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Renate Möhrmann MELUSINE Roman

Renate Möhrmann MELUSINE Roman · mit jedem Tag, ging es Melusine durch den Kopf. Mit der 16 fuhr sie weiter zum Neumarkt. In der Bahn saßen manche schon mit offenem Hemd und aufgekrempelten

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Renate Möhrmann

MELUSINERoman

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Renate Möhrmann

MELUSINERoman

SCHENK VERLAG Passau

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Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikationin der Deutschen Nationalbibliographie;

detaillierte bibliographische Daten sind im Internetüber http://dnb.ddb.de abrufbar.

ISBN -10: 3-939337-28-5ISBN -13: 978-3-939337-28-7

© Schenk Verlag GmbH, Passau, 2006

Umschlaggestaltung: El Vira • János Eifert

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. JedeVerwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohneZustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für

Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherungund Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Printed in Hungary

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Für Lilette †

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U

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„Wandle stets auf Rosenauf immer grüner Au

bis einer kommt in Hosender nimmt dich dann zur Frau.“

(aus Melusines Tagebuch)

»Unten rechts: Acht fehlt, sieben gefüllt, sechs Kariesnach distal, fünf o.k., vier onlay, drei o.k., zwei o.k.,eins o.k. Unten links: eins o.k., zwei o.k., drei o.k.,vier Füllung, fünf Füllung, sechs onlay, sieben Karieslingual und Füllung, acht fehlt. Oben links: acht fehlt,sieben onlay, sechs o.k., vier o.k., drei o.k. ...«

Melusine Wegner liebte diese zahnärztliche Li-tanei, dieses schnelle monotone Zählen, das wie einAbzählvers klang, kindlich und zukunftsfroh, obwohles doch eine Art Verfallsgesang war. Bei jedem Be-such wurden ihre Zähne ein bißchen sanierungs-bedürftiger, die o.k.s weniger, der Gesang kürzer. DieMonotonie solcher Auflistung hatte etwas Beruhi-gendes. Der Verfall wurde gezählt, festgehalten, auf-geschrieben, hatte Bestand. Sie fühlte sich wohl inDr. Bauers Praxis. Nachdem sie in ihrer Jugend dieschmerzhaftesten Behandlungen erlitten und angst-verklammert auf diesen weißen Folterstühlen geses-sen hatte, war sie durch ihre Freundin an Dr. Bauergeraten.

»Der Mann hat goldene Hände«, hatte Jenny ver-kündet. »Reißt Deinen Mund nicht in sieben ver-schiedene Ecken und hakt mit seinen Nägeln in DeinZahnfleisch. Der kann selbst keine leidenden Pati-

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enten ertragen. Dafür gäbe es ja Spritzen, sagt er.«Sie hätte auch immer Angst gehabt. Besonders vorden Spritzen. Früher. Heute nicht mehr. Seit Dr. Bauernicht mehr. Er hatte ihr damals erklärt, daß Spritzenkeinerlei Stechschmerz verursachten. Es sei lediglichder Druck, den der Patient empfände. Führe mandie Spritze behutsam und langsam in den Kiefer ein,so wäre das bloß ein leichter Druckschmerz. Dashatte Jenny beruhigt. Ihr die Angst genommen. Drük-ken war schließlich weniger aggressiv als Stechen,meinte sie und entspannte sich. Das ging auch Melu-sine so. Hier mußte sie sich nicht mehr angstverzerrtin ihr Inneres verkriechen, um solche Sitzungendurchzustehen. Wohlig lag sie auf dem bequemenBehandlungsstuhl und schaute in den frühlings-frischen Garten, der gleich hinter der Praxis lag. Inder ersten Zeit, als sie in ihrer neuen Stellung beimWDR fast rund um die Uhr gearbeitet hatte, warendie Besuche bei Dr. Bauer ihre einzige Erholung ge-wesen. »Meine Ausflüge zum Zahnarzt«, meinte sielächelnd und die Kollegen wußten nicht recht, wassie davon halten sollten.

Auch die Mitarbeiterinnen von Dr. Bauer hattengoldene Hände. Und nicht nur das. Sie fühlten sichauf eine Weise in die Patienten ein, die Melusine bis-her noch bei keinem Arzt erlebt hatte. »Natürlich istdas eine völlig absurde Situation«, behauptete FrauAndresen, die für die Zahnfleischbehandlung verant-wortlich war. »Wo schon sonst sitzen Sie mit weitaufgerissenem Mund vor einem anderen Menschen.Lassen in sich hineingucken wie in ein Loch, Zunge,Zahnfleisch, Zähne, Zäpfchen offen ausgestellt zurBearbeitung. Und wir fuhrwerken dann darin he-rum. Ist doch klar, daß ich erstmal ein Vertrauen her-

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stellen muß. So etwas Intimes wie den Mund, denmacht man doch nur auf, wenn man ihn voller Küssehat.« Melusine mochte Frau Andresen. Dann kamDr. Bauer in ihr kleines Behandlungszimmer.

»Für eine fast Fünfzigjährige ein durchaus respek-tables Gebiß. Die Karies hält sich in Grenzen, keineBrücke, keine Taschenbildungen« konstatierte er zu-frieden. »Aber Sie helfen ja auch mit, Frau Wegner.Regelmäßige Zahnsteinentfernung und – das Wich-tigste – täglich Zahnseide. Nach jeder Mahlzeit. Sowird Ihr Gebiß neunzig.«

»Und der Rest«, dachte Melusine amüsiert. »Einstabiles Gebiß in einem zerfurchten Gesicht, war dasdas Schicksal, das ihr bevorstand?« Aber noch wares schließlich nicht so weit. Noch fühlte sie sich aufdem Zenith des Lebens. Sie hatte sich den Nachmit-tag freigenommen, um mit Jenny bei Fromme in derNeumarktpassage Kaffee zu trinken. Nach solchenZahnarztbesuchen fühlte sie sich besonders wohl.Wiederhergestellt. Obschon doch jedesmal etwasmehr fehlte an ihrem respektablen Gebiß. Sie ginglangsam am Volksgarten vorbei bis zum Eifelplatz.Ganz Köln schien plötzlich in Grün getaucht. In die-ses helle, lichte fast durchsichtige Grün, das wie einVoranstrich aussah. Nur im Mai gab es das. Wie frischgewaschen standen die Bäume da. Grüngewaschenin ihrer neuen Blätterfülle. Die Welt wird schönermit jedem Tag, ging es Melusine durch den Kopf.Mit der 16 fuhr sie weiter zum Neumarkt. In derBahn saßen manche schon mit offenem Hemd undaufgekrempelten Pullovern in der Gewißheit desnahenden Sommers.

Sie hatten sich zu um halb sechs verabredet. Umdiese Zeit war das Café meist völlig leer und sie konn-

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ten gemütlich reden. Melusine freute sich auf Jenny.Seit ihrem Bruch mit Sonja, der langjährigen Jugend-freundin, war Jenny die einzige, zu der sie ein ähn-lich enges Verhältnis hatte. Jetzt wo sie in der BRI-GITTE-Redaktion in Hamburg tätig war, sahen sichdie Freundinnen seltener. Denn beide hatten inzwi-schen einen dick vollgepackten Terminkalender, derin sehr unterschiedliche Richtungen wies. »Wenn wirganz normale Frauen wären«, hatte Jenny einmalgespottet, als sie wegen einer dringenden Reportagenicht einmal Zeit für ihren Nachtisch hatte, »dannkönnten wir jetzt noch am Rhein spazieren gehen.«

»Wir sind aber keine normalen Frauen«, hatteMelusine gekontert. »Keine Haus- oder Ehefrauenmit Zeit jedenfalls.«

»Womit Du doch wohl nichts gegen Haus- oderEhefrauen gesagt haben willst. Schließlich schreibeich auch für Hausfrauen und Du selbst bist eine Ehe-frau.«

Melusine lächelte hintergründig. Es stimmte ja.Sie war eine Ehefrau. Seit 26 Jahren verheiratet. Im-mer noch mit demselben Mann. Mit Laurenz. Es kamihr selbst irgendwie merkwürdig vor. Jenny war ge-schieden. Schon seit Ewigkeiten. Seit sie ihren Mannmit einer unbekannten Person weiblichen Ge-schlechts im gemeinsamen Ehebett überrascht hatte,war alles schnell zu Ende gegangen. Da beide nichtshatten, außer ihrem Beruf, bestand kein Versorgungs-anspruch. Es war ihre, Jennys, Studentinnenwohnungund sie hatte die Miete gezahlt. So wechselte sie nurdas Türschloß. Raus und aus. Nie wieder wollte siediesen Verräter in ihrer Wohnung sehen.

Die Ehe war ihr gründlich vermiest worden.Danach ging es ihr besser.

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Es war gerade fünf als Melusine am Neumarktankam. Gemächlich schlenderte sie die Passage ent-lang, vorbei an dem neuen Designergeschäft, amRosenthalstudio und dem Antiquitätenhandel. Siemochte die Passage mit ihrem Durchblick zum Him-mel, hoch über Gonskis Buchimperium, mit demdurchsichtigen Acrylfahrstuhl direkt ins Käthe-Koll-witz-Museum. »Auch hier sind wir mit von der Par-tie«, dachte sie mit Genugtuung. Denn der WDR warPartner des Museums.

Ihre neueste Entdeckung war das Hutgeschäft.Ganz hinten links. Dort gab es nicht bloß die Krea-tionen der Saison, sondern auch Secondhand-Modellebis zurück ins 19. Jahrhundert. Sie alle waren gro-ßen, bunten Holzpuppenköpfen übergestülpt, die mitihren kreisrunden Augen und ihrem roten Lachmundwie eine fröhliche Assemblage aus einer fremden Weltauf die Passanten schauten. Fasziniert blieb Melusi-ne stehen. Wo sonst gab es das noch. Hüte mit run-dem Kopfteil und breiter Krempe, tellerartige fla-che, leicht aufgebogene Hüte oder solche mithängender, weicher Krempe und einem Feder-schmuck dazu, kleine Käppis mit bestickten Abzei-chen am Rand, kastenförmige Kopfkunstwerke mitwehenden Schleiern, breitrandige Strohhüte mit Bän-dern und Rüschen, Kapotthut und Schute, Kopfbe-deckungen jeder nur erdenklichen Art, aus Filz, Samtoder Seide, aus Leder oder Kunststoff, aus Stroh, Bastoder Perlengewebe. Kreationen, wie sie die Stars ge-tragen haben, die Königinnen von Hollywood, Gre-ta Garbo, Barbara Stanwyck, Joan Crawford oderLana Turner. Melusine konnte ihre Lust, hineinzuge-hen in dieses Paradies der Damen und einige derKostbarkeiten einmal aufzuprobieren, nur schwer be-

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kämpfen. Aber sie wollte Jenny auf keinen Fall war-ten lassen.

Sie wählte ihren Lieblingsplatz. In der Ecke rechtsvom Eingang. Von dort aus konnte sie auf die Straßeund gleichzeitig in den Buchladen sehen. Sie bestell-te sich einen Florentiner. Hier bei Fromme schmeck-te der wirklich noch nach Butter. Mit dem Capuccinoließ sie sich noch einen Cognac kommen. Einen RemyMartin. Das tat sie immer, wenn sie vom Zahnarztkam. Sie redete sich ein, daß sie sich damit belohnenmüsse, obwohl diese Besuche nichts Schrecklichesmehr waren und keinen Grund für Belohnungen her-gaben. Offensichtlich funktionierte die lang zurück-reichende Bilanz von Bestrafung und Belohnung nochimmer.

Jennys rotblonder Schopf erschien zuerst durchdie Glasscheibe. Ihr grüner Rucksack schaukelte hin-ter ihrer Schulter, als sie mit schnellen Schritten durchden Gang kam.

»Hallo, Lu! Pünktlich wie immer.«»Du oder ich?«»Beide«, lachte Jenny gutgelaunt und ihre vielen

Sommersprossen strahlten. Melusine mußte darandenken, wie sich die Freundin lange als häßlichesEntchen gefühlt hatte. Von Arzt zu Arzt gelaufen warund mit immer neuen Tinkturen ihren Flecken-teppich zu bleichen versucht hatte. Erfolglos. Trotzdes versprochenen Erfolgs auf dem Waschzettel. Dannhatten sie zusammen Gorettas SPITZEN-KLÖPP-LERIN gesehen. Mit Isabelle Huppert in der Haupt-rolle. Die Huppert hatte trotz ihrer gesprenkeltenHaut ein wunderschönes Gesicht. War verführerisch,wurde ein Star. Spielte immer öfter die femme fataleund wurde mit zunehmenden Jahren bloß attrakti-

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ver. Jenny war versöhnt. Sie fand sich fortan wenigerhäßlich mit ihren Sommersprossen.

»Und wie geht’s Dir, Lu? Du siehst zufriedenaus.«

»Stimmt. Alles läuft ziemlich gut zur Zeit. Ichinterviewe gerade unseren neuen Wellenchef. VolkerLenzen. Ein ganz besonderer Typ. Geradezu einKlangfanatiker. Er kommt vom Süddeutschen Rund-funk und ich versprech mir viel von ihm für unserProgramm.«

»Mein Gott, beneidenswert. Bei Dir ist immeralles so in Ordnung. Du schaffst Familie und Karrie-re. Hast einen Traumjob, zwei wohlgeratene Töchterund einen Mann, auf den Verlaß ist.«

»Na ja, na ja. Jetzt übertreibst Du aber Jenny.«»Wieso? Ist das kein Traumjob, stellvertretende

Hörfunk-Direktorin des WDR? Sind Deine Töchteretwa schlecht eingeschlagen? Ist Dein Mann nichtverläßlich? Nicht der vollkommene Ehemann, umden man Dich beneidet? Hast Du ihn je im Bett miteiner anderen überrascht? Wie ich zum Beispiel denmeinen? Den Ex-meinen?«

Melusine, die sich inzwischen einen weiterenRemy Martin bestellt hatte, merkte, wie sich ihreZunge unter den inquisitorischen Fragen ihrer Freun-din zunehmend lockerte.

»Affairen hat er schließlich auch gehabt. Bei allseiner Verläßlichkeit.«

»Das sagst Du so und jetzt erst?«»Es ist ja vorbei. Und er ist davon überzeugt,

daß ich nichts weiß.«»Und wie hast Du’s rausgekriegt?«»Durch Zufall. Und später kannte ich dann die

Mechanismen. So fragte er mich eines Tages, ob er

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einen schlechten Atem habe. Ich sagte nein. Wieso?Er röche gut. Doch das genügte ihm offenbar nicht.Er formte seine linke Hand zu einer kleinen Muldeund führte sie ganz nah an seinen Mund. Dann stießer ruckartig kleine, heftige Atemzüge in die Hand-mulde, führte diese direkt unter seine Nase und zogdie ausgeblasene Luft schnell wieder ein. Stimmt, Lu.Ich riech nicht aus dem Mund. Zwei Tage später, alser mich anrief und bat, die Versicherungspolicen fürdie Wohnung aus seinem Schreibtisch herauszusu-chen, stieß ich auf ein Nacktfoto von einer jungenFrau. Da ging mir plötzlich ein Licht auf. So alle vierJahre wiederholte er seine Atemprobe. Ich wußtedann gleich, was los war.«

»Lu, Liebste, das hast Du ertragen? Bist Du nichtvor Wut und Eifersucht geplatzt?«

»Eigentlich nicht. Die Person auf dem Foto wardermaßen häßlich, daß ich sie mir gar nicht als Kon-kurrentin vorstellen konnte. Kurze fette Schenkel undein Gesicht ohne jedes Programm. Ich habe es bloßnicht verstanden.«

»Ach Lu, da gibt’s nichts zu verstehen. Das ist jadas Deprimierende. Die Typen sehen bloß das jungeFleisch. Und sonst gar nichts. Die Libido, die Libidowird bloß in junger Möse froh ... Du kennst doch denToilettenspruch. Und das junge Fleisch schaut ihnenlinks aufs Jackett, dahin wo das Herz sitzt, und schieltdoch bloß auf die Brieftasche. Aber sie fühlen sichdann groß, die älteren Herren, bewundert, können denErfahrenen spielen, den Lebemann, der sechs Kaviar-sorten und den Unterschied zwischen einem Hahn undeinem Kapaun kennt. Mich kotzt das alles an.«

»Also Jenny, erhitz Dich jetzt bloß nicht. DieSache ist ja vorbei. Schon lange. Und übrigens ist das

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alles niemals bloß schwarz und weiß. Sicher nichtbei Laurenz. Der denkt jetzt mehr an seine Pillen alsan seinen Atem. Seine Betablocker.«

Jenny aber war eine entschiedene Feministin undkonnte ihrer Freundin solche Schwachheiten, wie siemeinte, einfach nicht durchgehen lassen.

»Du hättest ihn zur Rede stellen sollen. Minde-stens. Besser rausschmeißen.«

»Ich bin eben nicht so couragiert wie Du, Jenny.Es gibt so viel anderes. Verbindendes. Und überhaupt.Im Grunde bin ich zufrieden mit meinem Leben. MitHanna und Laura. Mit meinem Beruf und auch mitLaurenz. Manchmal bin ich sogar froh darüber, daßer seine Ehebrüche hatte. Aber bitte, lassen wir dasjetzt. Ich weiß noch gar nicht, wie es Dir geht, wasDeine Recherche über das Poesiealbum macht.«

Melusine hatte ihre Gründe, dies Thema abzu-brechen. Sie hatte schon mehr gesagt, als sie eigent-lich wollte und ‘die-Welt-wird-schöner-Stimmung’war längst verflogen. Doch kannte sie Jenny gut ge-nug, um zu wissen, daß sie leicht abzulenken war,wenn es um ihre Arbeit ging. Zur Zeit beschäftigtesie sich mit Mädchenkindheiten. BRIGITTE wolltedazu eine ganze Serie haben. Über Jungen wußte manviel, über Mädchen wenig. Das war schon immer so.Die ganze Pubertätsliteratur hatte männliche Prot-agonisten. Anton Reiser, der Schüler Gerber, der jungeTörless, Tonio Kröger – alles Jungens. Womit befaß-ten sich Mädchen heute? Welche Spiele spielten sie?Hatten sie noch Ankleidepuppen und Oblatenhefte?Oder saßen sie alle vorm Computer wie die Jungen?Irgendwo hatte Jenny eine Untersuchung gelesen, inder ein gewisser Soziologe beweisen wollte, daß dieZukunft männlich sei. Kleine Jungen spielten schon

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im Vorschulalter am Computer. Kleine Mädchennicht. Dieser Vorsprung sei nie wieder aufzuholen.Ob das stimmte? Für die September-Nummer sollteJenny einen Bericht über das Schreib- und Lesever-halten von Mädchen verfassen. Welche Bücher lasensie? Schrieben sie sich untereinander Briefe? Hattensie einen eigenen Computer? Besaßen sie noch einPoesiealbum?

»Ich hab meins noch und kann Dir einen schö-nen Spruch zitieren. Den von meiner Tante Annie:

Wandle stets auf Rosenauf immer grüner Au,bis einer kommt in Hosen,der nimmt Dich dann zur Frau.«

Damit war die Stimmung wiederhergestellt.Jenny verschluckte sich fast vor Lachen. »Und dashast Du ja auch gemacht.« Und schon wippte dergrüne Rucksack wieder auf ihrem Rücken. Sie muß-te am selben Abend nach Hamburg zurück. Mit demIC um 20.11 Uhr. Melusine schaute noch einmal sehn-süchtig in das Hutgeschäft. Aber es hatte gerade zu-gemacht. So ging sie die Gertrudenstraße entlang,bog in die Breite Straße ein und steuerte automa-tisch auf die WDR-Arkaden zu. Eigentlich hatte sienach Haus gehen wollen. Da sie aber schon in derNähe war, schaute sie noch kurz hinein. Anfangs hattesie ihr Büro in dem neuen Gebäude überhaupt nichtgemocht und sich nach dem Vierscheibenhaus zu-rückgesehnt. Gewiß, alles war dort altmodischer undumständlicher gewesen, der Sitzungsraum bloß übereine Extratreppe zu erreichen und das Entlüftungs-system hatte große Mängel. Aber es war viel gemüt-licher dort. Das neue Gebäude mit seinen vielen

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schmalen Gängen und Trennwänden, die den Zugangregulierten, erinnerten sie lange an eine Gefängnis-anstalt. Der mittlere Gang war der Gang der Wäch-ter und hinter den trennenden Geländern befandensich die Zellen der Insassen. Eine davon war ihre.Inzwischen hatte sie sich daran gewöhnt. Und dasmußte sie zugeben: die Aussicht war hier viel schö-ner. Das fanden alle.

Als sie in ihr Büro kam, lag ein Brief auf demSchreibtisch mit der Aufschrift: Vertraulich. DerAbsender war ein Rundfunkratsmitglied. Sven Ab-ertreu. Melusine war leicht irritiert. Was konnte derAbertreu ihr vertraulich mitteilen wollen? SeinSchreiben war nur kurz. Es informierte sie lediglichüber einen Brief, den er vom Vorsitzenden des Ver-bands Deutscher Schriftsteller aus dem LandesbezirkBaden-Württemberg erhalten hätte und hiermit ansie weiterleite. Er selbst wolle sich aus der Sache he-raushalten, denn er kenne weder den einen noch denanderen. Aber da der Briefschreiber ihn, Abertreu,aufgefordert hatte, die Angelegenheit vor denProgrammausschuß zu bringen, hielte er es nur fürfair, zunächst sie als Stellvertreterin davon in Kennt-nis zu setzen, zumal Frau Kreyenberg, die Hörspiel-Direktorin, noch in der Rehaklinik sei.

»Immer diese Personalintrigen. Dies trübe Ge-bräu aus Fakt und Fiktion. Eine einzige Schweinerei.Und jetzt wegen Volker Lenzen. Wie mich das an-stinkt.« Verärgert legte Melusine den Brief beiseite.Sie hatte zwar befürchtet, daß es Schwierigkeitengeben könnte. Auch aus dem Haus. Manche hattensich dagegen ausgesprochen, daß jemand von außenberufen werden sollte. Es gäbe doch genug gute Leu-te in der Abteilung selbst. Das war zwar richtig. Aber

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Karin Kreyenberg und sie selbst waren der Ansichtgewesen, daß es gerade für die Hörfunkwelle WDR 3mit ihrem umfangreichen und anspruchsvollen Pro-gramm von Vorteil wäre, keine Hausbesetzung vor-zunehmen. Jemand von außen zu holen. Mit neuenIdeen, Erfahrungen und Konzepten. Lenzen war einsolcher Mann. Ganz ohne Frage. Er hatte sich schonfrüh für das Hörspiel eingesetzt. Schon als Student.Hatte selbst geschrieben, Wolfgang Weyrauchs ge-sammelte Werke ediert und die Hörspieldramaturgiedes Süddeutschen Rundfunks geleitet. Lenzens Sen-sibilität für das Hören, für jede Art von Klang, hatteMelusine besonders fasziniert. Gleich bei ihrem er-sten Gespräch. Für ihn war das Ohr das wichtigsteSinnesorgan. Hörend erlebe der Mensch die Welt.Schon im Kinderwagen. Und sein Wohl- undSicherheitsbefinden hinge vor allem von der ihnumgebenden Akustik ab, von den Tönen, die er wahr-nahm. In der Industrie wisse man das. Manchmalbesser als in einigen Hörfunkabteilungen. BeiMercedes zum Beispiel. Dort arbeite man ganz ge-zielt an einem spezifischen Türklang der Wagen.Schwer, gewichtig, sonor, mit verläßlichem Aplombsolle die Tür ins Schloß fallen, den speziellenMercedes-Klang vermitteln.

»Herr Lenzen«, hatte ihn Melusine unterbrochen.»Jetzt reden Sie so, als ob Sie einen Vertreterpostenbei Mercedes-Benz anstrebten.«

Es entging ihr nicht, daß er plötzlich rot wurde.Auch das gefiel ihr. Es zeigte ihr, daß hier keiner die-ser selbstgefälligen Schnellkarrieristen, die alles errei-chen wollten und nichts zu sagen hätten, vor ihr saß.

»Nein, nein«, wehrte er ab. »Das fiel mir geradenur als Beispiel ein.« Eins stand fest. Sie hatte einen

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guten Eindruck von Lenzen. Das bestätigten sämtli-che Unterlagen. Auch der Verwaltungsrat hatte sei-ner Berufung zugestimmt. Und jetzt das. Dieser un-verschämte Brief. Lenzen sei ein Denunziant undSchwindler, stand da wörtlich, einer, der mit Erpres-sungen gearbeitet und sich durch die Betten der Chef-sekretärinnen hochgeschlafen habe. Der WDR wäregut beraten, einen solchen Menschen nicht ins Hauszu holen. Sie rief eine Redakteurin an, die sich inder Schriftstellerszene auskannte.

»Wer ist denn überhaupt dieser Typ aus Baden-Württemberg?«

»Ach mein Gott, irgend so ein erfolgloser Neid-hammel vermutlich. Gelesen jedenfalls hab ich nochnichts von dem. Außer diesem Brief, den ich auchbekommen hab.«

Eins war klar. So etwas konnte man nicht durch-gehen lassen. Hier mußten juristische Schritte unter-nommen werden, denn mit einer solchen Hypotheksollte Lenzen nicht antreten. Wer weiß, wer sonstnoch diesen Brief erhalten hatte.

»Bei Dir ist immer alles so in Ordnung«, klangihr Jennys Bemerkung noch im Ohr. »Wenn die wüß-te ... aber das sollte sie ja auch gar nicht.«

Melusine rief Laurenz an. Sie käme später. Eskönnte auch sehr spät werden. Er solle nicht warten.Nein. Wirklich nicht. Sie sah die Post durch undüberlegte. Am besten, sie riefe den Programmaus-schußvorsitzenden an, damit die Sache nicht gleichöffentlich behandelt würde. Denn das wäre fatal.Zuerst wollte sie selbst mit Lenzen reden. Es war einJammer, daß Sonja nicht mehr da war. Mit ihr hättesie alles offen durchsprechen können. Sie hatte nieverstanden, warum Sonja zu RTL gegangen war. Für

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die MEISER-Talkshow. Für sie, Melusine, gab es nurden WDR. Trotz allem. Das war auch für Sonja malso. Alte Erinnerungen überfielen sie. Sonja Olendörpund Melusine Klingenheben, beide gerade einund-zwanzig, zwei unter hundert Bewerbern für ein Vo-lontariat beim WDR. Es war ein Auswahlverfahrenvon zweieinhalb Tagen. In den Räumen der Karl-Rahner-Akademie in der Jabachstrasse. Wochenlanghatten sie sich darauf vorbereitet. Gebüffelt und we-nig geschlafen. Wie schon im Studium für die Zwi-schenprüfung. Sie waren ein gutes Team. Die Hürdewar groß. Bloß zehn von den Bewerbern sollten ge-nommen werden. Und dann dazu ihre verrückte Idee,nur gemeinsam antreten zu wollen.

»Sehr geehrte Damen und Herren«, hatten sie ihrBewerbungsschreiben begonnen. »Sollte es dazu kom-men, daß bloß eine von uns gewählt werden würde,dann käme keine. Hochachtungsvoll Sonja Olendörpund Melusine Klingenheben.« Ihre Freundschaft galtihnen alles. Schon seit der Schule. Sie wollten keinKonkurrenzverhältnis. Eine Wahl für bloß eine vonihnen würde zwangsläufig zu Problemen führen, ei-nen Keil in ihre Beziehung schieben und sie in ver-schiedene Richtungen treiben. Sie wollten die gleicheRichtung. Alles gemeinsam besprechen können. Dasvor allem. Noch gab es keine Männer in ihrem Leben,die wichtig waren. Dann kam das Antwortschreiben.Hell leuchtete das blaue WDR-Logo aus all der ande-ren Post heraus. Westdeutscher Rundfunk Köln, An-stalt des öffentlichen Rechts.

»Noch nicht aufmachen« protestierte Sonja.»Eine feierliche Angelegenheit braucht einen feierli-chen Rahmen. Mein Vorschlag: Der Brief bleibt hierbis heute Abend liegen. Und zwar geschlossen. Wir