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Rückkehr aus dem Reich der Toten

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Rückkehr aus dem Reich der Toten

Henry Clement

1.

An einem Vorfrühlingsabend, wenn die Luft noch angenehm frisch ist, gibt es nichts Schöneres, als die Madison Avenue in den New Yorker East Sixties entlangzubummeln. Die Schaufenster der Kunstgalerien und der kleinen, teuren Spezialitätenläden sind noch erleuchtet, und man kann immer wieder stehenbleiben und sich die vielen hübschen Sachen ansehen. Noch gemütlicher ist es, wenn man einen Hund spazierenführt.

Die Gegend ist immer noch sehr vornehm, wenn auch viele der alten Villen zusammengefallen sind und neuen Apartmenthäusern Platz gemacht haben, die trotz ihres mondänen Stils eine Aura von diskretem Luxus ausstrahlen. Aber in den Seitenstraßen, be-sonders zwischen der Fifth und der Madison Avenue, in unmittel-barer Nähe des Central Park, lebt immer noch die alte New Yorker Garde in ihren Sandsteinhäusern.

Das Haus Nummer sechsundzwanzig in der East 67th Street war etwas größer als seine Nachbarbauten. Es hatte vier Stockwerke, war sehr breit, und die Kalksteinfassade wirkte ziemlich imposant.

Aber an jenem Abend um halb neun warfen ihm die meisten Passanten nur einen flüchtigen Blick zu. Sie waren zu sehr damit beschäftigt, ihre Hunde zu rufen oder sich mit ihren Begleitern zu unterhalten, um vor dem Haus stehenzubleiben und auf die Fens-ter mit den dicht geschlossenen Vorhängen zu blicken, durch die nur schwaches Licht drang. Und kein einziger Spaziergänger machte sich die Mühe, zu den dunklen Fenstern im zweiten Stock hinaufzusehen.

Eines jener unbeleuchteten Fenster war geöffnet, und eine dün-ne Musselingardine bauschte sich im Abendwind. Eine Frau lag schlafend im Dunkel, ihr Gesicht war verzerrt vor innerer Anspan-nung und Angst.

Mrs. Sarah Wilson war Ende Fünfzig, aber sie sah noch älter aus. Sie hatte eine spitze weiße Nase, und ihre Augen waren von unzähligen zarten Krähenfüßen umrahmt. Ihre schmalen Lippen

zitterten im Schlaf, und ihr graues Haar, das in dünnen Strähnen auf dem Kissen lag, wirkte ungepflegt.

Drückende Stille lag über den massiven, altmodischen Möbeln des Schlafzimmers, über den silbernen Kämmen und Bürsten auf dem Toilettentisch, über den Flaschen, die auf der Marmorplatte des Nachtschränkchens standen.

Sarah Wilson seufzte im Schlaf, wälzte sich unruhig hin und her. Dann lag sie wieder stumm und reglos in ihrem Bett, nur die lan-gen Finger, schmucklos bis auf den schmalen goldenen Ehering, zerrten an der fadenscheinigen malvenvioletten Überdecke, als wären sie entschlossen, nicht auch noch den letzten Kontakt mit der realen Welt zu verlieren.

Und während sie schlief, kroch ein klirrendes Geräusch ins Zim-mer. Die zarten metallischen Klänge schienen aus einer verborge-nen Spieldose zu kommen, formten sich zu einem klagenden klei-nen Lied.

Es war eine Melodie, die man nicht so leicht vergessen konnte – halb fröhlich, halb melancholisch. Eine wehmütige Walzererinne-rung aus dem Wien vergangener Tage – wenn jenes romantische Wien wirklich jemals existiert hatte. Und die Musik klang merk-würdig gedämpft…

Langsam hoben sich Sara Wilsons Lider. Einen Augenblick lang starrte sie durch das graue Dunkel, auf die vertrauten Umrisse ih-rer Möbel, als hätte sie sie nie zuvor gesehen.

Dann drangen die Klänge der Spieldose in ihr Bewußtsein. Reg-los lag sie da, nur ihre Finger zupften nervös an der Satindecke, als sie der seltsamen Musik lauschte.

Wie eine düstere Wolke legte sich die Angst auf ihr altes, müdes Gesicht. Ihre hellen Augen glitten suchend durch das Schlafzim-mer, versuchten die schwarzen Schatten in den Ecken zu durch-dringen.

Sie räusperte sich, fuhr sich mit der Zunge über die trockenen Lippen und flüsterte: »Elaine?«

Sie erhielt keine Antwort.Keine Stimme, nicht einmal ein leiser Schritt war zu hören. Nur

die klimpernden Klänge aus der Spieldose drangen zu Sarah Wil-son.

Sie preßte die dünnen Hände an die Ohren, um diese Töne nicht mehr hören zu müssen. Aber der melancholische Walzer verfolgte sie hartnäckig, schien die Schatten ringsumher zu beleben. Ihr

Herz klopfte heftig und schmerzhaft gegen die Rippen. Und doch waren die Herzschläge nicht laut genug, um diese quälende Musik zu übertönen.

Sie erhob sich, griff nach ihrem Morgenmantel und legte ihn um ihre mageren Schultern. Langsam ging sie auf die massive Tür zu. Sie war verschlossen. Sarah Wilson zögerte. Minutenlang stand sie im Dunkel, fuhr sich mit beiden Händen durch das schüttere Haar. Dann drehte sie den Türknauf und öffnete die Tür.

Auch die Halle war von Schatten erfüllt. Sie blickte auf die dunklen Damasttapeten, auf denen die Bilder in ihren schweren, geschnitzten Goldrahmen wie schwarze Löcher wirkten.

Die Türen der beiden anderen Schlafzimmer waren geschlossen. Voller Unbehagen sah Sarah Wilson zu der Treppe hinüber, die zu den oberen Stockwerken führte. Schweigendes Dunkel lag auf den Stufen. Nur die Melodie war immer noch zu hören, lauter jetzt und eindringlicher.

Lautlos ging Sarah Wilson den Flur entlang, ihre Hand tastete über das glatte Holzgeländer. Die Treppe, die ins Erdgeschoß hin-abführte, war breiter als die andere, und ihr Marmor schimmerte weiß in der Dunkelheit.

Mit zitternden Händen zog sie den Morgenmantel enger um sich.»Elaine?« flüsterte sie. »Elaine? Bist du das?«Sie wartete vergebens auf Antwort. Und die Spieldose klimperte

weiterhin ihr leises trauriges Lied.Langsam stieg Sarah Wilson die breite, geschwungene Marmor-

treppe hinab.Nur eine schwache Glühbirne brannte in der Eingangshalle und

half ihr, die Umrisse der massiven Haustür zu erkennen, den Bo-gengang, der in das langgestreckte Wohnzimmer führte.

Hinter dem Wohnzimmer lag der Speisesaal, aus dem kein Laut herandrang. Auf der anderen Seite der Halle mit ihrem schwarz-weiß gemusterten Marmorboden führte eine hohe Eichentür in die Bibliothek.

Langsam und angstvoll stieg sie die Stufen hinab, stützte sich auf das Geländer, von den Klängen des Walzers verfolgt.

Schließlich erreichte sie keuchend den Fuß der Treppe. Sie blieb stehen, versuchte mit ihren Blicken das Dunkel zu durchdringen. Ihr Mund war trocken, ihre Kehle eng. Angespannt lauschte sie.

»Elaine?« flüsterte sie noch einmal.

Plötzlich verstummte die Musik, als hätte jemand auf einen He-bel gedrückt und die Spieldose ausgeschaltet.

Sie stand in der atemlosen Stille, und eisige Angst stieg in ihr auf.

Sie war in ihrem eigenen Haus. Die meisten Jahre ihres Lebens hatte sie hier verbracht. Sie kannte jede Ecke dieses Hauses, je-des Möbelstück, jeden Teppich, jedes Bild. Mit verbundenen Au-gen könnte sie durch ihr Haus gehen, sie würde sich ohne Schwierigkeiten zurechtfinden. Und doch war sie von einer uner-klärlichen verzweifelten Furcht erfüllt.

Und in diesem Augenblick spürte Sarah Wilson, daß außer ihr noch jemand im Haus war.

Irgend jemand stand hinter ihr.Langsam drehte sie sich um und blickte die Treppe hinauf. Und

dann stieß sie einen zitternden Angstschrei aus.

2.

Sarah Wilson sah die Umrisse der Gestalt, die da im Dunkel stand – auf der obersten Stufe. Ein Schatten, der drohend aufrag-te… Es war unmöglich zu erkennen, wer oder was dieser Schatten sein mochte.

Angstvoll umklammerte sie mit einer Hand das Geländer und preßte die andere auf ihr Herz, als sie nach oben starrte.

Die Stimme, die aus ihrer engen Kehle kam, war kaum zu ver-nehmen.

»Elaine?«Und jetzt tauchte die Gestalt aus dem Dunkel auf und begann

langsam die Treppe herabzusteigen.Es war ein junges Mädchen von zwanzig Jahren - schlank, mit

langen Haaren und barfuß, gekleidet in verblichene Bluejeans und eine Bluse, deren Zipfel unter der Brust verknotet waren.

Sarah preßte die Hände auf den Mund»Oh – Ruth!« stammelte Sarah. »Du bist es…«»Du benimmst dich lächerlich, Mutter«, sagte Ruth Wilson un-

geduldig. Sie war vor der zitternden Frau stehengeblieben.Blinzelnd sah Sarah Wilson ihre Tochter an. Sie sagte nichts.»Warum liegst du nicht im Bett?« wollte Ruth wissen.»Ich habe etwas gehört«, sagte Sarah Wilson mit dünner Stim-

me, wie ein verängstigtes Kind.Ruth Wilson machte eine wegwerfende Handbewegung.»Und warum sind alle Lampen abgeschaltet?« fragte sie.Sie durchquerte die Halle, ging auf einen Lichtschalter zu und

drückte darauf. Der große Kristallüster tauchte ihre Gesichter in kaltes, grelles Licht.

»Du hättest dir den Hals brechen können«, sagte Ruth.»Es war Elaine«, erklärte Sarah Wilson.Ruth gab keine Antwort.»Ich weiß es«, sagte Sarah und sah ihre Tochter flehend an.Ruth ging auf sie zu, ignorierte ihre Bemerkung, den Ausdruck

von Panik in dem müden, alten Gesicht.»Du weißt doch, was der Arzt gesagt hat. Du sollst im Bett blei-

ben.«»Du glaubst, daß ich verrückt bin«, flüsterte Sarah Wilson.Ruth seufzte voller Ungeduld.»O Mutter!«Sarah Wilson schüttelte den Kopf.»Ich weiß, daß du das denkst.«Ruth nahm ihren Arm. »Komm jetzt, ich bringe dich in dein

Zimmer. Der Doktor hat gesagt, daß du viel Ruhe brauchst, und deshalb gehst du jetzt wieder ins Bett. Glaub mir, ich meine es nur gut mit dir.«

Sie führte ihre Mutter die Stufen hinauf.Aber auf halber Höhe der Treppe blieb Sarah Wilson stehen.»Ruth…«, sagte sie zögernd.»Was ist denn, Mutter?«Sarah Wilsons Stimme klang unsicher.»Ich wünschte fast, Mark würde nicht kommen.«Ängstlich sah sie in Ruths Gesicht, ihre Augen flehten um Zu-

stimmung.Aber Ruths Miene war abweisend.»Du weißt, daß du dir das nicht wirklich wünschst, Mutter.«Sie legte den Arm um Sarah Wilsons Schultern, versuchte sie

die Treppe hinaufzudrängen.Aber ihre Mutter blieb hartnäckig stehen. Ihr Atem ging schwer,

ihr Gesicht war aschfahl.»Ich weiß nicht mehr, was ich will«, flüsterte sie. »Ich kann mir

nicht helfen, Ruth… Ich habe solche Angst.«Ruth blickte hilfesuchend zum ersten Stock hinauf und zuckte

dann mit den Schultern, als wisse sie, daß sie ohnehin vergeblich auf Beistand hoffte.

Ihre Mutter stand reglos neben ihr, als wäre sie aus kaltem Stein gemeißelt. Eine halbe Ewigkeit schien zu verstreichen, bis sie endlich einen zitternden Seufzer ausstieß. Ihr Körper schien sich zu entspannen, und sie ließ sich von Ruth die restlichen Stu-fen hinauf und in ihr Schlafzimmer führen.

»Du brauchst dich nicht zu fürchten, Mutter«, sagte Ruth be-sänftigend. »Deine Angst ist völlig unbegründet.«

Hinter ihnen dehnte sich die lange, geschwungene Marmortrep-pe – leer bis auf die Schatten, die das kalte Licht des Kristallüs-ters auf die weißen Stufen warf.

3.

Wenige Minuten nachdem Ruth ihre Mutter ins Bett gebracht hatte, hielt ein Taxi vor dem Haus in der East 67th Street.

Zwei Menschen stiegen aus und warteten, während der Fahrer den Gepäckraum öffnete und zwei Koffer herausnahm, an deren Griffen Fluglinienschilder hingen.

Der Mann bezahlte den Fahrer und gab ihm ein großzügiges Trinkgeld. Der Wagen fuhr davon und verschwand im Verkehrss-trom von Manhattan. Das junge Paar blieb einen Augenblick lang vor dem Portal stehen, im Licht der Straßenlampen.

Mark Wilson blickte auf die Fassade des Hauses, das er so gut kannte. Dies war sein Heim, in dem er den Großteil seines ein-unddreißigjährigen Lebens verbracht hatte. Die widersprüchlichs-ten Gefühle regten sich in ihm. Aber seine klaren Gesichtszüge verrieten nicht, was er dachte oder empfand.

Laura Wilson sah zu ihm auf und wünschte sich, daß ihr Mann weniger streng und zurückhaltend wäre, daß er sie an seinem Ge-fühlsleben teilhaben ließe.

Sie war jung, Anfang Zwanzig, und sehr empfindsam. Und sie spürte fast schmerzhaft, wie verkrampft Mark war, weil er sich ständig bemühte, nichts von seinen Emotionen zu verraten. Laura war keine Schönheit. Aber sie war hübsch auf eine erfrischende amerikanische Art. Mit der Zeit würde sie verblühen wie eine je-ner vergessenen Frühlingsblumen, die man manchmal zwischen den Seiten von Gedichtbänden findet.

Sie war schüchtern, leicht zu beeinflussen, unsicher und stets bemüht, anderen Menschen gefällig zu sein. Und vor allem war sie bestrebt, Mark jeden Wunsch von den Augen abzulesen.

Als sie jetzt ihren Blick von Mark abwandte und das Haus be-trachtete, das so sehr zu seinem Leben gehörte und das sie nun zum erstenmal sah, war ihr Interesse von leiser Nervosität über-schattet.

Das Haus erschien ihr viel zu groß für eine einzige Familie. Viel-leicht, dachte sie, kam ihr das nur so vor, weil sie noch nie in New York gelebt hatte. Jedenfalls fühlte sie sich fremd hier. In dieser riesigen Metropole hatte sie das Gefühl, die kleine ruhige Stadt im mittleren Westen, in der sie geboren und aufgewachsen war, läge auf einem anderen Stern.

Mark sah sie an.»Nervös?« fragte er.»Ein wenig«, erwiderte sie mit einem zaghaften Lächeln.»Wir können es uns immer noch überlegen«, sagte er. »Wenn

du lieber in einem Hotel wohnst…«Sie straffte die Schultern und sah ihm in die Augen.»So nervös bin ich nun auch wieder nicht«, antwortete sie und

versuchte, ihrer Stimme einen zuversichtlichen Klang zu geben.Sie wollte hinzufügen, daß nichts ihr Angst einjagen konnte,

wenn er an ihrer Seite war. Aber sie wußte aus Erfahrung, daß Mark auf solche Bemerkungen mit Unbehagen reagierte.

Er zuckte mit den Schultern und griff nach den beiden Koffern. Er drehte sich nicht um, als er den Gehsteig überquerte – so si-cher war er, daß sie ihm folgen würde. Er ignorierte den großen Windhund, der an einer langen Leine am Haus vorbeigeführt wur-de, und stieg die breiten Kalksteinstufen zu der massiven ge-schnitzten Eingangstür mit ihrem Messingklopfer hinauf.

Laura stieg ihm nach. Es überraschte sie, daß die Fenster des Hauses alle so dunkel waren. Es überraschte sie auch, daß Mark den Türklopfer nicht hob.

Sie stand hinter ihm, wartete und schwieg, aus Angst, sie könn-te ihn mit einer unpassenden Bemerkung verärgern. Er zog sei-nen Schlüsselbund hervor, betrachtete die Schlüssel und steckte dann einen davon ins Schloß.

Lautlos glitt die Tür nach innen. Mark wandte sich um und ließ Laura den Vortritt.

Mit großen Augen betrat sie die Eingangshalle. Ein schwerer

dunkler Lüster hing von der Decke. Sie ließ den Blick über den schwarzweiß gemusterten Marmorfußboden wandern, über die großen Spiegel in ihren geschnitzten Rahmen.

Ein schwacher Blütenduft lag in der abgestandenen Luft.Mark folgte seiner Frau in die Halle, lautlos fiel die Tür hinter

ihm ins Schloß.An ihrer Seite blieb er stehen, blickte sich mit kaum verhülltem

Widerwillen um.»Nichts hat sich verändert«, sagte er. »Nichts…« Er unterbrach

sich und sah sie fragend an. »Nun, wie gefällt dir das Haus?«Laura dachte, daß es noch zu früh war, um sich ein Urteil über

das Elternhaus ihres Mannes zu bilden. Sie hatte noch nichts da-von gesehen, außer dieser geräumigen, leeren Eingangshalle. Aber sie wußte, daß Mark auf eine Antwort wartete. Also mußte sie irgendetwas sagen. Hilflos suchte sie nach Worten.

»Es – ist sehr groß.«»Das Haus hat vierzehn Räume«, sagte er. »Du kannst sie zäh-

len. Es sind genau vierzehn.« Er zuckte mit den Schultern. »Nun, jedenfalls bin ich hier aufgewachsen. Du wolltest das Haus doch sehen, nicht wahr?«

Sie legte eine Hand auf seinen Arm. »Wärst du lieber in ein Ho-tel gegangen? Bereust du es, daß du mich hierhergebracht hast?« Er runzelte die Stirn.

»Ich hasse dieses Haus. Ich wünschte, es würde bis auf die Grundmauern niederbrennen.«

Abrupt ließ sie seinen Arm los. Es war ihr, als hätte sie sich an seiner Bitterkeit verbrannt.

»Mark!« rief sie. »Wie kannst du so etwas Schreckliches sagen!«

Er schloß sekundenlang die Augen.»Als ich noch ein Kind war, glaubte ich, daß in jeder Ecke Geis-

ter lauerten. Und nachts hörte ich seltsame Geräusche. Dieses Haus ist ein finsteres Loch, Laura - ein häßliches, finsteres Loch.«

Laura lachte nervös und unsicher.»Willst du mir Angst machen?«Er sah zu Boden, in seine eigenen Gedanken versunken, gab ihr

keine Antwort.»Nun«, fuhr sie fort und zwang sich zu einem zuversichtlichen

Lächeln, »das würde dir nicht gelingen. Ich finde das Haus sehr schön.«

Sie wandte sich von ihm ab und wies auf den Torbogen.»Was liegt denn dahinter?« fragte sie in spöttisch-geheimnisvol-

lem Ton. »Eine dunkle Geisterhöhle?«»Nein – der Salon«, erwiderte er tonlos.»Oh, ich habe mir schon immer gewünscht, einen Salon zu ha-

ben«, erwiderte sie mit gespielter Fröhlichkeit.Er blieb mitten in der Halle stehen, sah ihr schweigend nach, als

sie zur Tür der Bibliothek ging.»Und hier ist die Bibliothek, nicht wahr?« Er hob die Brauen.

»Wieso weißt du das?«Sie drehte an dem schweren Knauf aus Messing und öffnete die

Tür.»Ich wußte es nicht«, entgegnete sie. »Es ist mir nur so einge-

fallen…«Sie trat in den großen dunklen Raum, und Mark folgte ihr.»Man kann ja gar nichts sehen«, sagte sie. »Mach doch bitte

Licht.«Er ging zur Wand und drückte auf den Lichtschalter. Auch wenn

die Deckenleuchte brannte, wirkte der Raum düster. Er war mit dunklem Holz getäfelt, und die Bücherregale reichten bis zur De-cke hinauf.

Ein schwerer geschnitzter Schreibtisch mit einem abgewetzten Lehnstuhl und ein durchhängendes Ledersofa waren die einzigen Möbel. An einer Wand hing eine Sammlung afrikanischer Masken.

Laura sah sich um.»Hier könnte man sich wirklich fürchten«, sagte sie halb spöt-

tisch, halb ernst.»Das war das Lieblingszimmer meines Vaters«, erklärte Mark in

gleichgültigem Ton.»O Mark!« rief sie. »Es tut mir so leid. Aber das konnte ich doch

nicht wissen…«Aber es war, als hätte sie nicht gesprochen. Er sah sich um in

dem großen Raum, seine Gedanken schienen in die Vergangen-heit zurückzuwandern.

Dieses Haus ist ein Teil seines Lebens, dachte sie. Ein Teil, den sie nicht fassen konnte. Würde sie jemals in jene Geheimnisse eindringen können?

»Mein Vater saß oft stundenlang hier«, fuhr er fort. Und voller Bitterkeit fügte er hinzu: »Nur hier fand er Zuflucht.«

»Zuflucht?« wiederholte Laura. »Wovor mußte er denn fliehen?«

»Vor meiner Mutter.«Sie ließ die Finger über die leere, polierte Schreibtischplatte

gleiten. Sie wußte, daß sie nun irgend etwas sagen mußte. Aber sie war sich nicht sicher, was nun von ihr erwartet wurde.

»Ich werde sehen, ob ich jemanden finden kann«, sagte Mark. »Bleib inzwischen hier.«

Er ging in die Halle hinaus, ohne sich noch einmal umzusehen.Unbehagen erfüllte Laura, als sie in der großen dunklen Biblio-

thek allein war. Solche Räume hatte sie bisher nur in Filmen ge-sehen.

Sie ging zu einem der Regale, versuchte die Buchtitel zu lesen, konnte sich aber nicht darauf konzentrieren. Und plötzlich hatte sie das unheimliche Gefühl, beobachtet zu werden.

Sie wirbelte herum.Dann sah sie, daß es nur eine der afrikanischen Masken gewe-

sen war, deren Blick sie im Rücken gespürt hatte. Das Gesicht mit der hohen, gewölbten Stirn, den vorstehenden Zähnen, den wei-ßen toten Augenhöhlen und dem wirren, verstaubten Haar erschi-en ihr ungewöhnlich häßlich.

Laura mußte über ihre sinnlose Angst lächeln. Sie ging zu der Maske und blickte sie herausfordernd an.

»Buh!« machte sie.Aber ihr Mut war nicht echt. Noch immer war sie von quälendem

Unbehagen erfüllt. Unwillkürlich erschauerte sie. Dann drehte sie sich mit einem gezwungenen Lachen zu Mark um, wollte ihm be-weisen, daß sie sich nicht wirklich fürchtete…

Aber natürlich, Mark war ja nicht da. Sie hatte vergessen, daß Mark sie in dem großen, düsteren Raum allein gelassen hatte.

Plötzlich war ihr eiskalt. Sie sank auf das Ledersofa, verschränk-te zitternd die Arme und wartete verzweifelt auf Marks Rückkehr.

4.

Inzwischen war Mark die Treppe zum zweiten Stock hinaufge-stiegen. Er ging auf das Schlafzimmer seiner Mutter zu, als er ra-sche Schritte hörte, die von der zweiten Etage herabkamen.

Es war Ruth.»Mark!« rief sie aufgeregt, noch bevor sie den zweiten Stock er-

reicht hatte.

Er wandte sich zu ihr um, die Falten auf seiner Stirn glätteten sich, und er lächelte erfreut.

»Ich dachte, ich hätte jemanden gehört…« Sie war auf halber Höhe der Holztreppe stehengeblieben.

»Hallo, Ruthie!« sagte er.Sie lief die restlichen Stufen herab, warf sich in seine Arme.»Mark!« rief sie atemlos. »Mark!«Sie preßte sich an ihn, und dann sah sie unsicher zu ihm auf,

als müsse sie sich vergewissern, daß er es wirklich war.»Wann bist du angekommen?« fragte sie.»Vor etwa fünf Minuten. Das Taxi ist in Rekordzeit vom Kenne-

dy-Flughafen hierhergefahren, ob du es nun glaubst oder nicht.«Er küßte sie auf die Stirn, und dann schob er sie sanft von sich,

um sie anzuschauen.»Wie geht es dir, Ruthie?«»Ich bin froh, daß du hier bist – also geht es mir gut.« Sie hatte

ihren älteren Bruder bewundert, seit sie denken konnte. Liebevoll blickte sie zu ihm auf. »Mark, du siehst einfach großartig aus.« Und ein wenig neidisch fügte sie hinzu: »Es tut dir sichtlich gut, in Rom zu leben.«

Er zuckte mit den Schultern.»Ein Job wie jeder andere. Sprechen wir lieber von dir.« Er

grinste. »Hast du ein paar neue Freunde, Ruthie?«»Nur einen«, entgegnete sie würdevoll.Er hob die Brauen, und sie beantwortete seine unausgesproche-

ne Frage.»Oh – Mutter ist nicht mit ihm einverstanden.«»Natürlich nicht«, sagte Mark. Er wies mit dem Kinn in die Rich-

tung von Mrs. Wilsons Schlafzimmer. »Ist sie noch auf?«Ruth nickte.»Unglücklicherweise.«Mark ging auf die Tür seiner Mutter zu.»Warte!« rief Ruth ihm nach. »Nur einen Augenblick. Erzähl mir

von deiner Frau!«»Was willst du wissen?«»Was werde ich schon wissen wollen?« stieß Ruth ungeduldig

hervor. »Wie ist sie?«»Du kannst sie selbst fragen«, erwiderte er. »Sie wartet unten

in der Bibliothek.«Ruth sah ihren Bruder verwundert an.

»Sie ist hier?«Er nickte.»Du bist erst zwei Wochen mit ihr verheiratet – und du bringst

sie hierher – in dieses Haus?« Sie starrte ihn ungläubig an.Mark ignorierte ihre Frage.»Geh hinunter und kümmere dich um sie. Ich möchte jetzt Mut-

ter begrüßen.«»Mark…« Ruth schüttelte langsam den Kopf. »Du mußt verrückt

sein.«Einen Augenblick lang sahen sie einander schweigend an. Dann

wandte Mark sich ab.»Geh jetzt zu ihr«, bat er.»Mark…«Er runzelte ungeduldig die Stirn.»Was noch?«»In welchem Zimmer wollt ihr wohnen?«»Sei nicht komisch, Ruth!« stieß er hervor. »Ich warne dich.«Wortlos wandte Ruth sich ab und stieg die Treppe hinunter.Fast unmerklich straffte Mark die Schultern, bevor er leise an

die Tür seiner Mutter klopfte.

5.

Die Nachttischlampe brannte. Aber obwohl das Licht, das durch den rosa Schirm drang, Sarah Wilsons Züge weicher erscheinen ließ, sah Mark die Spuren des Alters und der Sorge in dem einst schönen Gesicht.

Sie lag im Bett. Er saß neben ihr in dem kleinen, zierlichen Lehnstuhl, an den er sich so gut erinnern konnte. Der Sessel war mit verblichenem malvenfarbenem Satin bezogen. Ihre schmale Hand mit dem dünnen Ehering lag auf seinem Arm, und sie lä-chelte ihn liebevoll an. Die Haut um ihre hellen Augen wirkte wie vergilbtes Pergament.

»Zwei ganze Jahre!« wiederholte sie immer wieder. Plötzlich hob sie die Brauen. »Ich glaube, du bist gewachsen. Steh doch auf! Ich möchte es sehen.«

Mark preßte die Lippen zusammen und unterdrückte das Gefühl der Ungeduld, das in ihm aufzusteigen drohte, trotz all seiner gu-ten Vorsätze.

»Ich glaube nicht, daß ich noch gewachsen bin, Mutter«, sagte er kurz angebunden.

Sie merkte nicht, daß er sich nur mühsam beherrschte, ver-träumt lächelte sie.

»Der Leiter des römischen Büros… Ich bin so stolz auf dich, Mark.« Sarah Wilson richtete sich auf. »Ich kaufe dein Magazin jede Woche.«

Er erinnerte sie nicht daran, daß er ihr ein Abonnement ge-schenkt hatte. Er sagte nur: »Es ist nicht mein Magazin, Mutter. Ich bin nur ein Angestellter des Verlages.«

»Ja, aber…«»Was sagt der Arzt?« fragte er rasch.»Ich soll mich ausruhen – immer nur ausruhen«, antwortete sie

seufzend. »Pillen nehmen…« Ihre Stimme erstarb. Sie schwieg eine Weile, und dann sagte sie eifrig: »Du hast also wieder gehei-ratet. Mark, ich war so glücklich, als du es mir geschrieben hast.«

»Sie wird dir gefallen, Mutter«, versicherte er. »Sie ist sehr warmherzig und liebenswert.«

»Das freut mich«, sagte sie aufatmend. Dann biß sie sich auf die Unterlippe. »Weiß sie Bescheid über…«, sie zögerte, bevor sie den Namen aussprach - »… über Elaine?«

»Sie weiß, daß ich schon einmal verheiratet war«, erwiderte Mark mit kalter Stimme. »Mehr braucht sie nicht zu wissen.« Dann fügte er etwas sanfter hinzu: »Du wirst mir doch helfen?«

Sarah starrte ihn verwirrt an.»Ich? Ich soll dir helfen?«»Ja, Mutter – du. Ich möchte, daß du jenes Thema vermeidest,

solange wir hier sind.«»Hier?« Ihre Finger gruben sich in seinen Arm. »Du hast sie

hierhergebracht?«Marks Gesicht war ausdruckslos.»Ich versuchte es ihr auszureden, aber sie wollte unbedingt das

Haus sehen.«»Aber ich dachte – ich…«, stammelte Sarah Wilson. »Ich war so

sicher, daß du…«»Laura ist hier, Mutter«, sagte er mit fester Stimme.Angst verzerrte ihr bleiches Gesicht.»Aber das geht nicht, Mark. Sie darf nicht hierbleiben…«»Es wird schon alles gutgehen«, versicherte er. »Wenn du nicht

davon sprichst…«

Sarah Wilson schüttelte verzweifelt den Kopf.»Du verstehst das nicht. Mark. Du mußt sie sofort aus dem

Haus bringen.«»Das werde ich auch tun, Mutter. In ein paar Tagen reisen wir

ab…«»Nein!« unterbrach sie ihn. »Ihr müßt noch heute gehen – noch

heute abend!«»Mutter, das ist ein bißchen viel verlangt«, sagte er geduldig.

»Wir sind gerade mehr als viertausend Meilen geflogen, und du kannst wirklich nicht erwarten, daß wir…«

Wieder fiel sie ihm ins Wort.»Sie kann nicht hierbleiben!«Einen Augenblick lang lag Schweigen zwischen ihnen – ge-

spanntes Schweigen.Mark ballte die Hände. Alles war wieder so wie früher. Genauso,

wie er es befürchtet hatte. Deshalb war er nur widerwillig in das Haus seiner Mutter zurückgekehrt.

Aber er riß sich zusammen. Und als er sprach, klang seine Stim-me ruhig und sachlich.

»Es tut mir leid, Mutter, daß du Laura nicht hier haben willst. Aber sie ist meine Frau.« Etwas leiser fügte er hinzu: »Oder hast du das vergessen?«

»Nein«, schrie sie, »ich habe es nicht vergessen!« Flehend sah sie ihn an. »Deshalb will ich doch, daß…«

Er sah, wie ihr Tränen in die hellen Augen stiegen.»Mark!« flehte sie. »Ich meine es doch nur gut mit dir.«»Ich wußte, daß du das früher oder später sagen würdest«, er-

widerte er mit einem bitteren Lächeln. Sekundenlang schloß er die Augen und wandte sich von ihr ab. Dann sagte er so be-herrscht wie möglich: »Ich muß jetzt unsere Koffer heraufholen. Wir sehen uns morgen, Mutter.«

Aber sie umklammerte noch immer seinen Arm.»Bitte, Mark!«Mit dumpfer Stimme sagte er: »Ich wollte nicht zurückkommen.

Ich hätte es nicht tun sollen.«»Aber«, begann sie, »ich…«Er unterbrach sie.»Mutter…« Er bemühte sich, seine wachsende Erregung zu un-

terdrücken, seiner Stimme einen gleichmütigen Klang zu geben. »Ich habe dir gesagt, daß ich mit Laura ein paar Tage hierbleiben

werde, und es wird dir nicht gelingen, mich von diesem Vorhaben abzubringen. Wenn du sie siehst… Ich würde diese Begegnung gern verhindern, aber das wird wohl nicht möglich sein. Ich bitte dich – wenn du sie siehst, sag nichts, was sie erschrecken könn-te. Nichts!« wiederholte er eindringlich. »Denn wenn du etwas sagst, so werde ich nie wiederkommen. Ich meine es ernst, Mut-ter. Also bitte – überleg dir gut, was du zu Laura sagst. Sonst hast du mich zum letztenmal gesehen.«

Er stand auf, verließ das Zimmer, und die Tür fiel hinter ihm ins Schloß.

Blinzelnd sah Sarah Wilson auf die geschlossene Tür, die ihr wie eine neue Barriere zwischen ihr und ihrem Sohn erschien. Und es gab doch schon so viele Barrieren zwischen ihnen.

Ihre Hand sank auf die malvenfarbene Seidendecke, rastlos zupften ihre dünnen Finger an dem dünnen Stoff.

Für wenige Minuten hatte ein Hoffnungsstrahl ihr düsteres Schlafzimmer erhellt. Aber jetzt spürte sie wieder, wie die gräßli-che Einsamkeit sie umfing – die Einsamkeit, der sie vergeblich zu entfliehen versuchte.

6.

Nun, ich habe mein Bestes getan, dachte Mark wütend, als er in die Eingangshalle hinabging, um die Koffer zu holen.

Er hatte versucht, all die begrabenen Gefühle ruhen zu lassen. Er hatte verhindern wollen, daß sie aus der Vergangenheit auf-stiegen, ihn wieder zu überwältigen drohten. Aber nun erkannte er, daß er diese Gefühle nicht tief genug begraben hatte.

Vielleicht hätte er darauf bestehen sollen, ins Stanhope-Hotel zu ziehen. Das Hotel lag ganz in der Nähe seines Elternhauses, und man brauchte nur die Fifth Avenue zu überqueren, um ins Metro-politan Museum zu gelangen. Laura wäre beschäftigt gewesen, während er seine Besprechungen mit der Verlagsleitung führte.

Aber nun war es zu spät. Laura hatte darauf bestanden, in die-sem Haus zu wohnen, seine Mutter und seine Schwester kennen-zulernen, ein Teil seiner Familie zu werden. Und es war schwer, einer frischgebackenen Ehefrau einen Wunsch abzuschlagen. Und trotzdem…

Er blickte sich um, suchte nach den beiden Koffern. Sie waren

verschwunden.Er ging zur Tür der Bibliothek. Die Lampe brannte noch. Aber

Laura war nicht mehr in dem großen düsteren Raum. Wahr-scheinlich war sie mit Ruth nach oben gegangen, und seine Schwester half ihr beim Auspacken. Er hoffte, die beiden würden Freundschaft miteinander schließen. Das wäre eine große Hilfe.

Er lächelte bei dem Gedanken, daß seine Frau sich mit Ruth an-freunden würde. Ruth würde das schon schaffen, sagte er sich. Auf Ruth konnte man sich verlassen. Vielleicht war es am besten, die beiden eine Weile allein miteinander zu lassen. Er mußte ih-nen eine Gelegenheit geben, sich näher kennenzulernen.

Und auch er brauchte Zeit – Zeit, um sich von der Begegnung mit seiner Mutter zu erholen, von diesem ersten Wiedersehen nach zwei Jahren.

Er blickte zum Salon hinüber. Es war dunkel geworden. Er frag-te sich, ob sich irgendetwas in diesem Raum verändert hatte, seit er zum letztenmal durch den Torbogen gegangen war.

Er durchquerte die Halle, drückte auf den Lichtschalter, und der Kristallüster flammte auf. Dann stand er unter dem Torbogen und sah sich um. Scharf und deutlich konnte er die Umrisse der Möbel erkennen, als sie so plötzlich in Licht getaucht waren.

Nein, dachte er, nichts hatte sich verändert.Lange stand er unter dem Torbogen, erinnerte sich schmerzhaft

an jede Einzelheit - an den großen Kamin aus italienischem Mar-mor mit den Blätterranken, die sich in einem kunstvollen Relief am Sims entlangzogen, an die Blattgolduhr. die unter ihrer Glas-glocke tickte. Er erinnerte sich an den schwarzen Bechsteinflügel, dessen Deckel wie immer geschlossen war, an die geschnitzten Möbel aus Rosenholz, deren Polsterung mit rotgoldenem Damast bezogen war, an die goldgerahmten Landschaftsbilder an den Wänden, an den üppigen Stuck, der die hohe Decke schmückte.

Es war alles so, wie es immer gewesen war, unverändert. Es war, als stünde der ganze Salon unter einer Glasglocke wie die Blattgolduhr.

Widerwillig wandte er sich ab und schaltete mit einer heftigen Bewegung das Licht aus, als wolle er die Existenz dieses Salons mit seinen schweren, bedrückenden Möbeln und seinen noch be-drückenderen Erinnerungen auslöschen. Und wieder tauchte der große Raum im Dunkel unter. Die einzige Verbindung zur Außen-welt war der schwache Lichtschein der Straßenlampe, der von der

67th Street durch eine schmale Spalte zwischen den Damastvor-hängen drang.

Im gleichen Augenblick, als das Licht verlöschte, hörte Mark Wilson die Stimme einer Frau. Sie summte eine leise Melodie, ein melancholisches Lied, das wie ein Wiener Walzer klang.

Es war dieselbe Melodie, die seine Mutter gehört hatte – die Me-lodie der Spieldose.

Er wandte sich um und rannte in die Halle, mit angespannten Sinnen. Lauschend blieb er stehen. Noch immer hörte er das leise Summen, wenn er auch nicht feststellen konnte, aus welchem Raum es kam. Aber woher immer die Melodie auch kommen mochte – ihre Klänge verwirrten ihn zutiefst.

Er stürmte die Treppe hinauf, und mit jeder Stufe, die er zu-rücklegte, klang ihm der Walzer lauter und deutlicher entgegen.

Als er den zweiten Stock erreichte, rannte er zur Tür des hinte-ren Schlafzimmers. Es lag am Ende der Galerie, in sicherer Ent-fernung vom Zimmer seiner Mutter.

Er blieb vor der Tür stehen und lauschte. Das Walzerlied kam nicht aus diesem Zimmer. Ohne die Tür zu öffnen, lief er zum mittleren Schlafzimmer. Jetzt konnte er die Melodie deutlicher hö-ren.

Er wartete ein paar Minuten, während die Töne wie Donner-schläge in seinen Ohren dröhnten. Dann drehte er langsam, fast ängstlich am Messingknauf und öffnete die Tür.

Mark stand auf der Schwelle. Erleichtert atmete er auf. Alle Lampen brannten. Laura hatte der Tür den Rücken zugewandt und packte ihren Koffer aus. Immer noch summte sie den Walzer vor sich hin, hatte nicht gemerkt, daß Mark die Tür geöffnet hat-te.

Sein Koffer stand auf dem Gepäckständer, wartete darauf, aus-gepackt zu werden.

Laura fühlte sich glücklich und zufrieden. Ich mag Ruth, dachte sie, als sie die melancholische Melodie vor sich hin summte. Die Angst, die sie vorhin in der Bibliothek so quälend empfunden hat-te, erschien ihr nun absurd und lächerlich. Wahrscheinlich hatten die lange Reise und ihre nervösen Erwartungen sie mehr ermü-det, als es ihr bewußt geworden war. Nur so ließen sich die selt-samen Empfindungen erklären, die sie in der Bibliothek gepeinigt hatten.

Sie hängte das letzte ihrer Kleider in den Schrank und fühlte

sich bereits wie zu Hause in diesem hübsch eingerichteten Zim-mer. Besonders angenehm fand sie den schwachen Veilchenduft, der dem Schrank entströmte.

Mark trat in den Raum und schloß die Tür hinter sich.Erschrocken wirbelte Laura herum, und ihr Kleid glitt vom Bügel

und fiel zu Boden.»O Mark!« Sie holte tief Atem. »Tu das nie wieder!«»Woher kennst du diese Melodie?«»Ich bin furchtbar erschrocken. Ich – ich dachte schon, einer

deiner Geister sei hereingekommen.«»Die Melodie«, beharrte er, »woher kennst du sie?«»Was für eine Melodie?« fragte Laura verwirrt.»Die du eben noch gesungen hast.« Er trat einen Schritt auf sie

zu, sein Blick schien sie zu durchbohren.Sie zuckte mit den Schultern.»Ich weiß es nicht«, sagte sie. »Wie geht es deiner Mutter?«Er beantwortete ihre Frage nicht.»Es war Ruth, nicht wahr?«Verständnislos sah Laura ihn an.»Sie fand das wohl sehr komisch«, stieß er hervor. »Laura, was

soll der Unsinn? Was wollt ihr damit erreichen?«Verstört schüttelte Laura den Kopf.»Ich weiß wirklich nicht, wovon du redest, Liebling.«Er beherrschte sich nur mühsam.»Du hättest in Rom bleiben sollen.«Abrupt drehte er ihr den Rücken zu und ging zum Fenster. Mit

zitternden Händen zog er die Vorhänge auseinander, starrte ins Dunkel hinaus.

Laura beobachtete ihn bestürzt, und dann sagte sie leise: »Ich verstehe dich nicht, Mark.«

Sie wartete auf eine Antwort, aber es kam keine. Zögernd ging sie zu ihm.

»Es ist deine Familie«, sagte sie. »Aber nun ist es auch meine.« Sanft berührte sie seine Schulter. Sie versuchte zu lächeln, brachte aber nur eine klägliche Grimasse zustande. Sie biß sich auf die Unterlippe. »Ich habe doch sonst keine Familie, Liebling.«

Mark starrte noch immer in die Nacht hinaus. Ohne Laura anzu-sehen, sagte er: »Du hättest mich nicht heiraten sollen.«

Ihre Finger gruben sich in seine Schulter.»Ich liebe dich.«

Mark gab ihr keine Antwort.»Ich habe gesagt, daß ich dich liebe, Mark Wilson.« Ihre Stim-

me klang ernsthaft und aufrichtig. »Und ich will nicht mit dir streiten.«

Mark schüttelte ihre Hand ab.»Es ist dieses Haus«, sagte er tonlos.Ihre Bestürzung wuchs. Dann brachte sie doch noch ein Lächeln

zustande, drehte ihn zu sich herum, zwang ihn, sie anzusehen.»Hör mir zu«, sagte sie. »Wenn du mich nicht jetzt sofort küßt

– jetzt sofort…« Sie brach ab und fuhr dann mit spöttisch erhobe-nem Zeigefinger fort: »Wenn du mich nicht sofort küßt, wirst du kein Interview mit diesem neuen Botschafter kriegen.«

Wider Willen mußte er lächeln.»Kleines Dummchen!« sagte er und küßte sie.»O nein!« rief sie. »Das war kein richtiger Kuß.«»Nein, wohl nicht«, gab er zu.Sie schlang ihm die Arme um den Hals, schmiegte sich an ihn.

leidenschaftlich preßte sie ihre Lippen auf die seinen. Diesmal er-widerte er den Kuß so, wie sie es sich wünschte.

»Das war schon besser«, sagte sie und legte den Kopf an seine Brust.

»Mhm…«»Sag es mir, Mark.«»Was soll ich dir sagen?«Ihre Stimme klang nun nicht mehr spöttisch, sondern sehr

ernsthaft.»Bitte, sag mir, warum du mich geheiratet hast.«»Weißt du das denn nicht?«»Sag es mir, bitte«, beharrte sie.»Weil ich…«, begann er.Aber die Worte, die er sagen wollte, kamen ihm nicht über die

Lippen. Er grinste boshaft.»Weil du mir dieses Interview verschafft hast.«»Ich hasse dich.«»Und«, fuhr er im gleichen maliziösen Ton fort, »weil ich zuerst

alle anderen Sekretärinnen in der Botschaft gefragt und mir nur Körbe geholt habe.«

»Und Liebe hatte gar nichts damit zu tun?« fragte sie sanft. »Liebe? Großes L, kleines i, kleines e…«

Zärtlich sah er sie an – zärtlich und auch verzweifelt, als könne

er ihre Liebe nicht ertragen. Dann nahm er sie fest in die Arme und küßte ihre Stirn.

»Was denkst du?« fragte er leise.Laura klammerte sich an ihn, sah ihn an, mit einem eindringli-

chen Blick, als fürchte sie, er könne sich jeden Moment in Luft auflösen, wie ein Geist verschwinden und sie verlassen.

»Ich weiß es nicht«, flüsterte sie unglücklich. »Manchmal frage ich mich, Mark… Ich kann nichts dagegen tun, aber manchmal kommen mir Zweifel…«

Es war spät am Abend. Ein Polizist ging die 67th Street entlang, schwang seinen Knüppel im Kreis und pfiff vor sich hin. Ein Paar in Abendkleidung stieg aus einem Taxi und verschwand im Haus Nummer neunundzwanzig auf der anderen Straßenseite. Ein ein-samer Spaziergänger, begleitet von einem lustlosen Beagle, schlenderte durch den Lichtkreis der Straßenlampe. Aus einem vorbeifahrenden Auto drang Radiomusik und verstummte, als der Wagen um die nächste Straßenecke bog. Der Frühlingswind be-wegte die Knospen an den Bäumen. Aus weiter Ferne drang die Sirene eines Polizeiautos oder einer Ambulanz in die stille 67th Street. Dann verhallte der gellende Ton.

Der Polizist drehte sich an der Straßenecke um. Er pfiff immer noch vor sich hin. In der 67th Street war alles ruhig.

Im Haus Nummer sechsundzwanzig rührte sich nichts. Mrs. Sa-rah Wilson lag in ihrem Bett. Ihre Leselampe brannte noch, aber sie war eingeschlafen.

Trotz der Schlaftablette, die sie genommen hatte, wälzte sich Sara Wilson unruhig hin und her. Sie stöhnte, wand sich in den Klauen eines Alptraums, der sich nicht vertreiben ließ.

Und unablässig zupften ihre dünnen Finger an der malvenfarbe-nen Bettdecke.

Auch Mark und Laura Wilson waren zu Bett gegangen. Es war dunkel in ihrem Zimmer, und sie schliefen. Der Nachtwind spielte sanft mit den Gardinen.

Plötzlich öffnete Laura die Augen. Sekundenlang lag sie reglos in ihrem Bett und fragte sich, wo sie war. Dann kam die Erinne-rung zurück.

Sie wandte den Kopf und sah zu Mark hinüber, der tief und fest zu schlafen schien. Er hatte einen Arm unter den Kopf gelegt und

sah wehrlos aus wie ein kleiner Junge. Sie lächelte und schloß die Augen.

Und dann hörte sie es wieder. Jetzt wußte sie, daß dieses Ge-räusch sie aus dem Schlaf gerissen hatte. Das leise Schluchzen einer Frau.

Sie öffnete wieder die Augen, lauschte mit angehaltenem Atem. Nein, sie hatte sich dieses Schluchzen nicht eingebildet. Dies war kein Laut, der sie aus einem Traum ins Erwachen begleitet hatte.

Das Schluchzen verwirrte sie, und ihr Unbehagen wuchs.Schließlich setzte sie sich in ihrem Bett auf und überlegte, ob

sie Mark wecken sollte. Sie sah ihn an. Er schlief immer noch tief und fest. Der Tag war lang und anstrengend für ihn gewesen, dachte sie und beschloß, ihn schlafen zu lassen.

Das Schluchzen war nicht verstummt.Laura stand auf, tastete im Dunkel nach ihrem Morgenmantel

und schlüpfte hinein. Lautlos schlich sie zur Tür und öffnete sie.Als sie auf die Galerie trat, war das Schluchzen deutlicher zu

vernehmen. Leise schloß sie die Tür hinter sich, blieb lauschend auf der finsteren Galerie stehen. Das Schluchzen schien aus dem Schlafzimmer am Ende des langen Ganges zu kommen.

Als sie auf die Tür dieses Zimmers zuging, wuchs ihre Überzeu-gung, daß eine Frau dahinter bitterlich weinte. Und als sie die Tür erreicht hatte, hörte sie, wie eine atemlose, tränenerstickte Stim-me immer wieder dieselben Worte hervorstieß, von verzweifeltem Schluchzen unterbrochen.

»Bitte, komm! Bitte, komm! Ich habe dich nicht angerufen, um mit dir zu streiten. Ich will, daß du zu mir kommst. Bitte – ich bin so einsam, ich weiß nicht, was ich tun soll - bitte, komm! Bitte! Bitte…«

Seltsam – plötzlich hatte Laura das Gefühl, ihrer eigenen Stim-me zu lauschen. Sie holte tief Atem, dann klopfte sie leise an die Tür. Im gleichen Augenblick verstummte die Stimme abrupt. Es war, als hätte sie nie existiert. Es war völlig still im Haus.

Laura war verwirrt. Sie zögerte. Dann klopfte sie noch einmal an die Tür. Doch sie erhielt keine Antwort. Verstört preßte sie ein Ohr an die Türfüllung. Kein Laut war zu vernehmen.

»Geht es Ihnen gut?« flüsterte sie.Wieder wartete sie vergebens auf Antwort. Zaudernd griff sie

nach dem Messingknauf, drehte daran. Die Tür flog auf. Der Raum dahinter war von grauen Schatten erfüllt.

Laura betrat das Zimmer auf Zehenspitzen, sah sich suchend um. Der schwache Schein der Straßenbeleuchtung, der durch die Fenster drang, enthüllte ein hübsch eingerichtetes Schlafzimmer. Die sehr feminin wirkenden Möbel verrieten, daß es das Zimmer einer Frau sein mußte. Aber offenbar wurde es nicht benutzt.

Laura kniff die Augen zusammen, versuchte mit ihren Blicken das Dunkel zu durchdringen. Ein Telefon stand auf dem Nacht-tisch. Langsam ging sie darauf zu. Der Hörer lag nicht auf der Ga-bel, sondern neben dem Apparat, auf der Marmorplatte des Nachttischchens.

Laura hielt den Hörer ans Ohr, aber sie vernahm keinen Laut, nicht einmal das Freizeichen. Verwirrt runzelte sie die Stirn. Sie drückte ein paarmal auf die Gabel, aber kein Geräusch drang aus dem Hörer. Die Leitung schien tot zu sein.

Hastig legte sie den Hörer zurück auf den Tisch. Plötzlich hatte sie das Gefühl, als ginge eine dunkle Gefahr von diesem Telefon aus. Sie wich zurück zur Tür, drehte sich um, wollte aus dem Zimmer fliehen, von einer unbestimmten Angst erfüllt.

Als sie an dem zierlichen Toilettentisch vorbeilief, fiel ihr Blick auf einen Gegenstand. Unwillkürlich blieb sie stehen und sah auf die kleine barocke Spieldose hinab, die auf der Spiegelplatte des Tisches stand. Minutenlang starrte Laura auf die Spieldose. Dann streckte sie langsam und vorsichtig die Hand aus und hob den Deckel.

Die klimpernden Töne eines Walzers füllten den Raum, die geis-terhafte Wiederholung einer Melodie, die Laura schon einmal ge-hört hatte. Aber wo? Sie lauschte der Musik mit angehaltenem Atem, versuchte sich zu erinnern.

Und dann begann sie die Melodie leise mitzusummen. Sie schloß die Augen, und ein schwaches Lächeln umspielte ihre Lippen. Sie regte sich nicht, summte das Walzerlied vor sich hin… Und dann begann sie sich leise im Rhythmus der Melodie zu wiegen.

Später, sehr viel später kehrte sie lautlos zurück in das Zimmer, in dem Mark immer noch schlief, tief und fest.

8.

Es war früh am Morgen. Zu dieser Tageszeit, wenn die Luft noch frisch und kühl ist, zeigt sich New York stets von seiner ange-

nehmsten Seite.Auf der Straße vor dem Haus der Wilsons tummelten sich die

Passanten, hasteten geschäftig einem neuen Tag entgegen – Männer und Frauen, die nach Taxis riefen, um zur Arbeit zu fah-ren, ein Briefträger, Kinder in Schuluniformen mit frisch gewa-schenen Gesichtern. Dazwischen schlenderten die Leute umher, die mehr Zeit zu haben schienen – Frauen mit Einkaufstaschen, Männer, die ihre Hunde spazieren führten, eine dicke Schwester, die einen Kinderwagen vor sich herschob.

Laura und Mark standen in der offenen Tür des Hauses Nummer sechsundzwanzig.

Mark hatte eine Aktentasche unter den Arm geklemmt.»Ruf mich in der Redaktion an, in Cobys Büro. Wenn ich Zeit

habe, können wir zusammen essen – bei Mario.« Er seufzte sehn-süchtig. »Seine Gnocchi sind unübertrefflich. Nicht einmal in Rom habe ich bessere gegessen.«

Sie lächelte.»Mir läuft schon das Wasser im Mund zusammen.«»Was machst du denn heute vormittag?« fragte er.»Ich weiß noch nicht. Vielleicht schaue ich mir ein paar Sehens-

würdigkeiten an. Oder wenn Ruth Zeit hat, könnten wir miteinan-der einkaufen gehen.«

»Nun, jedenfalls wünsche ich dir viel Vergnügen.« Er küßte sie zum Abschied, winkte ein vorbeifahrendes Taxi. In Gedanken war er schon in der Redaktion des »Pace«.

Laura sah zu, wie das Taxi sich in den Verkehrsstrom einordne-te. Sie winkte Mark, aber er winkte nicht zurück. Plötzlich fühlte sie sich sehr einsam, und ein vages Unbehagen erfaßte sie. Ein paar Minuten lang beobachtete sie den Trubel auf der Straße und wünschte sich, daß sie etwas Vernünftiges zu tun hätte – etwas, das ihr Denken ausfüllte.

Es müßte schön sein, in New York zu leben, dachte sie, wenn man einen interessanten Job hatte. Dann würde man das Gefühl haben, zu dieser Stadt zu gehören, ein Teil ihres pulsierenden Le-bens zu sein. Sie drehte sich um und kehrte lustlos ins Haus zu-rück.

Niemand war im Erdgeschoß zu finden. Die üblichen Morgenge-räusche, die jedes normale Haus erfüllten, waren hier nicht zu hö-ren. Laura fühlte sich fehl am Platz und wußte nicht, was sie mit sich anfangen sollte.

Sie schlenderte in den Salon. Die Vorhänge waren zurückgezo-gen worden, ließen das Tageslicht eindringen. Ziellos wanderte sie umher, blickte auf die düsteren Gemälde, ließ einen Finger über die geschnitzte Lehne eines Rosenholzstuhles gleiten.

Dann ging sie zum Klavier, hob den Deckel und schlug ein paar Töne an. Der Bechsteinflügel war verstimmt. Sie fragte sich, wer zum letztenmal darauf gespielt hatte – und wann.

Sie schloß den Deckel wieder, setzte sich auf ein Sofa und wünschte sich, in ein paar Magazinen blättern zu können - oder wenigstens in der Morgenzeitung.

Auf dem Couchtisch standen ein Tischfeuerzeug und eine Dose, mit vertrockneten Zigaretten gefüllt. Laura nahm sich eine Ziga-rette und zündete sie an, obwohl sie eigentlich Nichtraucherin war. Ihr Blick blieb an dem Fotoalbum hängen, das auf dem Tisch lag. Sie griff danach, schlug es gelangweilt auf.

Da waren Kinderbilder von Mark – als Baby in einer geschnitz-ten Wiege, als kleiner Junge in Schuluniform, als Student. Er sah natürlich jünger aus auf diesen Fotos – aber nicht viel anders als jetzt. Sie sah sich auch die Kinderbilder von Ruth an, die späteren Fotos, die ihre Schwägerin als junges Mädchen mit diversen Freunden und Freundinnen zeigten.

Als sie das Album durchblätterte, stellte sie erstaunt fest, daß viele Fotos entfernt worden waren. Die Fotoecken, in denen sie gesteckt hatten, klebten noch in dem Album. Und auf den letzten Seiten fand sie nur noch leere Fotoecken.

Sie schloß das Album, blickte nachdenklich vor sich hin. Diese leeren Seiten wirkten bedrückend auf sie, bedrückend und ent-täuschend. Denn sie hatte gehofft, in diesem Album Antworten auf ihre unausgesprochenen Fragen zu finden, auf ihre Fragen nach Marks Familie.

Sie hörte, wie eine Tür ins Schloß fiel. Das Geräusch war aus der Richtung der Halle gekommen. Endlich ist jemand aufgestan-den, dachte sie erleichtert.

Sie stand auf und ging in die Halle.Eine Frau von etwa sechzig Jahren kam ihr aus der Richtung der

Küche entgegen. Sie hatte ein rundes, gutmütiges Gesicht. Ihre grauen Augen waren zu einem ordentlichen Knoten hochgesteckt. Sie trug ein Frühstückstablett und war offenbar auf dem Weg zur Treppe, als Laura aus dem Salon trat.

»Hallo!« sagte Laura lächelnd.

Die Frau nickte ihr freundlich zu.»Guten Morgen, Ma’am. Ich bin Mrs. Medina, allgemein Mrs. M.

genannt.«»Und ich bin Laura Wilson, Marks Frau.«»Ich weiß, Ma’am. Hoffentlich haben Sie gut geschlafen.«»Ja – ganz gut. Wenn dieses Schluchzen mich nicht geweckt

hätte…«»Ein Schluchzen?«Laura nickte.»Es war gegen zwei Uhr morgens. Haben Sie es nicht gehört?«Mrs. Medina schüttelte den Kopf.»Ich schlafe im obersten Stockwerk. Und ich würde nicht einmal

den Teufel selbst hören, wenn mein Kopf erst einmal auf dem Kis-sen liegt.« Sie lächelte. »Wenn Sie mich jetzt bitte entschuldigen, Mrs. Wilson…« Sie begann die Treppe hinaufzusteigen.

»Wissen Sie, ob Ruth schon aufgestanden ist?« rief Laura ihr nach.

»Sie ist in der Küche und macht sich ihre Frühstücksspezialität.« Mrs. Medina rümpfte die Nase. »Einen gräßlichen Kaffee.«

»Vielen Dank«, sagte Laura lächelnd.Mrs. Medina setzte ihren Weg nach oben fort. Aber Laura hielt

sie noch einmal zurück.»Oh, Mrs. Medina…«Die Haushälterin blieb stehen und drehte sich um.»Ja, Mrs. Wilson?«»Ich habe mir das Fotoalbum im Salon angesehen«, sagte Laura

möglichst beiläufig. »Dabei habe ich festgestellt, daß viele Bilder herausgenommen wurden. Wissen Sie, wo diese fehlenden Fotos sind?«

»Da müssen Sie schon Ma’am fragen.« Mrs. Medina wies mit ei-ner heftigen Kopfbewegung nach oben, und Laura nahm an, daß sie von Sarah Wilson sprach.

Die Haushälterin stieg die Treppe hinauf, und Laura war wieder allein. Sie seufzte, streckte die Arme aus und blickte zur Küche. Langsam ging sie auf die geschlossene Tür zu, aber dann blieb sie zögernd stehen. Sie überlegte, daß Ruth vielleicht beim Frühstück keinen Wert auf Gesellschaft legte.

Laura beschloß, in die Bibliothek zu gehen. Im hellen Tageslicht wirkte der große Raum weniger bedrohlich als am vergangenen Abend. Sogar die afrikanischen Masken erschienen ihr nicht mehr

so furchterregend.Sie ging zu einem der Regale und betrachtete die langen Reihen

alter, ledergebundener Werke – Sir Walter Scott, Thackeray, Di-ckens, Washington Irving. Die Bücher sahen so aus, als wären sie jahrelang nicht mehr gelesen worden. Sie ging zu einem anderen Regal und sah sich neuere Buchausgaben an, die den Eindruck machten, als würden sie öfter zur Hand genommen. Vielleicht fand sie hier einen Unterhaltungsroman, dachte Laura, mit dem sie sich ein wenig die Zeit vertreiben konnte.

Ihr Blick wanderte über die Buchtitel. Aber sie fand keine Unter-haltungsromane – nur Bücher mit seltsamen Titeln, die sich alle mit dem gleichen Thema zu befassen schienen. Der erste Titel, der ihr ins Auge fiel, lautete: ›Die menschliche Persönlichkeit und ihr Überleben nach dem körperlichen Tod‹. Daneben stand ein noch dickerer Band: ›Die Geschichte dämonischer Besessenheit‹. Das ganze Regal enthielt nur Werke über Spiritismus, Geister, Be-sessenheit, Spuk.

Mit gerunzelter Stirn nahm Laura ein Buch heraus und begann darin zu blättern. Mit wachsender Neugier las sie hier und da einen Absatz. Sie hatte nicht gewußt, daß solche Phänomene existierten, und noch weniger hatte sie geahnt, daß es Menschen gab, die diese Dinge ernst genug nahmen, um darüber zu schrei-ben.

Und dann durchbrach eine Stimme die schwere Stille, die über der Bibliothek lag.

»Suchst du etwas?«Laura war so in ihre Lektüre vertieft gewesen, daß sie erschro-

cken zusammenfuhr. Sie stieß einen kleinen Schrei aus und dreh-te sich zur Tür um.

9.

Ruth stand auf der Schwelle und sah sie lächelnd an.»Ich wußte nicht, daß du dich für die Geisterwelt interessierst.«Laura klappte verwirrt das Buch zu. Sie fühlte sich sehr unbe-

haglich, wenn sie sich auch sagte, daß ihre Verwirrung grundlos war. Sie zwang sich dazu, Ruths Lächeln zu erwidern, und sagte: »Ich interessiere mich auch nicht wirklich dafür.«

»Vater war ganz besessen von diesem Thema«, erklärte Ruth.

Sie kam auf Laura zu, nahm ihr das Buch aus der Hand und las den Titel. » ›In der Macht der Geister‹ – eine Spezialität in die-sem Haus. Warum hast du dir gerade dieses Buch ausgesucht?«

Laura zuckte mit den Schultern.»Aus keinem besonderen Grund.«Ruth sagte nichts. Sie sah Laura an, die nervös ihrem Blick aus-

wich und die Buchreihen betrachtete.Schließlich sagte Laura zögernd: »Ruth…« Sie wandte sich wie-

der ihrer Schwägerin zu. »Ich glaube, ich habe in der vergange-nen Nacht etwas gehört…«

»Bitte, Laura!« stieß Ruth ungeduldig hervor. »Spiel du nicht auch noch verrückt.« Sie stellte das Buch auf das Regal zurück. »Wo ist Mark?«

»Er hat eine Besprechung im ›Pace‹ und dann treffen wir uns zum Lunch.«

Ruth sah auf ihre Armbanduhr.»Nun, dann haben wir ja noch Zeit genug für einen Stadtbum-

mel. Aber erst mußt du frühstücken. Mein Kaffee ist berühmt für seinen gräßlichen Geschmack. Komm!« Sie wandte sich ab und ging zur Tür.

»Ruth!« rief Laura.Ruth drehte sich zu ihr um, sah sie fragend an.»Dieses Zimmer oben«, sagte Laura hastig, »am Ende des Gan-

ges…«»Ja, was ist damit?«»War das Elaines Zimmer?«»Ja, dieses Zimmer hat sie zusammen mit Mark bewohnt«, er-

widerte Ruth tonlos. Sie wartete, denn sie spürte, daß Laura noch etwas auf dem Herzen hatte.

»Wann wurde das Telefon abgestellt?« fragte Laura.»Vor zwei Jahren«, antwortete Ruth. Das war nicht die Frage,

die sie erwartet hatte. Ihre Augen verengten sich. »Warum?«»Ich erwachte mitten in der Nacht«, erzählte ihr Laura, »und ich

dachte, ich hätte eine Frau weinen gehört… Und sie schien auch zu telefonieren.«

»Ein Geist?« fragte Ruth spöttisch.»Ich ging in das Zimmer…«»Und?«»Niemand war darin.«»Was hat Mark gesagt?«

»Ich habe es ihm nicht gesagt«, gestand Laura. »Sicher hätte er mich für verrückt gehalten.«

»Und damit hätte er auch ganz recht gehabt«, sagte Ruth mit Nachdruck. Sie ging zum Fenster hinüber. »Komm hierher!«

Laura sah sie verwirrt an.Ruth winkte ihr zu.»So komm schon!« Zögernd ging Laura zu ihr. »Sieh dir das

an«, sagte Ruth. »Das ist die 67th Street, und wir befinden uns im zwanzigsten Jahrhundert. Auf der einen Seite findest du die Madison Avenue, auf der anderen Seite die Fifth Avenue. Und das Ganze nennt sich Manhattan. Umweltverschmutzung, Verkehrs-lärm, zu viele Menschen.« Sie legte einen Arm um die Schultern ihrer Schwägerin und lächelte zynisch. »Und jetzt sag mir, ob ein Geist, der etwas auf sich hält, in so einer prosaischen Gegend sein Unwesen treiben würde.«

Unwillkürlich mußte Laura lachen.»Und jetzt trinkst du eine Tasse von meinem lausigen Kaffee«,

fuhr Ruth fort, »und danach zeige ich dir New York.«

10.

Sarah Wilson trug einen Morgenmantel über ihrem Nachthemd. Sie stand am Fenster ihres Schlafzimmers und starrte auf die Straße hinab. Ihr Frühstückstablett stand noch immer dort, wo Mrs. Medina es abgestellt hatte – auf dem Nachttisch. Sarah Wil-son hatte ihr Frühstück nicht angerührt.

Reglos stand sie am Fenster, die Stirn gegen die Glasscheibe gepreßt. Sie rührte sich auch nicht, als Mrs. Medina zurückkam.

Ohne sich umzudrehen, sagte Sarah Wilson: »Ich bin nicht hungrig.«

»Aber Sie haben dem Doktor doch versprochen, daß Sie brav essen würden.«

»Was weiß er schon?« stieß Sarah Wilson mit hoher, schriller Stimme hervor. »Er muß nicht hier leben.«

»Ein glücklicher Mann«, bemerkte Mrs. Medina.»Und Sie müssen auch nicht hier leben, Mrs. M.«, sagte Sarah

Wilson ärgerlich und drehte sich zu der Haushälterin um. »Wenn Sie gehen wollen – bitte, niemand hält Sie zurück.«

»Und wohin soll ich gehen, Mrs. Wilson – nach dreißig Jahren?

Wo doch meine Schwester mit ihren Kindern in New Jersey lebt – in einem winzigen Bungalow. Nein, danke, da bleibe ich lieber hier in diesem Irrenhaus.«

»Irrenhaus«, wiederholte Sarah Wilson verbittert. »Wer weiß? Vielleicht haben Sie recht.«

Mrs. Medina schüttelte den Kopf. Ihre Augen waren voller Mit-leid.

»Ich mache Ihnen jetzt einen schönen warmen Porridge, Mrs. Wilson.«

»Wissen Sie, daß ich sie noch gar nicht gesehen habe? Marks neue Frau…«

»Sie ist mit Ruth ausgegangen. Sie scheint eine sehr nette jun-ge Frau zu sein.«

»Hat sie etwas gesagt? Ist in der vergangenen Nacht irgendet-was geschehen?«

Mrs. Medina stieß einen ungeduldigen Seufzer aus und griff nach dem Tablett.

»Sie sollten sich wieder ins Bett legen, Mrs. Wilson.«»Ich habe so schreckliche Träume«, sagte Sarah Wilson leise.

»Ich höre Elaine immer weinen…«Einen Augenblick lang sah Mrs. Medina ihre Herrin an, als wolle

sie etwas sagen, doch dann überlegte sie es sich anders und ging zur Tür.

Bevor sie das Zimmer verließ, drehte sie sich noch einmal um.»Es sind nur Träume, Mrs. Wilson – und Träume sind Schäume.

Ich mache Ihnen jetzt den Porridge.«Sarah Wilson ließ sich auf den Bettrand sinken.»Vielleicht verliere ich den Verstand«, flüsterte sie.

11.

Laura und Ruth schlenderten die Madison Avenue entlang. Sie hatten in unzählige Schaufenster geblickt, hatten in einigen Ge-schäften Kleider probiert, ohne etwas zu kaufen.

»Ich weiß wirklich nicht, wozu man Kleider braucht«, hatte Ruth gesagt. »Wenn man doch alles in Bluejeans genauso gut erledi-gen kann – nun, zumindest fast alles.«

Sie lachten und scherzten und amüsierten sich großartig.»Ich liebe diese New Yorker Läden!« rief Laura, als sie in die

57th Street bogen.»In Rom gibt es doch sicher viel schönere Geschäfte«, sagte

Ruth.»Sie sind ganz anders«, erklärte Laura. Dann kicherte sie. »Je-

denfalls sind die Läden in Rom und in New York viel eindrucksvol-ler als das, was ich daheim in Ohio gewohnt war…«

Plötzlich erstarb ihr Lachen. Sie war vor einem kleinen Geschäft stehengeblieben. Auf dem Ladenschild stand in altmodischen Goldlettern: ›Kurawicz – Antiquitäten‹.

»Ich muß hier hineingehen«, sagte sie, und ihre Stimme hatte einen so seltsamen Klang, daß Ruth sie verwundert ansah.

Ruth blickte in das vollgeräumte Schaufenster.»Das ist doch wertloser Trödel«, sagte sie angewidert. »Von

diesem Zeug haben wir genug daheim.«Aber Laura hatte das Geschäft schon betreten, und Ruth blieb

nichts anderes übrig, als ihr zu folgen.Aus den dunklen Tiefen des Ladens tauchte ein korpulenter

Mann auf, der einen fadenscheinigen Kordanzug trug. Weiße Haarbüschel umrahmten das rosige Gesicht. Er sah aus wie ein ziemlich betagter Erzengel.

»Womit kann ich den Damen dienen?« fragte er mit europäi-schem Akzent.

Zu Ruths Überraschung ging Laura zielstrebig auf das Schau-fenster zu und griff nach einer kleinen barocken Spieldose. Als sie den Deckel hob, erklang eine fröhliche Gavotte.

»Aber das ist nicht dieselbe Melodie«, sagte Laura.»Das wäre ja auch unsinnig«, erwiderte Mr. Kurawicz. »Die bei-

den Spieldosen waren ein Pärchen. Die eine spielte eine traurige Melodie, die andere eine fröhliche.« Er neigte den Kopf vor und lauschte, dann sah er Laura strahlend an. »Lustig, nicht wahr?«

»Ja«, erwiderte sie mit dumpfer Stimme.»Und unheimlich«, meinte Ruth.Mr. Kurawicz blinzelte sie durch seine randlosen Brillengläser

an.»Wie, bitte?«Ruth runzelte die Stirn.»Wieso hast du gewußt, daß diese Spieldose hier zu finden ist,

Laura?«»Ich habe es nicht gewußt.«»Sie hat es nicht gewußt!« rief Ruth dramatisch. Dann wandte

sie sich an den Ladenbesitzer. »Wie lange haben Sie das Ding schon?«

Mr. Kurawicz überlegte.»Etwa fünf Jahre. Die eine Spieldose habe ich vor drei Jahren

verkauft. Ich wollte sie eigentlich nur zusammen verkaufen, aber der Kunde redete so lange auf mich ein, bis ich schließlich nach-gab und ihm die eine Spieldose überließ. Jetzt erinnere ich mich wieder – es sollte ein Geburtstagsgeschenk sein.« Reumütig schüttelte er den Kopf. »Ich hätte es nicht tun dürfen. Ich hätte das Pärchen nicht auseinanderreißen sollen.«

»Fünf Jahre, Laura!« stieß Ruth hervor. »Ich bin unzählige Male an diesem Schaufenster vorbeigegangen. Wieso habe ich die Spieldose nie gesehen?«

»Vielleicht hast du nicht so genau hingeschaut«, erwiderte Lau-ra langsam.

»Verzeihen Sie, Miß, aber es hätte nichts genutzt, ins Schau-fenster zu blicken«, mischte sich Mr. Kurawicz ein. »Ich konnte die Spieldose nicht verkaufen, und so verbannte ich sie in den La-gerraum. In dieser Branche muß man manchmal so etwas tun. Dann dachte ich mir, ich könnte es noch einmal versuchen, und stellte die Spieldose ins Schaufenster zurück.«

»Wann war das?« wollte Ruth wissen.»Heute«, sagte Mr. Kurawicz, schlang seine rosaroten Finger in-

einander und lächelte noch strahlender. »Vor etwa einer Stunde.«Ruth warf ihrer Schwägerin einen scharfen Blick zu.»Reiner Zufall«, sagte Laura.»Hoffentlich«, meinte Ruth.Laura stellte die Spieldose an ihren Platz zurück.»Gehen wir zu einer Telefonzelle. Ich möchte Mark anrufen.«Sie nahm Ruths Hand, zog sie aus dem Geschäft, und Mr. Kura-

wicz starrte ihnen verwirrt nach, während die lustigen Gavotte-Klänge abrupt verstummten.

12.

Mark Wilson hatte stundenlang in Coby Ross’ Büro gewartet. Er langweilte sich tödlich, und seine Ungeduld wuchs, während er abwechselnd auf seine Uhr und auf die Zeitungsausschnitte starr-te, die auf ein schwarzes Brett geheftet waren.

Coby Ross hockte hinter turmhohen Papierstapeln an seiner Schreibmaschine und tippte im Zweifingersystem eine Story. Er war Mitte Dreißig, hatte zerzaustes sandfarbenes Haar, und ein dichter Schnurrbart gab seinem jungen Gesicht einen verwegenen Ausdruck.

Mark stieß einen frustrierten Seufzer aus, und Coby hörte zu tippen auf und lehnte sich in seinem Stuhl zurück.

»Reg dich ab, Mark«, sagte er mit einem entwaffnenden Grin-sen. »Du weißt ja, wie der Boß ist.«

»Weißt du, wie lange ich jetzt schon warte?«»Ich mache dir einen Vorschlag. Wenn du ihn siehst, sag ihm,

daß du dich verändern möchtest.«Das Telefon klingelte, und Coby hob den Hörer ab.»Wie meinst du das?« fragte Mark.Coby schenkte ihm ein weiteres entwaffnendes Grinsen.»Ich gehe nach Rom, und du kannst dich wieder in dein altes

Büro setzen.« Dann widmete er seine Aufmerksamkeit dem Tele-fon. »Ja? O ja, er ist hier… Einen Augenblick…« Er sah Mark an. »Für dich. Eine weibliche Stimme.«

Mark griff nach dem Hörer, aber Coby hatte plötzlich eine Idee. Er hob die Hand.

»Warte doch! Nicht so schnell! Sie sind Laura, nicht wahr?« sag-te er. »Wer ich bin? Ich bin Coby Ross. Sie kennen mich nicht, aber ich bin ein alter Freund von Mark und möchte Ihnen gratulie-ren… Was? Oh, sicher! Und passen Sie auf, daß er Sie nicht zu oft verprügelt… Ja, da haben Sie recht.« Er lachte schallend. »Er ist ein richtiger Killer, und geben Sie acht, daß…«

Mark riß ihm ärgerlich den Hörer aus der Hand.»He!« protestierte Coby.»Ich finde das gar nicht komisch«, erklärte Mark. Dann sprach

er in den Hörer. »Du darfst diesen Witzbold nicht ernst nehmen, Liebling. Wo bist du?«

Sie sagte ihm, sie sei in einer Telefonzelle irgendwo an der East 57th Street und könne es nicht mehr erwarten, ihn zum Lunch zu treffen.

»Ich habe leider keine Zeit«, sagte er. »Und ich fürchte, wir können nicht einmal miteinander zu Abend essen. Ja, ich weiß… Aber bisher konnte ich noch nicht mit dem Verlagsleiter sprechen, und sobald ich ihm erst einmal gegenübersitze, kann es Stunden dauern. Ich komme nach Hause, sobald ich kann. Ich werde mein

Bestes tun. Bis später, Liebling.«Er legte den Hörer auf.Coby Ross hatte das Gespräch mit unverhülltem Interesse mit

angehört.»Bis später, Liebling«, wiederholte er entrüstet. »Du hättest ihr

doch wenigstens sagen können, daß du sie liebst. Diese jungen Ehepaare heutzutage…«

»Halt die Schnauze!« stieß Mark wütend hervor.Coby zündete sich eine Zigarette an.»Ihre Stimme klingt reizend. Muß ein nettes Mädchen sein. Viel

zu schade für einen Strolch wie dich.«»Sie ist ganz anders als Elaine – wenn du das meinst«, entgeg-

nete Mark. Er sah wieder auf seine Uhr und seufzte.Coby lehnte sich in seinem Sessel zurück, blies eine bläuliche

Rauchwolke in die Luft und musterte Mark aufmerksam.»Mark?« sagte er nach einer Weile.»Was willst du?«»Weiß sie, wie Elaine gestorben ist?«»Natürlich nicht.«Coby blies eine weitere Rauchwolke in die Luft und sah zu, wie

sie sich langsam auflöste.»Und wie lange, glaubst du, kannst du ihr das verheimlichen?«Mark ballte die Hände. Er wandte sich ab, um Coby Ross’ prü-

fendem Blick auszuweichen.Als er antwortete, klang seine Stimme gepreßt.»Lange genug.«

13.

Laura und Ruth aßen Hot Dogs in einer Imbißstube in der Nähe von Bloomingdale. Laura meinte, sie sei nicht hungrig genug, um richtig zu Mittag zu essen, und Ruth erklärte, sie würde um diese Tageszeit ohnehin fast nie etwas zu sich nehmen. Der Kaffee schmeckte gut. Aber Ruth sagte: »Ich bin so an meine eigene gräßliche Brühe gewöhnt, daß ich dieses Wundergetränk gar nicht richtig würdigen kann.«

Danach führte sie ihre Schwägerin auf das Dach irgendeines Wolkenkratzers. Laura konnte sich später nicht mehr erinnern, welcher es war, aber sie fand die Aussicht atemberaubend. Die

Luft war klar, und sie konnten meilenweit sehen.Dann gingen sie in die Radio City hinüber, bummelten durch die

Fifth Avenue und landeten schließlich im Museum für moderne Kunst.

Sie kehrten zu Fuß in die East 67th Street zurück. Kein einziges Mal erwähnten sie die Spieldose, die sie in dem Antiquitätenladen in der East 57th Street gesehen hatten.

Bald nachdem sie zu Hause eingetroffen waren, rief Mark an und teilte Laura mit, daß die Besprechung noch ein paar Stunden dauern würde. Sie sagte ihm, er solle sich keine Sorgen um sie machen. Sie würde sich schon irgendwie beschäftigen.

»Ich bin ohnehin müde nach den vielen Eindrücken, die ich heu-te gesammelt habe«, fügte sie hinzu. »Ich werde Mrs. Medina bit-ten, mir ein Sandwich zu machen, und dann werde ich früh ins Bett gehen. Wirklich, Mark, du brauchst dir meinetwegen keine Gedanken zu machen.«

»Wirklich nicht?«»Nein«, versicherte sie.»Okay. Ich mache mir also keine Sorgen und komme nach Hau-

se, sobald der Boß mich laufenläßt.«»Ich warte auf dich, Mark…« Aber er hatte den Hörer schon auf-

gelegt.

»Ich habe alles gehört«, sagte sie. »Und wenn du mich fragst – das ist doch alles Unsinn von wegen Sandwich und früh zu Bett gehen und warten, bis Seine Lordschaft geruht, nach Hause zu kommen. Ihr beide solltet ausgehen, euch eine tolle Show an-schauen und dann im Persian Room dinieren.« Laura lachte.

»Heute abend nicht, Ruth. Ich bin völlig zufrieden mit einem Hühnerbrustsandwich, einem Glas Milch und einem Cracker hin-terher.«

Ruth setzte sich auf.»Ich habe eine Idee. Dave Brody hat mich eingeladen. Ich soll

heute mit ihm in seinem Atelier essen. Ich rufe ihn einfach an und sage ihm, daß du auch mitkommst.«

»Dave Brody?«Ruth nickte.»Der junge Mann, der gerade aktuell ist und Mutter gründlich

mißfällt – wie alle seine Vorgänger. Er ist Maler und wohnt in ei-nem Atelier am East Broadway. Wenn man New York richtig ken-

nenlernen will, muß man auch so eine Künstlerklause gesehen haben.«

Lauras Augen leuchteten auf. Aber dann sagte sie: »Nein, es geht nicht.«

»Aber warum denn nicht, um Himmels willen?«»Ich würde mir wie das fünfte Rad am Wagen vorkommen.«Ruth winkte ab.»Das ist doch lächerlich. Ich bin oft genug mit Dave allein. Und

außerdem«, fuhr sie in geziertem Tonfall fort, »entstamme ich ei-ner guten New Yorker Familie und sollte wirklich nicht ohne die Begleitung einer älteren Verwandten einen jungen hübschen Künstler besuchen. Du bist doch hoffentlich meiner Meinung, liebe Schwägerin?«

»Dann ist es natürlich meine Pflicht, dich zu begleiten«, erwi-derte Laura lachend.

»Nun, dann ist ja alles klar. Lauf nach oben und zieh dir was Respektables an, damit man dir die Anstandsdame abnimmt, und ich rufe den Jungen inzwischen an und sag ihm, daß wir kom-men.«

14.

David Brodys Atelier bestand aus einem geräumigen Dachboden in einem halbverfallenen alten Haus. Die Straßen in der nicht ge-rade vertrauenerweckenden Nachbarschaft waren leer und verlas-sen, als Laura und Ruth eintrafen. Sie fuhren in einem quiet-schenden Lift nach oben, der groß genug war, um einen VW zu transportieren. Und als sie an der Endstation ausstiegen, befan-den sie sich bereits mitten im Atelier.

Ein Mann von etwa dreißig Jahren winkte ihnen aus einer Koch-nische zu.

»Kommt herein!« rief er. »Ich kann meine Töpfe nicht aus den Augen lassen. Ich koche!«

Er war groß und dunkelhaarig, und Laura fand, daß er sehr gut aussah. Seine Jeans und sein Hemd waren voller Farbkleckse, und an den bloßen Füßen trug er schwere Ledersandalen. Laura überlegte, daß er beinah wie ein Schauspieler aussah, der in die Rolle eines avantgardistischen Malers geschlüpft war.

»Ich komme gleich!« rief er und rührte mit einem großen Holz-

löffel in einem der Töpfe. »Macht es euch inzwischen bequem!«Es gab nicht viele Möbel, auf denen man es sich bequem ma-

chen konnte – ein Bett, einen Tisch, ein paar Stühle. Die Wände waren mit großen, bunt gestreiften Leinwänden behängt. Auf ei-nem Regal stapelten sich die Werke des Künstlers, die an den Wänden keinen Platz mehr gefunden hatten. Alles entsprach ge-nau den Vorstellungen, die sich Laura vom Atelier eines moder-nen Malers gemacht hatte.

Ruth ging zu ihm und fragte: »Kann ich dir helfen?« Als Dave den Kopf schüttelte, rief sie: »Gott sei Dank!«

Sie warf sich auf das Bett.Laura setzte sich nicht. Sie ging langsam umher und betrachte-

te die Gemälde. Sie verstand nicht viel von abstrakter Kunst, und sie konnte nicht beurteilen, ob die Bilder gut oder schlecht waren. Aber sie sah sich jedes einzelne mit zusammengekniffenen Augen an und versuchte dahinterzukommen, was es darstellen könnte.

Nach einer Weile stand Ruth auf und begann den Tisch zu de-cken. Dave schüttete unzählige Gewürze in den Topf und rührte eifrig darin herum. Ab und zu hob er den Kochlöffel an die Lippen, um die Sauce abzuschmecken.

»Hm!« machte er begeistert. »Jetzt weiß ich, was noch gefehlt hat – Tabasco.« Er drehte sich zu Laura um. »He, kommen Sie her! Kosten Sie das, und dann sagen Sie mir, ob Sie in Rom bes-ser gegessen haben.«

Zögernd trat Laura an den Herd.»Nun probieren Sie schon!« sagte er. »Sie müssen doch eine

Spaghetti-Expertin sein.«»Ich bin auf keinem Gebiet Expertin«, erwiderte sie und starrte

auf die brodelnde rote Sauce.»Sie hat Minderwertigkeitskomplexe!« rief er Ruth zu. »Aber mit

ein paar Streicheleinheiten werden wir ihr Ego sicher aufmöbeln können.« Er hielt Laura den Löffel an die Lippen. »Nun kosten Sie schon endlich!«

Laura gehorchte.»Gut«, sagte sie. Und es schmeckte ihr wirklich.»Nicht schlecht für einen gebürtigen Iren namens Brody, was?«Sie sah lächelnd zu ihm auf.»Es tut mir wirklich leid, daß ich Sie so überfalle. Sie wären si-

cher lieber mit Ruth allein gewesen…«»Sei nicht kindisch«, fiel Ruth ihr ins Wort. Sie hatte sich zu ih-

nen gesellt und probierte nun ebenfalls die Sauce. »Dave ist ein begeisterter Koch, und je mehr Leute seine Kreationen loben, de-sto glücklicher ist er. Nicht wahr, Liebling?«

Dave warf den Inhalt einer Spaghetti-Packung in einen großen Topf mit kochendem Wasser.

»Der Käse ist da drüben, Ruth«, sagte er. »Er ist schon gerie-ben. Übrigens - wann heiratest du mich?«

Ruth ignorierte diese Frage.»Meine Füße tun mir weh. East Side, West Side, um die ganze

Stadt herum… Ich habe heute mit Laura eine Riesentour unter-nommen, wir sind sogar aufs Dach eines Wolkenkratzers geklet-tert.«

»Hast du nicht gehört, Ruth? Ich habe dich etwas gefragt.« Er nahm sie in die Arme und küßte sie. »Wann wirst du mich endlich heiraten?«

»Geh weg!« rief sie und gab ihm einen kleinen Stoß, der aber nicht sehr überzeugend ausfiel. »Du bist doch nur hinter meinem Geld her.«

»Natürlich«, gab er fröhlich zu. Er küßte sie noch einmal, dann wandte er seine Aufmerksamkeit wieder dem Herd zu und rührte in den Spaghettis.

Als er sich überzeugt hatte, daß sie nicht zusammenklebten, drehte er sich zu Laura um.

»Ihre Schwägerin wird in vier Monaten ein hübsches Sümmchen erben«, informierte er sie mit einem entwaffnenden Grinsen. »Und sie will das ganze Geld für sich allein haben. Finden Sie das fair?«

Laura wich seinem Blick aus. Plötzlich fühlte sie sich unbehag-lich.

»Ich – ich weiß nicht«, stotterte sie.»Sie sind mir eine große Hilfe«, sagte er seufzend. »Gehen Sie,

schauen Sie sich lieber wieder die Bilder an.«Er beugte sich wieder über den Herd und drehte die Gasflamme

unter dem Saucentopf kleiner.Laura wußte nicht recht, was sie von Dave halten sollte. Ein

Mann wie er war ihr noch nie begegnet. Sie sah zu Ruth hinüber, die gerade Servietten auf den Tisch legte, aber ihre Schwägerin zuckte nur mit den Schultern, um anzudeuten, man brauche Dave nicht sonderlich ernst zu nehmen.

Laura ging zu dem Regal und nahm ein Bild nach dem anderen

heraus. Sie fand, daß sie alle ziemlich gleich aussahen.Ruth war zu Dave an den Herd getreten.»Hör auf mit dieser Tour«, sagte sie leise. »Du verwirrst sie.«»Das verdient sie auch«, stieß er heftig hervor. »Nach dem Din-

ner rufen wir ein Taxi und schicken sie nach Hause.«Ruth schüttelte den Kopf.»Das geht nicht.«»Doch, das geht«, sagte er und gab ihr einen Kuß auf die Na-

senspitze. »Und jetzt geh. Sei meine Agentin, verkauf ihr ein Bild!« Er gab ihr einen sanften Stoß in Lauras Richtung und biß in eine Nudel, um festzustellen, ob sie gar war.

Ruth ging zu Laura, die gerade ein Bild hin und her drehte und nicht recht wußte, wo oben und unten war.

Ruth blickte ihr über die Schulter.»Er malt erst seit ein paar Jahren«, sagte sie. Nach einer klei-

nen Pause fügte sie hinzu: »Er will mich wirklich heiraten.«Laura sagte nichts. Sie blickte mit gerunzelter Stirn auf die

Komposition weißer Streifen, die sich scharf von ihrem schwarzen Hintergrund abhoben.

»Vielleicht wäre es gar keine so schlechte Idee, ihn zu heiraten«, fuhr Ruth fort.

Laura wandte ihr den Kopf zu und sah sie skeptisch an.»Ja, ich weiß, er ist ein bißchen verrückt«, sagte Ruth seufzend.

»Aber wer ist das nicht?«»Wie lange kennst du ihn schon?«»Seh, jetzt redest du genau wie meine Mutter«, stieß Ruth an-

gewidert hervor. »Sechs Monate. Ist das lange genug? Ich habe ihn in einer Buchhandlung in Greenwich Village kennengelernt, in der Eigth Street.«

»Ruth«, begann Laura, »ich wollte nicht…«»Und er hat mich angesprochen«, unterbrach Ruth sie ungedul-

dig. »Okay?«»He, das Essen ist fertig!« rief Dave. »Kann jemand die Wein-

flasche aufmachen?«»Wenigstens passen wir gut zusammen und verstehen uns«,

sagte Ruth mit schriller Stimme. »Was man von dir und Mark nicht gerade behaupten kann…«

»O Ruth…«, flüsterte Laura gekränkt.Aber Ruth hörte ihr nicht mehr zu.Sie ging zum Küchenschrank, um eine Flasche Chianti zu öff-

nen.»Eine Flasche Wein, mein Herr – bitte sehr…«Laura blickte ihr verstört nach. Hatte ihre Schwägerin die Wahr-

heit gesagt? Paßte sie wirklich nicht zu Mark?Nach dem Essen stand Laura vom Tisch auf.»Ich bin sehr müde«, sagte sie. »Ich glaube, ich sollte jetzt

nach Hause gehen.«»Ich komme mit dir«, erbot sich Ruth.»Unsinn! Ich bin durchaus imstande, mir ein Taxi zu suchen und

mich in die East 67th Street fahren zu lassen. Wenn ich mich in Rom zurechtgefunden habe, wird mir das wohl auch in New York gelingen.«

»Also gut«, erwiderte Ruth. »Aber laß dich wenigstens von Dave nach unten bringen. Er soll dir ein Taxi besorgen.«

»Sicher«, sagte Dave, machte aber keine Anstalten, sich zu er-heben.

»Nein«, widersprach Laura hastig, »ich kann mir selbst ein Taxi besorgen.«

Bevor einer der beiden protestieren konnte, hatte sie rasch ihre Handtasche ergriffen und war zum Lift gelaufen.

»Vielen Dank für alles – und ich wünsche euch noch einen schö-nen Abend!« rief sie atemlos, bevor sich die Türen des Aufzugs schlossen.

15.

Laura bezahlte den Taxifahrer und lief die Stufen des Hauses Nummer sechsundzwanzig hinauf.

Niemand öffnete ihr die Tür, als sie auf den Klingelknopf ge-drückt hatte. Sie läutete noch einmal, und dann drehte sie am Messingknauf und war ziemlich überrascht, als sich die Tür öffnen ließ.

In der Eingangshalle brannte Licht. Sie schloß die Tür und lehn-te sich für einen Augenblick dagegen, sah sich voller Unbehagen in der großen Halle um, die ihr nun noch bedrückender erschien als am Abend ihrer Ankunft.

Wenn das Haus doch nur von normalem Leben erfüllt wäre, dachte sie, von Stimmen, von Radiomusik…

Zögernd ging sie auf die Küche zu.

»Mrs. Medina?« rief sie.Aber sie erhielt keine Antwort.»Mrs. Medina?«Anscheinend war die Haushälterin nicht in der Küche. Laura

blickte zum Salon hinüber, dann zur Bibliothek. Die beiden Zim-mer waren dunkel.

Sie überlegte, daß es wohl keinen Sinn hatte, hier unten zu blei-ben. In den großen Räumen würde sie sich einsam und verlassen fühlen.

Sie beschloß, oben im Schlafzimmer auf Mark zu warten.Sie lief die Treppe hinauf. Und als sie an der geschlossenen Tür

von Mrs. Wilsons Schlafzimmer vorbeikam, sah sie den dünnen Lichtstreifen darunter.

Sie zögerte – dachte nach…Und dann traf sie ihre Entscheidung.Leise klopfte sie an die Tür ihrer Schwiegermutter.»Ja?« antwortete eine Frauenstimme.Laura straffte die Schultern. Dann drehte sie den Türknauf her-

um und betrat das Zimmer.

16.

Sarah Wilson lag in ihrem Bett. Die Nachttischlampe brannte und warf einen weichen Schein auf ihr Gesicht. Sie hatte gelesen, aber nun war das Buch aus ihrer Hand geglitten, und sie blinzelte, versuchte die Schatten jenseits des Lichtkreises mit ihren Blicken zu durchdringen.

»Wer ist da?« rief sie.Der erste Eindruck, den Laura von ihrer Schwiegermutter ge-

wann, überraschte sie. Sarah Wilson war keineswegs die furcht-einflößende Gestalt, die ihre lebhafte Phantasie ihr vorgegaukelt hatte. Sie sah eine zarte, aristokratisch wirkende Frau in einem rüschenbesetzten Bettjäckchen. Nein, ihre Schwiegermutter war ganz sicher nicht furchterregend. Und sekundenlang hatte Laura sogar das untrügliche Gefühl, daß Mrs. Wilson sie ängstlich beob-achtete.

Sie wagte sich ein paar Schritte vor. »Ich hoffe, ich störe Sie nicht, Mrs. Wilson!«, sagte sie schüchtern. Ein Lächeln erhellte das alte, faltige Gesicht. »Du bist sicher Laura!«

»Ja. Mark ist noch nicht zu Hause, und da dachte ich…«»Er hat angerufen«, sagte Mrs. Wilson. »Er muß jeden Augen-

blick kommen. Mach die Tür zu, Kind, und setz dich zu mir.«Laura schloß die Tür und ging dann auf das Bett zu.»Endlich lerne ich dich kennen – Mutter. Ich darf dich doch so

nennen?«»Aber natürlich, mein Kind.«»Nun bin ich schon vierundzwanzig Stunden in diesem Haus,

und wir sehen uns erst jetzt…«»Setz dich, bitte. Ich möchte mit dir sprechen.«Laura ließ sich in dem zierlichen Lehnstuhl neben dem Bett nie-

der und wartete. Aber Mrs. Wilson sagte nichts. Sie lag im Bett, die Augen auf Laura gerichtet, ihre dünnen Finger zupften an der malvenfarbenen Bettdecke.

Laura begann sich unbehaglich zu fühlen. Da Mrs. Wilson be-harrlich schwieg, beschloß sie, ihrerseits Konversation zu ma-chen.

»Wußtest du, daß die Haustür nicht versperrt ist?« fragte sie.»Mrs. M. ist zum Drugstore gegangen«, erwiderte Sarah Wilson.

»Und sie war wohl wieder einmal zu faul, den Schlüssel mitzuneh-men.«

»Oh…«»Du bist sehr hübsch, Laura.«Laura errötete.»Oh - vielen Dank«, sagte sie verlegen.Wieder geriet das Gespräch ins Stocken, und Lauras Unbehagen

wuchs.Entschlossen beugte sie sich vor.»Ich konnte es gar nicht erwarten, dich kennenzulernen«, sagte

sie. »Und es war eine wunderbare Überraschung für mich, als Mark mir sagte, daß er hierherkommen wollte. Ich wußte gar nichts von diesem Haus…«

»Gefällt es dir?« fragte Sarah Wilson.Laura fand diese direkte Frage ihrer Schwiegermutter etwas

verwirrend.»Ich… O ja, es ist sehr schön…«Als Mrs. Wilson keine Antwort gab, fuhr Laura hastig fort: »Ich

nehme an, Mark hat dir erzählt, wie wir uns kennengelernt haben. Ich habe in der amerikanischen Botschaft in Rom gearbeitet und…«

Mrs. Wilson unterbrach sie.»Fühlst du dich wohl hier?«»Nun – ja«, antwortete Laura zögernd. Sie wünschte, Sarah

Wilson möge aufhören, sie so durchdringend anzublicken.»Bist du sicher? Fühlst du dich wirklich wohl in diesem Haus?«Obwohl Laura um jeden Preis einen guten Eindruck auf ihre

Schwiegermutter machen wollte, fiel es ihr doch schwer, sich ihr wachsendes Unbehagen nicht anmerken zu lassen. Sie lächelte nervös und nicht sehr überzeugend.

»Ich bin nicht daran gewöhnt, in einem so großen Haus zu le-ben. Ich bin in der Dreizimmerwohnung meiner Tante aufgewach-sen, und da war es ziemlich beengt. Ich glaube, die ganze Woh-nung hätte in deinem Salon Platz gehabt.«

Mrs. Wilson schien ihr nicht zuzuhören. Sie setzte sich in ihrem Bett auf.

»Hast du in diesem Haus irgendetwas Sonderbares bemerkt oder gefühlt?«

Laura rutschte verwirrt auf ihrem Stuhl hin und her.»Nun – ich nehme an, in allen alten Häusern hört man seltsame

Geräusche – ein Knarren, Ächzen und Stöhnen…«Mrs. Wilson seufzte ungeduldig.»Laura, du scheinst ein vernünftiges Mädchen zu sein, und

ich…« Sie brach ab, beschloß es auf andere Weise zu versuchen. »Wenn ein Mensch stirbt – glaubst du, daß dann nichts von ihm auf Erden zurückbleibt außer den sterblichen Überresten, die in seinem Grab liegen?«

Laura wich dem forschenden Blick ihrer Schwiegermutter aus. Also wirklich, dachte sie. Sarah Wilson ist… Kein Wunder, daß Mark…

»Glaubst du das?« wiederholte Mrs. Wilson ihre Frage.»Ich habe noch nicht darüber nachgedacht«, erwiderte Laura

zögernd.»Ich bin nicht mehr jung, aber ich habe noch alle meine Sinne

beisammen«, versicherte Sarah Wilson. »Ich bin borniert und ei-gensinnig und… Laura, vielleicht werde ich doch langsam alt. Viel-leicht ist das der Grund. Wenn man sich dem Tod nähert, kommt einem der Tod entgegen.«

Was für ein sonderbares Gesprächsthema, dachte Laura.»Wissen Sie über Elaine Bescheid?« fragte Sarah Wilson.»Ja – ich weiß, daß sie tot ist.«

»Wußten Sie, daß sie hier gestorben ist? In diesem Haus? In dem Zimmer am anderen Ende der Galerie?«

»Ich… Nein, das wußte ich nicht.«»Der Tod ist nicht das Ende«, erklärte Sarah Wilson mit tonloser

Stimme. »Er kann nicht das Ende sein. Nicht, wenn etwas Unvoll-endetes zurückbleibt.«

»Wie ist sie gestorben?« fragte Laura atemlos. »Was ist gesche-hen?«

Sarah Wilson ignorierte ihre Frage.»Laura, ich möchte dich um etwas bitten. Verlaß dieses Haus –

noch heute abend.«Laura starrte sie verwirrt an.»Aber…«»Es macht mir nichts aus, wenn du mich für verrückt hältst«,

fiel ihr Sarah Wilson ins Wort. »Aber ich flehe dich an – tu, was ich dir sage!«

»Aber warum?«»Wenn du fühlen könntest, was ich fühle…« Sie senkte ihre

Stimme zu einem Flüstern. »Sie ist immer noch im Haus, Laura. Ich weiß es. Ich spüre ihre Gegenwart. Manchmal glaube ich, sie steht direkt hinter mir. Und wenn ich mich dann umdrehe, ist nie-mand da.«

Laura lächelte nervös.»Ein Geist?«Mrs. Wilson strich mit ihrer mageren Hand durch die Luft, als

wolle sie ein unsichtbares Wesen aus dem Zimmer scheuchen.»Es ist mir egal, wie du es nennst«, sagte Sarah Wilson. »Es –

es ist ein Gefühl. Eine Gegenwart. Ein Wille. Irgendetwas von Elaine ist hier - und deshalb darfst du nicht bleiben. Mark hätte dich nie in dieses Haus bringen dürfen.«

Obwohl sie sich einzureden versuchte, daß dies alles Unsinn sei, wuchs Lauras Nervosität. Mühsam versuchte sie, ihre innere Un-ruhe zu verbergen.

»Aber – kein vernünftiger Mensch glaubt doch heutzutage noch an – Geister«, stammelte Laura.

»Es spielt keine Rolle, ob du an Geister glaubst oder nicht.« Sa-rah Wilson sank in ihr Kissen zurück. »Es ist nicht einmal wichtig, ob du mir glaubst.« Ihr altes, müdes Gesicht war grau geworden. »Laura – liebst du meinen Sohn?« fragte sie in ihrer direkten Art.

»Ja, natürlich.«

»Dann bleib nicht in diesem Haus.«»Aber – ich kann doch nicht einfach davonlaufen, nur weil du

behauptest, daß es hier spukt.«»Warum nicht?«»Das wäre doch verrückt.«»Verrückt!« Sarah Wilsons Stimme klang verzweifelt, als sie das

Wort wiederholte. »Verstehst du denn nicht, daß Elaine hier ist? Und sie ist böse!«

Sie griff nach Lauras Hand, sah ihr bittend in die Augen.»Kind, ich flehe dich an! Ich weiß, wovon ich rede. Ich versuche

dir doch nur zu helfen. Mark würde nicht auf mich hören. Aber du mußt tun, was ich dir sage. Bitte, Laura!«

»Ich – ich weiß nicht…«, stotterte Laura verstört.»Bitte, sag mir, daß du meinen Rat befolgen wirst. Meinetwegen

kannst du mich auslachen, mich für wahnsinnig halten – aber tu bitte, was ich dir sage!«

Laura wollte aufstehen, aber Sarah Wilson hielt ihre Hand fest. Plötzlich hatte Laura das Gefühl, sie würde es nicht ertragen, auch nur noch eine Minute in diesem Zimmer zu bleiben. Sie mußte hinaus – sofort…

»Wirst du das Haus noch heute verlassen?« drängte Sarah Wil-son.

»Ich – ich werde warten, bis Mark nach Hause kommt.«»Und dann wirst du gehen?«»Ich – ja, ich werde… Ich werde mit ihm sprechen.«Sarah Wilson ließ ihre Hand los. Sie schien Lauras Worte als

Versprechen aufzufassen – als Versprechen, dieses Haus noch am gleichen Abend zu verlassen. Sie schloß erschöpft die Augen, ihre Lippen zitterten.

»Ich danke dir, Laura«, flüsterte sie.Laura hatte das Gefühl, sie müsse noch etwas sagen. Aber sie

fand keine Worte.Auf Zehenspitzen ging sie zur Tür. Als ihre Hand auf dem Tür-

knauf lag, warf sie einen kurzen Blick zurück. Mrs. Wilsons Augen waren immer noch geschlossen.

Lautlos öffnete Laura die Tür und trat auf die Galerie hinaus.

17.

Laura holte tief Atem.Sie schloß die Tür hinter sich und lehnte sich dagegen. Das Ge-

spräch mit Sarah Wilson hatte sie ermüdet und verwirrt. In ihren Schläfen pochte es schmerzhaft, und ihre Kehle war wie ausge-dörrt.

Als sie hörte, wie die Haustür aufging und wieder ins Schloß fiel, stieß sie einen Seufzer der Erleichterung aus. Endlich kam Mark nach Hause. Wie schön…

Sie rannte zur Treppe und blickte nach unten.Aber es war Medina, die langsam die Stufen heraufstieg. Sie

hielt ein kleines Päckchen in der Hand.»Pillen für unsere Patientin«, sagte sie. »Ist Mark schon zu Hau-

se?«»Nein«, antwortete Laura mit dumpfer Stimme.»Ich werde froh sein, wenn er endlich kommt«, sagte die Haus-

hälterin seufzend und warf einen bedeutsamen Blick in die Rich-tung von Sarah Wilsons Zimmer. »Diese Frau macht mich ganz verrückt.«

»Mrs. Medina…«, begann Laura zögernd.Die Haushälterin war zu Mrs. Wilsons Zimmer gegangen. Sie

hatte die Hand bereits erhoben, um die Tür zu öffnen. Als sie Lau-ras Stimme hörte, wandte sie sich um, sah sie fragend an.

»Glauben Sie – an Geister?« fragte Laura stockend.Mrs. Medinas Augen verengten sich.»Dann hat sie also mit Ihnen geredet?«Laura zuckte mit den Schultern.»Es ist natürlich alles Unsinn, nicht wahr? Mrs. Medina – wenn

Mark kommt, sagen Sie ihm bitte, daß ich hier oben auf ihn war-te. Ich möchte mit ihm sprechen.«

»Ja, ich werde es ihm sagen.«»Vielen Dank.«Laura ging auf ihr Zimmer zu. Mrs. Medinas Augen folgten ihr.»Mrs. Wilson!«Laura drehte sich um.»Ja?«»Ich arbeite schon seit vielen Jahren hier, Mrs. Wilson. Und bis-

her habe ich noch keinen einzigen Geist gesehen.« Die Haushälte-rin lächelte ihr beruhigend zu. »Und wenn Sie einen sehen, dann sagen Sie es mir. Ich werde ihn schon in die Flucht schlagen.«

Laura erwiderte das Lächeln, und dann ging sie in ihr Schlafzim-

mer.Mrs. Medina schüttelte den Kopf.»Geister!« flüsterte sie verächtlich. »So ein Unsinn!«Einen Augenblick lang blieb sie noch vor der Tür stehen, dann

seufzte sie tief auf und ging in Sarah Wilsons Zimmer.

18.

Laura stand in der Mitte des Raumes, jeder Muskel in ihrem Körper war angespannt.

Sie hatte die Deckenbeleuchtung angeschaltet. Und jetzt sah sie sich voller Angst um, als erwarte sie, jeden Augenblick eine schreckliche Entdeckung zu machen.

Aber in ihrem Zimmer hatte sich nichts verändert. Mit leerem Blick starrte sie auf das altmodische Bett mit den vier Pfosten, auf den Toilettentisch aus Mahagoniholz, auf die Redoute-Rosen in ih-rem Silberrahmen, auf die buntgeblümten Vorhänge, die abge-wetzten Stühle, den Gepäckständer, den Spiegel in seinem Maha-gonirahmen, der mit vergoldeten Äpfeln geschmückt war.

Es gab nichts in diesem Zimmer, das furchterregend wirkte.Laura lächelte über ihre unbegründete Angst, ging über den fa-

denscheinigen Teppich zum Fenster.Sie blickte hinaus in das Dunkel, dann öffnete sie einen Fenster-

flügel und atmete tief die kühle Nachtluft ein. Sie fühlte, wie ihr Körper sich entspannte, wie sie ihre innere Ruhe wiederfand.

Sie griff nach einem Buch, ohne einen Blick auf seinen Titel zu werfen, knipste die Leselampe an und setzte sich in den Lehn-stuhl daneben.

Aber die Buchstaben verschwammen vor ihren Augen. Nach ein paar Minuten stand sie auf und schaltete jede Lampe im Zimmer an. Dabei warf sie einen kurzen Blick in den Spiegel, schnitt eine Grimasse und lachte.

»Laura, du bist eine dumme Gans«, sagte sie.Sie setzte sich wieder unter die Leselampe, nahm das Buch auf

und versuchte sich auf die gedruckten Wörter zu konzentrieren.Die dünnen Gardinen raschelten im Wind.Laura spürte irgendetwas – sie wußte nicht, was es war. Blitz-

schnell drehte sie sich zum Fenster um.Die Vorhänge bewegten sich nicht.

Laura hatte das Gefühl, als würden sich Schatten im Raum bewe-gen. Sie glaubte. Geräusche zu hören. Etwas Undefinierbares schien in diesem Zimmer zu geschehen.

Was war es nur, das ihr Herz rascher schlagen ließ? Nervös blickte sie sich um. Sie schauderte, spürte eine plötzliche Kälte.

Sie warf das Buch aufs Bett und stand auf. Langsam ging sie zum Fenster, schloß es und lehnte die Stirn müde gegen die kühle Scheibe. Warum konnte sie diese unsinnige Angst nicht unter-drücken?

Und dann kam eine flüsternde Stimme – aus dem Nichts, aus dem Irgendwo.

»Laura!«Es war, als hörte sie ihre eigene Stimme. Ja – diese Stimme

klang genauso wie die ihre… Aber sie kam nicht aus ihrer Kehle.Sie wirbelte herum, ihr Blick irrte durch das Zimmer, angstvoll

preßte sie die Hände auf die Brust.Sie sah niemanden.»Laura!« Dieselbe Flüsterstimme wiederholte ihren Namen.Wieder ließ sie ihren Blick suchend durch das Zimmer gleiten,

wieder sah sie niemanden.»Ich bin Elaine.« Das Flüstern verfolgte sie. »Kennst du mich

nicht? Elaine…«Lauras Lippen begannen zu zittern.»Nein!«»Ja. Elaine – Elaine – Elaine – Elaine…« Immer wieder kam die

Stimme, hartnäckig wie ein Alptraum. »Elaine…«Laura hielt sich die Ohren zu.»Nein! Das ist nicht möglich!« stieß sie keuchend hervor.Aber die Stimme ließ sich nicht vertreiben.»Elaine – Elaine – Elaine…« Unaufhörlich drang die Flüsterstim-

me zu Laura, unaufhörlich wie das Rauschen des Meeres, wie das Fluten der Zeit.

Plötzlich verlor Laura die Nerven. Sie schrie gellend auf, konnte nicht aufhören zu schreien. Der Raum, das ganze Haus war erfüllt von ihren Schreien und dem unbarmherzigen Flüstern der körper-losen Stimme.

19.

Als Mark Wilson nach Hause kam, hatte Mrs. Medina seine Frau bereits zu Bett gebracht.

Er rief den Hausarzt an, nachdem er einen Blick auf Laura ge-worfen hatte, die mit geschlossenen Augen im Bett lag und am ganzen Körper zitterte. Mrs. Medina brachte ihr noch weitere De-cken.

Mark saß am Bett seiner Frau und beobachtete sie besorgt, während Dr. Sam Carpenter, ein freundlicher Mann von etwa sechzig Jahren, umständlich in seiner Arzttasche kramte. Sarah Wilson stand in der Tür ihres Schlafzimmers, von nervöser Span-nung erfüllt.

Mrs. Medina kam mit einer weiteren Wolldecke an Lauras Bett.»Danke.« Der Arzt nahm ihr die Decke aus der Hand.»Wie geht es ihr?« fragte Mrs. Medina keuchend.»Sie wird sich bald wieder besser fühlen«, erwiderte Dr. Car-

penter mit sanftem Lächeln. Dann merkte er, wie schwer die Haushälterin atmete. »Aber Ihnen wird es bald sehr schlecht ge-hen, wenn Sie sich jetzt nicht endlich ausruhen.«

»Wie soll ich mich denn ausruhen?« stieß Mrs. Medina hervor. »Wie kann ich Ruhe finden, wo ich immer noch diese gräßlichen Schreie im Ohr habe…«

Mark schnitt ihr das Wort ab.»Doktor!« Aufgeregt wies er auf seine Frau.Dr. Carpenter wandte sich sofort dem Bett zu. Laura begann

das Bewußtsein wiederzuerlangen. Sie stöhnte leise, stammelte unverständliche Worte.

Dr. Carpenter breitete die Wolldecke über sie. Als sich ihre Lider langsam und zitternd hoben, beugte er sich über sie.

»Ich bin Dr. Carpenter«, sagte er lächelnd.Mit leeren Augen starrte sie ihn an. Sie war noch nicht ganz bei

Bewußtsein.Doch dann kam plötzlich die Erinnerung zurück, und eine eiskal-

te Hand schien nach ihrem Herzen zu greifen. Mühsam richtete sie sich auf.

»Laura«, sagte Mark, »nicht…«Als sie seine Stimme hörte, wandte sie den Kopf. Er war also

endlich nach Hause gekommen. Erleichtert atmete sie auf.»O Mark…«Sie schlang ihm die Arme um den Nacken, klammerte sich an

ihn mit der ganzen Kraft, die noch in ihrem erschöpften Körper war. Ein trockenes Schluchzen schüttelte sie.

Mark biß sich auf die Unterlippe.»So beruhige dich doch, Liebes.«Aber sie hörte nicht auf zu schluchzen.»Es war so schrecklich«, stieß sie keuchend hervor.Mark warf dem Doktor einen besorgten Blick zu, wußte nicht,

was er tun sollte.»Mrs. Wilson«, sagte Dr. Carpenter mit seiner ruhigen, sanften

Stimme.Lauras Augen waren groß vor Angst. Sie achtete nicht auf den

Arzt, war am Rand eines hysterischen Zusammenbruchs.»Sie war hier, Mark!« schrie sie. »Hier in diesem Zimmer!

Hier…«Mark runzelte die Stirn, versuchte zu verstehen, was sie sagte.»Wer war hier?«»Sie – sie war hier, Mark«, stammelte Laura, »ja – sie war hier.

Sie redete mit mir und lachte. Und – und dann… Ich weiß nicht mehr… Ich weiß es einfach nicht mehr. O Mark! Ich hatte so schreckliche Angst.«

Mark begriff noch immer nicht, was Laura ihm zu sagen ver-suchte.

»Natürlich hattest du Angst«, sagte er besänftigend. »Aber jetzt ist ja alles wieder gut.«

Sie fröstelte in seinen Armen.»Ich bin so froh, daß du wieder bei mir bist«, flüsterte sie.»Mrs. M. hat dich gefunden«, erzählte er ihr. »Du warst ohn-

mächtig.«»Mrs. M.?« Sie blickte sich um und sah die Haushälterin in der

Tür stehen. »Mrs. M. – Sie haben sie doch auch gehört, nicht wahr?« Eindringlich schaute sie in Mrs. Medinas rundes, gerötetes Gesicht. »Sie müssen sie gehört haben.«

Mrs. Medina schüttelte mitleidig den Kopf.»Ich habe nur Ihre Schreie gehört, Ma’am.«Dr. Carpenter fand endlich das Tablettenröhrchen, nach dem er

gesucht hatte.»Sie müssen jetzt schlafen, Mrs. Wilson.« Er schüttelte eine Ta-

blette aus dem Röhrchen. »Nehmen Sie das, dann werden Sie sich entspannen können.« Er bat die Haushälterin, ein Glas Was-ser zu bringen.

Gehorsam griff Laura nach der Tablette. Dann blickte sie ängst-lich zu Mark auf.

»Es war Elaine«, sagte sie leise. »Sie war hier.«»Laura, bitte…«, begann Mark.»Sie war hier«, beharrte Laura mit schriller Stimme. »Sie war

hier – in diesem Zimmer. Mark, du mußt mir glauben. Sie war hier!«

»Elaine ist tot«, erwiderte Mark sanft. »Das weißt du doch.«»Es ist mir egal, ob sie tot ist!« schrie sie hysterisch. »Jeden-

falls war sie hier - sie war hier!«Mark wollte protestieren.»Aber…«Dr. Carpenter unterbrach ihn.»Mrs. Wilson, nehmen Sie jetzt bitte die Tablette. Danach wer-

den Sie sich viel besser fühlen. Und vor allem werden Sie schlafen – tief und fest.«

»Aber…«, stammelte Laura. Sie sah alle der Reihe nach an – Mark, den Doktor und Mrs. Medina.

Sie beobachteten sie besorgt, aber sie glaubten ihr nicht. Das las sie in ihren Augen.

Sie wandte sich wieder zu ihrem Mann.»Mark?«Er wich ihrem Blick aus.Bittend sah sie die Haushälterin an.»Mrs. Medina, Sie müssen sie doch gehört haben.«Dr. Carpenter beugte sich vor. Mit leiser, sanfter Stimme sagte

er: »Mrs. Wilson, Sie haben eine lange Reise hinter sich. Sie sind in einem fremden Haus. Ihre Nerven waren überreizt, haben Ih-nen einen Streich gespielt.«

»Aber ich…«Er schnitt ihr das Wort ab.»Vielleicht haben Sie sich eingebildet, etwas zu hören«, gab er

zu. »Ich weiß es nicht. Aber ich weiß, daß Sie einen schweren Schock erlitten haben und nun Ruhe brauchen.« Er zeigte auf die Tablette, die sie noch immer in der Hand hielt. »Und nun nehmen Sie das - danach werden Sie sich beruhigen.«

Sie blickte zu Mark auf. Es war eine stumme Bitte um Beistand.Aber Mark schien mit seinen Gedanken bereits woanders zu

sein. Er stand auf und ging zu Mrs. Medina.Laura fühlte sich besiegt und hilflos. Sie schluckte die Tablette,

nahm das Glas, das Dr. Carpenter ihr reichte, und spülte mit Wasser nach.

Mark zog Mrs. Medina auf die Galerie hinaus.»Hat sie mit meiner Mutter gesprochen?«Mrs. Medina nickte, und er runzelte ärgerlich die Stirn.»Mark?« rief Laura.Er kehrte an ihr Bett zurück. Dr. Carpenter schloß gerade seine

Arzttasche.»Mark«, sagte Laura, »ich habe solche Angst.«»Dazu hast du keinen Grund«, versicherte er ihr, beugte sich

hinab und küßte sie.»Sie werden jetzt schlafen, Mrs. Wilson, und morgen früh sieht

alles anders aus«, versprach der Arzt.»Bleib bei mir, Mark!« bat Laura.»Ich – ich muß mit meiner Mutter reden«, sagte er, küßte sie

noch einmal und streichelte sanft ihre Wange. »Versuch jetzt zu schlafen«, fügte er liebevoll hinzu. »Ich bin in deiner Nähe – falls du mich brauchst.«

»Ich brauche dich jetzt.«Dr. Carpenter hatte sie besorgt beobachtet.»Mark«, sagte er, »ich werde mit Ihrer Mutter sprechen.«»Ich will selbst mit ihr sprechen«, erwiderte Mark brüsk. Er

klopfte Laura auf die Schulter. »Du weißt doch, Liebes – ich bin ganz in deiner Nähe.« Dann wandte er sich ab und ging aus dem Zimmer.

Laura starrte ihm nach. Dann schloß sie die Augen, versuchte die aufsteigenden Tränen hinunterzuschlucken.

Dr. Carpenter griff voller Mitleid nach ihrer Hand.»Es wird alles wieder gut«, sagte er leise.Es gelang ihr nicht mehr, die Tränen zurückzuhalten. Und es

war, als hätte sie seine Worte nicht gehört.

20.

»Wie kannst du es wagen, mich so anzuschreien?« stieß Mrs. Wilson aufgebracht hervor. Sie war wieder zu Bett gegangen.

Doch Mark, der wütend in ihr Schlafzimmer gestürmt war, dach-te gar nicht daran, seine Stimme zu dämpfen.

»Ich habe dich doch gebeten, sie in Ruhe zu lassen. nicht

wahr?«Sarah Wilson hatte sich die Decke bis ans Kinn gezogen.»Du hast ja keine Ahnung, was ich durchgemacht habe.« Ihre

Stimme klang brüchig. »Hier zu liegen, diese Schreie zu hören und zu wissen, was sie bedeuten. Du kannst dir ja nicht vorstel-len, wie das ist – wenn man hier liegt, wenn man nicht aufzuste-hen wagt und es doch nicht im Bett aushält… Ich habe dich doch gebeten, mit ihr auszuziehen.«

»Warum?« Seine Augen wurden schmal. »Weil sie meine Frau ist?«

»Ja«, sagte Sarah Wilson.Sie sah, wie er wütend die Hände ballte, und fuhr hastig fort:

»Aber es ist nicht so, wie du glaubst. Ich habe nichts gegen sie. Ich kenne sie ja kaum. Ich finde, sie ist ein sehr nettes Mädchen.«

»Vielen Dank«, erwiderte er sarkastisch.Sie ignorierte seinen Tonfall.»Mark - hat sie von Elaine gesprochen?« fragte sie.Sie erhielt keine Antwort und fragte noch einmal: »Mark – bitte

– hat sie von Elaine gesprochen?«Ihre Stimme zitterte.Mark zuckte mit den Schultern.»Sie war völlig hysterisch. Sie bildete sich ein, Elaine sei bei ihr

im Zimmer gewesen.« Voller Bitterkeit starrte er seine Mutter an. »Du konntest es nicht erwarten, nicht wahr? Du mußtest ihr un-bedingt erzählen, wie Elaine gestorben ist.«

Ruhig erwiderte sie seinen Blick.»Nein, Mark«, antwortete sie, »ich habe es ihr nicht erzählt. Du

weißt, daß ich das niemals tun würde.«Müde winkte er ab.»Ich weiß nie, ob ich mich auf dich verlassen kann.«»Ich habe dich zu warnen versucht – das war alles. Aber du

wolltest ja nicht auf mich hören. Deshalb mußte ich mit ihr spre-chen. Und jetzt siehst du ja selbst, wie die Dinge stehen. Jetzt, nachdem das passiert ist, siehst du hoffentlich ein, daß ich recht hatte. Sie kann nicht hierbleiben.«

»Mutter, wahrscheinlich schläft sie jetzt«, erklärte Mark gedul-dig. »Der Doktor hat ihr ein Schlafmittel gegeben.«

»Du verstehst mich nicht.« Mutlos schüttelte sie den Kopf.»Was soll ich denn verstehen?«

»Noch ist nicht alles verloren. Wenn du noch heute mit ihr aus-ziehst, wenn du sie in Sicherheit bringst…«

»Wovor soll ich sie in Sicherheit bringen?«»Vor Elaine.«Ich darf nicht die Geduld verlieren, sagte sich Mark, wenn mich

das auch noch so große Anstrengung kostet. Er mußte sich be-herrschen, mußte versuchen, seine Mutter zur Vernunft zu brin-gen.

»Elaine ist tot«, sagte er langsam und eindringlich. »Sie kann niemandem Schaden zufügen.«

Verzweifelt schlang Sarah Wilson die dünnen Finger ineinander.»Warum willst du mich nicht verstehen? Elaine ist hier. Sie ist

immer noch im Haus.«Dr. Carpenter war in der offenen Tür erschienen. Schweigend

stand er auf der Schwelle, hörte das Gespräch mit an. Weder Mark noch Sarah Wilson bemerkten seine Anwesenheit.

»Wo ist sie?« rief Mark. »Zeig mir doch, wo sie ist! Steht sie vielleicht hinter diesem Vorhang? Oder hat sie sich unter dem Bett versteckt? Oder vielleicht ist sie ausgegangen, vielleicht spa-ziert sie die Madison Avenue entlang, um sich die Schaufenster anzusehen.«

»Gut, mach dich über mich lustig, wenn du willst.« Mit plötzli-cher Entschlossenheit richtete sie sich auf und schlug die Bettde-cke zurück.

»Was hast du vor?« fragte Mark.»Ich werde jetzt mit Laura sprechen.«Bevor sie noch ihre Füße auf den Teppich setzen konnte, war

Dr. Carpenter bei ihr.»Sarah, das werden Sie nicht tun«, sagte er mit fester Stimme.Verwirrt zuckte sie zusammen, dann sah sie ihn herausfordernd

an.»Sie können mich nicht daran hindern.«»Sie werden das Mädchen in Ruhe lassen«, sagte der Arzt, »und

wenn ich Sie an Ihr Bett fesseln muß. Für heute nacht hat sie ge-nug Ängste ausgestanden.«

»Verlassen Sie sofort mein Haus!« stieß sie wütend hervor.»Aber Sarah…«, protestierte er.Sie wandte sich zu Mark um.»Was hat er hier zu suchen.«Er blinzelte sie verwirrt an.

»Was er hier… Ich habe ihn angerufen…«»Es tut mir leid, mein Junge«, sagte der Arzt. »Ich dachte, Sie

wüßten es.«»Was soll ich wissen?« Mark war nahe daran, seine mühsam ge-

wahrte Beherrschung zu verlieren. »Was geht hier eigentlich vor, zum Teufel? Vielleicht kann ich das endlich erfahren!«

Sarah Wilson erhob sich und warf den Kopf in den Nacken.»Dies ist immer noch mein Haus, Mark, und ich will ihn hier

nicht sehen.«Dr. Carpenter lächelte sie beruhigend an.»Schon gut, Sarah, ich gehe ja schon. Aber ich bitte Sie – ma-

chen Sie keine Dummheiten. Lassen Sie Ihre Schwiegertochter in Ruhe. Sie braucht jetzt dringend ihren Schlaf.«

Er nickte Mark zu.»Wir sprechen uns später, mein Junge«, sagte er leise und

wandte sich zur Tür.»Nicht später – jetzt.« Mark nahm den Arm des Doktors und

wollte ihn aus dem Zimmer führen.»Mark!« schrie Sarah verzweifelt.Er blieb stehen und wartete.»Wirst du Laura aus dem Haus bringen?« fragte sie.Mark ballte die Hände.»Mutter«, sagte er mit mühsam erzwungener Ruhe. »Laura ist

meine Frau. Ich werde schon auf sie aufpassen, du brauchst dir keine Sorgen um sie zu machen.«

Und dann verließ er das Zimmer, begleitet von Dr. Carpenter.Wieder einmal blieb Sarah Wilson allein zurück.Aber es war nicht die Einsamkeit, die sie quälte. Es war die

Angst, zu der sich nun auch die frustrierende Erkenntnis gesellte, daß sie nichts tun konnte – überhaupt nichts.

Warum nur wollte Mark sie nicht verstehen? War er denn so ge-fühllos? Spürte er nicht die Gefahr, die in allen dunklen Ecken dieses Hauses lauerte?

21.

An der Treppe blieb Mark stehen und wandte sich zu Dr. Car-penter um.

»Was hat das alles zu bedeuten?« fragte er.

»Vor zwei Jahren…«, begann der Arzt, dann räusperte er sich und warf Mark einen prüfenden Blick zu, bevor er weitersprach. »Vor zwei Jahren, als Elaine starb und Sie das Haus verließen… Nun, das alles war ein schwerer Schock für Ihre Mutter.«

Mark schüttelte den Kopf, als wollte er sich von einer schmerz-haften Erinnerung befreien.

»Ich konnte nicht hierbleiben.«»Ich weiß«, sagte Dr. Carpenter und klopfte ihm auf die Schul-

ter. »Nun, ich kam ziemlich oft hierher, um nach Ihrer Mutter zu sehen. Vielleicht hätte ich es nicht tun sollen – aber eines Tages erzählte ich ihr, warum Elaine meiner Meinung nach soviel ge-trunken hat.« Er zuckte kaum merklich mit den Schultern, und sein Lächeln bat um Verzeihung. »Dabei habe ich mich wohl nicht sehr gentlemanlike ausgedrückt. Das wird Sarah nie vergessen.«

Schweigend sahen sich die beiden Männer in die Augen.Nach einer Weile wandte sich Mark ab und sagte mit müder, bit-

terer Stimme: »Es wird wohl nie aufhören, nicht wahr, Doktor?«Dr. Carpenter wußte nicht, was er darauf erwidern sollte.Nachdem Mark den Arzt zur Haustür begleitet hatte, blieb ihm

nichts anderes übrig, als zu Laura zurückzukehren.Die Lampen im Schlafzimmer waren gelöscht worden. Mark

setzte sich auf den Stuhl neben Lauras Bett und bewachte ihren Schlaf.

Sie schien sich beruhigt zu haben. Die hysterische Angst, die ihr kleines Gesicht verzerrt hatte, war von ihr gewichen. Ihre Züge waren entspannt, wirkten wieder so frisch und hübsch wie da-mals, als er sich in sie verliebt hatte.

Plötzlich bewegte sie sich im Schlaf und stöhnte leise. Mark stand auf und beugte sich über sie. Aber da lag sie schon wieder ganz ruhig da, atmete tief und gleichmäßig.

Abrupt wandte er sich ab. Er ertrug den Anblick ihrer Wehrlosig-keit, ihrer Verletzlichkeit nicht länger.

Er ging zum Fenster und sah hinaus in die Nacht, überwältigt von der Erkenntnis seiner eigenen Ohnmacht, seiner Unfähigkeit, Laura zu schützen.

22.

»Mach die Tür leise zu«, sagte Ruth. »Wahrscheinlich schlafen

sie alle schon.«Dave Brody schloß vorsichtig die Haustür hinter sich und sah

sich um. Dann stieß er einen leisen Pfiff aus.»Du bist ja tatsächlich ein steinreiches Mädchen.«»Ich habe dich gewarnt«, erinnerte sie ihn.»Und wo in diesem Märchenschloß ist dein Zimmer?« fragte er.»Im dritten Stock – hoch oben im Turm«, erwiderte sie lä-

chelnd.»Rapunzel, Rapunzel, laß dein goldenes Haar herab!« sang er

leise.»Glaub mir«, sagte sie nachdenklich, »ich überlege mir oft, ob

ich nicht die Flucht ergreifen soll.«»Warum tust du es dann nicht?«Hilflos breitete sie die Arme aus.»Wahrscheinlich, weil ich ein Feigling bin«, sagte sie mit einem

tiefen Seufzer. Statt die Arme wieder sinken zu lassen, schlang Ruth sie um seinen Nacken. »Aber du wirst mir helfen, nicht wahr? Du wirst mir doch helfen?« wiederholte sie, und ihre Stim-me klang plötzlich verzweifelt.

»Und du wirst mich heiraten, nicht wahr?« flüsterte er und küß-te sie.

»O Dave!« stieß sie hervor. »Ich glaube, ich liebe dich wirklich!«

Leidenschaftlich preßte sie ihren Mund auf den seinen. Lange hielten sie sich umfangen. Aber plötzlich wurde Daves Aufmerk-samkeit abgelenkt.

Sanft befreite er sich aus Ruths Armen und drehte sich um.»Was hast du?« fragte sie.»Ich dachte, da wäre jemand…« Er brach ab und lachte leise.

»Vielleicht fange ich schon an, Gespenster zu sehen, so sehr bringst du mich um den Verstand. Ich gehe jetzt wohl lieber nach Hause und schlafe mich aus.«

»O nein!« sagte sie enttäuscht.»Ich rufe dich morgen an«, versprach er und ging zur Tür.»Willst du denn keine Tasse Kaffee mit mir trinken?« rief sie

ihm verzweifelt nach. »Vorhin sagtest du doch…«»Ich rufe dich morgen an«, wiederholte er. Und dann fiel die

Tür hinter ihm ins Schloß.Eine Weile blieb Ruth reglos in der Halle stehen und starrte die

Tür an. Dann zuckte sie mit den Schultern, legte die Sicherheits-

kette vor und sah sich in dem großen leeren Raum um.»Vielen Dank, Elaine«, sagte sie in die Leere hinein.

23.

Frustriert und verbittert stieg Ruth Wilson die Treppe hinauf. Sie haßte dieses Haus. Es schien sie in seinen Mauern gefangen zu halten, sie vom Leben auszuschließen, ihr alles zu verwehren, was sie sich wünschte.

Wenn sie doch nur den Mut hätte, wegzugehen und sich ein ei-genes Leben aufzubauen! Wenn sie nur diese schweren, altmodi-schen Möbel im Salon, die Familienporträts und sogar ihre Mutter verlassen könnte, ohne sie je wiedersehen zu müssen!

Sie hatte die Treppe, die zum dritten Stockwerk führte, erreicht, als sie die Klänge der Spieldose hörte, die ihren traurigen Walzer klimperte.

Verwirrt blieb Ruth stehen. Sie konnte nicht gegen die Angst ankämpfen, die in ihr aufstieg. Schweigendes Dunkel erfüllte das Haus. Das einzige Geräusch, das die Stille durchbrach, war die Walzermusik, deren melancholisches Echo von den Wänden wi-derhallte.

Sie zögerte. Dann ging sie die düstere Galerie entlang, zu Elai-nes Schlafzimmer.

Die Tür stand einen Spalt offen.Mit angehaltenem Atem blieb sie stehen und lauschte. Dann

stieß sie vorsichtig die Tür weiter auf.Eine Gestalt stand vor dem Toilettentisch – von Schatten um-

hüllt, nicht erkennbar im Dunkel.Lautlos trat Ruth in den Raum und tastete nach dem Lichtschal-

ter.Grelles Licht erhellte das Zimmer.Mark stand vor dem Toilettentisch, seine rechte Hand lag auf

der kleinen Spieldose. Erschrocken wandte er sich um. und dabei ließ er den Deckel der Spieldose zuschnappen. Abrupt riß die traurige Melodie ab.

Ruth ging auf ihn zu.»Ich dachte schon, es wäre Mutter. Weißt du, wie spät es ist?«»Es tut mir leid«, sagte er entschuldigend. »Das habe ich nicht

bedacht, Ruth.«

»Ich verstehe.« Ihre Stimme war sehr sanft. »Was versuchst du zu beweisen, Mark?«

Er zuckte mit den Schultern, sah sich im Zimmer um, und dann blieb sein Blick an der kleinen Spieldose hängen.

»Warum hat Mutter dieses Ding nicht weggeworfen?« fragte er.»Weil es nicht ihr gehört, sondern dir.«Bitter sagte er: »Früher hat sie das nie gehindert…«»Hör auf, Mark«, bat Ruth. »Das ist doch jetzt alles vorbei.«»Es ist nicht leicht für mich.«»Das weiß ich doch.« Sie lächelte schmerzlich. »O Mark – seit

meinem achtzehnten Geburtstag versuche ich mich von ihr zu be-freien. Letztes Jahr hätte ich es fast geschafft. Wußtest du das?«

»Nein, das habe ich nicht gewußt.«»Die große, tapfere Ruth ist einfach gegangen – einfach so.«»Und was geschah dann?«»Was glaubst du wohl?« entgegnete Ruth mutlos. »Sie hat mich

aufgespürt und mich angefleht, zu ihr zurückzukommen. Und weißt du – ich war froh, daß sie es tat. Ich hatte solche Angst, Mark. Ich konnte zwar groß daherreden – von Freiheit und Unab-hängigkeit - aber ich hatte gräßliche Angst.«

»Es tut mir so leid, Ruth«, sagte er ernst. »Das habe ich nicht gewußt. Ich habe nie geahnt, daß es so schlimm für dich ist.«

Für eine lange Minute sahen sie sich an, Bruder und Schwester, und sie spürten schmerzhaft das Band des Blutes, das sie verein-te, das Unglück, das sie gemeinsam trugen.

Plötzlich stieß Ruth hervor: »Nimm das nächste Flugzeug, Mark! Flieg mit deiner Frau nach Rom zurück!«

»Und was für einen Unterschied würde das machen?« fragte er mit einem wehmütigen Lächeln.

Hilflos zuckte er mit den Schultern, wandte sich ab und blickte auf die kleine Spieldose hinab. Mit dem Zeigefinger strich er zart über den verschnörkelten Deckel.

»Es geht nicht nur um Mutter«, sagte er zögernd. »Auch ich…«»So hör doch, Mark…«»Ruth«, unterbrach er sie, »warum können wir unsere Fehler

nicht erkennen, bevor wir sie begehen? Ich war siebenundzwan-zig Jahre alt, als ich Elaine geheiratet habe. Ich hätte doch alt und reif genug sein müssen, um vorauszusehen, was geschehen würde, als ich sie in dieses Haus brachte.« Verzweifelt schüttelte er den Kopf. »Ich habe sie geliebt, Ruth. Und ich habe sie getö-

tet.«»Aber das ist doch lächerlich, Mark«, protestierte sie.»Wirklich? Wenn ich sie nicht hierhergebracht hätte,

vielleicht…«Ruth fiel ihm ins Wort: »Sie hat sich erschossen, Mark. Sie hat

es getan – nicht du.«»Das ist nicht…« Er brach ab, schlug die Hände vors Gesicht.»Mark, bitte! Hör auf!«»Ich kann nicht!« stieß er mit erstickter Stimme hervor.Mühsam rang er nach Fassung, und als er dann wieder sprach,

klang seine Stimme ruhig und beherrscht.»Ich dachte, ich könnte die Vergangenheit vergessen, als ich

Laura kennenlernte. Und als ich mich in sie verliebte, glaubte ich, das alles würde sich in Luft auflösen, wie ein Nebel, der allzu lan-ge auf meiner Seele gelegen hatte. Aber es hat nicht funktioniert, Ruth. Es ist immer noch da.«

Mit einer müden Geste strich er sich das Haar aus der Stirn.»Ich muß dir etwas gestehen, Ruth…« Er zögerte, wandte sich

ihr wieder zu. »Ich brachte es nie über mich, Laura zu sagen, wie sehr ich sie liebe. Ist das nicht eine wundervolle Basis für eine gute Ehe?«

»O Mark!« rief Ruth voller Mitgefühl.Er streckte die Hand aus, streichelte sanft und zärtlich ihre

Wange. Dann küßte er sie auf die Stirn. Es war ein sehr liebevol-ler Kuß. Noch nie waren sie einander so nahe gewesen.

»Ich gehe jetzt ins Bett, Ruthie«, sagte er.Er lächelte ihr zu und wollte aus dem Zimmer gehen. Aber auf

der Türschwelle blieb er stehen und blickte zu Ruth zurück. Hilflos hob er die Schultern.

»Weißt du, Ruth«, sagte er langsam, »ich glaube, Mutter hat recht.«

»Wie meinst du das, Mark?«»Elaines Geist hat dieses Haus nie verlassen«, erwiderte er mit

dumpfer Stimme. Dann wandte er sich ab und ging davon.Nachdenklich blieb Ruth vor dem Toilettentisch stehen. Mark

hatte ihr seine Gedanken und Gefühle noch nie so rückhaltlos of-fenbart wie in diesen letzten Minuten. Sie hatte ihn ihr Leben lang gekannt. Aber der Altersunterschied und die Tatsache, daß er ein Junge war, daß er die meiste Zeit seiner Kindheit und Jugend im Internat oder auf dem College verbrachte, hatte eine Wand zwi-

schen ihnen errichtet, hatte sie getrennt. Dazu kam, daß er von Natur aus sehr zurückhaltend und verschlossen war.

Aber nun berührten sie Marks innere Qualen zutiefst. Vielleicht konnte sie ihm helfen, wenn sie älter und selbständiger wäre. Aber was konnte sie in ihrer Lage für ihn tun?

Langsam ging sie auf die Tür zu. Sie wandte sich um, ließ ihren Blick noch einmal durch den Raum wandern, in dem die be-drückenden Erinnerungen an Marks tote Frau hingen, fast greif-bar, wie unheilvolle Monstren.

Dann schaltete Ruth das Licht aus, und das Zimmer sank wieder ins Dunkel zurück, in ein lauerndes, wartendes Dunkel.

24.

Es war Morgen. Mark stand in der Halle vor dem Telefontisch-chen und rief die Fluggesellschaft an. In der Maschine, die heute nach Rom abflog, waren keine Plätze mehr frei.

»Und wenn jemand den Flug storniert?« beharrte er. »Hören Sie, es ist sehr wichtig. Wir müssen noch heute nach Rom fliegen… Was? Erzählen Sie mir nichts von Hochsaison! Meiner Frau geht es nicht gut. Ich muß sie nach Rom zurückbringen.«

Laura war allein in ihrem Zimmer. Sie schlief immer noch.Sarah Wilson lauschte der Stimme ihres Sohnes, die aus der

Halle heraufdrang. Sie zog ihren hellblauen Morgenmantel über das Nachthemd, schob ihre bloßen Füße in die Pantoffel und ver-ließ auf Zehenspitzen ihr Schlafzimmer.

Vorsichtig blickte sie sich um, dann ging sie die Galerie entlang und öffnete leise die Tür des Zimmers, in dem Laura schlief. Sie trat ein, schloß die Tür hinter sich und huschte zum Bett hinüber.

Sie blickte auf das schlafende Mädchen hinab, zögerte sekun-denlang.

Dann beugte sie sich über Laura und schüttelte sie sanft an der Schulter.

»Laura!« flüsterte sie. »Laura, wach auf!«Laura bewegte sich im Schlaf.»Laura, bitte!« wisperte Sarah Wilson. »Bitte, du mußt aufwa-

chen!«Laura öffnete die Augen und blickte sich um. Sie schien nicht zu

wissen, wo sie sich befand.

»Laura, bitte! Ich habe nicht viel Zeit!«Laura sah in das alte, faltige Gesicht, das sich über sie neigte,

und da kehrte die Erinnerung zurück.»Wo ist Mark?«»Unten in der Halle. Er telefoniert mit der Fluggesellschaft. Hör

mir zu, Laura. Sie wollen nicht, daß ich mit dir rede, aber…«Laura unterbrach sie.»Ich möchte Mark sehen.« Sie setzte sich auf, und dann stöhnte

sie. »Oh, mein Kopf! Ich habe Schmerzen…«»Es war Elaine, nicht wahr?«Der stechende Schmerz in Lauras Schläfen übertönte die Erin-

nerung.»Elaine?« wiederholte sie verständnislos.»In der vergangenen Nacht«, sagte Sarah Wilson eindringlich.

»Du hast ihre Stimme gehört, nicht wahr?«Laura preßte beide Hände an die Schläfen. Wenn diese Schmer-

zen nur aufhören würden, dachte sie, dann könnte ich klar den-ken. Und jetzt geht mir auch noch meine Schwiegermutter auf die Nerven. Wenn sie mich doch in Ruhe ließe…

»Ich – weiß nicht«, stammelte sie. »Ich dachte, ich hätte ihre Stimme gehört.«

Sie massierte sanft ihre Schläfen.»Aber ich weiß es nicht genau. Vielleicht«, fügte sie leise hinzu,

»vielleicht bin ich auf dem besten Weg, den Verstand zu verlie-ren.«

Sarah Wilson ließ sie nicht in Ruhe, und auch die stechenden Schmerzen wichen nicht.

»Sie war hier«, beharrte Sarah.Laura richtete sich auf und schwang die Beine über den Bett-

rand. Sofort verstärkte sich der quälende Schmerz in ihren Schlä-fen, und sie stöhnte auf.

»Ich muß mit Mark sprechen…«Mrs. Wilson setzte sich neben sie.»Laura, du mußt mir jetzt zuhören«, flüsterte sie. »Elaine war

hier.«»Aber das ist doch nicht möglich«, entgegnete Laura. »Sie ist

doch tot.«»Aber sie hat ein ganz bestimmtes Vorhaben nicht zu Ende ge-

führt. Und deshalb wartet sie, Laura. Sie wartet seit zwei Jahren.«

Voller Qual und Verwirrung schrie Laura: »Was willst du von mir? Was soll das alles?«

»Ich versuche, dir zu helfen, Laura.«»Bitte, Mutter - ich kann nicht klar denken…«Aber Sarah Wilson ließ sich nicht beirren.»Laura, die Trennwand zwischen dem Leben und dem Tod ist

sehr dünn und schwach. Aber zwischen dem Tod und dem Leben ist sie fast unerschütterlich. Elaine kann diese Wand nicht durch-brechen. Nicht allein. Nicht ohne Hilfe. Und so wartet sie. Endlich kommt jemand.«

Ihre Augen, groß und glänzend, schienen sich an Lauras Gesicht festzusaugen. Verstört wandte das Mädchen sich ab, wollte sich von diesem brennenden Blick befreien. Aber der Stimme Sarah Wilsons konnte sie nicht entrinnen.

»Laura, du weißt, daß sie hier war.«»Ich… Es war so kalt, ich habe gefroren«, sagte Laura. Sie schi-

en mehr zu sich selbst zu sprechen, schien die Anwesenheit ihrer Schwiegermutter vergessen zu haben. »Ich war in Eis begraben. Ich wollte mich befreien, aber jemand hielt mich fest – hielt mich zurück.«

Sarah Wilson seufzte. Sie wußte, sie durfte jetzt nicht lockerlas-sen. Sie mußte ihre ganzen Kräfte, so gering sie auch waren, auf dieses halbwahnsinnige Mädchen übertragen, das sich gegen ihre Hilfe sträubte.

»Du bist Marks Frau«, sagte sie, »und du bist nicht sehr stark. Du bist keine Gegnerin für Elaine.« Ihre Stimme war nun lauter und eindringlicher geworden. »Du mußt das Haus verlassen, be-vor es geschieht.«

Zumindest war es ihr jetzt gelungen, die Aufmerksamkeit ihrer Schwiegertochter zu erregen. Sie sah, wie das Blut in Lauras Wangen stieg, wie der dumpfe Ausdruck ihrer Augen nackter Angst wich.

»Bevor – was geschieht, Mutter?« stammelte sie. »Was kann denn geschehen?«

Stumm betete Sarah Wilson um neue Kraft. Denn sie brauchte jetzt viel Kraft, um Laura aus der Lethargie zu reißen, in die sie die Schlaftablette des Doktors versetzt hatte.

Laura mußte hellwach die Gefahr erkennen, die in diesem Haus lauerte. Die Gefahr, die bisher nur sie allein kannte, die nur dar-auf wartete, sie alle zu vernichten.

»Sie will dich benutzen«, sagte sie. Die Anstrengung, die es sie kostete, Laura zu überzeugen, nahm ihr den Atem. Sie rang nach Luft, keuchend fuhr sie fort: »Sie wird dich dazu benutzen, mei-nen Sohn zu verletzen.«

»Das ist doch lächerlich…«»Du hast sie nicht gekannt, Laura. Sie war sehr stark. Sie war

besitzergreifend und rachsüchtig.«Sarah Wilson beugte sich näher zu Laura. Ihr sonst so bleiches

Gesicht war nun hochrot. Mit bebenden Fingern strich sie sich eine graue Haarsträhne aus der Stirn, auf der kleine Schweißper-len glänzten.

»Sie will deinen Körper in Besitz nehmen. Sie kann es… Ihr Geist wird in deinen Körper schlüpfen.« Sie spürte, daß Laura nicht begriff, was sie da sagte. Seufzend fuhr sie fort: »Ja, ich weiß, das klingt verrückt. Aber ich weiß, daß es möglich ist.«

Laura begann am ganzen Körper zu zittern. Plötzlich fror sie wieder. Wenn Sarah Wilsons Worte sie auch nicht überzeugt hat-ten – ihre eindringliche Stimme verfehlte ihre Wirkung nicht.

»Ich… Aber – warum Mark? Warum will sie Mark verletzen? Dazu hat sie doch keinen Grund…«

»Bitte, Laura! Es wird wieder geschehen. Und diesmal wird es dir nicht gelingen…«

»Warum will sie ihn verletzen?« fiel Laura ihr ins Wort.»Spielt denn das eine Rolle?« Sarah Wilson schloß sekunden-

lang die Augen. »Lieber Gott, gib ihr doch die Kraft, es endlich zu begreifen…«

Ihre Verwirrung, ihre Angst und der stechende, erbarmungslose Schmerz trieben Laura an den Rand der Hysterie. Mit schriller, hoher Stimme schrie sie: »Was hat er ihr denn getan?«

»Er…«, begann Sarah Wilson. Dann sprach sie die Worte nicht aus, die ihr auf der Zunge lagen. Sie brachte es nicht über sich.

Verzweifelt wandte sie sich ab, wußte nicht, was sie tun sollte. Sie blickte sich suchend im Zimmer um. Doch die leeren Wände gaben ihr keine Antwort. Sie konnte die Antwort nur in sich selbst finden. Und sie erkannte, daß es keinen anderen Weg gab, als Laura die Wahrheit zu sagen. Sie mußte das Unaussprechliche aussprechen.

»Er hat sie getötet«, sagte sie tonlos.»O nein!« stieß Laura mit erstickter Stimme hervor.Sarah Wilson wandte sich ihr wieder zu, griff nach ihrer Hand.

»Verstehst du nun? Er hat sie getötet. Ich habe bisher mit nie-mandem darüber gesprochen. Nicht einmal mit Mark.« Sie sank in sich zusammen, alle Kraft schien sie nun verlassen zu haben. »Aber ich weiß, daß er es getan hat.«

»Aber – Mark kann doch nicht… Er wäre nicht fähig dazu…«»Ich hörte, wie die beiden miteinander stritten. Sie waren in ih-

rem Schlafzimmer. Sie hatten schon oft gestritten, aber so schlimm wie an jenem Abend war es noch nie gewesen. Sie ver-suchte wieder einmal, Mark gegen mich aufzuhetzen. Ich hörte ihn schreien – und er sagte, er würde sie töten.«

Laura war totenblaß geworden. Kalte Angst hatte ihre Augen geweitet.

War ihre Schwiegermutter wahnsinnig? Oder hatte sie die Wahr-heit gesagt?

»Ich – glaube es nicht«, stammelte Laura.»Denkst du, ich will es glauben?« Sarah Wilsons Stimme war

heiser vor Schmerz und ungeweinten Tränen. »Er ist mein Sohn.«Sie holte tief Atem. Es fiel ihr schwer, weiterzusprechen. Aber

sie mußte sich zusammenreißen. So viel stand auf dem Spiel.»Später an jenem Abend… Ich – lag im Bett. Ich dachte, sie sei-

en ausgegangen.« Sie machte eine Pause, rang wieder nach Luft. »Da hörte ich plötzlich den Schuß, und dann hörte ich Mark die Treppe hinunterlaufen. Als ich die Halle erreichte, war er ver-schwunden, aber…«

Sie brach ab, barg ihr schmerzverzerrtes Gesicht in den dünnen weißen Händen.

»Ich höre es immer noch – wieder und wieder – die ganze Zeit. Den Schuß und die Schritte… Den Schuß und die…« Sie hob den Kopf, zwang sich, mit ruhigerer Stimme weiterzusprechen.

»Ich ging in ihr Zimmer. Sie war tot. Der Revolver… Ich hob ihn auf und legte ihn in ihre Hand.« Ihre Schultern sanken nach vorn. Plötzlich sah sie aus wie eine kraftlose Greisin. »Ich sagte der Po-lizei, daß Elaine Selbstmord begangen hat.«

»O Gott«, flüsterte Laura. »O Gott…«»Als die Untersuchung beendet war, ging Mark nach Europa. Ich

dachte, nun sei alles vorbei. Die Polizeibeamten waren sehr nett und voller Mitgefühl. Sie gaben uns sogar den Revolver zurück. Der Revolver…« Mutlos schüttelte sie den Kopf. »Ich hatte mich geirrt. Es war nicht vorbei. Nicht für Elaine.«

»Nein«, protestierte Laura mit schwacher Stimme, »es ist nicht

wahr…«»Sie ist hier, Laura«, sagte Sarah Wilson. »Sie wartet.«»Sie wartet?« wiederholte Laura. »Worauf wartet sie?«»Sie will ihn töten.«»Nein!« Das alles war Wahnsinn – ein Alptraum. Sie mußte auf-

wachen…»Nein!« schrie Laura und schloß die Augen.»Laura, bitte!«Laura öffnete die Augen wieder. Der Alptraum war immer noch

da. Mrs. Wilson saß immer noch neben ihr, sah sie an mit diesem entnervenden, eindringlichen Blick.

»Laura, du hast gesagt, daß du ihn liebst. Hilf ihm!«»Laß mich doch in Ruhe! Warum kannst du mich nicht in Ruhe

lassen?« jammerte Laura.Aber Sarah Wilson gab nicht nach.»Sie wird wiederkommen. Ich weiß, daß sie es tun wird. Geh

weg, Laura. Geh weg, bevor…«»Laß mich in Ruhe!« kreischte Laura. Sie sprang auf, rannte zur

Tür, riß sie auf, stürmte auf die Galerie hinaus.Keuchend lief Sarah Wilson ihr nach. In der offenen Tür blieb sie

stehen und sah zu, wie Laura auf die Treppe zustolperte.»Ich will dir doch nur helfen!« rief sie ihr nach.Aber Laura hörte ihr nicht mehr zu. Taumelnd rannte sie die

Treppe hinab.»Mark!« schrie sie.Für einen Augenblick verlor sie fast das Gleichgewicht, aber sie

hielt sich am Geländer fest.»Mark!« kreischte sie. »Wo bist du, Mark?«»Willst du, daß Elaine ihn tötet?« rief ihr Sarah Wilson mit

schriller Stimme nach. »Willst du das?«Mark hatte Lauras Schrei gehört. Er kam aus dem Salon gelau-

fen.»Laura!«Sie war am Fuß der Treppe angelangt, rannte auf ihn zu und

warf sich in seine Arme.»O Mark!« jammerte sie. »Mark… Sag ihr, sie soll mich in Ruhe

lassen! Bitte, bitte, sie soll mich in Ruhe lassen…«Noch immer folgte ihr Sarah Wilsons verzweifelte Stimme.»Sie ist in diesem Haus, Laura! Sie ist hier!«Laura preßte ihr Gesicht an Marks Brust.

»Bitte, Mark, bitte! Ich will ihr nicht zuhören!« Zitternd schmiegte sie sich in seine Arme.

»Komm!« sagte er besänftigend und führte sie in den Salon.Aber auch dorthin folgte ihnen Sarah Wilsons zitternder Ruf.»Ich will dir doch nur helfen, Laura!«Doch nun schien ihre Stimme aus weiter Ferne zu kommen.

Laura war in Sicherheit. Sie umklammerte mit beiden Händen Marks Arm, als sie in einen Stuhl sank.

»Beruhige dich doch!« bat er. »Es ist ja alles gut. Du darfst dich nicht so aufregen, Liebes.«

Ihre Finger gruben sich bebend in seinen Arm.»Mark, ich flehe dich an – fliegen wir nach Rom zurück – noch

heute!«»Ich habe versucht, Tickets zu bekommen«, sagte er. »Ich habe

alle Fluggesellschaften angerufen. Aber die Flüge heute sind alle ausgebucht. Ich konnte erst für morgen zwei Plätze bekommen.«

»Dann nehmen wir uns ein Hotelzimmer. Ich kann nicht mehr hierbleiben.«

Er sah herab auf ihr bleiches Gesicht, auf ihren schlanken Kör-per, der in dem dünnen Nylonnachthemd zitterte.

»Was hat sie dir erzählt?« fragte er tonlos.»Mark, bitte…« Laura schüttelte den Kopf. »Bitte…«»Elaine?« fragte er. »Hat sie von Elaine und mir gesprochen?«Ängstlich blickte sie in sein ausdrucksloses Gesicht.»Das ist doch jetzt egal. Wenn wir nur von hier weggehen…«»Elaine hat Selbstmord begangen«, unterbrach er sie. »Hat sie

dir das erzählt?«Laura sank stöhnend in den Stuhl zurück.»Hat sie dir das erzählt?« wiederholte er.»Ja«, sagte sie leise.Mark atmete hörbar auf. Er senkte den Kopf, und es schien, als

hätte ihn plötzlich alle Kraft verlassen.Sie streckte die Hand nach ihm aus, aber er reagierte nicht.

Reglos stand er vor ihr, und ein lastendes Schweigen senkte sich über den Raum. Nur das Ticken der Uhr, die unter ihrer Glasglo-cke auf dem Kaminsims stand, durchbrach die Stille.

»Mark«, flüsterte Laura, »ich liebe dich.«Er gab keine Antwort, ging zu einem der Fenster, schob den

schweren Damastvorhang beiseite und starrte auf die Straße hin-aus.

Lange Zeit blieb er reglos am Fenster stehen und schwieg. Schließlich fragte er, ohne sich umzuwenden: »Hat sie dir erzählt, warum Elaine sich umgebracht hat?«

»Das ist doch nicht wichtig«, erwiderte Laura. »Es interessiert mich nicht.«

Sie wollte noch hinzufügen, daß für sie nichts wichtig war außer seiner Liebe. Aber diese Worte kamen ihr nicht über die Lippen.

Mark ignorierte den flehenden Klang ihrer Stimme.»Elaine war Alkoholikerin«, stieß er hervor. »Hast du das ge-

wußt?«»Mark«, sagte sie hilflos, »bitte, nicht…«Doch er sprach unbarmherzig weiter.»Sie war Schauspielerin – in einem Sommertheater. Ich brachte

sie in dieses Haus, und da begann sie wieder zu trinken.«Er drehte sich zu Laura um und sah sie ernst an.»Ich weiß nicht, ob ich ihr das zum Vorwurf machen kann.«»Mark, bitte! Das ist doch jetzt alles vorbei.« Wenn er Elaine

nur vergessen könnte, dachte sie, wenn er sich befreien könnte von diesen bösen Erinnerungen, dann könnte er vielleicht wieder er selbst sein, könnte sie lieben wie in jenen glücklichen Tagen nach der Hochzeit – in ihrer römischen Wohnung.

»Es ist niemals vorbei!« schrie er. »Siehst du das denn nicht?«Sie spürte, wieviel Kraft es ihn kostete, sich zu beherrschen, mit

ruhigerer Stimme fortzufahren:»Wir begannen zu streiten – immer öfter, immer heftiger. Mein

Vater hatte einen Revolver. Elaine fand ihn, und nun drohte sie mir, sie würde sich erschießen. Ich nahm ihr die Waffe weg und versteckte sie. Ich wollte sie wegwerfen.« Er ballte die Hände. »Aber dann dachte ich nicht mehr daran, der Revolver blieb in der Schublade meines Nachttischchens liegen.«

Minutenlang schwieg er, versunken in seine alptraumhaften Er-innerungen.

Laura beobachtete ihn. Sie wußte, sie konnte ihn jetzt nicht mehr daran hindern, sich seine Qual von der Seele zu sprechen. Und sie wollte es auch nicht mehr. Zu sehr war sie selbst in die-sem Alptraum gefangen. Sie hatte erkannt, daß Marks Qual auch die ihre war. Es gab kein Entrinnen für sie, sie mußte das schreckliche Wissen mit ihm teilen.

»Zwei Wochen später«, fuhr er fort, »stritten wir wieder. Dies-mal war es schlimmer als je zuvor. Es ging um die Spieldose –

dieses idiotische Ding. Den ganzen Tag ließ Elaine den traurigen Walzer klimpern. Ich haßte diese Melodie, sie zerrte an meinen Nerven. Ich wollte, daß sie das Ding endlich in den Mülleimer warf.«

»Hast du ihr die Spieldose geschenkt?« fragte Laura.»Ich?« Erstaunt sah er sie an. »Nein. Ich habe keine Ahnung,

woher Elaine das Ding hatte. Sie war wieder einmal betrunken – wie üblich. Und sie drohte mir, sie würde sich umbringen – wie üblich. Ich war so wütend, daß ich ihr sagte, sie solle es doch endlich tun. Und dann verließ ich das Haus.«

Er holte tief Atem.»Eine Stunde später kam ich zurück.«»Und?«Er starrte auf seine Hände, und sein Gesicht verzerrte sich.»Sie hat den Revolver gefunden«, flüsterte er heiser. »Sie war

tot.«Laura stieß einen zitternden Seufzer aus.»So war das also.«»Laura - ich habe sie getötet«, stammelte er. »ich…«»Hör auf!« unterbrach sie ihn.»Wenn ich nicht weggegangen wäre, wenn ich die Waffe nicht in

der Schublade aufbewahrt hätte…«»Hör auf!« schrie sie noch einmal.Mühsam rang sie nach Fassung.»Bitte, Mark«, sagte sie dann mit ruhigerer Stimme, »Du darfst

dich nicht so quälen.« Flehend sah sie ihn an, und ihre ganze Lie-be lag in ihrem Blick, ihre verzweifelte Angst um ihn.

»Wir hätten niemals hierherkommen dürfen«, sagte er. »Du hättest es nie erfahren dürfen…«

»Aber wir sind hier, und ich weiß es.«Sie sagte sich, daß sie ihm helfen mußte. Sie mußte ihn heraus-

reißen aus diesem Teufelskreis sinnloser Selbstanklagen, unbe-gründeter Schuldgefühle.

»Hallo!« rief eine helle Stimme.Ruth hatte die Tür des Salons geöffnet.»Da bist du ja, Laura. Ich suche dich schon seit einer halben

Stunde. Ich habe gehört, was gestern passiert ist. War es sehr schlimm?«

Lauras Blick ließ Marks Gesicht nicht los.»Ja, es war ziemlich schlimm«, sagte sie.

Ruth ging auf sie zu und fragte besorgt: »Fühlst du dich jetzt wieder besser?«

»Ja«, erwiderte Laura, den Blick immer noch auf Mark gerichtet. »Ich fühle mich ausgezeichnet. Ich gehe jetzt nach oben.«

Sie erhob sich und verließ den Salon, ohne sich noch einmal umzudrehen.

»Pack deinen Koffer, Laura!« rief Mark ihr nach. »Wir ziehen noch heute morgen aus!«

Laura durchquerte die Halle und ging auf die Treppe zu. Sie gab keine Antwort, und er wußte nicht, ob sie seine Bitte gehört hat-te.

Er wandte sich zu seiner Schwester.»Paß auf sie auf, Ruth. Und sieh zu, daß Mutter sie in Ruhe

läßt.«Er rannte aus dem Salon, und sie starrte ihm verwirrt nach.»Wohin gehst du?« fragte sie.Aber er nahm sich nicht die Zeit, ihr zu antworten. Mit grimmi-

ger Entschlossenheit ging er auf die Haustür zu.Bevor er die Hand auf den Türknauf legte, drehte er sich um

und blickte zur Treppe.Er sah Laura langsam die Stufen hinaufsteigen. Voller Zärtlich-

keit beobachtete er sie, und er fühlte, daß er sie noch nie so sehr geliebt hatte wie in diesem Augenblick. Nein, er würde nicht zu-lassen, daß sie unglücklich wurde.

Er blickte ihr nach, bis sie in ihrem Zimmer verschwunden war, dann riß er die Tür auf und stürmte auf die Straße hinaus.

25.

Laura ließ sich auf ihr Bett sinken und starrte vor sich hin. Ihre Kopfschmerzen hatten nachgelassen, sie konnte wieder klarer denken.

Nach einer Weile stand sie auf, trat auf die Galerie hinaus und ging zu Elaines Zimmer.

Der Raum sah aus wie immer – ein hübsch eingerichtetes Schlafzimmer, dem man es anmerkte, daß es lange nicht benutzt worden war. Das Fenster stand weit offen, und ein frischer Früh-lingswind wehte herein.

Laura ging zum Fenster und sah auf die belebte New Yorker

Straße hinaus. Ihr Gesicht war ausdruckslos. Ihr Blick folgte zwar den Autos, die vorbeifuhren, den Passanten, die sich auf den Gehsteigen drängten. Aber sie schien sie nicht wirklich zu sehen.

Langsam wandte sie sich um und ließ die Augen erneut durch das Zimmer wandern.

Sie entdeckte keine Schatten, keine dunklen Ecken, aus denen plötzlich Geister hervortauchen konnten. Sie sah nur die bunten Farben der Chintzdecke, die auf dem Bett lag, die vielen Nippfigu-ren, mit denen Marks verstorbene Frau das Zimmer geschmückt hatte.

Schweigend stand das Telefon auf dem Nachttisch. Es war nur ein Telefon – sonst nichts.

Und plötzlich war ein leichtes Flirren im hellen Morgenlicht.Sie sah eine tote Frau auf dem Boden liegen. Und Mark beugte

sich über die verkrümmte Gestalt. Er hielt einen Revolver um-klammert, und in seinen Augen lag kaltes Entsetzen.

Die flimmernde Vision war so schnell verschwunden, wie sie ge-kommen war. Das Zimmer sah wieder so normal aus wie zuvor. Ein unbewohntes Schlafzimmer, das gelüftet wurde…

Verwirrt preßte Laura die Hände an die Schläfen. Sekundenlang schloß sie die Augen, öffnete sie wieder und erwartete halb und halb, noch einmal jene gräßliche Vision aus der Vergangenheit zu sehen.

Aber sie sah nichts.Sie ging zum Toilettentisch, auf dessen spiegelnder Platte die

kleine Spieldose stand. Zögernd hob Laura den Deckel, und der melancholische Walzer erklang.

Und als die Melodie durch das Zimmer flutete, weckte sie plötz-lich eine Erinnerung in Laura.

Sie ließ den Deckel der Spieldose zuschnappen. Nun wußte sie, was sie zu tun hatte.

Laura zog sich rasch an. Erleichtert atmete sie auf, als es ihr gelang, das Haus unbemerkt zu verlassen. Sie winkte einem vor-beifahrenden Taxi und bat den Fahrer, sie in die East 57th Street zu bringen.

Der Mann beschwerte sich, weil die Fahrt so kurz war, aber Lau-ra hörte ihm nicht zu. Sie gab ihm ein großzügiges Trinkgeld, als er sie an der Ecke der East 57th Street und der Madison Avenue aussteigen ließ.

Sie fand das kleine Antiquitätengeschäft sofort wieder.

Mr. Kurawicz war allein im Laden. Als er sie sah, rieb er sich lä-chelnd die Hände.

»Ah, Sie wollen die kleine Spieldose also doch kaufen? Warten Sie, ich hole sie gleich aus dem Schaufenster.«

»Nein«, sagte sie hastig, »deshalb bin ich nicht gekommen. Ich wollte Sie fragen, ob Sie sich noch erinnern, wem Sie die andere Spieldose verkauft haben.«

»Aber das habe ich Ihnen doch schon gestern erzählt. Ein Mann hat sie gekauft – als Geburtstagsgeschenk für seine Frau.«

Laura starrte in sein rundes, gutmütiges Gesicht, und plötzlich fühlte sie sich schwach in den Beinen. Sie begann am ganzen Körper zu zittern.

»Mr. Kurawicz – erinnern Sie sich noch, wie – wie der Mann aussah?« stammelte sie.

Der Antiquitätenhändler kicherte.»Liebe junge Dame, wenn ich mich an alle meine Kunden erin-

nern sollte…« Er brach ab, denn Laura taumelte plötzlich. Sie war totenblaß geworden und tastete nach der Kante eines Biedermei-ertischchens, um sich festzuhalten.

»Was ist denn los? Fühlen Sie sich nicht gut?« fragte Mr. Kura-wicz besorgt.

»Doch – es geht mir gut«, erwiderte sie mit schwacher Stimme.»Setzen Sie sich doch – warten Sie, ich hole Ihnen ein Glas

Wasser.«»Nein – bitte nicht, das ist nicht nötig. Wie hat der Mann ausge-

sehen, der die Spieldose gekauft hat?«Besorgt musterte er ihr blasses Gesicht.»Geht es Ihnen auch wirklich gut? Wollen Sie vielleicht einen

Brandy trinken?«Sie schüttelte den Kopf.»Im Nachbarhaus wohnt ein Arzt. Sie könnten…«»Es geht mir gut«, sagte Laura mühsam. »Bitte – sagen Sie

mir, wie der Mann ausgesehen hat.«Mr. Kurawicz zuckte mit den Schultern. In dieser Branche be-

gegnet man heutzutage den merkwürdigsten Leuten, dachte er.»Lassen Sie mich nachdenken…« Er runzelte die Stirn. »Ja, jetzt

erinnere ich mich wieder. Er war groß und etwa dreißig Jahre alt. Er sah sehr gut aus – ein netter junger Mann. Hätte ein Filmstar sein können. Er war blond und trug einen Schnurrbart. Daran kann ich mich ganz genau erinnern.«

Freundlich lächelte er Laura an.»Nun, habe ich nun Ihre Neugierde befriedigt, junge Dame?«»Ja, ich denke schon«, erwiderte sie langsam.»Immerhin«, sagte er, »es ist nicht so leicht…« Er brach ab und

blinzelte verwirrt.Sie hatte den Laden bereits verlassen.

26.

Mark saß in Coby Ross’ Büro und zog nervös an einer Zigarette. Coby saß in seinen Stuhl zurückgelehnt und zupfte an seinem blonden Schnurrbart, während er telefonierte.

»Alles in Ordnung?« fragte er. »Großartig! Vielen Dank.« Er leg-te den Hörer auf.

»Klappt es?« fragte Mark.»Natürlich. Dein lieber Onkel Coby hat es geschafft. Heute

abend, elf Uhr. Sei aber schon um zehn auf dem Flugplatz, du weißt ja – die Formalitäten…«

Mark stand auf und griff nach dem Telefonhörer.»Ich weiß nicht, warum ich nicht schon früher daran gedacht

habe.«»Weil du ein Kamel bist«, sagte Coby lachend. »Mit den Flugge-

sellschaften kommen wir ganz gut zurecht. Wir tun denen ja auch so manchen Gefallen. Eine Hand wäscht die andere. So ist das heutzutage.«

Mark wählte eine Nummer.»Ich schicke dir aus Rom ein Geschenk«, versprach er.Coby grinste.»Ich bin schon zufrieden, wenn du glücklich bist. Immerhin

habe ich ja ein besonderes Interesse daran…«Mark sah ihn fragend an.»Wie meinst du das?«»Vielleicht sollte ich dich nicht daran erinnern, aber…« Coby zö-

gerte. »Nun ja – wer hat dich denn mit Elaine bekannt gemacht?«»Hör mal, es ist nicht deine Schuld…« Mark brach ab und sagte

in den Telefonhörer: »Hallo, Ruth! Kann ich mit Laura sprechen?«Als er der Stimme seiner Schwester lauschte, runzelte er ver-

wirrt die Stirn.

»Was sagst du da?« rief er dann. Nach wenigen Sekunden legte er den Hörer auf und drehte sich zu Coby um. »Sie ist nicht zu Hause.«

27.

Es hatte nicht den Anschein, als ob Dave Brody einen angeneh-men Abend verleben würde.

Er hatte sich ganz auf dieses neue Mädchen konzentriert, das er vor ein paar Wochen aufgegabelt hatte.

Tagelang war er ihr nachgelaufen. Sie war ein hübsches Ding mit wohlgerundeten Formen und wenig Verstand im Kopf. Endlich hatte sie sich bereit erklärt, den Abend mit ihm in seinem Atelier zu verbringen, und jetzt mußte das passieren.

Sie saß auf der Couch und sah ihm zu, wie er Whisky in ein Glas goß. Der Whisky war nicht für sie bestimmt. Er blickte über die Schulter auf den Neuankömmling, und dann fügte er noch einen guten Schuß Whisky hinzu.

Er trug das Glas quer durch den Raum zum Tisch, kam dabei an seiner neuen Freundin vorbei und seufzte hilflos.

Laura saß am Tisch.Sie hatte die Ellbogen auf die Tischplatte gestützt und das Ge-

sicht müde in die Hände gelegt. Dave stellte das Whiskyglas vor sie hin. »Hier«, sagte er. Sie blickte nicht auf. »Wie spät ist es?« fragte sie.

»Halb acht«, erwiderte er. »Kommen Sie, trinken Sie. Das wird Ihnen guttun.«

Endlich sah sie zu ihm auf. Ihr Gesicht war verzerrt vor Sorge und Angst.

»Dave, was ist nur mit mir los?«Er wies auf das Glas.»Ich hoffe, Sie wissen diesen guten Tropfen zu würdigen. Das

Zeug ist sündteuer – Chivas Regal.«Aber Laura ignorierte den Drink. Sie sah ihn an, suchte verzwei-

felt nach einer Antwort.»Warum bin ich hierhergekommen?«Er lächelte.»Weil Sie von meinen Kochkünsten so angetan sind.«Sie ging nicht auf seinen scherzhaften Ton ein.

»Vielleicht dachte ich, Ruth sei bei Ihnen«, sagte sie langsam.Er warf einen nervösen Blick auf seine neue Freundin.»Nun, da muß ich Sie leider enttäuschen.«»Ich – ich bin spazierengegangen«, erklärte Laura. »Stunden-

lang – und dann… Ich weiß nicht, wie es geschah, wirklich nicht… Plötzlich war ich hier.«

Sie blickte verwirrt um sich.»Dave«, jammerte sie, »ich bin ganz durcheinander. Ich… Oh!«

Auf einmal spürte sie einen stechenden Schmerz im Kopf, tastete mit zitternden Fingern nach ihrer Schläfe.

Das Mädchen erhob sich von der Couch, ergriff seine Handta-sche und ging zum Lift.

»Jetzt reicht’s mir. Ich gehe nach Hause, Dave.«David sah sie flehend an. Laura preßte beide Hände gegen die

Schläfen und stöhnte.»He!« rief er. »So warte doch!«»So – durcheinander«, flüsterte Laura.»Auf Wiedersehen!«Das Mädchen winkte Dave noch einmal zu und betrat den Auf-

zug.David wußte nicht, was er tun sollte. Er fühlte sich hin und her

gerissen. Er warf einen kurzen Blick auf Laura, dann lief er dem Mädchen nach.

»Warte! Sie wird gleich gehen und…«Das Mädchen blickte zu Laura hinüber.»Kümmere dich um deine Patientin, Dave.«Sie drückte auf einen Knopf, die Türen des Aufzugs schlossen

sich, und sie entschwebte nach unten.Dave kehrte zu Laura zurück.Plötzlich erschlafften ihre Glieder, und sie glitt vom Stuhl. Zu-

sammengekrümmt lag sie neben dem Tisch. Sie war in Ohnmacht gefallen.

Und was soll ich jetzt tun? fragte sich Dave.Verzweifelt kratzte er sich am Kopf.Das hatte ihm gerade noch gefehlt.

28.

Es war nicht gerade leicht, aber Dave schaffte es, Laura aus

dem Haus zu tragen und sie in ein Taxi zu verfrachten.Als er sie in die Halle des Wilson-Hauses geschleppt hatte, über-

nahm Mark die Verantwortung für seine Frau. Er war sehr besorgt gewesen, sie alle hatten sich große Sorgen um sie gemacht.

Mark trug sie die Treppe hinauf und in ihr Schlafzimmer, und dann rief er Dr. Carpenter an.

»Ich komme sofort«, versprach der Arzt, und er traf tatsächlich wenige Minuten später ein.

Laura lag bewußtlos auf ihrem Bett. Mark sah zu, wie Dr. Car-penter sich über sie beugte und ihr eine Spritze gab.

»Jetzt wird es ihr gleich bessergehen«, versicherte der Arzt.Laura flüsterte kaum verständliche Worte vor sich hin.»Elaine…«, stammelte sie. »Es war – Elaine…«»Beruhige dich, Liebling«, sagte Mark. »Du wirst jetzt tief und

fest schlafen, und wenn du aufwachst, sieht die Welt ganz anders aus.«

Er wandte sich an den Arzt.»Wie lang wird es dauern, bis die Spritze wirkt?«»Höchstens noch eine Minute.« Dr. Carpenter schüttelte den

Kopf. »Leider werden Sie heute abend nicht nach Rom fliegen können.«

»Mark…«, flüsterte Laura.Er beugte sich über sie, legte die Lippen an ihr Ohr.»Ja, mein Liebling?«»Ich – will – ich will dir – nicht weh tun«, stammelte sie mit

schwacher Stimme.»Schlaf jetzt«, sagte er sanft.Ihre Lider flatterten. Bevor sie in einen traumlosen Tiefschlaf

versank, gelang es ihr noch zu wispern: »Ich liebe dich.«Mark küßte ihre Stirn.»Ich liebe dich auch, Laura«, sagte er.Aber sie war bereits eingeschlafen.

Ruth und Dave warteten im Salon.Der junge Mann stand auf und ging rastlos auf und ab. Schließ-

lich blieb er an einem der Fenster stehen und sah hinaus.»Hörst du den Sturm?« fragte er. »Gleich wird das Gewitter los-

brechen. Ich gehe jetzt lieber.«»Bitte nicht!«»Ruth«, begann er, »ich habe gerade an meinem neuen Bild ge-

arbeitet, als sie kam, und ich würde jetzt gern weiterarbeiten.«Aber sie ließ diese Ausrede nicht gelten. »Bitte, bleib bei mir,

Dave!« rief sie. »Bitte!« Ihr Blick wanderte zur Zimmerdecke, und sie lauschte angespannt, als wolle sie herausfinden, was im Ober-stock vor sich ging.

»Ich kann mir nicht helfen, Dave«, sagte sie, und ihre Stimme klang plötzlich schrill, »ich habe Angst.«

Sarah Wilson wartete in ihrem Schlafzimmer – allein und von in-nerer Unruhe geplagt.

Es war still im Haus. Sie konnte keine Stimmen hören, obwohl sie angestrengt lauschte.

Draußen heulte der Sturm immer lauter.Sie stand auf und schloß das Fenster. Dann ging sie zur Tür,

drehte den Schlüssel herum, sperrte sich ein.Sie gestand sich ein, daß sie Angst hatte – namenlose Angst.Noch nie in ihrem Leben hatte sie solche Angst gehabt. Es war,

als würden eisige Finger ihr die Kehle zuschnüren, immer fester…

29.

Laura schlief tief und fest.Mark und Dr. Carpenter gingen in den Salon hinunter. Dave

Brody stand vor dem Bechstein-Flügel, schlug spielerisch ein paar Tasten an. Ruth blätterte im Fotoalbum. Aber ihr leerer Blick ver-riet, daß sie sich die Bilder nicht ansah, daß sie mit ihren Gedan-ken ganz woanders war.

Mark und der Arzt setzten sich auf das langgestreckte Sofa, um zu warten.

Mark trommelte mit den Fingern auf den Couchtisch und starrte nachdenklich vor sich hin.

Nach einer Weile kam Mrs. Medina mit einer Kaffeekanne herein und stellte sie vor Dr. Carpenter auf den Tisch.

»Wollen Sie auch etwas essen, Doktor?« fragte sie.»Nein, danke«, erwiderte er.Sie wandte sich an Mark.»Und Sie, mein Junge?«»Hm?« Geistesabwesend sah er sie an, und dann sagte er has-

tig: »Nein, danke – nein…«

»Gut, dann werde ich jetzt ins Bett gehen«, verkündete Mrs. Medina. »Ich bin todmüde.«

»Ja, sicher, gehen Sie nur«, sagte Mark. »Schlafen Sie gut, Mrs. Medina.«

Mit schweren Schritten ging sie in die Halle hinaus.Abrupt wandte Mark sich dem Doktor zu.»Glauben Sie an Geister, Dr. Carpenter?« fragte er.»Nein. An den Geist glaube ich – ja. Aber an Geister - nein.«Mark sah ihn verständnislos an.Dr. Carpenter lächelte.»Ich meine den Geist, der in gewissen Flaschen steckt und

mehr oder weniger hochprozentig ist.«Mark grinste erleichtert.»Und genauso einen Geist könnten wir jetzt brauchen«, meinte

der Arzt. Er wandte sich an Ruth. »Haben Sie irgendetwas der-gleichen im Haus?«

Ruth schüttelte den Kopf.»Das erlaubt Mutter nicht.«»Ich glaube, irgendwo muß noch etwas sein«, sagte Mark nach-

denklich. »Ich habe Elaines Verstecke nicht alle gefunden.« Er warf Dr. Carpenter einen Seitenblick zu. »Vielleicht ist Elaine im-mer noch hier, Doktor.«

»Mark, zwei Patientinnen kann ich wirklich nicht gebrauchen«, erwiderte der Arzt mit Nachdruck.

»Ich weiß«, sagte Mark, »aber…«Er unterbrach sich und zuckte mit den Schultern, als wolle er

einen unangenehmen Gedanken abschütteln. Aber so sehr er sich auch bemühte, er konnte es nicht lassen, immer wieder ängstlich zur Zimmerdecke hinaufzusehen.

30.

Der Sturm fegte heulend durch die Straßen.Laura schlief. Dr. Carpenters Schlafmittel hatte den Ausdruck

der Verwirrung, der unerträglichen Angst von ihrem Gesicht ge-wischt.

Ihr Gesicht war leer, wie ein weißes Blatt Papier, das vor einem Schriftsteller liegt und darauf wartet, seine Gedanken aufzuneh-men.

Schwach, sehr schwach hallte das Echo eines Schusses durch den Raum, gefolgt von hastigen Schritten.

Laura bewegte sich unruhig, erwachte aber nicht aus ihrem tie-fen Schlaf.

Wieder ertönte der Schuß, diesmal lauter. Und wieder entfern-ten sich eilige Schritte.

Laura warf sich in ihrem Bett hin und her. Ein leises Stöhnen kam über ihre trockenen Lippen.

»Mark…«, flüsterte sie.Und wieder krachte der Schuß – noch lauter diesmal, und die

Schritte klangen wie dumpfe Trommelschläge.Mühsam hob Laura die Lider. Der Raum war nur schwach er-

leuchtet. Sie sah, daß sie allein war.»Mark!« schrie sie und wartete.Nun hörte sie es deutlich.Es schien aus Elaines Zimmer zu kommen – der Krach des

Schusses, die Schritte, die über die Treppe nach unten rasten.Sie richtete sich auf, und das Entsetzen kehrte in ihre Augen zu-

rück.»O Mark!« jammerte sie. »Mark!«Sie stand auf, tastete sich zur Tür. Sie trat hinaus auf die Gale-

rie, war verwirrt und voller Angst und noch im Halbschlaf.»Mark?« flüsterte sie.Es kam aus Elaines Zimmer. Davon war sie nun überzeugt.

Mark war dort, und sie mußte verhindern, daß etwas Schreckli-ches geschah.

Sie taumelte auf die Tür zu, die in Elaines Zimmer führte.Die Tür stand offen.»Mark!« schrie sie. »Tu es nicht! Bitte, tu es nicht, Mark!«Sie stand jetzt in Elaines Zimmer, immer noch halb benommen

und verwirrt, aber sie wußte, daß sie hierbleiben mußte, daß sie Mark retten mußte – aber wovor?

Sie blickte sich um. Der Raum war leer, niemand war hier. Das Fenster war immer noch offen, und der Wind zerrte an den Gardi-nen.

»Mark?« wiederholte sie unsicher.Blinzelnd sah Laura in das Dunkel. Jetzt wußte sie nicht mehr

genau, warum sie hier war.Plötzlich dröhnte ihr ein Gelächter in den Ohren.Es schien von weit her zu kommen, aus weiter, weiter Ferne.

Wer war es, der dieses Gelächter ausstieß? Sie selbst?Sie fröstelte.»Nein!« stammelte sie atemlos. »Nein…«Ein plötzlicher Windstoß blähte die Vorhänge, wehte sie Laura

entgegen. Die Tür hinter ihr fiel ins Schloß.Sie wirbelte herum, von Panik ergriffen.Das Gelächter gellte ihr noch immer in den Ohren, immer lau-

ter, immer schriller.Sie lief zur Tür, versuchte sie aufzustoßen, aber es gelang ihr

nicht.Verzweifelt warf sie sich gegen die Türfüllung, während das un-

barmherzige Gelächter aus allen Zimmerecken zu kommen schien und sie verspottete.

Warum war sie hierhergekommen, fragte sie sich mit wachsen-der Verzweiflung und drehte vergeblich am Türknauf. Er ließ sich nicht bewegen.

Und dann gab sie ihren Kampf mit der Tür plötzlich auf und be-gann hilflos zu lachen.

Ihr Lachen mischte sich mit dem körperlosen Gelächter, das aus allen Ecken heranzufluten schien, und allmählich hatte sie das Gefühl, daß diese beiden lachenden Stimmen aus einer Kehle ka-men.

Nach einer Weile brach das andere Lachen ab. Aber Laura lachte immer noch.

Ihr Lachen klang genauso wie das körperlose Spottgelächter, das ihr während des sinnlosen Kampfes mit der Tür in den Ohren gegellt hatte.

Allmählich beruhigte sie sich, und ihr Lachen verebbte. Ihre Angst war verflogen, und sie fror nicht mehr. Sie war immer noch allein in Elaines Zimmer. Aber nun hatte sie das Gefühl, ein ande-rer Mensch zu sein. Sie war nicht mehr halb benommen, nicht mehr schwach. Sie fürchtete sich nicht mehr, war von neuer Selbstsicherheit erfüllt.

Laura ging mit festen Schritten zum Toilettentisch. Da stand die kleine Spieldose.

Liebkosend ließ sie die Finger über den verschnörkelten Deckel gleiten. Dahinter sah sie ihr Bild, das der halb blinde Spiegel un-deutlich zurückwarf.

Sie lächelte ihrem Spiegelbild zu. Es war ein Lächeln der Zufrie-denheit, der Vertrautheit.

Laura straffte die Schultern und durchquerte den Raum, über dem jetzt lautlose Stille lag. Sie ging zur Tür und griff nach dem Messingknauf.

Diesmal ließ sich die Tür spielend leicht öffnen.

31.

Es regnete in Strömen, und die Tropfen trommelten heftig und unrhythmisch gegen die Fensterscheiben.

Laura war in ihr Schlafzimmer zurückgekehrt. Sie lag im Bett, ihre Augen waren geschlossen.

Sie öffnete die Augen nicht, als die Tür aufging. Auf Zehenspit-zen schlich Mark zu ihrem Bett. Er beugte sich über sie, sah sie liebevoll an. Dann drückte er seine Lippen auf die ihren.

Laura wartete, bis er auf Zehenspitzen wieder hinausgegangen war und die Tür hinter sich geschlossen hatte. Dann öffnete sie die Augen.

Sie stand auf und ging zum Telefon, hob den Hörer ab und wählte eine Nummer. Ein Lächeln lag auf ihren Lippen, als sie in den Hörer lauschte.

32.

Dave Brody stand mißgelaunt an einem der Salonfenster und starrte in den Regen hinaus. Es goß in Strömen, und auf der Stra-ße hatten sich tiefe Pfützen gebildet.

Dr. Carpenter trat hinter ihn und blickte ihm über die Schulter.»Ich nehme an, ich werde nach Hause schwimmen müssen«,

sagte er.Ruth saß zusammengesunken auf dem Sofa. Nach einer Weile

streckte sie sich und gähnte, schenkte sich noch einmal Kaffee ein. Er war inzwischen lauwarm geworden.

»Warten Sie lieber noch ein bißchen, Doktor«, sagte Dave. »Bei diesem Wetter werden Sie kein Taxi kriegen. Und wenn Sie zu Fuß gehen, werden Sie bis auf die Haut naß.«

»Sie haben recht«, erwiderte Dr. Carpenter. »Aber ich muß we-nigstens eine Durchsage auf das Band meines automatischen An-rufbeantworters sprechen.«

Er ging zum Telefon hinüber und wollte gerade den Hörer abhe-ben, als Mark den Salon betrat.

Ruth sah zu ihm auf.»Wie geht es ihr?« fragte sie leise.Mark zuckte mit den Schultern.»Sie schläft.«»Mit der Injektion, die ich ihr gegeben habe, müßte sie die gan-

ze Nacht schlafen«, meinte Dr. Carpenter.»Hoffentlich«, sagte Mark.Dr. Carpenter hob den Telefonhörer ab. Dabei warf er Mark

einen raschen, abschätzenden Blick zu. Es gefiel ihm nicht, wie der junge Mann aussah. Er schien am Rande eines nervlichen Zu-sammenbruchs zu stehen.

»Haben Sie übrigens irgendwelche Geister gesehen, als Sie vor-hin oben waren?« fragte der Arzt leichthin.

Mark zwang sich zu einem Lächeln und schüttelte den Kopf.Dr. Carpenter musterte noch sekundenlang Marks Gesicht, dann

legte er den Telefonhörer wieder auf die Gabel und griff in seine Jackentasche. Er zog ein Tablettenröhrchen hervor, das er Mark reichte.

»Sie können auch ein paar von den Dingern gebrauchen, mein Junge. Ich verordne Ihnen die Pillen als Arzt.«

Mark winkte ab.»Ich brauche das Zeug nicht.«»Lassen Sie das lieber mich beurteilen«, sagte Dr. Carpenter.

»Sie bekommen die Tabletten umsonst – eine Probepackung.«Mark schenkte ihm ein gequältes Lächeln, als er das Röhrchen

nahm und es in seine Hosentasche schob.»Danke, Doktor.«»Sie sollen aber sofort eine Pille nehmen«, sagte der Arzt.»Ja, ich nehme gleich eine.«Die vier Menschen versanken wieder in Schweigen und warte-

ten, während der Regen gegen die Fensterscheibe trommelte und die Blattgolduhr auf dem Kaminsims leise unter ihrer Glaskuppel tickte.

33.

Auch Sarah Wilson wartete. Sie saß auf dem kleinen Lehnstuhl

neben ihrem Bett und lauschte dem Wind und dem Regen.Sie wußte nicht, worauf sie wartete. Ihr Buch lag geschlossen

auf dem Nachttisch. Wie sollte sie an diesem Abend lesen, wo die Regentropfen so unheimlich gegen die Fensterscheiben schlugen, wo sich die quälenden Gedanken, die ihr Kopfschmerzen bereite-ten, nicht vertreiben ließen?

So saß sie nur da und wartete, und ihre zarten, müden Ge-sichtszüge wirkten fast durchscheinend im Licht der Lampe, die hinter ihrem Stuhl brannte.

Plötzlich hörte sie ein Geräusch an der Tür.Sie zuckte erschrocken zusammen, lauschte voller Angst. Lang-

sam drehte sich der Türknauf – langsam und fast lautlos. Jemand versuchte die Tür zu öffnen.

Da erinnerte sich Sarah Wilson, daß sie den Riegel vorgescho-ben hatte. Sie stand auf, ging zur Tür und lehnte den Kopf dage-gen.

»Wer ist da?« wisperte sie.Sie erhielt keine Antwort.»Wer ist da?« flüsterte sie noch einmal, diesmal ein wenig lau-

ter.Und dann hörte sie eine Stimme auf der anderen Seite der Tür.»Hier ist Laura«, sagte die Stimme.»Was willst du?«»Ich muß mit dir sprechen«, sagte Lauras Stimme. »Es ist sehr

wichtig.«Sarah Wilson stand vor der Tür, unsicher und voller Angst. Ein

Schauer lief über ihren Rücken, und sie begann zu zittern.»Bitte!« sagte die Stimme eindringlich. »Ich brauche deine Hil-

fe.«Sie zögerte noch ein paar Sekunden lang, dann schob sie den

Riegel zurück und öffnete die Tür.»Komm herein.«Sie trat beiseite, und Laura schlüpfte rasch ins Zimmer.Sarah Wilson sah sofort, daß sich die junge Frau verändert hat-

te. Dies war eine andere Laura. Sie wirkte viel selbstsicherer als bei der letzten Begegnung.

Mit fester Stimme sagte Laura: »Mach die Tür zu!«Es klang wie ein Befehl.Sarah Wilson machte keine Anstalten, die Tür zu schließen.»Hat dir der Doktor denn erlaubt, das Bett zu verlassen?« fragte

sie.Laura ignorierte Sarah Wilsons Frage.»Ich habe dich gebeten, die Tür zu schließen.«Als die alte Frau sich immer noch nicht rührte, wandte sich Lau-

ra um und machte selbst die Tür zu. Dann drehte sie sich wieder zu Sarah Wilson um.

»Nun können wir uns ungestört unterhalten.«Sarah Wilson sah die junge Frau prüfend an. Warum benahm

sich Laura so seltsam? Und was war das für ein neuer Klang in ih-rer Stimme?

»Laura?« fragte Sarah schließlich zögernd.Der Name hing zwischen ihnen wie eine Frage, die auf Antwort

wartete.Laura lächelte. Es war ein sonderbares Lächeln, das nicht zu ihr

paßte.»Ja, Mutter?«Nun wußte Sarah Wilson Bescheid. Ihre schlimmsten Befürch-

tungen waren Wahrheit geworden. Sie schloß sekundenlang die Augen, versuchte die schreckliche Tatsache zu akzeptieren.

Diese junge Frau war nicht mehr Laura.Sie machte einen raschen Schritt auf die Tür zu, aber Laura

schnitt ihr den Weg ab.»Nein, Mutter, wir wollen uns hier unterhalten.«»Du bist nicht Laura«, sagte Sarah Wilson und wich vor der jun-

gen Frau zurück.Laura lachte spöttisch.»Wie lächerlich!« rief sie. »Lauf doch herum und behaupte, daß

ich nicht Laura bin! Du weißt, was die Leute davon halten werden. Sie werden denken, daß du den Verstand verloren hast.«

»Bitte…« Hilflos rang Sarah Wilson die Hände.»Wo ist der Revolver, Mutter?«»Bitte…«»Du hast gesagt, daß euch die Polizei den Revolver zurückgege-

ben hat«, fuhr Laura unbarmherzig fort. »Wo hast du ihn ver-steckt?«

»Bitte – bitte, laß mich doch in Ruhe…«»Nun, Mutter, es liegt ganz bei dir, ob du Ruhe finden wirst oder

nicht. Es hängt ganz davon ab, wen du nun schützen willst – Mark oder dich selbst.«

Sarah wollte antworten, aber die Worte blieben ihr in der Kehle

stecken. Voller Entsetzen starrte sie Laura an, wollte dem Blick dieser Augen ausweichen, aber es gelang ihr nicht. Sie erkannte den Ausdruck in Lauras Augen, hatte ihn oft genug gesehen – diesen Ausdruck, der Eigensinn, Grausamkeit und Rachsucht ver-riet.

Laura lächelte die sprachlose alte Frau an. Es war ein bitteres Lächeln.

»Ich glaube, ich weiß, wie du dich entscheiden wirst.«

34.

Es regnete immer noch in Strömen.Die vier Menschen saßen bedrückt im Salon und warteten, daß

das Gewitter vorüberging und die Zeit verstrich.Ruth hatte den Kaffee aufgewärmt. Niemand wollte etwas es-

sen, niemand hatte Appetit.Plötzlich schrillte die Türglocke.Mark und Ruth wechselten einen Blick. Das Mädchen zuckte mit

den Schultern.»Ich erwarte niemanden. Hast du jemanden eingeladen?«»Ich? Nein.«Wieder schrillte die Türglocke, anhaltend, hartnäckig.Mark stand auf.»Ich werde nachsehen, wer da ist.«Es war Coby Ross. Kleine Bäche rieselten von seinem Hut, sein

Regenmantel war trief naß.Mark bat ihn in die Eingangshalle.»Was führt dich zu uns, Coby?« fragte er und starrte seinen

Freund erstaunt an, nachdem er die Haustür hinter ihm geschlos-sen hatte.

»Laura hat mich um meinen Besuch gebeten. Wußtest du das nicht?«

»Laura?« fragte Mark verständnislos.»Sie rief mich vor einer Viertelstunde an und bat mich, hierher-

zukommen.«»Laura? Das kann ich nicht glauben.«»An deiner Stelle würde ich es schon glauben«, erwiderte Coby.

»Was anderes als die Bitte einer schönen Frau könnte mich wohl bei diesem Wetter aus meinem gemütlichen Heim gelockt

haben?«Er nahm seinen triefenden Hut ab und schlüpfte aus dem Re-

genmantel.»Wo ist sie denn?«»Oben. Sie schläft. Also kann sie dich nicht angerufen haben,

Coby.«»Meine Tante Nelly war es jedenfalls nicht«, stieß Coby ärger-

lich hervor. Er streckte seinen Hut und den Mantel von sich und blickte sich suchend um. »Wo kann ich denn das nasse Zeug las-sen?«

Ruth hatte in der Tür des Salons gestanden und die Szene mit großen Augen verfolgt. Nun kam sie schweigend auf Coby zu und nahm ihm die Sachen ab. Sie brachte sie in den kleinen Gardero-benraum unterhalb der Treppe.

»Hör mal, Coby«, begann Mark, »Laura kann wirklich nicht…«»Sie hat mich angerufen – Laura, deine Frau. Hol mir einen Sta-

pel Bibeln, und ich will auf jede einzelne schwören, daß ich die Wahrheit sage. Sie meinte, es sei sehr wichtig, ich solle sofort kommen. Bin ich nun verrückt – oder bist du es?«

Mark blickte eine Weile nachdenklich vor sich hin, dann rief er Ruth über die Schulter hinweg zu: »Mach bitte frischen Kaffee für Coby, ja?« Dann wandte er sich wieder an seinen Freund. »Ich komme sofort zurück.«

Er rannte die Treppe hinauf.Coby Ross grinste Ruth verwirrt an.»Was ist hier eigentlich…«, begann er. Dann brach er ab. Dave

Brody war aus dem Salon gekommen und stellte sich neben Ruth.Coby starrte Brody an.Und Brody erwiderte den Blick gleichgültig.Nach einer Weile senkte Coby die Lider und wandte sich wieder

an Ruth.»Also, was geht hier eigentlich vor?« fragte er.Aber unwillkürlich wanderte sein Blick zu Dave Brody zurück. Er

runzelte die Stirn. Irgendetwas an Brodys Erscheinung mißfiel ihm ganz offensichtlich. Er wollte etwas sagen, aber dann zog er es vor, zu schweigen und noch einmal die Stirn zu runzeln.

»Hallo«, sagte Dave.»Wer kann schon wissen, was hier vorgeht?« Ruth hob seufzend

die Schultern, als wolle sie andeuten, daß wahrscheinlich die gan-ze Welt verrückt sei und sie mit dazu. »Kommen Sie, ich mache

frischen Kaffee. Den können wir wohl alle gebrauchen.«

35.

Mark lief in das eheliche Schlafzimmer.Laura lag nicht in ihrem Bett.»Laura?« rief er.Er war verwirrt und machte sich Sorgen. Irgendetwas stimmte

hier nicht. Davon war er jetzt überzeugt.»Laura?« rief er noch einmal.Er lief die Galerie entlang zu Elaines Zimmer und stieß die Tür

auf.Auch Elaines Zimmer war leer. Es regnete durch das offene

Fenster herein, schlaff hingen die nassen Vorhänge herab. Aber Mark war zu erregt, um das zu bemerken. Er wirbelte herum, kehrte auf die Galerie zurück, rannte zum Zimmer seiner Mutter.

Ohne anzuklopfen, öffnete er die Tür.»Mutter«, rief er, »hast du Laura gesehen? Sie…«Er brach ab, lief zu Sarah Wilsons Bett.Sie saß zusammengesunken auf der Bettkante. Mit stumpfem

Blick starrte sie vor sich hin. Das Haar hing ihr in wirren Strähnen in das schweißnasse Gesicht. Sie sah krank aus – wie ein flügel-lahmer Vogel.

»Mutter, was ist los?« rief Mark. »Was ist geschehen?«Sie sah zu ihm auf, aber ihr Blick schien durch ihn hindurchzu-

gehen.»Mutter, hast du Laura gesehen?« drängte er.Sie bemühte sich, aus ihrem Zustand dumpfer Betäubung em-

porzutauchen. Und als sie schließlich sprach, war ihre Stimme ein heiseres Krächzen.

»Ich habe versucht, dich zu warnen«, sagte sie. »Das habe ich getan – ich habe versucht, es dir begreiflich zu machen…«

Sie versank wieder in Schweigen, schlang hilflos die Finger in-einander, und Tränen rannen über ihre eingefallenen Wangen.

36.

Die einzige Lichtquelle im Keller war eine Sechzig-Watt-Birne,

die an einem Draht hing.Laura stand in ihrem grellen Schein und ließ ihren Blick über

das Gerümpel wandern, das sich an den Wänden stapelte, über die ausrangierten Möbel, die Kisten und Schachteln.

Über die Hintertreppe war sie in den Keller herabgelangt.Sie stieß mit dem Fuß ein paar alte Lampenschirme beiseite, ein

Bündel staubiger Kissenbezüge.Noch hatte sie nicht gefunden, was sie suchte. Wie seltsam,

dachte sie. Sie war überzeugt, daß es hier irgendwo sein mußte…Und dann sah sie es hinter einem alten Schaukelstuhl mit ge-

borstener Sitzfläche. Sie sah das alte Kästchen mit den kleinen Schubladen. Ein massives Kästchen aus dunkler Eiche.

Es dauerte eine Weile, bis sie den alten Schaukelstuhl von sei-nem Platz gerückt hatte. Ungeduldig stieß sie ihn beiseite, kra-chend schlug er gegen ein paar alte Blumentöpfe.

Dann zog sie in fieberhafter Hast eine Schublade nach der ande-ren auf, durchwühlte ihren Inhalt, fand aber nur alte Kleider, die nach Kampfer rochen.

Sie warf ein Kleidungsstück nach dem anderen auf den Zement-boden. Nur in der untersten Lade hatte sie noch nicht nachgese-hen. Sie zog sie auf, griff mit beiden Händen hinein, wühlte zwi-schen Chiffon, Perlenketten, Georgette, dünnem Samt. Und dann schloß sich ihre linke Hand um etwas Hartes, Metallisches.

Endlich hatte sie gefunden, was sie suchte.Sie zog den Revolver hervor, sah ihn lächelnd an, ließ ihn in die

Tasche ihres Morgenmantels gleiten. Dann schob sie die Lade wieder zu. Sie wollte sich gerade abwenden, als ihr etwas anderes in die Augen stach. Ein großer Karton, mit Papieren gefüllt.

Eine dicke Staubschicht lag auf dem Deckel, und der Knoten der Schnur, die darumgebunden war, hatte sich mit der Zeit gelo-ckert.

Laura kniete neben dem Karton nieder, löste die Schnur und nahm den Deckel ab.

Auf dem Papierstapel lag ein großes Album. Unter der Staub-schicht konnte sie den Namen lesen, der mit weißer Tusche auf den schwarzen Einband geschrieben war.

Elaine.Laura wischte den Staub von dem Deckel, schlug das Album der

Toten auf, begann langsam darin zu blättern. Ein seltsamer Aus-druck trat in ihre Augen – ein Ausdruck der Gier, des Triumphes.

Fein säuberlich hatte Elaine ihre Theaterkritiken, ihre Verträge und Bühnenfotos in das Album geklebt, die Programme der Auf-führungen, in denen sie aufgetreten war.

Als Laura das Album zuklappte und wieder in dem Karton ver-staute, hatte sie entdeckt, wonach sie gesucht hatte.

37.

Ruth hatte eine Kanne mit heißem Kaffee in den Salon gebracht und war wieder in die Küche zurückgekehrt.

»Ich werde uns etwas zu essen machen«, hatte sie verkündet. »Wenn Mrs. M. erst einmal in ihren Federn liegt, können sie keine zehn Pferde mehr herausholen. Wie es mit euch steht, weiß ich nicht – aber ich habe jedenfalls einen Bärenhunger.«

Dave Brody hatte wieder seinen Posten am Fenster bezogen und sah zu, wie der Regen auf die menschenleere Straße herab-strömte.

Coby Ross saß mit gekreuzten Beinen auf dem Sofa und beob-achtete Brody. Noch immer hatte er die Stirn nachdenklich gerun-zelt.

Dr. Carpenters leere Kaffeetasse klirrte auf dem Unterteller, als er diesen auf den Couchtisch stellte.

»Wenn einer meiner Patienten in einer Nacht vier Tassen von dem Zeug trinken würde, müßte ich ihm erzählen, daß er sich da-mit eine Eintrittskarte ins Jenseits kauft.«

Niemand nahm sich die Mühe, ihm zu antworten. Er seufzte und spielte mit dem Schlüsselbund in seiner Hosentasche.

Mark erschien in der offenen Tür.»Sam, kann ich dich unter vier Augen sprechen?« bat er.»Sicher, Mark.« Dr. Carpenter stand auf und ging in die Halle

hinaus.David Brody drehte sich um und beobachtete den Arzt und

Mark, die unter dem großen Kristallüster standen und leise mit-einander sprachen.

Plötzlich schnippte Coby mit den Fingern. Endlich wußte er die Antwort auf die Frage, über die er sich so lange den Kopf zerbro-chen hatte.

»Ogunquit!« rief er. »Aber natürlich!«Er stand auf und ging zu Brody hinüber.

»Ogunquit, Maine«, sagte er. »Im Sommertheater. Vor vier Jah-ren, Mister. Ich irre mich doch nicht?«

Dave Brodys Gesicht war ausdruckslos.»Ich war noch nie in meinem Leben in Ogunquit.«Er wandte sich ab und ging zur Tür.»Möchte wissen, was Ruth so lange in der Küche macht. Da

kann man ja glatt verhungern, bis dieses Mädchen was zusam-mengebrutzelt hat.«

»Ich hätte schwören können, daß ich ihn in Ogunquit gesehen habe«, flüsterte Coby Ross vor sich hin. Dann zuckte er mit den Schultern. »Na, vielleicht komme ich noch drauf.«

Seine Augen verengten sich, als sie Brody folgten, wieder zog er nachdenklich die Brauen zusammen.

38.

Draußen in der Halle sprachen Dr. Carpenter und Mark immer noch miteinander – leise und erregt.

»Ich weiß nicht, was ich davon halten soll, Sam«, sagte Mark. »Sie brabbelt lauter Unsinn vor sich hin, und ich denke, Sie soll-ten…«

Er brach ab, sein nervöser Blick war zur Bibliothekstür geglitten. Der Arzt sah ihn fragend an.

»Das ist merkwürdig«, sagte Mark langsam.»Was ist denn jetzt schon wieder?« fragte Dr. Carpenter.Mark wies auf die Bibliothekstür. Sie war geschlossen, aber ein

schwacher Lichtschein kam darunter hervor.»Mark, also wirklich…«, protestierte Dr. Carpenter.Aber Mark war bereits auf die Tür zugerannt und hatte sie auf-

gerissen.Alle Lampen brannten in der Bibliothek, und Laura stand vor ei-

nem der Regale und nahm ein Buch nach dem anderen heraus. Sie hatte der Tür den Rücken zugewandt.

»Laura!« rief Mark und ging auf sie zu. Vor Schreck ließ sie die Bücher fallen und wirbelte zu ihm herum. »Laura, was…« Ihre Au-gen funkelten vor Zorn.

»Was soll das?« unterbrach sie ihn. »Warum schleichst du dich von hinten an mich heran? Willst du mir nachspionieren?«

»Laura, wo warst du denn die ganze Zeit? Und was machst du

hier unten?«Dr. Carpenter war Mark in die Bibliothek gefolgt. Es überraschte

ihn ebenso wie den jungen Mann, Laura hier zu sehen.»Ich nehme an, das ist meine Sache!« stieß sie wütend hervor.

»Was interessiert dich das? Oder bin ich hier etwa unter ständiger Aufsicht? Weil man mir nicht trauen kann? Weil ich meine fünf Sinne nicht mehr beieinander habe? Das denkst du doch, nicht wahr?«

»Aber ich…«, begann Mark hilflos.»Ich wollte mir etwas zu lesen holen«, fiel sie ihm mit schriller

Stimme ins Wort. »Findest du das so seltsam?«Sie wandte sich an den Arzt.»Und Sie, Doktor? Finden Sie es auch seltsam, daß ich mir ein

paar Bücher aussuche?«»Offen gesagt, ja«, erwiderte Dr. Carpenter. »Ich finde es

höchst sonderbar, daß Sie sich auf den Beinen halten können.«»Es geht mir großartig«, stieß sie hervor. »Ich bin völlig ge-

sund.«»Mein liebes Kind«, protestierte er, »die starke Schlafmitteldo-

sis, die ich Ihnen injiziert habe…« Er schüttelte den Kopf. »Ich verstehe das nicht.«

Er griff nach ihrem Handgelenk, um ihr den Puls zu fühlen, aber sie riß sich los.

»Ich habe Ihnen doch gesagt, daß ich völlig gesund bin!« schrie sie wütend.

»Laura!« Mark starrte sie verwirrt an. Diese Laura kannte er nicht. Noch nie hatte er sie so unbeherrscht gesehen.

Sie drehte sich zu ihm um. Auch das lauernde Glitzern in ihren Augen, die ihn zu durchbohren schienen, war ihm fremd.

»Willst du mir jetzt auch einreden, daß ich krank bin?« fragte sie. »Mark, ich will nicht mit dir streiten - und mit Ihnen auch nicht, Doktor. Es geht mir gut, lassen wir es dabei bewenden.«

»Laura, so kenne ich dich gar nicht«, sagte Mark hilflos.»Nein? Dann wird es aber höchste Zeit, daß du…«Sie brach ab, weil sie spürte, daß sie vielleicht zu weit gegangen

war.»Oh, es tut mir leid, Liebling«, fuhr sie fort. Der Tonfall ihrer

Stimme hatte sich abrupt verändert. »Ich bin doch nervöser, als ich dachte.«

Dr. Carpenter musterte sie mit einem kühlen, klinischen Blick.

»Das sind Sie ganz gewiß, junge Dame«, sagte er. »Und jetzt gehen Sie am besten zurück in Ihr Bett.«

Ihr Zorn schien endgültig verflogen zu sein.»Ja, Doktor«, antwortete sie fügsam.»Ich gehe hinauf und rede mit Ihrer Mutter, Mark«, sagte der

Arzt mit leiser Stimme und verließ die Bibliothek.»Komm, gehen wir nach oben, Laura«, bat Mark.Sie rührte sich nicht.»Ich habe Stimmen im Salon gehört«, sagte sie. »Wer ist denn

hier?«»Coby. Coby Ross. Er bildet sich ein, du hättest ihn angerufen.«Sie versuchte das schlaue Lächeln zu unterdrücken, das auf ih-

ren Lippen erschien.»Oh? Und Dave Brody – ist er immer noch hier?«»Ja.«Impulsiv griff sie nach seiner Hand.»Mark, könnten wir heute nacht in dem anderen Zimmer schla-

fen?«»Laura«, begann er, »ich…«»Ich weiß, daß es Elaines Zimmer war«, sagte sie rasch. »Aber

das macht mir nichts aus.«Sie schlang die Arme um seinen Hals, schmiegte sich an ihn.»Bitte, Liebling!« flüsterte sie. In ihrer Stimme lag eine verfüh-

rerische Zärtlichkeit, die nicht zu ihrem Wesen zu passen schien. »Bitte, Liebling«, wiederholte sie. »Ich möchte dir etwas zeigen.« Ihr Mund näherte sich dem seinen. »Bitte, Liebster«, flüsterte sie an seinen Lippen.

Mark erwiderte ihren Kuß. Er war völlig verwirrt, aber auch auf seltsame Weise erregt. Noch nie war ihm Laura so bezaubernd er-schienen wie in diesem Augenblick, so aufreizend, so begehrens-wert. Dieses verführerische Lächeln hatte er noch nie an ihr gese-hen, auch nicht diesen leicht verschleierten Blick. Das war nicht die Laura, die er gekannt hatte. Aber es war eine Laura, der er nicht widerstehen konnte.

»Also gut«, sagte er.Aber da war sie schon aus seinen Armen geschlüpft. Sie rannte

aus der Bibliothek, stürmte die Treppe hinauf, der spitzenbesetzte Morgenmantel flatterte hinter ihr her.

39.

Sarah Wilson lag im Bett, als Dr. Carpenter in ihr Zimmer trat.Im ersten Augenblick erschrak er über den Zustand stumpfer

Betäubung, in dem sie sich befand. Aber dann gelang es ihm, sie aus dieser tranceartigen Gleichgültigkeit zu reißen. Mit unsicherer Stimme begann sie zu sprechen.

Er hörte ihr zu, und seine Miene verriet nicht, was er dachte. Und er fragte sich, wie er ihr helfen konnte. Es gab Momente, wo einem die medizinischen Erfahrungen eines ganzen Lebens nichts nutzten, dachte er. Und es gab Patienten, denen auch der beste Arzt nicht helfen konnte…

Er ließ Sarah Wilson weitersprechen, denn er glaubte, daß es sie erleichtern würde, sich alles von der Seele zu reden. Wenigstens auf diese Weise konnte er ihr helfen, wenn er schon in seiner Arzttasche kein Mittel gegen ihre Qualen fand.

»Ich konnte doch Mark nicht sagen, warum er nicht mit Laura hierbleiben sollte, nicht wahr?« stieß sie verzweifelt hervor. »Wie konnte ich ihm sagen, daß ich weiß, was er getan hat?«

»Und was hat er getan, Sarah?« fragte er ruhig.Doch vor dieser direkten Frage scheute sie zurück. Sie sah ihn

an mit ihren hellen, seltsam leeren Augen.»Mir ist, als würde ich in einem Grab leben – so einsam fühle

ich mich, Sam. Und dabei wollte ich doch nie einsam sein.«»Niemand will einsam sein«, sagte er sanft. »Dann helfen Sie

mir«, flehte sie. »Bitte! Sie müssen mir helfen…«Sie brach ab, die Worte schienen in ihrem Hals zu erstarren. Mit

geweiteten Augen sah sie zur Tür.Dr. Carpenter wandte sich um.Laura und Mark standen auf der Schwelle. Und Lauras Blick

schien Sarah Wilson zu hypnotisieren.»Gute Nacht, Mutter«, sagte die junge Frau.Sarah ließ das Kinn auf die Brust sinken. Sie antwortete nicht.Mark warf einen fragenden Blick auf Dr. Carpenter, aber der

Arzt bedeutete ihm mit einem fast unmerklichen Kopfschütteln, daß es besser wäre, wenn er mit Laura ginge.

Laura wandte sich lächelnd an Mark. Es war ein verführerisches und gleichzeitig spöttisches Lächeln.

»Komm, Liebling«, sagte sie.Und im nächsten Augenblick waren die beiden verschwunden.

Sarah Wilson hob den Kopf. Sie öffnete die Lippen, als wolle sie ihren Sohn zurückrufen.

Aber sie rief nicht nach ihm. Sie befeuchtete die trockenen Lip-pen mit der Zunge, schloß sekundenlang die hellen Augen. Es war, als sei nun ihr letzter Hoffnungsschimmer erloschen.

»Sam«, sagte sie nach langem Schweigen. Voller Angst sah sie zu ihm auf. »Sam, Sie müssen ihn von ihr befreien.«

»Ich soll ihn von Laura befreien?« fragte er verwundert.»Sie ist nicht Laura!« schrie Sarah Wilson in tiefster Verzweif-

lung.Er runzelte die Stirn.»Oh«, sagte er, »oh, ich verstehe.« Er räusperte sich. »Und

wenn sie nicht Laura ist«, fragte er gottergeben, »wer ist sie denn dann?«

»Ich werde es Ihnen sagen.« Ihre Stimme war ein heiseres, tro-ckenes Flüstern.

Und Dr. Carpenter hörte sich geduldig an, was sie ihm zu erzäh-len hatte.

40.

Verwirrt sah Mark seiner jungen Frau nach, als sie durch Elaines Zimmer ging.

Sie berührte die einzelnen Gegenstände mit einem seltsamen Lächeln – als würde sie alle wiedererkennen und begrüßen. Und sie schien auf eine unerklärliche Weise glücklich zu sein, als ihre Finger über Elaines Vasen, ihre Nippfiguren und Kerzenleuchter glitten.

Verwundert beobachtete er seine Frau. Was konnten ihr all die-se Dinge bedeuten?

Sie war vor dem Toilettentisch stehengeblieben, auf dem die kleine barocke Spieldose stand. Mit einem fast seligen Lächeln hob sie den Deckel, und die melancholischen Walzerklänge füllten den Raum.

»Laura!« rief Mark. »Was machst du da?«»Ich schwelge in Erinnerungen.«Der Walzer gellte ihm in den Ohren, in schrillen, scharfen Tö-

nen. Diese Töne schienen überall im Zimmer zu sein – wie kleine dunkle Vögel, schienen sich an die bunten Chintzgardinen zu

klammern, an die Bilder, an die Kristallfläschchen auf dem Toilet-tentisch, an die zierlichen kleinen Lampenschirme, an die kleinen, buntbemalten Stühle, an das Bett mit seinem geblümten Balda-chin.

»Mark«, fragte sie plötzlich, »gefällt dir das Zimmer?«»Nein«, antwortete er.»Mir gefällt es«, sagte Laura träumerisch. »Es hat mir schon im-

mer gefallen.«»Was?«Er war nicht sicher, ob er richtig gehört hatte. Wahrscheinlich

lag das an dieser verdammten Spieldose mit ihrer unerträglichen Musik.

»Als ich ein kleines Mädchen war«, fuhr sie fort, »hatte ich im-mer wieder den gleichen Traum. Es war ein ganz besonderer Traum. Wenn ich etwas tat und es schiefging, träumte ich, daß ich erwachte, daß es erst gestern wäre und ich noch eine Chance bekäme.«

Sie zuckte mit den Schultern und lächelte wehmütig.»Aber dann wachte ich wirklich auf, und es war morgen – und

ich hatte keine zweite Chance.«Mark ging zu der Spieldose und schloß den Deckel. Der Walzer

brach ab, mitten in einer Phrase.»Ich glaube, wir sollten lieber doch nicht in diesem Zimmer

schlafen«, sagte er.»Hast du Angst?«»Angst?« wiederholte er.Von einer Sekunde zur anderen änderte sich ihr Tonfall.»Ich möchte jetzt Coby und Dave sehen.«»Laura! Ich verstehe dich einfach nicht.«»Hol die beiden herauf«, sagte sie.»Jetzt hör mir einmal zu, Laura…« Verwirrt brach er ab.Warum hatte sie sich so sehr verändert? Was sollte er von die-

sen rasch wechselnden Stimmungen und Launen halten?Er fragte sich, ob vielleicht Dr. Carpenters Schlafmittel diese un-

vorhergesehene Wirkung auf Laura ausgeübt hatte. Er hatte schon einmal gehört, daß manche dieser neuen Medikamente…

»Ich gehe erst schlafen, wenn ich mit den beiden gesprochen habe«, sagte Laura. Sie wandte sich ab und ging zum Fenster.

Er sah ihr nach, und in seine Verwirrung mischte sich Resignati-on. Plötzlich fühlte er sich unendlich müde - müde und ausge-

laugt.»Also gut, wenn du unbedingt willst…«, sagte er und verließ das

Zimmer, um die beiden Männer zu holen.Als Laura allein war, erlaubte sie sich das triumphierende Lä-

cheln, das sie bisher krampfhaft unterdrückt hatte. Eine wilde Freude erfüllte sie. Sie konnte sich nicht länger beherrschen.

Wie ein ausgelassenes Kind begann sie durch Elaines Zimmer zu tanzen.

41.

Sarah Wilson lag erschöpft in ihren Kissen.Dr. Carpenter hatte ihr geduldig zugehört. Es fiel ihm schwer zu

glauben, was sie ihm da erzählt hatte, und noch schwerer fiel es ihm jetzt, sie davon zu überzeugen, daß das alles Unsinn sei.

»Das gibt es doch nicht, Sarah«, sagte er. »Der Geist einer To-ten, der vom Körper einer Lebenden Besitz ergreift… Das ist Un-fug. Diese Art von Besessenheit gibt es nicht. Seien Sie vernünf-tig, Sarah. Sie können einen so dummen Aberglauben doch nicht ernst nehmen.«

»Sie haben sie doch gesehen, Sam. Sie hat sich verändert.«»Das schon«, gab er zu, »aber…«»Ich sage Ihnen, sie will Mark vernichten. Ich weiß es.«»Aber warum sollte sie ein Interesse daran haben, ihm Schaden

zuzufügen?«Darauf konnte Sarah Wilson ihm keine Antwort geben.»Sarah«, fuhr er fort, »wenn jemand in Gefahr ist, dann ist es

dieses arme Mädchen. Und dafür sind Sie ganz allein verantwort-lich.«

Plötzlich schien Sarah Wilsons dünner Körper von neuer Kraft erfüllt zu sein. Es war bitterer Zorn, der ihr diese Kraft gab. Sie ballte die zarten Hände.

»Ich hätte es mir gleich denken können, daß Sie…«»Hören Sie mir zu, Sarah«, unterbrach er sie. »Manche Men-

schen haben ein zu schwach entwickeltes Selbstbewußtsein. Und in einer fremden, ungewohnten Umgebung werden sie noch unsi-cherer. Mit anderen Worten: sie sind leicht beeinflußbar, emp-fänglich für Suggestionen.« Er beugte sich vor. »Sarah – Sie ha-ben diesem Mädchen Angst eingejagt.«

»Ich habe ihr die Wahrheit gesagt«, stieß sie hervor. »Ich wollte Mark schützen.«

Bis jetzt hatte Dr. Carpenter der alten Frau geduldig zugehört, hatte mit sanfter Stimme auf sie eingeredet. Aber plötzlich war er todmüde, glaubte sich am Ende seiner menschlichen und ärztli-chen Weisheit. Und da er sich hilflos fühlte, stieg Wut in ihm auf.

»Sie wollten Mark schützen?« schrie er sie unbeherrscht an. »Genauso, wie Sie ihn vor Elaine schützen wollten, als sie noch am Leben war?«

Er schüttelte den Kopf.»Sarah, hören Sie mir zu! Es gibt eine Art von Besessenheit -

aber nicht die, an die Sie glauben!«

42.

Mark kam die Treppe herauf, gefolgt von Coby Ross und Dave Brody. Die beiden machten ziemlich verwirrte Gesichter.

Als Mark die oberste Stufe erreichte, sah er die Spieldose auf der Galerie liegen. Er blickte zur Tür von Elaines Zimmer.

In diesem Haus scheint nichts mehr einen Sinn zu ergeben, dachte er und schüttelte den Kopf.

Er gab der Spieldose einen wütenden Fußtritt, und sie stieß kra-chend gegen die Wand.

Er ließ sie liegen, ging mit entschlossenen Schritten auf die Tür von Elaines Zimmer zu, die halb offenstand.

Die anderen folgten ihm zu dem hell erleuchteten Raum, nach-dem sie die Spieldose interessiert betrachtet hatten.

Mark blieb auf der Schwelle stehen.»Laura, warum hast du dieses Ding da draußen…«Er brach ab und lief durch das Zimmer.Laura stand am offenen Fenster. Sie wandte ihm den Rücken

zu, und der Wind peitschte ihr den Regen ins Gesicht.Mark stieß die beiden Fensterflügel zu.»Bist du verrückt? Willst du dir zu allem Überfluß auch noch

eine Lugenentzündung holen?«Ohne sich umzudrehen, erwiderte sie mit ruhiger Stimme: »Ich

werde schon nicht krank, Liebling.« Dann fügte sie im Befehlston hinzu: »Jemand soll die Tür schließen.«

Coby Ross und Dave Brody wechselten einen verwirrten Blick

und wußten nicht recht, wie sie sich verhalten sollten. Keiner der beiden rührte sich.

Laura wartete noch ein paar Sekunden, dann wandte sie sich langsam um.

»Los!« sagte sie zu Dave Brody. »Mach die Tür zu!«Er gehorchte zögernd.Laura warf Coby Ross einen spöttischen Blick zu.»Hallo, Coby.«»Hallo«, antwortete er.»Du glaubst, du hättest mich noch nie gesehen«, sagte sie.

»Aber du irrst dich. Du kennst mich – sehr gut sogar. Du warst der Anfang.«

Sie lächelte ironisch, dann wanderte ihr Blick zu Mark weiter.»Die Mitte«, sagte sie.Und schließlich blieben ihre Augen an Dave Brody hängen.»Und endlich Davey, der liebe Junge. Alle in einem Zimmer ver-

sammelt. Wie nett!«Coby wußte nicht recht, was er von dieser Situation halten soll-

te.»Mark hat gesagt, daß Sie uns sehen wollen«, erklärte er mit

unsicherer Stimme.»Ich bin froh, daß ihr die Spieldose gesehen habt«, sagte sie.

Jetzt sah sie wieder Mark an. »Ich hatte gehofft, sie würde schö-ne Erinnerungen in euch wecken.«

»Laura – wovon redest du eigentlich?« fragte Mark.»Frag doch Davey!« stieß sie hervor. »Davey, warum erzählst

du ihm denn nicht, wer die Spieldose gekauft hat?« Ihr Blick wan-derte weiter zu Coby Ross. »Natürlich – er sah damals viel besser aus mit seinem blonden Haar und dem Schnurrbart.« Jetzt sah sie wieder Brody an und fügte traurig hinzu: »Du hättest ihn nicht abrasieren sollen.«

»Laura!« Marks Stimme klang verzweifelt. »Ich bitte dich – was soll der Unsinn…« Coby fiel ihm erregt ins Wort. »Moment mal, Mark - sie hat recht.« Er ging zu Brody und packte ihn am Ärmel.

»Es war in Ogunquit!« rief er. »Im Sommertheater. Sie waren in jenem Sommer dort.«

Dave schüttelte seine Hand ab.»Ich habe keine Ahnung, wovon Sie reden.«Coby wandte sich an Mark und erklärte: »Dort habe ich Elaine

kennengelernt. Und dieser Bursche war in derselben Truppe wie

sie.«»Vielen Dank, Coby«, sagte Laura.Dave Brody hatte Coby Ross den Rücken zugewandt. Er ging

mit raschen Schritten zur Tür.»Ihr seid ja alle verrückt«, sagte er verächtlich.»Einen Augenblick noch, Brody!« rief Mark.Dave blieb auf der Schwelle stehen und starrte ihn aus schma-

len Augen an.»Nun, was gibt’s?«Mit ruhiger Stimme fragte Mark: »Haben Sie meine Frau ge-

kannt? Meine Frau Elaine?«»Natürlich nicht«, erwiderte Dave Brody.»Du lügst, Dave!« rief Laura fröhlich.Sie griff in die Tasche ihres Morgenmantels, holte einen Zei-

tungsausschnitt hervor und drückte ihn Mark in die Hand.»Hier, Liebling.«Mark betrachtete den Zeitungsausschnitt verwirrt, starrte auf

das Foto, das Dave und Elaine in einer Liebesszene zeigte. Darun-ter stand, daß es sich um eine Szene aus einer Sommertheater-aufführung in Ogunquit handelte.

Der Mann auf dem Foto hatte blondes Haar und einen buschigen Schnurrbart, aber es war zweifellos David Brody. Allerdings konn-te Mark nicht feststellen, ob die natürliche Haarfarbe des abgebil-deten Mannes dunkel oder blond war.

»Im Augenblick fällt mir nicht ein, wie das Stück hieß«, sagte Laura. »Aber du erinnerst dich doch sicher, Davey, nicht wahr?«

Dave machte den Mund auf und klappte ihn wieder zu. Offen-sichtlich wußte er nicht, was er sagen sollte.

»Wo hast du diesen Zeitungsausschnitt gefunden, Laura?« frag-te Mark.

»Im Keller, Liebling. Wo sonst? Es war eine großartige Idee von deiner Mutter, das Album zu verstecken. Aber sie hat es nicht gut genug versteckt.«

Dave Brody hatte seine Fassung wiedergefunden und begann vehement zu protestieren.

»Hören Sie, Mark, ich weiß nicht, was das alles bedeuten soll, aber…«

Laura unterbrach ihn lächelnd: »Die Zeit der Erinnerungen ist gekommen, lieber Davey. Hast du das denn immer noch nicht verstanden? Die Erinnerungen…«

Sie wandte sich wieder zu Mark um, und plötzlich klang ihre Stimme schrill.

»Du hast es nicht gewußt, Liebling, nicht wahr? Wie wir uns tra-fen, wie wir über dich lachten… Du warst Mamas lieber Junge, und du hast…«

»Laura, hör auf!« schrie Mark. »Du kannst ihn doch gar nicht gekannt haben.«

Sie lachte heiser.»O doch, ich habe ihn gekannt«, versicherte sie. »Ich habe ihn

sogar sehr gut gekannt. Und ich habe auch Coby gekannt. Alle beide…«

»Laura, hör mir jetzt bitte zu: Du hast in Europa gelebt. Du bist vor zwei Tagen zum erstenmal nach New York gekommen. Du kannst weder Coby Ross noch Dave Brody gekannt haben.«

Ihr Gelächter gellte ihm in den Ohren. »Armer Mark!« rief sie. »Mein armer, armer Liebling!«

Er konnte ihren Anblick und ihr Gelächter nicht mehr ertragen. Seine Nerven waren zum Zerreißen gespannt, nur mühsam konn-te er sich beherrschen.

Er wandte sich ab und ging zur Tür.»Wohin gehst du, Mark?« rief sie ihm nach.»Ich gehe den Doktor holen.«»Nein!« schrie sie.»Tut mir leid, aber ich muß ihn holen, Laura. So kann das nicht

weitergehen.«»Ich will ihn nicht sehen!« stieß Laura hervor. »Noch nicht!«Mark wollte auf die Galerie hinausgehen, als er Daves warnen-

den Ruf hörte.»He!«Erschrocken wirbelte er herum.Laura richtete einen Revolver auf ihn. sie lächelte ungerührt.»Tut mir leid, Liebling, aber wir müssen alle hierbleiben.« Ihre

Stimme war so hart wie die Waffe, die sie in der Rechten hielt. Die Mündung zeigte auf Marks Brust. »Das ist meine zweite Chan-ce. Und ich werde sie nutzen.«

»Passen Sie auf mit dem Ding, Laura!« warnte Coby.»Laura!« wiederholte sie spöttisch und rümpfte angewidert die

Nase.Sie machte einen Schritt auf Mark zu.»Sieh mich doch an, Mark! Sieh mich doch einmal ganz genau

an! Weißt du denn immer noch nicht, wer ich bin?«»Laura!« rief er flehend. »Bitte, gib mir das Schießeisen!«»Laura, Laura, Laura!« kreischte sie wütend. »Hier gibt es keine

Laura! Begreifst du denn nicht, Mark? Hier gibt es keine Laura!«Er griff sich stöhnend an den Kopf.»O Gott!«Plötzlich hatte er das Gefühl, auf einer Bühne zu stehen, in einer

Szene mitzuspielen, in einem schlechten, melodramatischen Stück in einem Provinztheater.

»Du glaubst mir nicht, Mark, nicht wahr?« sagte sie langsam. »Laura hast du auch nicht geglaubt, erinnerst du dich? Sie ver-suchte dich zu warnen. Auch deine Mutter hat dich gewarnt. Sie hatten Angst, daß ich zurückkommen würde.«

Sie machte eine Pause, sah triumphierend auf die drei Männer, die wie festgewurzelt vor ihr standen und sie fassungslos anstarr-ten.

»Nun, ich bin zurückgekommen«, sagte sie lächelnd.»Laura!« schrie Mark und machte einen verzweifelten Satz auf

sie zu. Irgendwie mußte es ihm gelingen, ihr den Revolver zu ent-reißen, zu ihr vorzudringen - zu der wahren Laura, die er liebte. Er mußte diesem Alptraum ein Ende setzen, mußte den Kontakt mit der normalen, heilen Welt wieder herstellen…

»Laura, bitte, gib mir jetzt…«Sie riß den Revolver hoch.»Nicht, Mark!« schrie sie warnend.Wie erstarrt blieb er stehen.Sie richtete die Waffe auf die beiden anderen, die verstohlen

versucht hatten, zur Tür zu schleichen.»Hiergeblieben!« rief sie. »Ich habe doch gesagt, daß wir alle

hierbleiben!«»Um Gottes willen!« schrie Dave. »Was wollen Sie eigentlich

von uns? Was haben Sie vor?«»Ich will einen Mörder bestrafen, Davey. Und ich will, daß du

auch dabei bist, Coby. Ich werde den Mann töten, der mich getö-tet hat.«

»Niemand hat Sie getötet, Laura«, protestierte Coby. »Sie ste-hen doch hier vor uns, und Sie machen einen sehr lebendigen Eindruck.«

Mark zwang sich, ruhig zu bleiben.»Laura, hör mir jetzt gut zu«, sagte er in besänftigendem Ton.

»Wir kommen dir nicht zu nahe, das verspreche ich dir. Dann legst du den Revolver schön brav hin, und wir können in Ruhe über alles reden.«

Aber Laura legte die Waffe nicht beiseite. Sie rührte sich nicht. In traurig-spöttischem Ton sagte sie: »Du kennst mich nicht mehr. Und einmal hast du erklärt, du würdest mich nie verges-sen. Mark, du hast mich tief enttäuscht. Wie konntest du nur?«

»Es wird alles wieder gut«, versprach er. »Wenn du jetzt nur den Revolver weglegst und…«

»Hör auf, mich wie ein Kind zu behandeln!« unterbrach sie ihn ärgerlich. »Ich weiß sehr genau, was ich tue, das kannst du mir glauben.«

»Nein, das wissen Sie nicht!« schrie Coby. »Sie sind ja völlig…«Sie beendete an seiner Stelle den Satz.»Verrückt?« Sie schüttelte den Kopf. »Nein, Coby. Ich bin nicht

verrückt. Vielleicht ist diese Laura verrückt, aber ich bin es nicht.«

»Aber du bist doch Laura, Liebling«, versuchte Mark sie zu erin-nern. »Du bist meine Frau, die ich in Rom geheiratet habe, Lieb-ling, und…«

»Du sollst mich nicht Liebling nennen!« stieß sie wütend hervor. »Das macht mich ganz krank. Das hast du immer getan. Du hast mich in die Arme genommen und mich ›Liebling‹ genannt, und dann bist du zu Mama gelaufen und hast ihren Worten gelauscht, als wären sie das Evangelium. Nun, es hat einen Fall gegeben, da hast du nicht auf sie gehört. Und gerade da hättest du es tun sol-len. Sie hat mich sofort durchschaut – gleich bei der ersten Be-gegnung.«

Mark starrte sie an. Und plötzlich ging ihm die ganze ungeheure Bedeutung ihrer Worte auf.

»Das – das ist doch nicht möglich«, stammelte er. »Sie ist tot. Es ist unmöglich…«

»Zwei Jahre«, sagte Laura. »Zwei Jahre lang habe ich gewartet – zwei ganze Jahre.« Sie richtete ihren spöttischen Blick auf Bro-dy.

»Du hast dir einen großartigen Plan zurechtgelegt, was, Davey? Wirklich ein toller Einfall – meine Schwägerin in einer Buchhand-lung anzusprechen, sie mit deinem Charme einzuwickeln… Es ist natürlich wunderbar, ein reiches Mädchen zu heiraten, das kann ich sehr gut verstehen.«

»Sie ist wahnsinnig«, sagte Brody tonlos, »sie ist vollkommen wahnsinnig.«

»Und du, Coby«, fuhr Laura fort, »hast du die Frau deines bes-ten Freundes getötet?«

»Niemand hat sie getötet«, entgegnete Coby Ross. »Elaine hat Selbstmord begangen.«

Lauras Augen verengten sich.»Und der Schuß? Und die Schritte, die sich hastig entfernten?

Und meine liebe Schwiegermutter, die den Revolver neben mir auf dem Boden findet und ihn in meine Hand legt?«

Mark schloß sekundenlang die Augen.»Ist das wahr?« fragte er mit einer Stimme, die ihm fremd in

den Ohren klang.»Sie dachte, du seist der Mörder gewesen«, sagte Laura. »Aber

das warst du nicht. Du konntest es gar nicht sein.«»Mark, tu doch endlich etwas!« schrie Coby. »Mach dieser Hin-

tertreppenkomödie ein Ende!«»Du warst es, nicht wahr, Coby?« Laura lächelte seelenruhig.»Nein«, stieß er hervor, »ich schwöre es.«»Laura…«, flehte Mark.Aber Laura achtete nicht auf ihn. Sie schwang den Revolver zu

Brody herum.»Dann warst du es«, sagte sie.»Nein«, protestierte er mit zitternder Stimme. »Bitte… Ich war

doch noch nie zuvor in diesem Haus.«Ihr Blick glitt von einem zum anderen. Zum erstenmal schien

ihre Selbstsicherheit ins Wanken zu geraten.»Laura, bitte!« sagte Mark. »Leg den Revolver weg!«Ihre Verwirrung schien zu wachsen. Sie blickte von Coby zu

Dave, und dann blieben ihre Augen an Mark hängen.»Mark!« schrie sie. »Hilf mir!«»Laura, du mußt…«, begann er.»Hier gibt es keine Laura«, jammerte sie. Dann brach ihre Stim-

me, klang fast flehend. »Hier – gibt – es – keine – Laura!« Ver-zweifelt starrte sie Mark an. »Wen, Mark? Wen muß ich töten?«

»Niemanden«, antwortete er, so ruhig und beherrscht er konn-te. »Versuch doch logisch zu denken. Wenn du wirklich Elaine wärst, müßtest du das wissen.«

»Nein«, sagte sie, »ich…«Sie brach ab. Sie war nun völlig verwirrt, versuchte sich zu erin-

nern. Den Revolver hielt sie immer noch auf Armeslänge von sich gestreckt, die schwarze Mündung zeigte auf die beiden Männer.

»Ich – war allein«, stammelte sie. »Und ich hatte solche Angst. Ich telefonierte mit ihm. Ich – ich weinte. Ich flehte ihn an, zu mir zu kommen. Und als er dann kam, stritten wir…«

Dave lauschte ihr mit wachsendem Entsetzen. Mit großen Augen starrte er sie an.

»Oh, mein Gott«, flüsterte er. »Oh, mein Gott…«»Ich – ich hatte den Revolver«, fuhr sie mit zitternder Stimme

fort. »Und – wir rangen miteinander.« Ihr Gesicht verzerrte sich, als sie angestrengt nachdachte, sich zu erinnern versuchte. »Er wollte mir den Revolver wegnehmen und – und…«

Schluchzend brach sie ab.»Ich – oh!« jammerte sie. »Warum kann ich mich nicht erin-

nern?«»Weil dies alles der Vergangenheit angehört«, sagte Mark. »Es

ist längst vorbei.«»Nein, es wird nie vorbei sein«, entgegnete sie voller Angst.

»Nie! Nie! Nie! Mark, hilf mir doch! Wer war es? Wer hat es ge-tan? Du mußt mir helfen…«

»Ja, ich will dir helfen, Laura«, sagte er sanft. Und mit erhobe-ner Stimme fügte er hinzu: »Laß sie in Ruhe, Elaine! Bitte! Laß sie zu mir zurückkommen!«

»Hilf mir!« wiederholte sie. Es war ein Schrei der Verzweiflung, wie der Schrei eines verirrten Kindes.

»Laura«, flehte Mark, »Laura, bitte! Du mußt mir jetzt zuhö-ren.«

»Ich muß es wissen«, stieß Laura keuchend hervor, »ich muß es wissen – versteh mich doch…«

»Laura – Liebling…« Eindringlich sprach er auf sie ein, versuchte zu ihr vorzudringen, das Ich der Frau zu erreichen, die er so sehr liebte. »Sie sagt, daß es hier keine Laura gibt. Aber das kann nicht sein. Versuch mich anzuhören. Bitte – du mußt es versu-chen. Elaine ist tot. Sie gehört der Vergangenheit an, und die ist vorbei. Du mußt gegen Elaine kämpfen. Das ist deine einzige Chance. Bekämpfe sie! Wehre dich!«

»Nein…« Sie stöhnte gequält auf. »O nein – ich kann es nicht…«Coby und Dave beobachteten sie nervös, ihr Blick glitt immer

wieder zu der schwarzen Mündung des Revolvers.Mark machte einen Schritt auf Laura zu und streckte die Hand

nach ihr aus.»Elaine darf dich nicht von mir trennen, Liebling. Das darfst du

nicht zulassen. Ich liebe dich – und ich brauche dich. Ich brauche dich so sehr. Sie hindert dich daran, mir zu sagen, daß auch du mich liebst und zu mir zurückkehren willst. Ich weiß es. Aber ich weiß auch, daß wir der Vergangenheit keine Chance geben dür-fen. Wir müssen uns wehren, Laura. Das Vergangene darf nicht zu uns zurückkehren, darf uns nicht vernichten. Laura, bitte! Du bist alles für mich. Ich flehe dich an, komm zu mir zurück! Bitte!«

Sein Blick hielt den ihren fest, als er langsam auf sie zuging. Er konnte sehen, daß sie mit der fremden Macht kämpfte, in deren Klauen sie sich befand.

»Nein«, wimmerte sie schwach. »Ich – ich… Ich kann nicht…«»Bitte!« sagte Mark leise und drängend.Plötzlich war der Kampf zu Ende. Lauras Körper schien zusam-

menzuschrumpfen. Sie schwankte, die Beine gaben unter ihr nach, und sie wäre zu Boden gesunken, hätte Mark sie nicht fest-gehalten.

»Laura!« schrie er und preßte die schlaffe Gestalt an sich.Müde fragte er sich, ob es Laura war, die er in den Armen hielt

– oder Elaine.

43.

Dave Brody verschwendete keine Zeit.Er stürmte zur Tür und riß sie auf, raste blindlings zur Treppe.Doch in seiner wilden Flucht übersah er die Spieldose, die in der

Nähe der obersten Stufe lag. Nachdem Mark sie mit seinem wü-tenden Fußtritt an die Wand befördert hatte, war sie nach dem heftigen Aufprall zurückgeschlittert. Und nun lag sie da, wie ein lauerndes, böses kleines Tier.

Dave stolperte darüber, verlor sein Gleichgewicht. Schreiend stürzte er die Treppe hinab.

Seine Hände tasteten verzweifelt umher, versuchten an den Stäben des Geländers Halt zu finden. Aber er stürzte immer wei-ter die Marmorstufen hinab, wie von einer unsichtbaren Riesen-hand geschleudert.

Hart schlug sein Körper auf dem Fliesenboden der Halle auf, blieb reglos liegen.

Die kleine Spieldose kam langsam die Stufen heruntergerollt und landete auf seiner Brust.

Ruth hatte seinen Angstschrei gehört. Sie kam aus der Küche gelaufen und war die erste, die sich über ihn beugte.

»Dave!« rief sie. Kaltes Entsetzen stieg in ihr auf, schien sie einen Augenblick lang zu lähmen.

Dann kniete sie neben ihm, bettete seinen Kopf in ihre Arme.»O Dave!« stieß sie schluchzend hervor. »Dave -Dave…« Sie

preßte ihn an sich, wiegte ihn hin und her.Die Spieldose glitt von seiner Brust, rollte auf den Fliesenboden,

der Deckel sprang auf.Der traurige Walzer erklang, die klimpernden Töne erfüllten die

Halle wie ein makabrer Spottgesang.Als die anderen die Treppe herabgelaufen kamen, war es zu

spät. Sie konnten Dave Brody nicht mehr helfen. Er war in Ruths Armen gestorben.

Schweigend standen sie vor der Leiche. Nur die melancholi-schen Walzerklänge durchbrachen die Stille, die sich wie ein schwarzes Tuch über die Halle gelegt hatte.

44.

Als die Ambulanz eintraf, lockte sie eine Menge Neugieriger an, die sich vor dem Haus Nummer sechsundzwanzig drängten, um einen Blick auf die Bahre zu erhaschen.

Coby Ross stand mit Mark in der Eingangstür und sah zu, wie der tote Dave Brody in den Wagen gehoben wurde. Dann fuhr die Ambulanz davon, und die Menschenmenge zerstreute sich.

Mark seufzte und schloß die Tür. Er fühlte sich unendlich müde.»Armer Junge«, sagte Coby.»Glaubst du, daß er sie getötet hat?« fragte Mark.Coby hob resignierend die Schultern. »Keine Ahnung. Frag doch

den Geist…« Dr. Carpenter war in Lauras Zimmer gewesen. Als die beiden Männer in die Eingangshalle zurückkehrten, stieg der Arzt gerade die Treppe herab. Mit langsamen, schweren Schrit-ten. Er hatte die letzten Worte Cobys gehört.

Tröstend legte er eine Hand auf Marks Arm.»Du trägst keine Schuld an Elaines Tod, mein Junge«, sagte er

leise. »Vergiß das nicht… Und was Laura betrifft – das Schlafmit-

tel scheint jetzt endlich zu wirken. Ich glaube, sie wird bis zum Morgen durchschlafen. Aber ich werde später auf jeden Fall noch einmal nach ihr sehen.«

Er wandte sich zu Coby Ross um.»Und was den Geist angeht… Ich kann Ihnen versichern, daß er

nie existiert hat.«»Da bin ich nicht so sicher«, sagte Mark langsam.Müde strich er sich über die Stirn, dann kehrte er dem Arzt den

Rücken zu und ging zur Bibliothekstür, wie von einer fremden Macht getrieben.

Die Tür stand offen, die Lichter brannten, und die Bücher, die Laura hatte fallen lassen, lagen noch immer auf dem dunklen Teppich.

Mark betrat den Raum, bückte sich und begann die Bücher auf-zuheben. Dr. Carpenter folgte ihm langsam, beobachtete ihn be-sorgt.

Sanft rüttelte er ihn an der Schulter.»Ich muß mit Ihnen sprechen, Mark.«Unwillig wandte Mark sich um.»Worüber? Was gibt es denn noch zu besprechen?« Er schüttel-

te die Hand des Arztes ab, trat zu dem Regal, aus dem Laura die Bücher genommen hatte, und begann sie wieder einzuordnen.

»Seien Sie kein Narr, Mark! Sie haben ihr das Gefühl gegeben, klein und unbedeutend zu sein. Und so blickte sie ängstlich zu Ih-nen auf, zu ihrem starken, selbstsicheren Ehemann.«

Mark schüttelte verwirrt den Kopf.»Aber plötzlich war sie doch ganz anders… Erinnern Sie sich,

wie wir sie hier überrascht haben? Als sie die Bücher aus dem Re-gal nahm? Da wirkte sie doch so überlegen und sicher, schien vor Selbstvertrauen geradezu zu strotzen. So war Laura nie.«

Dr. Carpenter überlegte eine Weile, und dann sah er Mark an.»War Elaine so?«Auch Mark dachte nach, bevor er antwortete.»Nein«, gab er dann zu.»Sie erinnern sich doch sicher, Mark. Laura begann sich erst auf

diese sonderbare Weise zu verändern, nachdem Ihre Mutter ihr gesagt hatte, Elaine würde von ihrem Körper Besitz ergreifen. Dieser Gedanke setzte sich in ihr fest, und so wurde sie Elaine – eine falsche Elaine, wie sie der Vorstellung Ihrer Mutter ent-sprach.«

Langsam schüttelte der Arzt den Kopf.»Suggestion – ja. Besessenheit – nein.«Mark hob die letzten der Bücher auf, die noch auf dem Teppich

lagen, und stellte sie auf ihren Platz zurück.»Also gut, Sie haben mich überzeugt«, sagte er.»Ich möchte nicht behaupten, daß dies alles nicht gefährlich für

Laura war«, fuhr Dr. Carpenter fort. »Aber jetzt ist alles glücklich überstanden. Sie muß sich ein paar Tage ausruhen, und dann…«

Marks Augen verengten sich. Ein Gegenstand war ihm aufgefal-len, der ganz hinten im Regal stand - hinter der Buchreihe, die er soeben neu geordnet hatte.

»Nein, Doktor«, sagte er. »Wir reisen morgen früh ab. Wir wer-den keinen Tag länger in diesem Haus bleiben.«

»Ich glaube nicht, daß das günstig wäre«, erwiderte der Arzt. »Laura braucht Ruhe, sie…«

Mark riß ein paar Bücher aus dem Regal, warf sie zu Boden.»Nein, Doktor«, stieß er hervor, »sie darf nicht hierbleiben -

keinen einzigen Tag mehr… Ich werde sofort unsere Sachen pa-cken, dann können wir gleich morgen früh aufbrechen.«

»Aber Mark…«, protestierte Dr. Carpenter. »Verstehen Sie denn nicht? Laura stand unter einer ungeheuren seelischen Belastung. Sie muß sich erst erholen.«

Mark griff in die Lücke zwischen den Büchern und zog eine Fla-sche Whisky hervor.

»Haben Sie auch dafür eine logische Erklärung, Sam?« fragte er und hielt dem Arzt die Flasche vor die Nase. »Das war Elaines Versteck. Ich habe stunden- und tagelang danach gesucht, aber ich konnte es nicht finden. Können Sie mir erklären, wieso Laura es auf Anhieb entdeckt hat? Obwohl sie dieses Haus vor zwei Ta-gen zum erstenmal gesehen hat?«

Dr. Carpenters Stirn rötete sich.»Nun – ich«, stammelte er verwirrt, »ich…« Er zuckte mit den

Schultern, und dann gewann er seine Selbstsicherheit wieder. »Wahrscheinlich handelt es sich um einen Zufall. Solche Zufälle, die einem erstaunlich und rätselhaft erscheinen, gibt es immer wieder. Deshalb braucht man noch lange nicht zu glauben, daß geheimnisvolle Geister am Werk wären.«

»Ein Zufall, Doktor?« fragte Mark langsam. »Glauben Sie das wirklich?«

Er starrte auf die Flasche, und eine dunkle, quälende Angst

stieg in ihm auf.Und als er den Kopf hob und zur Zimmerdecke blickte, schien es

ihm, als würde die kleine barocke Spieldose immer noch ihr trau-riges Walzerlied klimpern.

Und da wußte Mark, daß es ihm niemals gelingen würde, sich von dieser klagenden Melodie zu befreien. Sie würde ihn verfol-gen, auch wenn er dieses Haus verließ, würde ihn begleiten auf allen seinen Wegen.

45.

Das Fenster in Lauras Zimmer war nun geschlossen. Kein Stra-ßenlärm drang herein.

Sie lag in ihrem Bett, und ein schwaches Lächeln umspielte ihre Lippen. Hörte auch sie den traurigen kleinen Walzer? Erfüllten die klagenden Töne ihre Träume? Sie schien friedlich zu schlafen.

Laura?Elaine?Wer konnte es wissen?

ENDE