkte gewesen,dann pltzlich hunderte, tausende. Sie bewegtensich rauf und runter, hin und her, strmisch, kraft-beladen. Die Menschen, die stehengeblieben waren,folgten mit ihren Blicken den wellenfrmigen Bewe-gungen, den S-Linien und Ellipsen. In manchen Au-genblicken sahen die dunklen Formen wie ovaleFlugobjekte aus, dann nderten sie sich wieder, teil-ten sich oder rissen auseinander. Eine blonde Frau,die gebannt in den Himmel schaute, stie rckwrtsgehend gegen einen Baum, machte einen Schritt zurSeite. Was ist das? fragte sie. Niemand antwortete.Der Passant, der eine Weile neben ihr gestandenhatte, war lngst weitergegangen, ein anderer beo-bachtete mit offenem Mund die Breitband-Formationen.Stare, sagte ich, die sind berall hier in derStadt. Passen Sie auf, da Sie nicht in den Hun-dedreck treten. Die Frau schaute kurz zu Boden,nickte, als wollte sie sich bedanken, und setzte ihrenWeg fort. Ich blickte ihr nach, bis sie hinter einemgeparkten Lieferwagen die Strae berquerte, dannffnete ich die Autotr, warf die Einkaufstasche aufden Beifahrersitz und fuhr los.Der Berufsverkehr hatte eingesetzt, vor demBahnhof Termini stauten sich die Autos. Die Moped-fahrer zwngten sich in jede noch so kleine Lcke.Der Fahrer vor mir lie die Fensterscheibe runter

  • und schimpfte auf einen Jugendlichen, weil er beimberholen den linken Auenspiegel gestreift hatte.Noch immer waren die Stare zu sehen, kleinereVerbnde, die im Flug ein V formierten; hie und dascherte ein Vogel aus, um sich weiter hinten wiedereinzuordnen.Ich berlegte, an der nchsten Kreuzung abzubie-gen und einen Umweg zu fahren, doch um dieseZeit wrde der Verkehr auch in den Seitenstraenstocken.Aus meiner Einkaufstasche roch es nach Brot. Ichwickelte es aus dem Papier, brach ein Stck Pe-corino ab, den ich aus der Klarsichtfolie geschlthatte. Der Kse brselte auf die Hose, das Papierrutschte unter die Pedale. Ich versuchte esaufzuheben. Die Autos und Mopeds setzten sichwieder in Bewegung, hinter mir wurde gehupt.Zwischen meinen Beinen vibrierte das Handy. Alsich die Stimme meiner Vorgesetzten erkannte, be-dauerte ich, den Anruf entgegengenommen zuhaben. Es ist mein freier Tag, sagte ich, aber esntzte nichts.Die Stare flogen jetzt ein Doppel-V; ich entdecktesie noch einmal ber der Kirche Santa Maria dellaVittoria. Beinahe htte ich die nchste Ampelbersehen.Ich verstehe nicht, warum die berhaupt noch hiersind. Es ist doch Sommer. Die Luft imUmkleideraum war stickig.Wer? fragte Marta, whrend sie in ihreSandalen schlpfte.Na, die Vgel.

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  • Sie war mde, mute sich am Metallschrank ab-sttzen, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren.Du mit deinen Vgeln.Frher haben sie sich um diese Zeit in Riga oderMoskau aufgehalten Ich wei, Mira. Sie drehte mir den Rcken zu,stopfte die Schrze in den vollen Wschekorb. Luc-chi atmet schwer. Wenn du bitte nach ihm schauenknntest. Carelli mu noch gewaschen werden.Machs gut. Bis morgen.Ich wechselte die Schrze, weil ein Knopfabgegangen war, dann trat ich den Dienst an. Hinterder Tr wartete bereits Mancini und wollte eineZigarette. Die Tagesration von fnf Stck hatte erbis zum Mittagessen aufgebraucht, am Nachmittagverfolgte er die Besucher, schnffelte an ihrenKleidern, um herauszufinden, ob sich das Bettelnlohnte. Er lief im Pyjama hinter mir her.Und, wie viele Stare waren es heute?Eintausendneunhundertdreiundsechzig, sagteer.Ich schlo die kleine Kche auf, in der das Per-sonal zu essen pflegte, und nahm eine angebrochenePackung MS aus dem Schrank. Mancini zupftemehrmals mit dem Zeigefinger- und Daumennagelan einem Filter, bis er die Zigarette zu fassenkriegte.Nur eine? Er lchelte mich an, verneigte sich.Okay, zwei, obwohl Sie sich verzhlt haben.Er steckte sich die eine Zigarette links, die andererechts hinters Ohr.

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  • Es waren eintausendneunhundertvierundneun-zig. Sie haben die kleinen bersehen, die im Hucke-packflug auf den greren mitgeflogen sind.Das gibts nicht, lachte er.Doch, das gibts. Und jetzt raus.Er verneigte sich wieder, dieses Mal nach allenSeiten, dann verlie er im Rckwrtsgang dieKche.Ich sah auf die Strae hinaus; auf der Bank vordem Eingang saen drei Mnner aus meiner Ab-teilung und blickten den Autos hinterher. Manchmalfragte ich mich, ob sie ihnen bewut nachschautenoder ob sie einfach die Kpfe hin und her bewegten,um anzudeuten, sie seien beschftigt. Miteinanderzu sprechen war ihnen nicht mglich.Wozu soll ich mit den anderen reden, hatteMancini einmal gesagt, erzhl ich ihnen meineGeschichte, fhlen sie sich an ihre eigene erinnert,und die ist schlimmer.Ich schlo das Fenster, setzte Teewasser auf. DieVerrichtungen blieben immer die gleichen, in letzterZeit konnte ich mich oft nicht mehr daran erinnern,wann und wie ich die Arbeiten erledigt hatte. Ichbewegte meine Hnde so mechanisch wie die dreiMnner auf der Strae ihre Kpfe. Nachdem ich dieTabletten aus der Verpackung herausgebrochen undin den Medikamentenschiebern verteilt hatte, zhlteich sie alle noch einmal durch.Mancini steckte den Kopf zur Tr herein.Was ist, Mancini alle schon geraucht?Sie hatten recht, es waren eintausendneunhun-dertvierundneunzig. Er grinste und hielt den Dau-men in die Hhe.

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  • Sie kriegen keine mehr.Er zuckte mit den Achseln. Dann nicht. Bevor erden Kopf wieder aus der Tr zog, fragte er mich, obich verheiratet sei.Das wissen Sie doch. Seit vier Jahren.Oh, sagte er, das tut mir aber leid.Ich schaute nach Lucchi. Er sa neben derangelehnten Balkontr, das Hemd bis zum Nabeloffen.Es zieht, sagte ich und schlo dasBadezimmerfenster.Ach wo.Sehen Sie sich den Lampenschirm an. Der be-wegt sich doch, oder?Na und? Lucchi sah zur Seite. Dann bewegt ersich eben.Ich konnte keine abnorme Atmung bei ihm fests-tellen. Als ich ihn fragte, ob er genug Luft kriege,meinte er, den Blick auf das Badezimmerfenstergerichtet: Jetzt nicht mehr.Brauchen Sie noch etwas? Ich stellte den Teeauf den Nachttisch.Ich habe Sie nicht gerufen.Als ich mich zur Tr wandte, hrte ich Schrittehinter mir; sie hatten nichts Schlurfendes oder Sch-leppendes an sich. Es waren Straenschuhe, icherkannte sie am Klang der hohlen Abstze. Lucchi,erinnerte ich mich, trug Pantoffeln mit Gummisohle;das Oberteil war mit einem senffarbenen Kordstoffberzogen.Guten Abend.Ich drehte den Kopf, wollte mit der Hand nachder Trklinke fassen, griff aber ins Leere. Auf mich

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  • kam ein grogewachsener, weihaariger Mann zu,den ich auf Mitte vierzig schtzte. Er habe, sagte ermit Blick auf meine Hand, die nun auf der Klinkelag, auf dem Balkon eine Zigarette geraucht, obwohldies nicht erlaubt sei. War es die Art, wie er michmusterte, oder waren es seine asymmetrischenKoteletten, die mir sofort auffielen ich reagiertenicht. Als ich ihm nicht die Hand gab, legte er, ohnezu zgern, seine Hand auf meine.Angenehm, sagte er, Rino, als htte es sichum eine Begrung gehandelt. Er folgte mir auf denGang hinaus, blieb vor Lucchis Tr stehen.Mein Onkel ist ziemlich unfreundlich, sagte er.Seine Sache.Ich ging zur nchsten Tr.Und wie heien Sie? rief er mir nach.Ich hob die Augenbrauen und verschwand in demZimmer.Die Nacht verlief ohne groe Zwischenflle; Carelliverlangte nach Valiumtropfen, Rossi bergab sichwenige Meter vor der Toilette, und eine Frau ausdem oberen Stockwerk hatte sich gegen Mitternachtin der Tr geirrt und war in die Mnnerabteilunggekommen, wo ich sie daran hinderte, sich in Man-cinis Bett zu legen. Sie glaubte, sie sei in ihremHaus in der Via Nomentana. Ich konnte sie nur mitGewalt aus dem Zimmer drngen. Was ich hier zusuchen habe, fragte sie mich, als ich Mancinis Trhinter uns zuzog. Sie zwickte mich in den Arm unddrohte mir mit der Polizei. Ich htte in ihrem Hausnichts verloren. Raus, sagte sie, raus, raus, raus.In ihrer Wut stemmte sie sich gegen mich, so da

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  • ich mich mit einem Fu am Trpfosten absttzenmute. Sie war schwer; der helle, offene Bademan-tel und die langen Haare verliehen ihr ein riesen-haftes Aussehen. Auf einem ihrer Hausschuhe be-merkte ich mehrere Reiskrner.Was machen Sie, schrie sie, lie sich dann aberdoch in den oberen Stock begleiten. Die Kraft, mitder sie sich eben noch gegen mich gewehrt hatte,schien sie nun in ihre gefalteten Hnde zu legen.Die Fingerspitzen waren stark gertet, die Kncheltraten wei hervor.Sie mssen sie anbinden, wenn Sie allein sind,sagte ich zu meiner Kollegin.Gegen zwei Uhr frh rief Vittorio an. Er behauptete,ich htte nicht auf seine Mobilbox gesprochen, ihnnicht ber meinen Nachtdienst informiert.Jetzt erst merkst du, da ich nicht zu Hausebin, sagte ich.Ich suche dich seit einer Stunde. Im Hinter-grund lief der Fernseher, ich konnte Vittorio kaumverstehen.Ich habe dich aber angerufen, sagte ich laut.Das glaub ich nicht. Er klang mde, dabei warer heute gar nicht im Geschft gewesen.Du bist ziemlich zerstreut in letzter Zeit.Du meinst wohl dich selber.Ich horchte auf; da war er wieder, dieser Tonfall.Obwohl Vittorio mich in den letzten Monaten fre-undlich und zuvorkommend behandelt hatte, waretwas Gereiztes in der Stimme, das mir neu war.Na schn, vielleicht habe ich einem Fremden aufdie Box gesprochen.

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  • Wir schwiegen beide; ich konnte hren, wie erschluckte.Tut mir leid, sagte er, da war wirklich keineNachricht.Nachdem wir telephoniert hatten, war es langeruhig im Haus; auch aus der Frauenabteilung drangkein Klingeln in den unteren Stock, kein lautesRufen. Ich hoffte insgeheim, da Lucchi lutenwrde, weil ich gerne etwas ber diesen Neffen er-fahren htte, doch sooft ich in sein Zimmer schaute,schlief er fest, so fest, da ich mich mehrmals zuihm hinunterbeugte, um zu hren, ob er berhauptnoch atmete.Ich ruhte mich auf der Eckbank in der Kche ausund dachte an Vittorio. Unter Gewhlte Rufnummernhatte ich seine Telephonnummer gefunden, auchdas gestrige Datum und die Anrufzeit 21.15 Uhr. Ichberlegte, ihn zurckzurufen, um ihm zu sagen, ichknnte es ihm beweisen.War wenig zu tun, dehnten sich die Nchte. Ichwute nie, was mir lieber war: die Stille in derKche, die nur vom Klicken des Zeigers und vomgelegentlichen Rattern des Khlschranks unter-brochen wurde, oder das stndige Klingeln derHeimbewohner. Manchmal, wenn tagsber keineZeit gewesen war, um ein paar Stunden vorzusch-lafen, schlug die Mdigkeit mir auf den Magen, odermeine Schlfen schmerzten.Von sechs Uhr bis Dienstschlu muten diePflegeflle gewaschen werden. Im Sommer, wenn esan Personal mangelte, war diese Arbeit in einerStunde nicht zu bewltigen. Oft versuchte ich, frh-er damit anzufangen, doch diejenigen, die noch

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  • sprechen konnten, beschwerten sich, da ich sie sozeitig aus dem Schlaf ri.Mancini war Frhaufsteher; wenn ich dieKchentr ffnete, stand er schon im Eingangs-bereich vor dem Kaffeeautomaten und suchte imAschenbecher nach Kippen. Es war der einzige Ortim Haus, wo Rauchen erlaubt war. Hatte ich diePflegeflle versorgt, begleitete er mich zu den an-deren, von Zimmer zu Zimmer.Spter, Herr Mancini.Ich konnte es nicht erwarten, Lucchi aufzusuchen,doch Carelli klingelte an diesem Morgen zum drit-ten Mal; erst mute ich ihm die Illustrierte geben,die ich am Abend auf den Tisch gelegt hatte, dannein Glas Wasser holen. Nun lag seine Uhr auf demBoden. Zwischen dem Bett und der Kommode wargerade so viel Platz, da man die Laden rausziehenkonnte. Als ich mich bckte, um die Armbanduhraufzuheben, griff er mir an den Busen.Carelli!Er grinste. Bleiben Sie doch hier, bei mir, sagteer und hielt mich am Arm fest. Er hatte ein Einzelzi-mmer, weil er bereits mit neunundvierzig ins Heimgekommen war. Seit seiner Geburt litt er anGelenksversteifungen, die Arme waren davon weni-ger betroffen. Seine Mutter, mittlerweile selbstpflegebedrftig, hatte sich nicht mehr um ihn km-mern knnen. Lange Zeit hatte Carelli den Wunschgehegt, in seinem Bett ein Ei auszubrten. Er hattees sogar zweimal versucht. Da es ihm nicht gelin-gen wollte, lag weniger daran, da er die absoluteBrutruhe nicht htte einhalten knnen, als an der zuniedrigen Bruttemperatur und der zu geringen

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  • Luftfeuchtigkeit. Damit ein Kken schlpfen konnte,brauchte es konstant 37,8 Grad.Was soll ich noch tun? Sagen Sie es lieber gleich.Ich komme dann nicht mehr, egal wie oft Sieklingeln.Er prfte mit der freien Hand seine Uhr, indem ersie ans Ohr hielt. Die wird mich berleben, sagteer und lie mich los.Mancini hatte Rossi aus dem Zimmer geholt undschob ihn auf einem Sessel durch den Gang. Aberer kann doch gehen, sagte ich, lassen Sie ihn.Er will es so.Ich fragte mich, wie sich die beiden ver-stndigten. Rossi bewegte nur die Lippen, manch-mal so heftig, da sich in den MundwinkelnSpeichelreste sammelten.Der weie Schaum sind die Wrter, die wir nichthren, hatte Marta einmal gesagt. Rossis Hndewaren immer in seinem Gesicht, vielleicht wute er,da da etwas war, das weggewischt gehrte, dochseine Finger waren steif, es fiel ihm schwer, die ein-zelnen Bewegungen zu koordinieren. Er tastete berseine Nase, die Augen, die Stirn. Die Wrter bliebenin den Mundwinkeln.Vor Lucchis Zimmer stand der Wschewagen. Ichhatte gar nicht bemerkt, da meine Schicht zu Endewar.

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  • II

    Nichts schob sich zwischen den Himmel und dasabgeschabte Skelett, nur ein paar ausgetrockneteBsche am Horizont. Der Wind wehte und trieb diefeinen Staubpartikel ber den Krper. Trockenheitmodellierte Bruchlinien, Abschuppungen und Spal-ten in den Boden. Der aufgewirbelte Sand sammeltesich, lie Dnen entstehen, wachsen und wandern,bis sich die Wellen und Flchen wieder im Sturmverloren. Die Sandkrner drangen wie Nadelstichein die Haut.Irma kratzte sich, wlzte sich, rollte ber Schot-terfelder ohne Schattenschutz. Da waren nur welkeStrucher, einzelne Halme in Mulden, wie Kanlenin den Beugen stehengelassen. Die Luft vibrierte,keine Wolken. Irma tastete ber die Kratzspuren,die Verkrustungen und Faltungen ein Klingeln.Sie setzte sich auf, schttelte sich, fiel zurck insBett und griff nach dem Schalter. Der Strahl derLampe fuhr ihr in die Augen. Bevor sie noch Hallosagen konnte, erinnerte sie sich an Mutters terroris-ierten Blick; alle waren damals im Korridor zusam-mengelaufen: Vater in seinem gestreiften Pyjama,Mutter mit ihren von der Angst unkoordiniertenBewegungen, Richard, der ltere Bruder, der sichsogleich auf die Kommode gesetzt und die Arme vorder Brust verschrnkt hatte.Wer in der Nacht anruft, kann nur der Tod per-snlich oder dessen Botschafter sein, hatte Mutter

  • gesagt. Diese krperlosen Stimmen aus dem Hrerwaren ihr ohnehin unheimlich gewesen.Irma sah sich im Trrahmen zum Kinderzimmerstehen, sah Mutter als erste nach dem Hrer greifen.Ja? Sie hatte den Kindern eingeschrft, in derNacht niemals den Namen zu nennen, als knntensie sich dadurch dem Unglck entziehen. SpteStimmen, die ins Haus drangen, bedeuteten nichtsGutes. Allein das Stocken zu Beginn des Anrufs, dasbloe Atmen lie die Welt aus den Fugen geraten.Mutters Ja? war damals ein lautes Nein, das istnicht wahr gefolgt. Sie hatte sich an der Garderobefestgehalten. Wieder und wieder hatte Irma ihreMutter sagen hren: Nein, das ist nicht wahr. Nein.Nein. Dann war sie in die Schuhe geschlpft. Ichkomme sofort.Hallo, sagte Irma mit brchiger Stimme, undnoch einmal: Hallo. Sie bekam das Gesicht derMutter nicht aus dem Kopf. Kein Klingeln ohne Ers-chrecken. Jedesmal sah sie vor sich, wie alle imKorridor zusammenliefen, obwohl Irma schon langeallein lebte, allein mit ihrem Sohn.Frau Irma Svetly? Allgemeines Krankenhaus. Wirhaben eine Niere fr Sie.Irma stand neben dem Telephon, die Hand lag aufdem Hrer. Im Halbdunkel des Vorzimmers fand sieihr Gesicht im Spiegel. Kopf, Arme, die zittrigenBeine, das weite T-Shirt da waren nur noch Bruch-stcke. Wohin mit Florian jetzt in der Nacht?Sie begann durch die Wohnung zu laufen, machtealles gleichzeitig, zog sich aus, griff nach dem Kul-turbeutel, nach einem frischen Handtuch, streifte

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  • sich das alte Kleid ber, suchte das Adrebuch, umes wieder zurck auf den Schreibtisch zu legen,packte das Diktaphon in die Tasche und mute anMarianne denken, die seit vier Jahren an derMaschine war. Marianne wartete auf einen Anrufwie diesen, wartete, da die Abhngigkeit ein Endehaben wrde, sich die porsen Knochen erholten.Sie wartete mit geborgter Geduld. Und wieder hattees nicht Marianne getroffen.Ich mu Richard anrufen, dachte Irma. AberRichards Handy war ausgeschaltet. Sie versuchte esunter der Festnetznummer endlich ein versch-lafenes Wer spricht?Ist Richard bei dir?Nein. Vielleicht in seinem Zimmer. Ist etwaspassiert? fragte Davide.Das Krankenhaus hat angerufen. Ich krieg eineNiere. Irma hrte, wie Davide aufstand, das Stern-parkett knarrte unter seinen Fen.Das ist das ist groartig, sagte Davide. Hastdu es auf seinem Handy probiert?Es ist ausgeschaltet.Schon wieder. Davides Stimme war leise. Irmahrte, wie er seufzte. In seinem Zimmer ist ernicht.Kannst du Florian bernehmen?Ich komme gleich, sagte Davide.Gleich, dachte Irma noch, ist der Weg durch zweiBezirke. Sie zog sich wieder aus, stellte sich unterdie Dusche.Vor ein paar Jahren war jeder Klingelton noch einanderes Stck Hoffnung gewesen. Aber von FloriansVater hatte Irma nichts mehr gehrt. Sie hatte ihn

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  • angerufen, gewartet, ausgeharrt, hatte es klingelnlassen, bis aus dem Freizeichen ein Besetztzeichengeworden war. Wochen, Monate hatte Irma Rinohinterhertelephoniert am anderen Ende der Lei-tung war es still geblieben.Je lnger sie in den Hrer hineingehorcht hatte,desto schneller waren die Erinnerungen an seineWohnung in Rom verblat; all die kleinen Detailswie der Globe-Sessel am Fenster oder die Hn-gelampe aus Milchglas, die sie sich ins Gedchtnisgerufen hatte, um sich die Zeit des Wartens zu ver-treiben, waren irgendwann nicht mehr abrufbargewesen. Formen und Farben hatten nicht mehr ges-timmt. Von seinem Sohn hatte Rino nie erfahren. Erwrde auch nicht von Irmas Glck erfahren undschon gar nicht vom Unglck eines Fremden, dessenNiere in einem Styroporkasten, verpackt in Plastikund Eis, auf sie wartete.Irma drehte das Wasser ab, der Duschkopf entglittihrer Hand, schlug gegen das Knie. Sie konnte kaumnoch stehen, hatte Mhe, sich abzutrocknen, insKleid zu steigen.Die Kusine fiel ihr ein; sie hatten sich mehrmalsgestritten. Obwohl Greta Krankenschwester war,schienen ihr die Argumente der Transplanta-tionsgegner vertrauter als jene Irmas. Was den Todausmache, das knnten eben nicht die rzteentscheiden, hatte Greta gesagt und Irma vorgewor-fen, sie wrde den Tod immer nur vom eigenenLeben aus betrachten, immer nur als ihr eigenesEnde, nie als bergang. Es gbe keine Gewiheit,keine klare Trennungslinie zwischen Noch-Lebenund Schon-gestorben-Sein. Die einzige Gewiheit

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  • sei Gott. Greta hatte gut reden. Sie war nie krankgewesen, klagte ber gelegentliches Zahnfleis-chbluten. Die beiden waren sich seither nicht mehrbegegnet.Florian schlief ruhig. Als Irma ihn zudeckte undseine Wange kte, drehte er sich auf den Bauch.Nchsten Sommer werden wir zwei wieder ansMeer fahren, sagte Irma leise. Sie setzte dieStofftiere ans untere Bettende und eilte zum Fenster,damit sie Davide rechtzeitig abfangen konnte und ernicht klingeln mute. Irma drckte die Stirn gegendie Scheibe. Das Glas war angenehm khl. IhreHnde lagen auf dem Bauch, der sich immer wiederzusammenzog.Nein, das ist nicht wahr. Onkel Alfred lebt nichtmehr, hrte Irma die Mutter sagen. Alfred war ihreinziger Bruder gewesen, eine Art Familienersatz,nachdem der Vater im Juli 1941 an der Mur-manskfront gefallen war. Irma sah ihre Mutter vorsich, mit hngenden Schultern; sie hatte den Hrernoch in der Hand gehabt, als das Gesprch lngst zuEnde gewesen war, hatte an ihrem Nachthemd gen-estelt, Richard war von der Kommode gerutscht.Da drauen, dachte Irma, ist jetzt auch wer tot.Sie fuhr am Hochhaus der UNIQA vorbei, an derUrania, dem Regierungsgebude mit dem bombas-tischen Doppeladler. Irma betrachtete alles wie zumletzten Mal: die Reiterstatue des Feldmarschalls Ra-detzky vor dem Haupteingang des ehemaligenKriegsministeriums, die Postsparkasse, deren Fas-sade mit ihren Nieten an den Granit- und Marmor-platten an eine berdimensionale Geldkiste

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  • erinnerte. Irma fate nach der Tasche, nach denSchlaufen, hielt weiter Ausschau nach Gewohntem,Heimischem, aber die vom Ring abgehenden, imHalbdunkel liegenden Straen und Gassen sahenaus wie berall um diese Zeit, bla und leer.Bleiben Sie bei den Fakten; hier bei uns werdenSie nichts anderes erfahren, hatte Irmas rztin ein-mal gesagt.Als Richard zurckrief, bog das Taxi bereits in dieAlserstrae ein, nahm Kurs auf den Grtel. Richardsagte, er knne nicht verstehen, warum Irma die El-tern nicht benachrichtigt habe.Soll ich sie etwa beunruhigen und dann wirdnichts draus? sagte Irma. Du bist sauer, weilDavide es zuerst erfahren hat. Ein Glck, da erdich doch noch erreicht hat. Sag mal, wo bist dueigentlich?Richard schwieg.Reit euch vor Florian zusammen.Hast du jetzt keine anderen Sorgen, sagteRichard. Irma dachte an den Toten, an den irrevers-iblen Ausfall der Hirnfunktionen. War er auch wirk-lich tot? Oder lag er nur unumkehrbar im Sterben,hatte gar noch elementare Empfindungen? Das istausgeschlossen, hatte Irmas rztin gesagt, dieLebensmerkmale eines Lebewesens entstehen alledurch die Ttigkeit des Gehirns. Fllt das Gehirnaus, ist da nichts mehr. Nur ein warmer Krper mitschlagendem Herzen, war Irma damals eingefallen,aber sie hatte geschwiegen, denn ihr war klargewesen, was die rztin sagen wrde: Der spontaneAtemimpuls wird apparativ ersetzt; auf diese Weisegelangt Sauerstoff in die Lunge, und die

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  • Stoffwechselprozesse knnen weitergehen. Blut-druck und Herzfrequenz werden medikaments bee-influt, damit die Blutversorgung des gesamtenKrpers gewhrleistet wird.Und die Bewegungen? Hatte Greta nicht erzhlt,da sich die Hirntoten noch bewegen wrden? War-en es tatschlich nur reflexartige Zuckungen, dieber das Rckenmark gesteuert werden?Als Irma aus dem Taxi stieg, atmete sie durch.Das ist die letzte Frischluft fr lange Zeit, sagte siesich, der letzte Blick in den Himmel. Irma fand kein-en einzigen Stern. Rachen und Zunge waren trock-en, als htte sie nur durch den Mund geatmet.Sie wurde an die Maschine angehngt; noch einmalwusch sie ihr Blut. Die Stiche in den linken Unter-arm erschienen Irma wie Schlupunkte. Die Nadelnsprte sie kaum, obwohl sie die Dicke von Strick-nadeln hatten. In Gedanken war sie lngstwoanders, nahm ihr Diktaphon in die freie Handund sprach leise: Der Zufall und der Tod sind nichtunergrndlich, sie haben gemeinsam diese beruhi-gende Regelmigkeit.Hinter Irma surrte und piepste es; die vorerst let-zte Dialyse fand aus Mangel an Gerten in der In-tensivstation statt.Sie berlegte, nun doch die Eltern zu bena-chrichtigen, aber noch waren nicht alle Hrden gen-ommen. Man hatte die Blutzellen des Toten mit ihr-em Blutserum gemischt, um zu sehen, ob das Cross-match auch tatschlich negativ war. Zerstrte IrmasSerum die Spenderzellen, mute sie wieder nachHause zurck; die Niere erhielt ein anderer.

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  • Es war ein Kommen und Gehen. Neben Irma la-gen nur drftig abgeschirmt zwei Intensivpatienten.Die Schwestern und Pfleger kontrollierten Blut-druck, Puls und Temperatur, verfolgten die Kurvenauf den Gerten, notierten die Flssigkeitsmengenin den Infusionsbeuteln.Sie mssen nachher zum Rntgen, sagte eineder Schwestern, Sie sind doch Frau Svetly?Ja, antwortete Irma und dachte: Noch bin ichFrau Svetly. Wie wird es sich anfhlen, wenn dasOrgan eines Toten in mir lebt?Ich tue es fr mich und fr Florian, hatte Irmadamals zu Greta gesagt. Das sei nur verstndlich,hatte diese geantwortet, aber Irma solle zumindestklar sein, da sie ihr berleben einem fragwrdigenTod verdankte. Es widert mich an, da das pltz-liche Sterben, nein, nicht der pltzliche Tod, son-dern das Sterben mehr und mehr zur sozialen Fragewird. Ein Gesunder, der stirbt, sei verpflichtet, einemKranken zu helfen das ist doch anmaend, hatteGreta gesagt.Du bist ja ppstlicher als der Papst, hatte Irmaentgegnet. Sie wute, da die Kirche nichts gegenTransplantationen hatte, da fr sie der Krpernach dem Tod bedeutungslos war. Es galt, die Seelezu retten.Gretas Vorwrfe hatten Irma verletzt; sie warnicht auf diese Ablehnung vorbereitet gewesen. Alldie Freunde hatten ihr zugeredet, sich so bald wiemglich auf die Liste setzen zu lassen; auch derGroteil der Familienmitglieder war fr eine Trans-plantation gewesen.

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  • Was ist schon individuell, dachte Irma. Wir sindin dieses groe Ganze eingebunden und knnen unskaum rhren. Florian ist ebenso ungeplantentstanden, wie mein Spender mglicherweise un-vorhergesehen gestorben ist. Wir werden durchglckliche oder unglckliche Fgungen geboren,und manchmal ist es sogar der Zufall, der uns aus-lscht. Er korrigiert seine Fehler nicht. Das ist es,was ich Marianne sagen mu. Es gibt Phasen desNicht-Zufalls, in denen das Leben zh dahinfliet,durch nichts unterbrochen.Irma schaltete das Diktaphon ein, aber es wollteihr nichts mehr einfallen.Sie blickte auf die Maschine, die sie seit zweiein-halb Jahren am Leben erhielt. Was die Nieren nichtmehr schafften, hatte eine Filtermembran bernom-men, sie wusch die giftigen Substanzen dreimal proWoche mehrere Stunden lang aus Irmas Blut, entzogihrem Krper jene Flssigkeit, die er nicht mehr aufnormalem Wege auszuscheiden vermochte. Irmakonnte es gar nicht glauben, da Abgeschlagenheit,belkeit, Kreislauf- und Schlafprobleme ein Endehaben sollten.Wir stehen alle seit Monaten und Jahren auf derListe, hatte Marianne einmal gesagt, und wenn esuns trifft, wenn man uns endlich aus unserer Misererauszieht, knnen wir es nicht fassen. Das Glck istunglaubwrdig geworden.Auf dem Weg in die Rntgenabteilung sah Irma eineFrau mit verweinten Augen. Sie bltterte in einer Il-lustrierten. Dahinter sa ein Mann, der sein Gesichtmit den Hnden zudeckte. Unbekanntes Unglck,

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  • dachte Irma, Biographien, fr die ich keine Sprachehaben werde. Sie ertappte sich dabei, wie sie inner-lich Greta nachffte, diese gesunde Besserwisserin,die die Organtransplantation als Kannibalismusbezeichnet hatte.Wir wrden den Sterbenden das Leben rauben.Was fr Leben, fragte sich Irma. Himmel, die sichnicht mehr zeigten; Mnder, die nicht mehr sprac-hen. Herzen, die aufgrund von Maschinen schlugen.Rcheln. Gluckern. Zuckungen, die nichtsbedeuteten.Sie zog das Handy aus ihrer Jackentasche, whlteRichards Nummer. Ein junger Arzt ging an ihrvorbei, sagte aber nichts. Es dauerte eine Weile, bisRichard abhob.Hast du schon geschlafen? Ist mit Florian alles inOrdnung? Der Linoleumbelag in der Mitte des Kor-ridors hatte jeden Glanz verloren.Alles okay, meine Liebe. Mach dir keine Sorgen.Brauchst du noch was?Ich habe ihn aufgeweckt, dachte Irma.Richard rusperte sich, hustete.Ich war bis jetzt an der Maschine, deswegen habich nicht frher angerufen.Du mut dich nicht entschuldigen. Ich kann sow-ieso nicht schlafen, sagte Richard. Ich schau, daich da bin, wenn du aufwachst.Nicht ntig. Pa lieber auf Florian auf. GuteNacht. Da sie Angst habe, wollte sie noch sagen,aber er hatte aufgelegt.Einatmen. Luft anhalten. Sie berhrte das Klick-en des Rntgenapparats. In der Leere und Klte des

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  • Raumes fielen ihr Fragmente des Traumes ein. Inden letzten Wochen hatte sie immer wieder dieDnen vor Augen gehabt, den weien Sand, derber die Wste wanderte. Obwohl sie nie dortgewesen war, trumte sie immer wieder von Expedi-tionen auf den Steilhngen der Dnen; waren siebeim Aufstieg noch leicht begehbar, lste sich aufdem Grat eine Lawine nach der anderen. Die Schuhefllten sich mit Sand; Irma rutschte. Und dieSandkrner, einmal in Bewegung gesetzt, kamenlange nicht mehr zum Stillstand.Knnte ich nur wie die Straue in eine Art lethar-gischen Zustand verfallen, dachte Irma, einen Som-merschlaf halten, wenn die Situation unertrglichwird.

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  • III

    Ich stand mit Vittorio oberhalb der Piazza del Po-polo am Rande des Parks der Villa Borghese undschaute in den Himmel: Immer mehr Stare sam-melten sich. Sie kehrten in Gruppen von der Futter-suche zurck und formierten sich zu groen Sch-wrmen, die hin und her wogten. Wenn sie nochnicht so viele waren, flogen sie schneller und ingeringerer Hhe, hatten sie sich einmal zusam-mengefunden, um sich ihrem Schlafplatz zu nhern,schwenkten sie auf und ab. Unten rasten Autos ander Kirche vorbei, oben versammelten sich immermehr Vgel, kamen aus allen Himmelsrichtungen.Vittorio, sagte ich, la uns nach Hause gehen.Ich bin mde.Er reagierte nicht, betrachtete die Forma-tionsflge. Er hatte eine Hand auf der steinernenBalustrade liegen, mit der anderen zupfte er anseinem Nackenhaar. Die Auguren, sagte er,haben ihre Chancen fr wichtige politischeEntscheidungen aus den Vogelflgen abgelesen.Und wie erkannte man, was zu tun war?Das frage ich mich auch gerade. Wahrscheinlichhaben sie es deswegen irgendwann vorgezogen, denheiligen Hhnern beim Fressen zuzusehen; das warweniger umstndlich. Wenn ihnen vor lauter Gierdas Futter aus den Schnbeln fiel, war das ein gn-stiges Zeichen. Ich kann mir vorstellen, da sie dieHhner absichtlich haben hungern lassen, damit siedann besonders gierig waren. Vittorio sah mich an.

  • Du hattest Dienst, das habe ich ganz vergessen.Entschuldige. Gehen wir.Neben uns standen zwei alte Mnner; einer zog anseiner Zigarette, als habe er kaum Zeit, sie zu Endezu rauchen. Ich hielt nach einer lteren DameAusschau, seiner Ehefrau, vor der er vielleicht hierherauf geflchtet war, aber ich entdeckte keine, diezu ihm gepat htte. Auf den Treppen saen Ju-gendliche und spielten Karten; unten, auf dem Platz,lief eine japanische Reisegruppe einem gelbenSchirm hinterher.Die Steineichen vor dem Bahnhof sind ja regel-recht zugeschissen, sagte der zweite Alte undschttelte den Kopf, das gab es doch frher nicht.Und nichts hilft dagegen. Gar nichts. Nicht einmaldie Warnrufe aus den Boxen haben geholfen.Was fr Warnrufe? hrte ich den ersten.Na, irgendwelcher Feinde, was wei ich. Wersind die natrlichen Feinde? Du kommst doch vomLand, nicht ich.Vittorio fragte mich, wie die Nacht gewesen war. Erhatte sich eingehngt, umfate mit seiner Handmeinen Oberarm, drckte ihn; das verunsichertemich. Erst als wir die Villa Borghese erreichten, lieer mich los. Ich sah ihn erstaunt an, doch er er-widerte meinen Blick nicht. Wir gingen schweigendzum Ausgang. Auf der Strae erzhlte er, seine Mut-ter habe angerufen, die Klimaanlage sei ausgefallen.Ich mu wohl noch einmal kurz hin.Sie findet immer einen Grund, sagte ich.Es dauert nicht lange. Auerdem kommt Maurovorbei.

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  • Ich blieb stehen. Wir wollten doch heute den Tagallein verbringen.Ja, aber du hattest doch Dienst. Dann gehst dumeistens frher schlafen. Da dachte ich undMauro magst du doch. Vittorio war nun ebenfallsstehengeblieben und wartete, da ich weiterging. Erkickte mit der Fuspitze eine Zigarettenschachtelvom Gehsteig.Komm, sagte er mit fester Stimme, wir habendas nchste Wochenende fr uns. Er streckte mirden linken Arm entgegen. Als ich nach seiner Handgriff, war sie schlaff.Dann wird bei deiner Mutter der Khlschrankausfallen, das Backrohr explodieren oder der Sch-lauch zur Waschmaschine reien.Zu Hause klebte Vittorio noch schnell ein paar Pho-tos in die Kundenmappe, bevor er zu seiner Mutterfuhr. Es waren Abbildungen von neu erworbenenSthlen, Tischen und Lampen, die er in einer her-untergekommenen Halle in Testaccio eingelagerthatte. Fnfzehn Jahre suchte er nun schon nach al-ten Designermbeln, pflegte enge Kontakte mit En-trmpelungsfirmen, kaufte, was sich als brauchbarerwies, manchmal auch Kopien bekannter Mbel-stcke, die in gutem Zustand waren, reinigte undentstaubte die Ware, bevor er sie in seinem Geschftzum Verkauf anbot. Was nicht in dem Siebzigquad-ratmeterladen Platz fand, fhrte er in seiner Mappealphabetisch nach Designern geordnet.Angefangen hatte seine Leidenschaft zufllig: Erwar auf dem Weg zu seinem Cousin in einer Seiten-strae auf Arne-Jacobsen-Sthle gestoen, ohne zu

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  • wissen, da es sich um solche handelte. Es war derTag, an dem Enrico Berlinguer begraben wurde undalle seine Freunde Schwarz trugen. Eineinhalb Mil-lionen Menschen hatten dem Vorsitzenden der Kom-munistischen Partei die letzte Ehre erwiesen. Diezwei Sperrmllsthle mit dem geformten Schich-tholz waren fortan Vittorios Begleiter, obwohl dieUntergestelle aus Stahlrohr Rostflecken aufwiesen.Ich hatte es im Gefhl, da sie etwas Besondereswaren, erzhlte er jedesmal, wenn man ihn fragte,warum er Mbelhndler geworden sei. Ein Jahrspter entdeckte er die Serie 7, zu der auch seineExemplare gehrten, in einem Katalog und erfuhr,da Jacobsen damit auf der Mailnder Triennaleden Grand Prix gewonnen hatte. Das war 1957gewesen, im Jahr seiner Geburt. Man kann sich aufden Zufall verlassen, schrieb er zur Geschftser-ffnung auf die Einladungskarte. Den Jacobsen-Stuhl nannte er fortan seinen Geburtsstuhl, derden Geist seiner Entstehungszeit widerspiegele, frdie spteren, farbigeren Versionen konnte er sichnicht begeistern.Ich htte nicht rangehen sollen, aber jetzt war es zuspt. Die Hitze! Unvorstellbar! Vittorios Muttersthnte in den Hrer. Nein, das sprenge jedes Vor-stellungsvermgen. Unbeschreiblich! Gesternabend habe das Geblse noch funktioniert. Manknne doch nicht jedes Jahr eine neue Anlagekaufen.Vittorio ist auf dem Weg zu dir, sagte ichschnell, aber sie hrte mir nicht zu. Sie bleibe keineMinute lnger in ihrer Wohnung. Diese

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  • Temperaturen seien lebensgefhrlich. Unmglich.Das knnt ihr mir doch nicht zumuten.Ich hielt den Kopf schief, drckte den Hrer ge-gen die Schulter, damit ich die Hnde frei hatte, umdie trockene Wsche zusammenzufalten. Vittorio,wiederholte ich, mu jeden Moment da sein. Siefing wieder von vorne an. Ich lie sie reden, undwenn sie Atem holte, fr Augenblicke Stille eintrat,prete ich meine Wut in Hflichkeitsfloskeln. Erstnachdem es an ihrer Wohnungstr geklingelt hatte,legte sie auf.Fast jeden Morgen war ich um fnf Uhr wach,manchmal war es kurz vor sechs, selten spter.Kaum kam ich zu Bewutsein und versuchte michan etwas zu erinnern, fiel mir auch schon ein, wases war: Wir hatten wieder nicht miteinander gesch-lafen. Ich lag da, bewegungslos, mit geffnetenAugen.Vittorio schlief auf dem Rcken, atmete gleich-mig. Die Arme hielt er ber dem Kopf vers-chrnkt. Ich betrachtete sein Gesicht, die ber Nachtgewachsenen Bartstoppeln, die auf dem Kinn bereitswei waren. Er sah zugleich selbstbewut undschutzlos aus. Obwohl in der Wohnung ber uns dieZwillinge der Nachbarn herumtrampelten und aufder Strae die Alarmanlage eines Autos losheulte,rhrte er sich nicht, einzig die Finger seiner Hnde,die er locker zu Fusten geballt hielt, ffneten sichfr einen Moment, schlossen sich aber gleichwieder.

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  • Deine Finger ben das Fliegen, sagte ich zu Vit-torio beim Frhstck.Er trank stehend seinen Espresso, sah schon zumzweiten Mal auf die Armbanduhr. Was meinst dudamit?Nichts.Irgend etwas meinst du doch. Er stellte dieTasse in die Sple und ffnete fr einen Momentden Wasserhahn. ber die Jahre hatten wir unsereBewegungen so aufeinander abgestimmt, da wiruns in der kleinen Kche nicht in die Quere kamen.Wir muten einer dem anderen nicht einmal denVortritt lassen. War Vittorio im Bad, bereitete ichmir meinen Obstsalat zu, kam er in die Kche, umdie Caffettiera in Gang zu setzen, stellte ich michunter die Dusche. Wenn ich fertig angezogen war,roch es bereits nach Kaffee. Er setzte sich nie hin,obwohl es einen Hocker gab, den man an die An-richte schieben konnte.Du bewegst deine Finger, whrend du schlfst,sagte ich.Was ist daran ungewhnlich? Er schob seinlinkes Knie hinter die Khlschranktr, damit sienicht zufiel, whrend er einen Schluck Milch inmeine Tasse go. Ich mute an die warme Luft den-ken, die sich im Khlschrank ausbreitete, vermiedaber, ihn darauf aufmerksam zu machen.Vittorio, ich wollte mit dir Es wird spt heute, sagte er und strich mit demZeigefinger zweimal ber meinen Nasenrcken. Ernannte mich meine Liebe, bevor er sich umdrehte,um nach seiner Mappe zu suchen.

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  • Es hat keinen Sinn, ihn zurckzuhalten, berlegteich und nippte am Kaffee. Ich betrachtete den aus-gebesserten Kchenboden; an einer Stelle war derTerrazzo durch Zement ersetzt worden. Mitten aufdem mit bunten Natursteinstcken vermengtenEstrich war eine kleine graue Insel zu sehen. Ichmute daran denken, wie wenig ich die Lage derWohnung mochte. Sowohl die Fenster als auch derBalkon gehen auf Wohnblcke hinaus. Dabei warich einmal der Stadt wegen hierher gezogen.Vittorio hob den Arm, um zu gren, sah michaber nicht an; er zupfte an der Bgelfalte seinerHose, dann fiel die Wohnungstr ins Schlo.Ich trank den Kaffee aus, deckte den Obstsalat miteinem Teller zu und stellte ihn in den Khlschrank.Im kleinen Fenster ber der Sple sah ich, wie eineTaube mit hochgerecktem Krper und gefchertemSchwanz auf dem Gelnder des Balkons landete.Ich war auf dem Weg zu Carelli, als mein Blickdurch die glserne Eingangstr auf die Strae fiel.Ich erkannte die Frau, die sich vorletzte Nacht indie Mnnerabteilung verirrt hatte. Sie lehnte amZaun vor dem Heim, trug lediglich ein kurzes Nach-themd, das hinten offen war. Ihre weien Haarestanden in alle Richtungen. Ich nherte mich ihrlangsam, um sie nicht zu erschrecken. Sie bewegteihre Lippen, ich konnte aber im Morgenverkehrnicht verstehen, was sie sagte.Der Frotteestoff ihrer Hausschuhe wies dunkleFlecken auf; wahrscheinlich Kaffee. Die Reiskrnerwaren verschwunden.

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  • Kommen Sie, sagte ich, doch sie hielt sich mitbeiden Hnden am Zaun fest. Es sah aus, als httensich ihre Finger im Maschendraht verfangen; ichversuchte, sie einzeln aus den Drahtkarosherauszulsen. Kaum hatte ich ihre rechte Hand be-freit und machte mich an ihrer linken zu schaffen,nutzte sie die freie Hand, um sich wiederfestzukrallen.Nun kommen Sie schon. In einem der Fensterstand Mancini und beobachtete uns. Ich winktenach ihm, konnte aber nicht erkennen, ob er meinZeichen verstanden hatte. Das Personal wusch umdiese Zeit die Pflegeflle, deren Zimmer nach Sdenausgerichtet waren. Laut zu rufen wre zwecklosgewesen, zumal sich das einzige Fenster, das einenSpaltbreit offen war, im dritten Stock befand.Kommen Sie, ich bringe Sie nach Hause, sagteich nahe am Ohr der Frau. An den Schlfen war dasHaar von Schwei verklebt. Ihre Aufmerksamkeitrichtete sich auf alles, was sich besonders lautbewegte.Ich fahre mit Ihnen in die Via Nomentana, logich und ri an ihren Armen. Sie wippte ein wenigvor und zurck, lie aber nicht los. Fasziniertschaute sie einem Sattelschlepper hinterher, der mitDachziegeln beladen war.Ich wurde ungeduldig, packte sie an denHandgelenken. Die Haut ihrer Arme war trocken,stellenweise schuppte sie. Die Frau rhrte sich nichtvon der Stelle.Seien Sie vernnftig, sagte ich, wenn Sie ge-waschen und angezogen sind, fahren wir in die ViaNomentana. Haben Sie Kinder?

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  • Die Frau ignorierte mich. Ich glaubte sogar, inden leicht zusammengekniffenen Augen Verachtungfr mich zu erkennen. Je aggressiver ich sie anfate,desto starrer wurde sie. Hilfesuchend blickte ich dieFassade hoch, bis auf das eine Fenster waren nochimmer alle geschlossen.Da trat Mancini auf die Strae.Holen Sie die Schwester oder den Grtner, sagteich. Nein, bleiben Sie da. Wer wei, wie lange esdauert, bis Sie jemanden finden.Das macht drei Zigaretten, sagte er.Darber sprechen wir spter. Versuchen Sie ihreHand da rauszukriegen. Aber passen Sie auf, da Sieihr nicht weh tun.Drei Zigaretten.Ich lass mich von Ihnen nicht erpressen, HerrMancini.Okay, okay.Gehen Sie lieber, bevor ich wtend werde.Die Kraft der Frau mute etwas nachgelassenhaben, denn als ich erneut an ihren Armen zog, liesie pltzlich los. Beinahe wren wir beide zu Bodengestrzt. Der Zaun federte vor und zurck.Mancini ging auf den Eingang zu. Ich zerrte dieFrau hinter mir her. Wir kamen nur langsam voran.Drinnen warteten sechs Mnner, die gewaschenwerden wollten, und ich war hier drauen mit einerFrau beschftigt, die nicht zu meiner Abteilunggehrte.Mir fllt ein Stein vom Herzen. Es war die Sch-wester von vorletzter Nacht, die auf uns zugelaufenkam. Ich hab sie berall gesucht.

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  • Sie mssen sie anbinden oder einsperren, wie oftsoll ich Ihnen das noch sagen.Aber ich ich kann doch nicht ich kann siedoch nicht anbinden.Dann lassen Sie sich etwas anderes einfallen,sagte ich, bevor ihr etwas zustt. Ich dachtedaran, da ich mich selbst anfangs geweigert hatte,Gurte zu akzeptieren. Wer sich gewaltsam daraus zubefreien versucht, riskiert Quetschungen und Ner-venverletzungen, sogar von Strangulationen hatteich schon gehrt. Doch seit eine Frau abgehauenund in ein Auto gelaufen war, was die Angehrigenzu einer Anzeige veranlat hatte, war ich vorsichtiggeworden. Wir hatten weder Hftschutzhosen, dieOberschenkelhalsbrche verhinderten, noch be-saen wir Sensormatten, die in der Schwest-ernkche signalisierten, da ein Demenzkrankeraufsteht und sein Zimmer verlt. Und die Psycho-pharmaka wirkten oft nicht ausreichend.Ich drehte mich um und eilte zu Carelli.Im Zimmer roch es nach aufgebrauchter Nachtluftund Urin. Ich ffnete das Fenster, lie warmesWasser in die Waschschssel rinnen. Carelli hattesich die Kopfhrer bergestlpt und nahm michnicht wahr. Bevor ich ihn zu waschen begann,tippte ich auf seinen Arm.Machen Sie nur, sagte er, blickte mich kurz anund schlo wieder die Augen.Ich fuhr mit dem Waschlappen zwischen seineBeine, versuchte die Oberschenkel etwas ausein-anderzudrcken, aber sie waren steif wie Bretter. Eswird immer schlimmer, dachte ich, als ich ihnwusch. Meine Hand blieb zwischen seinen Beinen

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  • stecken; von Monat zu Monat verhrteten sich dieGliedmaen mehr, blieben selbst in der Liegeposi-tion angewinkelt, als se Carelli nicht nur tag-sber, sondern auch nachts im Rollstuhl.Darf ich Sie etwas fragen? Carelli nahm dieKopfhrer ab, griff etwas unbeholfen nach demHandtuch, das auf dem Bettrand bereitlag, undreichte es mir zum Nachtrocknen.Nichts Unanstndiges, sagte ich.Gibt es einen besonderen Grund, warum michMarta gestern nicht mehr gewaschen hat?Nicht, da ich wte. Sie haben sie doch nichtbelstigt?Hat Sie Ihnen etwas erzhlt? Er griff nachmeinem Unterarm, wartete auf meine Antwort.Nein. Nur, da Sie noch zu waschen sind.Warum?Dann ist es gut.Er hrte mit geschlossenen Augen Musik. Ichstraffte das Leintuch unter seinem gekrmmtenKrper, bezog die Kissen neu und steckte dieschmutzige Wsche in die Stoffscke.Es tut mir leid, da ich Sie angefat habe.Whrend er diesen Satz formulierte, hielt er die Au-gen geschlossen, drehte aber am Lautstrkereglerseines Walkmans, um zu hren, was ich sagte.Auch wenn sich da unten nichts mehr tut, habeich noch immer einen Kopf, verstehen Sie? Jetztschaute er mich an. Ich will nicht, da Sie sich ausMitleid mein Gegrapsche gefallen lassen. Einem an-dern htten Sie gewi eine Ohrfeige verpat. Stim-mts?

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  • Wenn mich nur einmal wieder einer anfate, vondem ich mchte, da er mich anfat, dachte ich. Ichzog die Wschescke hinter mir her und ging zurTr. Mglich, sagte ich.Bitte gehen Sie noch nicht. Ich , er beugte sichvor, um mich im Auge zu behalten, ich wollte Sieum einen Gefallen bitten. Der Walkman rutschtevom Bett und baumelte ber dem Fuboden. Als erihn zu sich heraufziehen wollte, hielt er nur nochdas Kabel in der Hand.Und das wre?Ich habe niemanden, den ich darum bitten kn-nte. Sie kennen ja meine Schwester, die ist so kath-olisch, da danke. Ich reichte ihm den Walkman.Da?Er mhte sich ab.Da ich sie nicht bitten kann, mir ein paarPornohefte zu besorgen.Das das kann ich nicht. Wie stellen Sie sich dasvor?Dann bitten Sie doch Ihren Mann. Der hat sicherwelche. Carelli lchelte und beobachtete gleichzeit-ig sehr genau, wie ich reagierte. Als er merkte, daich den Kopf schttelte, fgte er hinzu: War nureine Idee.

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  • IV

    Kaum war Irma wach, nickte sie wieder ein; dieGedanken verloren sich, die Stze verstummtentraumwrts, waren unhrbar fr die Schwestern undPfleger, unwiederholbar fr sie selbst. Wenn sienach wenigen Minuten, oft schon nach zwanzig,dreiig Sekunden, wieder die Augen ffnete, wennder Schmerz von allen Seiten an ihr zerrte, wutesie, da sie aufgewacht war und lebte. Sie fatesich, bewegte die Zehen, die Finger, die Augenlider,rmpfte die Nase. Nichts wnschte sie sich mehr, alsvon der rztin zu erfahren, da die Niere funk-tionierte, da sie nun frei sei und tun und lassenknne, was sie wolle. Die rztin war nicht in derNhe, und Irmas Stimme versagte, sobald jemand anihrem Bett vorberging.Die Uhr ber dem verchromten Waschbeckenzeigte fnf Uhr zwanzig. Irma wute nicht, welchenTraumspuren sie folgen sollte. Nirgendwo warenfestgetretene Pfade, welche die Entscheidung er-leichtert htten. Als sie das nchste Mal erwachteund einen Blick auf die Uhr warf, war es nach acht.Es gelang ihr, Zunge und Lippen etwas lnger zu be-wegen, Kraft zu bndeln, doch keiner von den sieumgebenden Menschen gab eine konkrete Antwort.Wir mssen abwarten, hatte der Pfleger gesagtund einen neuen Infusionsbeutel an den Stnder ge-hngt. Es she nicht schlecht aus, beruhigte sie diejunge Assistenzrztin. Irma betrachtete den un-gewhnlich hellen, fast weien Scheitel, der die

  • schwarzen Haare teilte, und die schmale Hornbrille,schlief wieder ein.Der Lichtstreifen, der Stirn und Augen traf, warwarm. Wie geht es Ihnen? Stndig wechselten dieGesichter. Auch das Zimmer hatte sich verndert.Statt der Kacheln sah Irma ein Fenster, dessenVorhnge halb zugezogen waren. Auf dem Tischhatte jemand eine Vase mit Blumen abgestellt. IhrBruder war da, sagte der Pfleger. Er zog die Deckezurecht, strich ber das Leintuch. Seine Handgriffewaren schnell und fest. Irma bewegte sich nicht. Siefrchtete, der Schmerz wrde bei der geringsten Re-gung zuschlagen, die Kopf- und Gliederschmerzenwrden sich verschlimmern.Das Nachbarbett war belegt, aber leer. Auf demNachttisch lagen mehrere Bcher, die Tageszeitung.Jemand ffnete die Tr, schaute herein, rief nachdem Pfleger. Vom Gang her waren Stimmen zuhren, das Schreien einer Frau.Sie ist angesprungen, sagte der Pfleger undlchelte, dann zog er die Tr hinter sich zu.Das Druckgefhl im Wundbereich wurde strker.Irma hob den Kopf; sie nahm jetzt zum ersten Malden Blasenkatheter wahr, die Drainagen. In der Hal-terung am Bettende steckte die Mappe, in die derPfleger die Flssigkeitsmenge eingetragen hatte, dieihr weiterhin ber die Vene zugefhrt werden sollte.Sie hatte nicht die Kraft nachzusehen, ob Temperat-ur, Puls und Blutdruck in Ordnung waren, hatte ver-gessen, was an ihrem Bett gesprochen worden war.Einen Augenblick glaubte sie sich zu erinnern, amfrhen Morgen zur Duplex-Sonographie gebracht

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  • worden zu sein. Sie war sich pltzlich sogar sicher,da man sie auf ihrem fahrbaren Bett in einenAufzug geschoben und in ein anderes Stockwerk ge-rollt hatte, dann wieder zweifelte sie, ob der Blut-strom in der Niere bereits gemessen und fr normalbefunden worden war. Der Sand, die Wste Irmaschlo die Augen, sah wieder die Schraffuren derFelsen vor sich, die Kmme und Spalten. Sie fuhrmit der Zunge ber die Lippen, ertastete kleineHautfetzen, versuchte sie mit den Schneidezhnenloszulsen, bis da und dort kleine Risse entstanden,die ein wenig bluteten und brannten. Sie htte jetztgerne etwas getrunken, aber das war nicht erlaubt,und die Zitronenstbchen, mit denen dieKrankenschwester oder war es doch ein Pfleger noch in der Nacht die Lippen befeuchtet hatte, kon-nten den Durst nicht vermindern, im Gegenteil; dersliche Geschmack wrde das Verlangen nacheinem Glas Wasser jetzt nur verstrken. Sie sehntesich nach der Fettcreme, mit der die Zahnarztassist-entin die Lippen bestreicht, bevor sie die Zhne zureinigen beginnt. berall dieser Sand, dachte Irma,whrend sie mit den Zhnen knirschte. Von fernvernahm sie eine Stimme. Sie sah Florian vor sichauf einem bunten Handtuch, wie er Puzzle-Wrfelordnete; er beschattete seine Augen, wenn er Irmaansah. So sehr sie sich auch bemhte, ihm beimZusammenstellen eines Bildes zu helfen, es gelangihr nicht, die verschiedenen Motive ausein-anderzuhalten. Der Schnabel des Raben ersetzte denElefantenrssel. Die Beine des Knguruhs hingen amRumpf der schwarzwei gefleckten Kuh. Und derWind hrte nicht auf, ihnen den feinen Staub ins

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  • Gesicht zu blasen. Wie geht es Ihnen? Die Stimmerckte nher. Schmerzen?Wieder berflutete das Licht den Raum; Irmakniff die Augen zusammen, ffnete sie erneut. Dawar noch ein anderer Satz gewesen. Es geht, abermeine Lippen sind so trocken, hrte sie sich sagen,whrend sie dieser Freude, die sich unerwartet inihr ausbreitete, die entscheidenden Wortezuzuordnen versuchte. Sie ist angesprungen.Richards alte Vespa fiel ihr ein, damals im Regenam Schottentor; sie hatte nicht mehr funktioniert,die Zndkerzen waren feucht geworden. Aber inIrma drinnen war jetzt etwas in Gang gekommen, esbewegte sich offenbar noch immer. Sie atmeteschneller, setzte sich auf, ertastete unter der Deckeihren Bauch, wagte sich nicht vor bis zu der Stelle.Schwindel erfate sie, als kme sie jetzt aus derWste, als lge der nackte Boden hinter ihr. Siemute nicht mehr zurck, vermochte in die andereRichtung zu schauen. Die Lcken wurden jetztkleiner. Es zeigten sich einzelne Grashalme. DieSperlingsvgel konnten ihren Schattenschutz im In-nern der Bsche verlassen.Die Niere ist gleich angesprungen, sagte Irma zuRichard. Sie strich Florian mit dem Handrckenber die Wange. Was fr ein Glck, da wir ein-ander wiederhaben, dachte sie. Er sa auf ihremScho und zog sich am Bettbgel hoch, dabeisttzte er sich mit einem Fu auf der Matratze ab.Als er den Bgel loslie, schnellte die Aufzugsstangegegen Irmas Kopf. Auf dem Leintuch war der Ab-druck seiner Schuhsohle zu sehen.

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  • Richard erhob sich aus dem Sessel, packte denKleinen am Handgelenk. Kannst du nicht zweiSekunden Ruhe geben. Der Mundschutz dmpftedie Worte, sie klangen fremd und in ihrer Unklar-heit weniger bedrohlich.Florian bewegte sich hin und her, und Irma hatteMhe, ihn von der frischen Wunde fernzuhalten.Gib Mama einen Ku, mein Liebling, sagte sie.Sein Mundschutz war verrutscht, er bedeckte nurnoch das Kinn, ein Stck des Halses.Was soll das? Richard hielt Florian zurck.Willst du das Organ gleich wieder loswerden?bertreib nicht, sagte Irma, die rennen hieralle ohne Schutz herum.Du bist so leichtsinnig.Genauso leichtsinnig wie du, wollte Irma sagen,aber sie schwieg. Richard hatte whrend seiner Bez-iehung mit dem Medizinstudenten aus Steyr keineKondome bentzt. Die beiden waren zwei Jahrezusammengewesen, hatten gleich nach ihrer erstenBegegnung einen Aidstest machen lassen und sichgegenseitig die Treue geschworen. Irma war damalsentsetzt gewesen, sie hatte Richard dumm und naivgenannt. Spter war ihr klargeworden, da er sol-che Vertrauensbeweise einforderte, um Kontrolleauszuben. Er brauchte eine sichere Beziehung imHintergrund, einen verllichen Davide, damit erfremdgehen konnte.Diesen Sommer fahren wir zwei ans Meer,flsterte Irma Florian ins Ohr; sie kmmte seineHaare mit ihren Fingern. Morgen, wiederholteFlorian laut und sah dabei Richard an, fahrenMama und ich ans Meer. Er kletterte vom Bett

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  • runter und zeigte, die Arme ber dem Kopf, wie erins Wasser tauchen werde. Ohne Schwimmflgel,sagte er, und Davide kommt auch mit. Er drehtesich um, ging rber zum Fenster und versuchte sicham Heizkrper hochzuziehen, war aber zu klein, umden Sims zu erreichen.Ich glaub, wir gehen jetzt, sagte Richard, undzu Irma gewandt: Morgen pat Davide auf ihn auf.Am Wochenende nehmen ihn die Eltern mit insWaldviertel. Weit du schon, wann du rauskannst?Hngt vom Medikamentenspiegel ab. Er ist nochimmer nicht richtig eingestellt, sagte Irma, viel-leicht Montag oder Dienstag. Wenn nur alles gutge-ht, dachte sie.brigens, Richard hatte den Kleinen schon aufden Gang geschoben, kein Sex. Ich habs nachge-lesen. Damit du Bescheid weit. Er zwinkerte mitden Augen, warf ihr einen Ku zu.Fr dich wre das doch eine Strafe, sagte Irma.Nachdem Richard und Florian das Zimmer verlassenhatten, schlo Irma erschpft die Augen. Die beidenwaren schon auf dem Gang gewesen, da hatte sichFlorian schreiend aus Richards Armen gestrampelt,war wieder ins Zimmer zurckgekehrt, um zuverknden, er bleibe bei Mama. Er hatte sich amLeintuch festgekrallt und zu weinen begonnen, alsihn Richard hochheben wollte. In diesem Momentwar Irmas Bettnachbarin hereingekommen. Siehatte eine Weile mit angesehen, wie Irma auf denKleinen einzureden versuchte, dann war sie aufFlorian zugegangen und hatte ihm von einem Buchmit dem Titel Anton und die Mdchen zu erzhlen

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  • begonnen. Florian war sofort zutraulich gewesen,und wenig spter hatte er sich zu der Frau aufs Bettgesetzt und in ihr Notizbuch gemalt. Er war nacheiner Weile ohne Widerrede mit Richard nachHause gegangen.Die Frau, hatte Irma nachher erfahren, warbereits elf Jahre transplantiert; sie hatte die Nierevon ihrer Mutter bekommen. Bei den letztenRoutineuntersuchungen war Eiwei im Harn fest-gestellt worden, kein gutes Zeichen.Irma tippte Mariannes Nummer ins Telephon, legtewieder auf, noch ehe wer abheben konnte. Obwohleine knappe Woche vergangen war, hatte sich Mari-anne nicht gemeldet. Gewi war sie von IrmasOperation unterrichtet worden; jede Transplantationsprach sich in der Dialyseabteilung herum, und eswurde jedesmal gerechnet, verglichen, wer schonlnger wartete, wer greres Glck gehabt hatte

    Glck nicht daran denken, sagte sich Irma unddachte an nichts anderes: Wie alt der Tote wohl. Woer denn. Ob er schon.Es war hei im Zimmer. Die Fenster lieen sichlediglich kippen. Aus Sicherheitsgrnden durften dieBalkone nicht betreten werden. Drauen, auf demachtspurigen Grtel, standen die Autos im Stau.Zweieinhalb Jahre hatte Irma nicht mehr als ein-en halben Liter Flssigkeit pro Tag zu sich nehmendrfen. Im Sommer war es schlimm gewesen.Manchmal hatte sie ihre Wohnung nicht verlassen,weil ihr dieses Gerusch von in Glsern klirrendenEiswrfeln unertrglich geworden war, ebenso wieder Anblick der Brunnen, Sprhanlagen und

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  • Plakate, die fr Mineralwasser warben. War sie insInnere eines Lokals geflchtet, hatte der Besitzergewi eine Vorliebe fr Zimmerspringbrunnen mitim Wasser laufenden Kugeln, Verneblern oderangeleuchteten, transparenten Mineralien gehabt.Irma leckte sich mit der Zunge ber die Lippen.Sie konnte jetzt wieder trinken; fast hatte sie es ver-gessen. Als sie aus dem Bett stieg, um ins Badezim-mer zu gehen, mute sie nicht mehr darauf achten,da sich die Kanlen des Katheters, der Drainage-und Infusionsbeutel beim Aufstehen nicht verhed-derten. Sie war davon befreit worden, war sogar im-stande, wackelig und ein wenig nach Atem ringend,bis zum Aufenthaltsraum vorzugehen. Die Zimmer-tr, die sie immer erwartungsvoll angeschaut hatte,konnte sie nun selber ffnen, und hinter dieser Trwar ein Gang mit weiteren Tren, durch die sie wiedurch ein Wunder in andere Zimmer gelangen kon-nte oder in ein Treppenhaus mit Aufzgen, die indie unteren Stockwerke fhrten, immer weiter indie Tiefe, bis auf die Strae. Sie mute sich nichtmehr mit diesem Blick nach drauen zu-friedengeben, sie kam jetzt selbst Tag fr Tag dieserWelt auerhalb ihres Zimmers nher, von der sie inden ersten Stunden nach der Operation geglaubthatte, sie wrde sie nicht mehr erreichen. Irma erin-nerte sich noch an die ersten Schritte, diese lang-samen Bewegungen, halben Drehungen, wie sie ander Wand entlang ins Bad gegangen war, den Grteldes Kimonos hinter sich herziehend, bis ihn dieKrankenschwester, die ihr fr den Fall, da ihrschlecht wrde, gefolgt war, ihn vom Boden aufge-hoben und in Irmas Seitentasche gesteckt hatte.

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  • Es klopfte an der Tr. Vielleicht ist es Marianne,dachte Irma, vielleicht kommt sie jetzt, nach ihrerDialyse, auf einen Sprung vorbei.Haben Sie kurz Zeit? fragte der Arzt.Irma hielt den Kopf gesenkt; sie war gute zwanzigZentimeter grer als der junge Assistenzarzt.Lauren Bacall fiel ihr ein, wie sie den kleinenHumphrey Bogart von unten angesehen hatte dieser devote Blick, der gar nicht devot war. DieBacall hatte so sehr vor den Filmaufnahmen gezit-tert, da der Kameramann mit dem Drehen auf-hren mute. Irgendwann war sie draufgekommen,da sie sich weniger frchtete, wenn sie den Kopfsenkte. Dieser Blick machte dann Furore.Aber ich frcht mich doch nicht.Wir haben seit gestern stabilere Werte, hrteIrma den Arzt sagen.Wie bitte?Stabilere Werte, sagte der Arzt.Am Nachmittag war das Gerusch eines Hubs-chraubers zu hren, der auf dem Dach der Kliniklandete. Vielleicht haben sie auch meinen Toten soins Krankenhaus gebracht, dachte Irma. Sie hatteden jungen Arzt auf ihren Spender angesprochen,aber nichts ber dessen Identitt in Erfahrung bring-en knnen. Wir sind verpflichtet, die Anonymittzu wahren, hatte der Assistenzarzt gesagt undweggeschaut. Irma waren seine Augen so starr er-schienen wie Gefangene im eigenen Gesicht.Es war hei; die Matratze war sogar im Sommermit blauem Nylon berzogen; Sparmanahmen, dieals Hygienemanahmen bezeichnet wurden. Das

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  • Leintuch klebte am Rcken, der Schwei rann imAusschnitt zusammen. Irma schlpfte in den Ki-mono und ging nach drauen. Vielleicht trifft esdieses Mal Marianne, dachte sie und schaute zumFenster hinaus. Die Propeller des Hubschraubers aufdem gegenberliegenden Dach hatten aufgehrt zurotieren.Wenn Irma die Augen ein wenig zusammenkniff,sahen die Dcher der Huser wie abgemhte Felderaus, von Grben zerfurcht, ausgedrrtes Niemands-land. Irma lehnte sich gegen den Mauervorsprungunter dem Fenster. Der Stoff des Kimonos hatte denSchwei aufgesogen, er fhlte sich khl an. Dasleichte Zittern machte ihr jetzt angst; sie sah sichnach einem Stuhl um, setzte sich.Alles okay, Frau Svetly? fragte der vorbeige-hende Pfleger und zwinkerte ihr zu. Irma nickte, ob-wohl sie mit der einen Hand die andere umklam-mert hielt.Eine ltere Frau verlie das Zimmer, schaute zuBoden, als suchte sie nach etwas. Sie trug ein Nach-themd, das hinten von zwei Bndern zusammenge-halten wurde und nicht einmal bis zu den Knienreichte. Wenn die Frau sich bewegte, fiel der dnneBaumwollstoff auseinander und gab den Blick aufden Hintern frei. Der Pfleger trat hinter die Frau,versuchte den Stoff zusammenzuhalten, die Fraudazu zu bewegen, in ihr Zimmer zurckzukehren.Doch sie wollte nichts hren und schlug mit derHand nach hinten. Dieses Bild, dachte Irma, ich willes nicht vergessen.

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  • Auf dem Fenstersims, direkt vor ihr, stand eineBlumenvase mit mehreren Rosen; die meisten lieenden Kopf hngen.Noch immer zitterten Irmas Hnde. Sie versuchtesich abzulenken, schaute zu der bemalten Vase,dachte an ihren Krper, an dieses Gef von Ge-wohnheiten, das ihr mit einem Mal alles andere alsureigen, als unveruerlich erschien. Das sind Kin-derlinien, dachte Irma und drehte die Vase. Sie ver-suchte die hngenden Bltenkpfe aufzurichten, in-dem sie sie an einen frischen Rosenstengel lehnte.Als sich die Hnde wieder beruhigt hatten, gingsie zurck in ihr Badezimmer, drckte den Hebel frdie flssige Seife, einmal, zweimal. Sie betrachtetesich im Spiegel und verga, was sie gerade tat.Drckte. Schaute. Wohin ich auch gehe, ich kommeber meinen Krper nicht hinaus. Drckte wiederund wieder. Komm und komm nicht hinaus, dachteIrma. Die klebrige, rtliche Flssigkeit rann durchihre Finger. Noch immer musterte sie ihr Gesicht.Die Wangen sind dicker geworden. Bild ich mir dasnur ein.

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  • VVittorio sa auf dem Sofa und hielt die Fern-bedienung in der Hand, obwohl er nicht zappte. Erfixierte den Bildschirm, schien aber unbeteiligt. DieFrage, woran er im Augenblick denke, stellte ichihm nicht, zu prompt hatte er die letzten Malegeantwortet: An die Arbeit, An meine Mutter war weiteren Fragen ausgewichen. Auf dem Tischlagen zwei Photos; das eine zeigte ein Sesselmodellvon Charles & Ray Eames. Sitzschale und Rcken-lehne waren mit Fell bezogen, doch die elastischenGummischeiben, die den berzug am Rahmen be-festigten, waren teilweise weggerissen, so da sichdas Fell auf der Sitzflche wellte; auf dem anderenBild waren blaue, rote und grne aufein-andergestapelte Plastiksthle mit Aluminiumbeinenabgebildet.Vittorio merkte nicht, da ich ihn betrachtete. Ichlehnte am Trrahmen zum Vorzimmer und dachtean Carelli, der offen sagte, was ihn beschftigte,auch wenn man es gar nicht wissen wollte. Rck-sicht nehmen, hatte mir Carelli einmal erklrt, seietwas fr Leute, die noch unterwegs wren. Er seilngst angekommen. Warum solle er noch ein Blattvor den Mund nehmen, wenn sich an seiner Lageohnehin nichts mehr ndern liee.Als das Telephon klingelte, blieb Vittorio sitzen,er drehte nicht einmal den Kopf, um zu sehen, obich dranging. Der Anrufer legte auf, nachdem ichmeinen Namen genannt hatte. Jemand mute von

  • einem ffentlichen Telephon aus angerufen oder dieeigene Nummer unterdrckt haben. Auf dem Dis-play war nichts zu sehen gewesen.Erwartest du einen Anruf?Vittorio legte die Fernbedienung auf das Sofa undstand auf. Nein. Er folgte mir in die Kche, nahmein Glas aus dem Schrank und griff nach der halb-vollen Mineralwasserflasche, die auf der Anrichtestand. Warum stellst du sie nicht zurck in denKhlschrank? sagte er.Du hast sie doch hier stehen lassen.Er hielt den Flaschenhals zwischen zwei Fingerneingeklemmt und lie die Plastikflasche vor seinemBauch hin und her baumeln.Ich ging zum Khlschrank und ffnete die Tr.Hier, bitte. Da hast du eine neue.Wortlos verlie er die Kche.Obwohl ich mde war, beschlo ich, ein paarSchubladen sauberzumachen, weil ich mich nicht zuVittorio ins Wohnzimmer setzen wollte. Als ich dasBesteck aus der Lade nahm, entdeckte ich berallBrsel. Vittorio hatte die Angewohnheit, das Brotber der herausgezogenen Lade durchzuschneiden.Das Besteck in der einen Hand, den Putzlappen inder anderen, fiel mein Blick auf die Trklinke. Ichlegte Gabeln, Messer und Lffel zurck, warf denLappen in die Sple und holte das Telephonbuchaus dem Vorzimmer.Kein Rino Lucchi. Auch kein Rinaldo. Vielleichtwar er gar nicht der Neffe von Herrn Lucchi. Gab eskeinen Nachwuchs in der Familie, wurden zuweilenauch die Tchter und Shne von guten Freunden alsNichten und Neffen bezeichnet. Ich konnte mich

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  • nicht erinnern, da Lucchi in den letzten Monatenviel Besuch gehabt htte. Kinder schien er keine zuhaben, oder sie kmmerten sich nicht um ihn.Manchmal kam eine gepflegte ltere Dame, die je-doch nie lange blieb. Marta hatte von Lucchi er-fahren, da die beiden dieselbe Schule besucht hat-ten. Spter habe die Frau seinen Hausarzt geheiratet eine gute Partie.Was suchst du? Vittorio stellte die leere Wasser-flasche ab.Nichts Wichtiges.Du antwortest mir nicht.Es ist nichts. Nichts, das dich interessieren kn-nte. Ich klappte das Telephonbuch zu und trat zumKhlschrank. Ich hab nachgesehen, ob Lucchi Ver-wandte hat.Du engagierst dich zu sehr, sagte Vittorio. Erlegte die Hand auf meine Schulter. Ich wollte sie ab-schtteln, entzog mich schlielich seiner Berhrung,indem ich in die Hocke ging, um aus dem unterstenFach des Khlschranks eine Dose Bierherauszunehmen.Wer war das vorhin?Keine Ahnung. Gab sich nicht zu erkennen. Istbrigens nicht das erste Mal. Ich schaute Vittorioan; er war zerstreut, griff nach dem Bier in meinerHand, das nicht fr ihn bestimmt war. Als er es be-merkte, stellte er die Dose auf die Anrichte, meinte,er msse seinen Kopf auslften, gehe einmal um denHuserblock, wre gleich wieder zurck.Kaum hatte er die Tr hinter sich zugezogen,beschlo ich, ihm zu folgen. Ich wartete kurz, bisich die Wohnungstr ffnete. Im Treppenhaus war

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  • es ruhig; ich hrte nur seine Schritte. Er hatte es ei-lig. Wenn nur die Nachbarin nicht aus ihrerWohnung kommt und laut grt, dachte ich.Vittorio lief um den Block, berquerte dann aberdie Strae, um zu telephonieren. Ich blieb hintereinem geparkten Jeep in Deckung und versuchte anseiner Mimik abzulesen, welcher Art das Gesprchwar, doch die vorbeifahrenden Autos versperrtenimmer wieder die Sicht. Vittorio schien wtend zusein, da er mehrmals mit der flachen Hand gegenden Telephonapparat schlug, dann lchelte er. Erwirkte verlegen.Als der Blumenhndler die Rollden seines Ladensherunterzuziehen begann, machte ich kehrt. Es warmir peinlich, in gebckter Haltung vor demGeschft zu stehen. Auerdem frchtete ich, daslaute Rattern knnte Vittorios Aufmerksamkeit aufmeine Straenseite lenken.Solange ich in seinem Blickfeld war, verbarg ichmich hinter den am Straenrand stehenden Autos,dann whlte ich eine Abkrzung durch die Innen-hfe. Auf dem Weg zu unserer Wohnung fragte ichmich, warum Vittorio ein ffentliches Telephonbentzte. Ich wollte ihn zur Rede stellen, schmtemich aber, sein Vertrauen mibraucht zu haben.Vittorio sollte mir nicht vorwerfen, da ich ihmnachspioniere. Dennoch griff ich, als ich an der Gar-derobe vorbeiging, in die Taschen seines Sakkos; sieenthielten mehrere entwertete Busfahrkarten undzwei gebrauchte Papiertaschentcher.Man wei nie genau, wann eine Liebe aufhrt,dachte ich spter, als ich mich aus dem Fensterbeugte, um nach Vittorio Ausschau zu halten, aber

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  • man sprt, wenn einer anfngt, das Ende an sichheranzulassen.Auf dem Balkon vor der Kche gurrte eine Taube;ich klatschte in die Hnde, weil ich nicht wollte,da sie die nasse Wsche verdreckte. Anstatt wegzu-fliegen, plusterte sie sich auf. Der Schnabel war weitaufgerissen.Ich ging noch einmal zur Garderobe zurck, uman den Papiertaschentchern zu riechen.Warum machst du das, hrte ich ihn sagen, ob-wohl er gar nicht in der Wohnung war. Ich lehntemich gegen die Wand, merkte, wie ich schwitzte. Esbedurfte nur eines Wortes, dachte ich, Aus oderVorbei, und alles war zerstrt. Wenn wir beideschwiegen, blieb alles beim alten. Ich atmete durchden Mund, hechelte wie die Vgel, von denen ichwute, da sie in der Hitze ihre Atemfrequenz er-hhen. Ich htte mich am liebsten ausgeatmet,aufgelst. Was tust du da, glaubte ich Vittorio zuhren, whrend ich ins Schlafzimmer eilte, umberall nach Beweisen zu suchen: in seiner Nacht-tischlade, im Kleiderschrank, in den Kartons unterdem Bett. Gleich wrde er von seinem Spaziergangzurckkehren. Als gelte es, der Wahrheit zu-vorzukommen, durchwhlte ich smtlicheSchubladen. Nichts. Nicht einmal Pornohefte.Carelli wrde enttuscht sein, und ein wenig warich es selbst.Ich hielt ein Photo von Vittorio in der Hand, alsich hrte, wie er den Schlssel ins Schlo steckte.Warum habe ich diese tief eingegrabenen Spurenauf seiner Stirn nicht frher bemerkt, dachte ich, alsich das gerahmte Bild auf den Nachttisch

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  • zurckstellte. Ich konnte mich nicht von der Stellerhren, stand da, mit dem Rcken zur Zimmertr,hoffte, er wrde nicht merken, da ich zwischenseinen Sachen herumgewhlt hatte. Ich hielt die Au-gen geschlossen. Gleich wrde ich alles erfahren.Ich hrte, wie er das Zimmer betrat, meinen Namenaussprach, vernahm ein Rascheln, das ich nichteinordnen konnte war es Papier? , ein verwun-dertes Hier bist du, schon umfate er meineTaille, drehte mich zu sich herum: Fr dich. Eswaren Iris. Im schwachen Licht des Schlafzimmerskonnte man die violetten Blten farblich kaum vonden Blttern unterscheiden, nur die gelben Zeich-nungen im Innern der Blumen sahen aus wieleuchtende Mandeln.Was ist, sagte Vittorio, freust du dich nicht?Ich hielt mein Gesicht seitlich an sein Hemdgedrckt, sprte jeden Knopf, rieb die Wange amdnnen Baumwollstoff.Schau mich an, sagte er, doch ich blieb, wo ichwar, drehte nur den Kopf weg, so da mein Gesichtnun zur Gnze von seinem Hemd zugedeckt war.Ich roch an ihm, nahm einen tiefen Zug, als wollteich mich vergewissern, da es Vittorio war, der vormir stand. Aber er war es nicht. Ich kann mich aufmeine Nase nicht mehr verlassen, dachte ich. Mirfielen die Experimente mit von Mnnern getragenenHemden ein. Die weiblichen Versuchspersonenmuten an verschiedenen Hemden riechen und denGeruch als angenehm oder unangenehm klassifizier-en. Paare, die sich riechen knnen, so das Ergebnisder Versuche, htten die grtenReproduktionschancen.

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  • Vittorio legte den Blumenstrau aufs Bett undnahm mein Gesicht in seine Hnde. Was ist los?Nun sag schon.Ich wollte mich von ihm abwenden, doch erzwang mich, ihn anzusehen.Es ist doch etwas.Ich schwieg, kmpfte gegen die Trnen an.La uns am Wochenende wegfahren.Das wird schwierig. Aber wir machen es uns hierschn. Vittorio lie mich los und griff nach denIris. Du solltest sie ins Wasser stellen.Magst du eigentlich, wie ich rieche? Ich wick-elte den Strau aus dem Papier.Du riechst wunderbar. Was du fr Fragenstellst. Vittorio ging zur Tr.Er roch mich nicht, hchstens mein Deodorantoder mein Parfum, davon war ich berzeugt. Erhatte mich schon seit Monaten nicht gerochen.Wenn der Krpergeruch dem immunologischen Ty-pus eines Menschen entspricht, berlegte ich, dannzeigt er auch an, ob der potentielle Partner Das wird schon wieder, unterbrach Vittoriomeine Gedanken.Das, wiederholte ich und trat aus dem Halb-dunkel des Schlafzimmers in das beleuchtete Vorzi-mmer. Du riechst nicht mehr wie frher, sagte ichschnell und bedauerte im selben Moment, ihn ver-letzt zu haben. Der Duft der Blumen ist nicht starkgenug, setzte ich nach, obwohl er mir leid tat. beruns hatte der Nachbar den Badewannenstpsel ausdem Abflu gezogen; es gluckerte in der Leitung.Vittorio rhrte sich nicht von der Stelle, als war-tete er darauf, da ich weitersprach. Seine Arme

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  • hingen herunter. Im Licht des Vorzimmers tratendie Winkel und Kanten scharf hervor. Nach demDmmerlicht im Schlafzimmer hatte der kleine aus-geleuchtete Vorraum etwas Bedrngendes, obwohldie Tren zum Schlafzimmer und zur Kche offenwaren. Wir standen uns gegenber; Vittorio verhar-rte, entsetzt, berrascht ich verstand es nicht. Ichhatte ihn ertappt, aber ich wute nicht, wobei. SeinKiefer zitterte leicht, als versuchte er sich zu kon-trollieren. Ich nahm ihm die Blumen ab, zerknlltedas Papier mit der anderen Hand, indem ich es ge-gen den Oberschenkel drckte. Gelbbrtige Iris,dachte ich.Das Gluckern in der Leitung hatte aufgehrt. Ichhrte nichts, nur das Papier bewegte sich; ich hattees auf den Schuhkasten gelegt. Der Knuel ffnetesich leicht, raschelte ein paarmal, dann trat wiederStille ein.Mama hat das Hemd gewaschen, sagte Vittorioruhig, ging zum Schalter und drehte das Licht ab.Als ich das letzte Mal ihren Keller ausgerumthabe, hat sie darauf bestanden, es zu waschen.Im Treppenhaus war in diesem Augenblick dieBeleuchtung ausgegangen; ich bemerkte es an derOberlichte ber der Wohnungstr, hinter der es jetztdunkel war.Sie benutzt wohl ein anderes Waschmittel, sagteVittorio. Er ging an mir vorbei, drehte sich abergleich wieder um. Du kannst nicht so weiter-machen. Stndig denkst du an die Alten, rennstihren Verwandten hinterher, machst Besorgungen.Jetzt schau mal auf dich, damit ich auch etwas vondir habe.

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  • Ich starrte auf sein Hemd. Es war aus hellblauem,durchscheinenden Baumwollbatist. Vittorio kaufteselten Kleidungsstcke; die wenigen, die er besa,waren ausgesucht und teuer. Deswegen glaubte ich,mich zu erinnern, da er von dieser Art Hemd nurein einziges, weies besa.Und deine Mutter? Ich wurde laut. Gibt es einWochenende ohne deine Mutter?Also was jetzt, sagte Vittorio, du beschwerstdich, da die Alten sowenig Besuch kriegen, regstdich aber gleichzeitig auf, da ich mich zuviel ummeine Mutter kmmere.Deine Mutter hat Freunde. Sie ist mobil,unabhngig.Mobil, unabhngig, er ffte meine Stimme nach,und was macht sie mit ihrer Mobilitt? Nicht jederhat einen Buena Vista Social Club, in dem er auftre-ten kann. Er drehte sich um, ging zum Fernseher,setzte sich.Obwohl er wute, da ich im Trrahmen stand,tat er so, als wre ich nicht da. Er schlo die Augen,ffnete sie nach kurzer Zeit wieder, weil die Sptna-chrichten begannen.Danke fr die Blumen, sagte ich und wandtemich ab, um nach einer Vase zu suchen.Ich wachte auf, als Vittorio zu Bett ging und sichdabei am Nachttisch stie. Er fluchte, tastete mitden Hnden nach dem Schienbein.Was hatte ich nur getrumt, es wollte mir nichteinfallen. Ich war auf einer Einkaufsstrae, aber ichwute nicht mehr, mit wem.

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  • Mach doch Licht, sagte ich zu Vittorio, dessenHand im Dunkeln nach meinem Gesicht suchte. Erstrich mir mehrmals ber die Stirn, kmmte mit denFingern meine Haare.Schlaf weiter, sagte er.Ich trug im Traum eine neue Hose, wahrschein-lich hatte ich sie noch nicht gewaschen, denn siewar steif und erzeugte bei jedem Schritt ein Wet-zgerusch, das sich anhrte wie der laute Atemeines Lufers. Wenn ich mich umdrehte, um denJogger zu sehen, war keiner da.Ich kann jetzt nicht weiterschlafen, sagte ich.Vittorio drehte sich zu mir herber, umfing michmit beiden Armen. Der sonderbare Geruch war ver-schwunden; er hatte geduscht.Tut mir leid wegen vorhin, sagte Vittorio, ichfinde es groartig, wie du dich um die Altenkmmerst.Er fing an, mich zu streicheln, und ich dachte, sostreichelt man einen Hund, von dem man will, daer bei einem sitzenbleibt. Ich war still, obwohl ichihm gerne widersprochen htte: da ich mich nichtkmmerte, nur das Notwendigste erledigte; da dieZeit fr alles andere fehlte, weil am Personal einges-part wrde; da ich weder Carelli die Pornoheftegekauft noch Mancini mit gengend Zigaretten ver-sorgt htte.Trum was Schnes, sagte Vittorio und kraultemeinen Nacken.Ich dachte an die Frau aus der anderen Abteilung,die jede Gelegenheit nutzte, um davonzulaufen. Inmeiner Vorstellung hatte ich ihr schon das Brust-geschirr umgelegt, wie es die Hunde der

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  • Polarforscher tragen, sie ans Bett gefesselt, um siean ihren Ausbrchen zu hindern.Wo hast du den Eames-Sessel her? fragte ichVittorio.Ist er nicht toll? Ein wahrer Glcksgriff.Ziemlich ramponiert, sagte ich und dachte andie kaputten Gummischeiben, wird schwer zu res-taurieren sein.Den darf man auf keinen Fall restaurieren. Esgibt immer mehr Kunden, die das Stck so wollen,wie es ist. Auerdem gebe ich ihn sowieso nichther.Jetzt sag schon, wo hast du ihn gefunden?In der Wohnung eines Amerikaners. Der Neffewollte das Zeug loswerden. Der hat keine Ahnung,was da alles rumsteht, sagte Vittorio. Er drehte sichvon mir weg, ich mich zu ihm hin. Ich fate nachseinen Hoden und begann sie zu kraulen, aber errhrte sich nicht. Schlaf jetzt, sagte er leise.In Abstnden von wenigen Sekunden heultenzwei Autosirenen auf. Ich zog mich auf meine Bett-seite zurck, lag am Rand und wartete, bis ichgleichmige Atemzge hrte. Dann stand ich auf,verlie auf Zehenspitzen das Schlafzimmer.

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  • VI

    Es war das erste Mal, da Irma nach drauen ging.Als sie die Praterstrae berquerte, begegnete siezwei chassidischen Familien. Am Freitag versam-melten sich die Moslems vor dem Eingang zurCzerninpassage, ber der sich die Al-Hidaya Mos-chee befand, am Sabbat waren die Juden unterwegsin die Tempelgasse. Irmas Wohnung befand sich aufhalber Strecke zwischen dem jdischen und dem is-lamischen Gotteshaus; vom Hinterhof aus konnte siedie Spitze des schlanken, achteckigen Fassaden-turms der Johannes-von-Nepomuk-Kirche sehen, einhistorisierender Bau, den sie in den sieben Jahren,die sie nun schon in diesem Bezirk lebte, noch niebetreten hatte. Die Kirche, deren Schutzpatron dasHochwasser zurckhalten sollte, war in den vierzi-ger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts erbautworden, zu einer Zeit, als die Leopoldstadt nochberschwemmungsgebiet gewesen war. Whrendder letzten groen berflutung, vor der endgltigenDonauregulierung, die man erst dreiig Jahre nachdem Kirchenbau in Angriff genommen hatte, warendie Hirsche und Rehe aus dem Prater zum Nord-bahnhof geflchtet.Irma liebte Brcken; deshalb hatte sie sich fr denzweiten Bezirk entschieden, fr die Mazzesinsel, wiedie Leopoldstadt von den Wienern einst genanntwurde. Richard wre es damals lieber gewesen, siehtte eine Wohnung in seiner Nhe bezogen, damit

  • sie auf den Kater aufpassen konnte, wenn er verre-iste. Das besorgte nun Davide.Inzwischen war Irma aber berzeugte Leopold-stdterin geworden, so wie Rino sich damals, als sienoch zusammen gewesen waren, unter keinen Um-stnden aus San Lorenzo fortbewegt htte oder ihreFreunde vom Prenzlauer Berg niemals nach Charlot-tenburg oder Kreuzberg ziehen wrden.Auf dem Weg zum Karmelitermarkt blieb Irmamehrmals stehen, um tief Atem zu holen. Obwohlsie jede Straenecke, jedes Haus zu kennen glaubte,war sie berrascht, was sie entdeckte. Es kam ihrvor, als htte jemand whrend ihrer zweiwchigenAbwesenheit das eine oder andere Haus neu zusam-mengesetzt. Da waren pltzlich Giebelgauben, dorthatte man das Satteldach mit Eternitplatten verse-hen. Einige Fenster wirkten wie frisch gestrichen,oder man hatte die alten Holzrahmen durch Kunst-stoffrahmen ersetzt. Wieder mute Irma an ihreKusine denken, die von den Transplantierten alsLegomenschen gesprochen hatte. Sie erschrak, alssie darber nachdachte, warum sich ihr Blick nachder Operation verndert haben mochte, hatte dasGefhl, als schauten noch ein Paar andere Augenaus ihr heraus, die nicht die eigenen waren. Legoau-gen, hrte sich Irma sagen. Als sie nach dem Dikta-phon in ihrer Tasche tastete, fand sie es nicht. Dermenschliche Krper sei kein Rechtsobjekt, hatteGreta gesagt, sondern Bestandteil der Persnlichkeitdes Menschen. Also sei ein Toter auch keine herren-lose Sache.Irma trat kraftvoll auf, sie beschleunigte ihre Sch-ritte; in der Ferne waren die Marktstnde zu sehen.

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  • Was fr ein schner Tag, dachte sie. Was fr einelaue Luft.Sie setzte sich vor dem Madiani in den Halbschatten,bltterte in einer Kunstzeitschrift, die auf ihremStuhl gelegen war. Es wrde auf den Inhalt, nichtauf die Dauer des Lebens ankommen, stand da unterdem Photo eines Galeristen. Er trug einen weienAnzug, sa am Rande eines Swimmingpools, dah-inter war ein Garten mit Skulpturen zu sehen, dieaussahen, als htte jemand mit ein paar Pinsel-strichen Vasen oder Flaschen in die Landschaftgezeichnet. Die Objekte aus Federstahl waren mitLuft gefllt.Da es einzig auf den Inhalt ankme, dachteIrma, das vermochte nur einer zu sagen, dessenLebensdauer von keiner unmittelbaren Krzungbedroht war. Irma kannte den Mann nicht, aber siewar sich sicher, da er nicht wute, was esbedeutete, ein gestrtes Selbstbild zu besitzen, nochdazu eines, das nicht nur vom eigenen nahen Tod,sondern auch vom Tod eines Fremden bestimmtwar.Sie legte die Zeitschrift beiseite, schaute sich dieSpeisekarte an. Alles wollte sie bestellen, alles, wasihr ber die Jahre zu essen verboten gewesen war:Salziges, Proteinhaltiges, Kaliumreiches. Richard,fiel ihr ein, hatte beim letzten Familienessen auf dieFrage, was er denn nun bei der Sicherheitskontrolleam Flughafen verdiene, geantwortet: Ich mu nochimmer auf die rechte Seite der Speisekarteschauen. Nachdem er sein Jusstudium abgebrochenund jahrelang Gelegenheitsjobs gemacht hatte, war

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  • er nun bei der SIKO, einer Tochtergesellschaft derAustrian Airlines, angestellt und durchsuchte dasGepck der Passagiere nach Sprengstoff, Waffenoder anderen unerlaubten Gegenstnden.Ich, dachte Irma, werde keinen einzigen Blick aufdie rechte Seite werfen; endlich ist die Speisekarteeine Speise- und keine Verbotskarte mehr. Sie schal-tete das Handy auf lautlos, um nicht gestrt zu wer-den. Aber im selben Moment mute sie daran den-ken, da sie wohl nicht aufhren wrde, den eigen-en Krper als Nullpunkt eines Koordinatensystemswahrzunehmen, mit dessen Hilfe sie alles um sichherum einteilte.Irma rckte mit dem Stuhl zur Seite, als sich einejunge Frau an den Nebentisch setzte. Die Frausuchte wie Irma nach ein wenig Schatten. Kaumhatte sie es sich bequem gemacht und die Sandalenausgezogen, lutete auch schon ihr Handy. Die Fraustritt sich mit einem Mann, nannte ihn einen Lgn-er. Das nchste Mal werfe ich nicht nur deineKrawatten aus dem Fenster, hrte Irma die Frauleise sagen, dann klappte die Frau mit dem kinnlan-gen, gewellten Haar, das Irma an Photos aus denzwanziger Jahren erinnerte, das Mobiltelephon zuund starrte in den Himmel, wo auer einesverblassenden Kondensstreifens nichts zu sehen war.Irma hatte jedes Wort verstanden, tat aber so, alshabe sie nichts gehrt und sei ganz auf ihr Handykonzentriert gewesen. Sie schrieb jetzt an Marianne:Du bist mir doch nicht bse. Warum meldest Du Dichnicht? Es wird auch dich treffen. Spter als frher,dachte Irma. Sie lschte das Geschriebene, legte dasTelephon auf den Tisch. Nichts vermochte

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  • auszudrcken, was sie empfand. Sie fhlte sich vomSchicksal bevorzugt und schmte sich dafr. Mari-anne, versuchte sie es ein zweites Mal, ich bin immerfr Dich da. Wie unmig und berheblich dasklang, wo sie es geschafft hatte, whrend Mariannenoch immer auf den Anruf aus dem Krankenhauswartete. Irma schien es, als wrde ihr Glck Mari-annes Unglck verstrken. Nachdem sie einengroen Vorspeisenteller bestellt hatte, gab sie sicheinen Ruck und whlte Mariannes Nummer. Aber inder Wohnung lief nur das Band, und das Handy warausgeschaltet.

    Knnte man nur die erste Wohnstatt verlassen, wannimmer man wollte, hatte Marianne einmal in einer E-Mail geschrieben, aber unser Krperschicksal ist en-dgltig. So oder so wird der Zufall hchstens ein paarvorbergehende Fenster errichten. Das Licht deranderen.Das Brillenglas der Frau am Nebentisch war sodunkel, da die Augen dahinter nicht zu erkennenwaren. Irma stellte sich vor, wie die Frau wtendins Schlafzimmer gelaufen war, die Schranktrgeffnet und nach den erstbesten Krawatten gegrif-fen hatte, um sie wenige Sekunden spter aus demFenster zu werfen. Sie fragte sich, wo wohl derMann zu diesem Zeitpunkt gewesen war. Hatte erbereits das Haus verlassen, und die Krawatten war-en ihm durchs Fenster nachgefolgt? Oder hatte eraus einem anderen Zimmer, vielleicht aus derKche, den Wutanfall der Frau beobachtet? Irmagriff nach ihrem Notizheft und schrieb: Die Krawat-ten segelten durch die Luft.

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  • Vor dem gegenberliegenden Marktstand, der wiealle anderen Markthuschen wie eine etwas zu grogeratene Garage aussah, schnitt ein Mann mit einerelektrischen Sge Rindsknochen und Schweine-hlften in Stcke und warf sie auf einen Schubkar-ren. Zwischen dem Fensterglas und den Rollos wim-melte es von Fliegen.Auf dem Weg nach Hause hatte Richard angerufen;er wollte sich vergewissern, da es Irma gutgehe.Ein Kollege war eingesprungen, hatte ihn fr dieDauer des Gesprchs am Frderband vertreten. ImHintergrund war das Gerusch der vorbeifahrendenKoffer zu hren gewesen; das aufgegebene Gepckwurde im Keller automatisch gerntgt. Bis vor einpaar Jahren hatte Richard noch die verdchtigenKoffer und Kisten herausfischen mssen, inzwischengibt es ein Vierstufensystem, in dem zuerst ein Com-puter entscheidet, ob das Gepckstck als unver-dchtig gilt oder ob es zum Hold Baggage Screeningkommt. Gibt es dann noch Fragen, wird es visuellauseinandergenommen. Erst Stufe vier sieht eineffnung des Gepcks in Anwesenheit des Besitzersvor.Lieber, hatte Richard erzhlt, stnde er oben, vorden Schleusen, und schbe die Plastikwannen mitdem Handgepck durch den Durchleuchtungsappar-at, aber im Keller verdiente er mehr. Irmafaszinierte, da Richard Dinge sehen konnte, die an-deren verborgen blieben. Er drang in das Intimlebenfremder Menschen ein, wenn er vor dem Monitorsa und die Bilder gefrieren lie. Sprengstoff, hatteer ihr einmal erklrt, knne aussehen wie ein Steak

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  • oder wie Bonbons; Glas und Keramik seien auf demBildschirm grn, Metall blau. Je hher das spezifis-che Gewicht eines Gegenstandes sei, desto dunklererscheine er auf dem Bildschirm. Bleikristall, Goldund Platin seien schwarz.Zu Hause angekommen, hatte sich Irma zuerst ein-mal ausgeruht; sie war noch immer schwach, erm-dete schnell; auf dem Sofa liegend hatte sie ihreKopien durchgeblttert. Nachdem sie aufgestandenund zum Regal gegangen war, konnte sie sich nichtmehr erinnern, was sie eigentlich wollte. Sie legteihren Kopf schief, las die Titel auf den Buchrcken.Gestern hatte sie sich von der Kche ins Schlafzim-mer begeben; es war ihr nicht eingefallen, warumsie das Zimmer berhaupt betreten hatte. Stndigfand sie sich irgendwo in ihrer Wohnung wieder,ohne zu wissen, was sie suchte. Dabei war Floriannoch bei ihren Eltern, er lenkte sie nicht ab. Erholdich erst, hatte Mutter gesagt, wir kriegen dasschon hin. Davide hat ja auch Zeit. Aber einelngere Erholungsphase konnte sich Irma nichtleisten; sie mute bis Ende des Jahres den erstenTeil ihres Projekts abschlieen, damit sie bei derArbeiterkammer um neuerliche Frderungen an-suchen konnte. Insgesamt hatte sie erst sieben Inter-views transkribiert, zuletzt jenes mit Hans Luderer,dem Futteralmacher. Es war nicht sehr ergiebiggewesen. Dessen Grovater hatte noch Behltnissefr Toilettenartikel und fr optische Instrumenteerzeugt, Luderer selbst war nur noch auf Brillen-etuis, Mappen und Pappkstchen spezialisiertgewesen und hatte aus Preisgrnden auf die

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  • Verzierungen an den Futteralarbeiten verzichtet.Seine Aussprache, erinnerte sich Irma, war so un-deutlich gewesen, da sie Richard hatte bittenmssen, sich das Band anzuhren, weil sie mehrereWrter nicht verstanden hatte.Sie mute sich beeilen; der letzte WaldviertlerBandelkrmer, den sie mit viel Mhe hatte ausfindigmachen knnen, war ihr weggestorben. Es gelangihr gerade noch, das hlzerne Tabulett, das er beiseinen Verkaufstouren nach Wien und Umgebungvor dem Bauch getragen hatte, zu photographieren.Und dummerweise hatte sie sich nicht frhzeitig umZwirn, Schnre und Bnder gekmmert, so da dereigentliche Zweck des Tabuletts auf dem Bild ver-borgen bleiben wrde.Vor dem Bcherregal befiel Irma eine unklareAngst. Was, wenn diese pltzliche VergelichkeitGrnde hatte, wenn sie der Anfang einer nochschlimmeren Krankheit war, wenn der Tote, vondem ihr niemand hatte sagen drfen, wer ergewesen war, ihr Gedchtnis zu manipulieren, esnach und nach zu zerstren trachtete?Sie stellte sich pltzlich vor, wie das Transplantatim Styroporkasten am Flughafen die Sicherheitskon-trolle passiert hatte. Was war am Monitor zu sehengewesen? Eine orangefarbene zehn Zentimeter langeund fnf Zentimeter breite Bohne? War der Tote vi-elleicht gar nicht aus sterreich? Hatte man das Or-gan eingeflogen? War es gerngt worden?Unsinn, sagte sich Irma. Sie kehrte dem Bcher-regal den Rcken zu. Ihr Herz schlug schneller. Ir-gendwo hatte sie einmal gelesen, da man nur sel-ten bestimmen knne, was man in einem gewissen

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  • Moment denkt. Also kann man auch nicht immerbestimmen, was man erinnert und was nicht. IhreHand glitt ber den Bauch. Die neue Niere war insBecken transplantiert worden. Irma befhlte diekleine Wlbung links unterhalb des Nabels.Nochmals versuchte sie alles von Anfang an zurekonstruieren nichts. Sie stand zwei Schritte vomBcherregal entfernt, aber es schien ihr, als wrenes mehrere Meter. Sie rief sich die Namen ihrerFamilie ins Gedchtnis, deren Geburtstage, zhltedie Berufe auf, die sie in ihrem Projekt bercksichti-gen wollte, von der Amme, dem Bader und demBarchentweber bis hin zum Wachszieher, Zaum-schmied und Zinngieer. Doch kaum versuchte sieherauszufinden, was sie vor dem Bcherregal ge-sucht hatte, sah sie nur die von der Sonne verbo-gene Kerze auf dem Tisch und Florians roten Baggerin der Ecke neben dem Fenster.Die Grillen zirpten, Spatzen landeten auf den Zwei-gen der Platanen, starteten wieder los, nachdem sieauf den Fru