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Regieren Algorithmen? Über den sanften Einflussalgorithmischer ModelleHerder, Janosik
Veröffentlichungsversion / Published VersionSammelwerksbeitrag / collection article
Empfohlene Zitierung / Suggested Citation:Herder, J. (2018). Regieren Algorithmen? Über den sanften Einfluss algorithmischer Modelle. In R. Mohabbat Kar, B.E. P. Thapa, & P. Parycek (Hrsg.), (Un)berechenbar? Algorithmen und Automatisierung in Staat und Gesellschaft (S.179-203). Berlin: Fraunhofer-Institut für Offene Kommunikationssysteme FOKUS, Kompetenzzentrum Öffentliche IT(ÖFIT). https://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:0168-ssoar-57547-2
Nutzungsbedingungen:Dieser Text wird unter einer CC BY Lizenz (Namensnennung) zurVerfügung gestellt. Nähere Auskünfte zu den CC-Lizenzen findenSie hier:https://creativecommons.org/licenses/by/3.0/deed.de
Terms of use:This document is made available under a CC BY Licence(Attribution). For more Information see:https://creativecommons.org/licenses/by/3.0
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Regieren Algorithmen? Über den sanften
Einfluss algorithmischer Modelle
Janosik Herder
Universität Osnabrück
Die gegenwärtige sozial- und kulturwissenschaftliche Kritik an Algo-
rithmen bezieht sich vor allem auf zwei Aspekte: Dass Algorithmen,
erstens, grundsätzlich auf subjektiven Vorstellungen und Vorurteilen
beruhen, und dass sie, zweitens, meist im Verborgenen operieren.
Wenig beachtet wird dabei die Frage, welchen politischen Einfluss
Algorithmen eigentlich haben. Um den politischen Einfluss von Algo-
rithmen zu verstehen, schlage ich Michel Foucaults Perspektive der
Gouvernementalität vor. Die politische Bedeutung algorithmischer
Modelle besteht dieser Perspektive nach gerade darin, dass sie das
tun, was eigentlich dem liberalen Staat vorbehalten ist, nämlich die
Bevölkerung zu regieren. Unternehmen wie Google oder Facebook,
die weitverbreitete und potente algorithmische Modelle besitzen,
sind – so mein Schluss – ›gouvernementale‹ Unternehmen, die die
staatlichen Regierungsinstanzen vor grundlegende Fragen stellen.
1. Einleitung
Vor zehn Jahren hätten wahrscheinlich nur Fachleute mit dem Be-
griff ›Algorithmus‹ etwas anfangen können. Das hat sich schlagartig
geändert: Spätestens mit der Idee einer algorithmisch produzierten
180
Echokammer oder Filterblase,1 die die Utopie der universellen Öf-
fentlichkeit der Webpioniere fundamental infrage stellte, wurde aus
den Verheißungen der Automatisierung und Computerisierung ein
allgemein verständliches Problem.2 Nicht nur bei der Google-Suche
und auf der Timeline von Facebook fällen algorithmische Modelle
automatische Entscheidungen, auch in anderen Bereichen des Le-
bens, der Kreditvergabe etwa, kommen wir täglich mit Algorithmen
in Kontakt. Immer leistungsfähiger, undurchsichtiger und weitrei-
chender scheinen algorithmische Modelle zu werden, immer größer
ihre ›öffentliche Relevanz‹.3 Heute ist ein verbreitetes Unbehagen
mit dem Konzept des Algorithmus verbunden. Aber worin genau be-
steht dieses Unbehagen eigentlich? Und wie können wir das Politi-
sche dieses Unbehagens theoretisch fassen?
Ich denke, es gibt gute Gründe über die politische Bedeutung algo-
rithmischer Modelle nachzudenken. Um zwei Dinge zu vermeiden,
ist es allerdings entscheidend, das Problem zunächst in einen sinn-
vollen theoretischen Kontext zu stellen: Erstens besteht ohne theo-
retischen Rahmen die Gefahr, auf der deskriptiven Ebene zu bleiben
und die Modelle und ihre Wirkung lediglich zu beschreiben. Und
zweitens besteht die Gefahr, lediglich der ›kalifornischen Ideologie‹4
derjenigen zu folgen, die diese Modelle selbst produzieren. Ich
schlage deshalb vor, die politische Bedeutung der Modelle im Rah-
men der vom französischen Philosophen Michel Foucault verfolgten
Analyse von Regierungspraktiken und -techniken zu untersuchen.
Diese Perspektive erlaubt es, eine grundlegende Frage zu stellen:
Regieren Algorithmen? Und wenn ja: Was heißt das eigentlich? Die
1 Pariser, 2012 2 Morozov, 2012 3 Gillespie, 2014 4 Scholz, 2014; Turner, 2006; Barbrook & Cameron, 1995
181
provokante Antwort dieses Beitrags lautet: Ja, potente und weitver-
breitete algorithmische Modelle und die Unternehmen, die sie besit-
zen und bereitstellen, üben eine Form von Macht aus, die klassi-
scherweise dem modernen liberalen Staat obliegt. Das bedeutet,
dass Unternehmen wie Google, Apple, Facebook oder Amazon mit
Michel Foucault gesprochen als ›gouvernementale‹ Unternehmen
gelten können. Die staatliche Regierungspraxis gerät dabei entwe-
der in Widerspruch oder Komplizenschaft mit den algorithmischen
Modellen und den Unternehmen, die sie besitzen.
Ich werde im Folgenden zunächst knapp die kritische Diskussion
über den politischen Einfluss von Algorithmen rekonstruieren und
auf eine wichtige Leerstelle hinweisen. Anschließend führe ich die
Perspektive Foucaults ein und stelle über die Idee des Nudging einen
Bezug zum Wirken algorithmischer Modelle her. Abschließend re-
flektiere ich die zentrale Forderung der kritischen Diskussion über
Algorithmen – die Forderung nach transparenten oder ethischen Al-
gorithmen. Die Forderung, so mein Fazit, trifft nicht den politischen
Kern, weil auch transparente oder ethische Modelle eine Machtwir-
kung entfalten können, die klassischerweise dem liberalen Staat ob-
liegt. Wir müssen deshalb anders über das Politische algorithmi-
scher Modelle nachdenken.
2. Weapons of Math Destruction
Was sind Algorithmen? In der sozial- und kulturwissenschaftlichen
Forschung zu Algorithmen gibt es keine eindeutige Definition. Al-
gorithmen werden häufig als versteckte und mächtige Mechanismen
aufgefasst, die großen Einfluss auf unser Leben haben und sich
gleichzeitig nicht oder nicht vollkommen nachvollziehen lassen. Die
Problematik digitaler Algorithmen ergibt sich zu einem Großteil tat-
sächlich aus ihrer Intransparenz, die für Außenstehende selbst dann
182
schwer aufzulösen ist, wenn der Quelltext offen einsehbar ist – was
er im Fall der wirkmächtigen Algorithmen von Google oder Facebook
zudem nicht ist. Das Problem besteht aber auch in ihrem politischen
und sozialen Einfluss, der schwerer zu fassen ist. Um wesentliche
Elemente der Algorithmen-Kritik besser nachvollziehen zu können,
ist es hilfreich, zunächst den Begriff des Modells einzuführen.
In den meisten Fällen, in denen Algorithmen heute zum Gegenstand
des Interesses werden, handelt es sich um Algorithmen innerhalb
eines Modells. Das Modell ist eine bestimmte Art und Weise, ein
Problem zu operationalisieren und in bestimmte Arbeitsschritte zu
zerlegen. Erst dann kann ein Algorithmus diese im Modell festgeleg-
ten Arbeitsschritte zur Problemlösung tatsächlich umsetzen. Tarle-
ton Gillespie erinnert zu Recht an das wichtige Verhältnis von Mo-
dell und Algorithmus:
»An algorithm is a recipe composed in programmable steps;
most of the ›values‹ that concern us lie elsewhere in the tech-
nical systems and the work that produces them. For its design-
ers, the algorithm comes only after the generation of a ›model‹.
The model is the formalization of a problem and its goal, artic-
ulated in computational terms.« 5
Der Algorithmus setzt lediglich um, was im Modell spezifiziert
wurde. Wir können etwa sagen, dass der Algorithmus, der bei der
Google-Suche tatsächlich für das Ordnen von Ergebnissen zuständig
ist, nur ausführt, was im gesamten Modell als Suchvorgang spezifi-
ziert wurde. Im Suchmodell hat Google quasi festgelegt, was Suchen
eigentlich heißt. Es muss nämlich zunächst bestimmt werden, auf
welche Weisen gesucht und wie Ergebnisse geordnet werden sollen.
Ein solches Modell beantwortet immer auch sehr ›philosophische‹
Fragen, zum Beispiel: Was ist ein relevantes Suchergebnis? Was
5 Gillespie, 2016, S. 19
183
sucht der oder die Suchende wirklich? Wie funktioniert Suchen? Das
Modell muss diese Fragen oder Probleme technisch formulieren. Der
Algorithmus setzt die im Modell gemachten Annahmen dann in Er-
gebnisse um. Fast immer, wenn gegenwärtig von Algorithmen die
Rede ist, geht es eigentlich um Modelle, ihre Spezifizierung und ihre
algorithmische Ausführung.
Die wissenschaftliche und öffentliche Auseinandersetzung mit Al-
gorithmen ist in den vergangenen Jahren kritischer geworden. Die
Vorstellung, ein Algorithmus, der eine bestimmte Auswahl automa-
tisch trifft, sei neutral oder die Kriterien, nach denen er diese Aus-
wahl trifft, lediglich technische Kriterien, ist heute zunehmend
schwerer zu vermitteln. Im vergangenen Jahr hat die Mathematike-
rin Cathy O’Neil diese kritische Wendung der Diskussion mit dem
Titel ihres Buches auf den Punkt gebracht: Algorithmen sind für sie
Weapons of Math Destruction, also ›Mathevernichtungswaffen‹. Al-
gorithmen können sich ihrer Kritik nach negativ auf das Leben von
Individuen und Kollektiven auswirken. Wir können O’Neils Argu-
mentation – exemplarisch für die Argumentation vieler kritischer
Arbeiten6 – in drei Schritte zerlegen: Erstens sind die negativen Wir-
kungen, die Algorithmen entfalten können, menschengemacht, weil
Algorithmen von Personen mit Vorstellungen und Vorurteilen pro-
grammiert werden; die Auswirkungen sind, zweitens, nur schwer
nachvollziehbar, weil Algorithmen häufig als Geheimnisse von Un-
ternehmen behandelt werden; und negative Wirkungen können,
drittens, umfassend sein, weil Algorithmen mittlerweile flächende-
ckend Anwendung finden.
Der erste Schritt der Kritik an Algorithmen ist einleuchtend. Die Mo-
delle, von denen Algorithmen ein Teil sind, müssen von Menschen
6 Für eine gute Übersicht über einige kritische Arbeiten zu Algorithmen siehe
Ziewitz, 2016; Barocas, Hood & Ziewitz, 2013.
184
spezifiziert werden. Larry Page und Sergey Brin, die Erfinder der
Google-Suche, mussten sich also zu einem bestimmten Zeitpunkt
überlegen, was Suchen für sie heißt. Die Google-Suche basiert also
in gewisser Hinsicht auf den ursprünglichen Designentscheidungen,
Werten und Vorstellungen von Page und Brin. Diese Entscheidun-
gen finden ihren Ausdruck im Modell der Google-Suche. »Some of
these choices«, schreibt Cathy O’Neil dazu, »were no doubt made with
the best intentions. Nevertheless, many of these models encode human
prejudice, misunderstanding, and bias into the software systems that
increasingly manage our lives«.7 Was uns zunächst als technisches
System gegenübertritt, ist eigentlich eine bewusste Konstruktion –
eine Art und Weise ein Problem oder eine Frage zu operationalisie-
ren oder zu beantworten. Jedes Modell ist, so die Kritik, notwendig
subjektiv - oder zugespitzt: »Models are opinions embedded in mathe-
matics«.8
Der zweite Schritt lässt sich von hier aus ebenfalls leicht nachvoll-
ziehen. Die Einsicht in diese algorithmischen Modelle ist entschei-
dend, um ihren Einfluss zu bewerten. Wie etwa ließe sich prüfen, ob
das Modell der Google-Suche durch bestimmte Vorannahmen beein-
flusst wird? Wie lässt sich grundsätzlich einschätzen, ob der Algo-
rithmus beim Sortieren von Ergebnissen bestimmte Einträge syste-
matisch diskriminiert? Dazu müsste das Modell einsehbar sein oder
zumindest in einer bestimmten Form erklären können, was es ei-
gentlich tut. Die hier behandelten Algorithmen sind allerdings
durch das geistige Eigentum geschützt und nicht einsehbar – ihre
Einsehbarkeit würde etwa im Fall der Google-Suche das Geschäfts-
modell gefährden. Deshalb bleiben viele Algorithmen geheim, ihre
Funktion kann höchstens durch die Analyse der Ergebnisse nach-
träglich vermutet werden. Wie viele andere fordert Frank Pasquale
7 O’Neil, 2017, S. 3 8 O’Neil, 2017, S. 21
185
in seinem Buch ›The Black Box Society‹ deshalb die Möglichkeit, al-
gorithmische Modelle einsehen und nachvollziehen zu können:
»Without knowing what Google actually does when it ranks
sites, we cannot assess when it is acting in good faith to help
users, and when it is biasing results to favor its own commercial
interests«.9
Im Gegensatz zu diesen beiden Schritten ist der letzte Punkt der Kri-
tik weit weniger naheliegend. Der letzte Schritt des Arguments lau-
tet, dass die Effekte algorithmischer Modelle verheerend und umfas-
send sein können. Einige Modelle, so die Kritik, üben auf eine be-
stimmte, negative und umfassende Weise Einfluss aus. Dieser
Schritt ist weniger leicht nachzuvollziehen als die Tatsache, dass
viele Modelle versteckt sind und auf subjektiven Vorstellungen und
Vorurteilen basieren. Das Argument ist nicht nur, dass Modelle Ein-
fluss haben, weil sie weit verbreitet sind, etwa ein standardmäßig
genutztes Modell zur Bewertung der Kreditwürdigkeit. Sie haben vor
allem Einfluss, weil sie etwas ›tun‹. So zeigt O’Neil, dass algorithmi-
sche Modelle die Dinge performativ herstellen, die sie eigentlich
messen sollen – so wird etwa die Punktewertung, die ein Modell über
die Kreditwürdigkeit einer Person generiert, selbst zur Kreditwür-
digkeit. Das, was das Modell messen und in Form von Punkten nur
ausdrücken soll, wird zur Kreditwürdigkeit selbst: »Instead of sear-
ching for the truth, the scores come to embody it«.10 Die Aussagen von
Algorithmen wirken der Argumentation nach für Menschen und In-
stitutionen präskriptiv. Sie sind sich selbst erfüllende Prophezeiun-
gen, die soziale Realitäten konstruieren.
9 Pasquale, 2015, S. 9 10 O’Neil, 2017, S. 7
186
3. Das moderne Regierungsdenken
Wenn wir die Effekte von algorithmischen Modellen verstehen wol-
len, dann brauchen wir einen analytischen Rahmen, der die Wir-
kungsebene der Modelle in den Blick nimmt. Der Einfluss der Mo-
delle ist schwer zu fassen: Sie wirken sowohl auf den Einzelnen, der
aktiv oder passiv mit den Modellen interagiert und z.B. personali-
siert adressiert wird. Algorithmische Modelle wirken aber auf Grund
ihrer Skalierbarkeit gleichzeitig auch auf alle, da alle, die ein be-
stimmtes Modell nutzen oder von einem Modell adressiert werden,
gleichermaßen von ihm beeinflusst werden. Schließlich wirken die
Modelle eher weich oder sogar unmerklich, unter anderem weil viele
von ihnen im Hintergrund wirken oder auf freiwilliger Nutzung be-
ruhen. Was also machen algorithmische Modelle? Oder anders ge-
fragt: Wie beeinflussen uns diese Modelle?
Ich schlage vor, den Einfluss der algorithmischen Modelle mit dem
Begriff der Regierung zu fassen. Aber dafür müssen wir uns zunächst
ein Verständnis erarbeiten, was überhaupt Regierung als Modus des
Handelns sein soll. Der Regierungsbegriff, den ich vorschlage, geht
auf Foucault zurück. Die Schlüsselthemen der Arbeiten Foucaults
sind Macht, Wissen und Subjektivität. Seine zentrale These über
Macht, dass sie nämlich von überall komme, nicht von oben nach
unten verlaufe und nicht nur von den Herrschenden über die Unter-
gebenen ausgeübt werde, hat in den 1970er Jahren für Aufsehen ge-
sorgt. Mit seinen Überlegungen über die ›Mikrophysik der Macht‹11
hat sich Foucault vor allem gegen die einfache Vorstellung von sou-
veräner Macht gestellt, die in gewissem Sinne das Modell des Kö-
nigs, der über seine Untertanen herrscht, bis heute als einziges Mo-
dell von politischer Macht akzeptiert. In der politischen Theorie, so
11 Foucault, 1994, S. 38
187
Foucaults berühmte Aussage, sei der Kopf des Königs noch nicht ge-
rollt.12 Für Foucault kann Macht tatsächlich sehr unterschiedliche
Formen annehmen und auf unterschiedliche Weisen ausgeübt wer-
den.
In seinen Vorlesungen in den Jahren 1978 und 1979 wendete sich
Foucault in seinen Untersuchungen mit dem Begriff der ›Gouverne-
mentalität‹ dem modernen Staat zu und stellt sich die Frage, wie der
moderne Staat Macht ausübt. In einer historischen Rekonstruktion
zeigt Foucault, dass der moderne (neo-)liberale Staat eine neue Art
und Weise entwickelt hat, Macht auszuüben. Diese Art und Weise
unterscheidet sich von der souveränen Macht der Könige ebenso wie
von der disziplinarischen Macht eines preußischen Verwaltungs- o-
der Policeystaates. Der moderne Staat zeichnet sich für Foucault
durch drei Momente aus: Die Form der Macht ist das Regieren; das
Objekt der Regierung ist die Bevölkerung; und das Mittel der Regie-
rung ist die politische Ökonomie. So resümiert Foucault:
»Was ich Ihnen auf jeden Fall zeigen wollte, war die tiefe ge-
schichtliche Verbindung zwischen der Bewegung, welche die
Konstanten der Souveränität hinter das nun wichtigste Prob-
lem der guten Regierungsentscheidungen zurückfallen läßt, so-
dann der Bewegung, welche die Bevölkerung als eine Gegeben-
heit, als ein Interventionsfeld, als das Ziel der Regierungstech-
niken erkennen läßt, und schließlich der Bewegung, welche die
Ökonomie als spezifischen Wirklichkeitsbereich und die politi-
sche Ökonomie zugleich als Wissenschaft und Interventions-
technik der Regierung in diesem Wirklichkeitsfeld isoliert. Es
sind, denke ich, diese drei Bewegungen: Regierung, Bevölke-
12 Foucault, 2003, S. 200
188
rung, politische Ökonomie, die wohlgemerkt seit dem 18. Jahr-
hundert eine dauerhafte Serie bilden, die auch heute noch nicht
aufgelöst ist.«13
Das, was wir heute als modernen liberalen Staat bezeichnen, ist für
Foucault das Ergebnis einer historischen Entwicklung von bestimm-
ten Erkenntnissen und Wissensfeldern (etwa dem Wissen über die
Bevölkerung und deren Wohlstand) und der Entwicklung von be-
stimmten Praktiken (etwa der Statistik, der öffentlichen Gesund-
heit). Wenn wir uns fragen, was das Spezifische an der modernen
Politik ist, dann müssen wir nach Foucault diese historisch entstan-
dene Form untersuchen. »Auch die Politik im engeren Sinne der Re-
gierung von Subjekten«, so fasst Martin Saar Foucaults These zu-
sammen, »ist eine moderne ›Erfindung‹, die von neuen Medien der
Machtausübung und neuen Vorstellungen über die Regierbarkeit
von Menschen abhängt«14.
Der etwas kryptische Begriff der ›Gouvernementalität‹ (vom franzö-
sischen ›gouverner‹ und dem englischen ›to govern‹) gibt einen Hin-
weis darauf, dass das kennzeichnende Merkmal der modernen Staat-
lichkeit das Regieren ist. Foucault rekonstruiert die Idee der Regie-
rung historisch und zeigt, dass der Begriff sehr lange Zeit keine ex-
klusiv politische Bedeutung hatte. Regieren war »weder mit staatli-
chen Institutionen identisch noch auf das politische System be-
schränkt, sondern bezog sich auf die unterschiedlichsten Formen
der Führung von Menschen«.15 Heute allerdings ist der Begriff der
Regierung fest mit der Tätigkeit des Staates verknüpft. Im Gegensatz
zur königlichen Herrschaft und der disziplinarischen Ordnung geht
13 Foucault, 2006a, S. 161–162 14 Saar, 2007, S. 35 15 Lemke, Krasmann & Bröckling, 2000, S. 10
189
es bei der Regierung darum, die Regierten als Handelnde anzuerken-
nen. Regieren bezeichnet den Versuch, auf das Handeln der Regier-
ten einzuwirken, ohne dabei die Freiheit der Regierten vollständig
zu negieren. Die Regierung »bietet Anreize, verleitet, verführt, er-
leichtert oder erschwert, sie erweitert Handlungsmöglichkeiten oder
schränkt sie ein, sie erhöht oder senkt die Wahrscheinlichkeit von
Handlungen, und im Grenzfall erzwingt oder verhindert sie Hand-
lungen, aber stets richtet sie sich auf handelnde Subjekte, insofern
sie handeln oder handeln können. Sie ist auf Handeln gerichtetes
Handeln«.16 Mit anderen Worten: Regierung bezeichnet den unab-
lässigen Versuch, das Handeln von freien Subjekten zu beeinflussen,
zu lenken und zu steuern, ohne dabei die Freiheit von Subjekten auf-
zuheben.17
Wichtig ist für Foucault, dass der moderne Staat nur deshalb diese
Form der Machtausübung entwickeln konnte, weil sich ein neues
Ziel für die Praktiken der Regierung gebildet hat: die Bevölkerung.
Mit dem Aufkommen der Statistik im 18. Jahrhundert entstand für
die Regierungspraxis die Bevölkerung als Interventionsfeld, das sich
durch Kennziffern wie Sterberate, Geburtenrate, Gesundheit, Bil-
dung usw. auszeichnete. Ohne die Bevölkerung als zumindest sta-
tistische Realität hätte die Regierung keinen Adressaten für ihre Re-
gierungstätigkeit gehabt. Die Bevölkerung tritt »schlechthin als der
höchste Zweck der Regierung zutage; denn was mag im Grunde ge-
16 Foucault, 2005b, S. 286 17 Für Foucaults Argument über den historischen Ursprung dieser Machtform im
christlichen Pastorat, auf den ich hier nicht näher eingehe, siehe neben
Foucault selbst vor allem Bröckling, 2017, S. 15–45. Auch gehe ich hier nicht
genauer auf den von Foucault genannten Aspekt der politischen Ökonomie
ein, den er in Form des Neo- und Ordoliberalismus vor allem im zweiten Teil
der Vorlesungen zur Gouvernementalität behandelt, siehe Foucault, 2006b.
190
nommen der Zweck dieser letzteren sein? Sicherlich nicht zu regie-
ren, sondern das Geschick der Bevölkerung zu verbessern, ihre
Reichtümer, ihre Lebensdauer, ihre Gesundheit zu mehren«.18
Wir können also festhalten, dass Regieren für Foucault die charak-
teristische Form der Machtausübung moderner liberaler Staaten ist.
Das Objekt der Regierung ist die Bevölkerung, die Machtausübung
ist deshalb zugleich individualisierend und totalisierend – sie wirkt
zugleich auf die Einzelnen und die Bevölkerung.19 Nehmen wir etwa
sozialstaatliche Maßnahmen wie die Einführung einer allgemeinen
Krankenversicherung oder öffentlicher Kinderbetreuung: Regieren
heißt hier, sowohl den Einzelnen zu beeinflussen, der plötzlich ver-
sichert ist oder Kinderbetreuung erhält, als auch Effekte auf der
Ebene der Bevölkerung zu erzielen (etwa eine niedrigere Sterberate,
höhere Geburtenrate etc.). Diese Form der Machtausübung ist für
Foucault im Kern das, was demokratische, liberale Staaten auszeich-
net: Der Staat regiert die Bevölkerung.
4. Regieren Algorithmen?
Auch abseits der explizit an Foucault anschließenden Gouverne-
mentalitätsstudien hat sich das Regierungsparadigma verbreitet.
Die Idee eines ›libertären Paternalismus‹, der vor allem von den Ver-
haltensökonomen Cass Sunstein und Richard Thaler vorgeschlagen
wurde, nimmt die Grundidee des Regierungsparadigmas indirekt
auf. Was Foucault als charakteristische Machtform des modernen
Staates bezeichnet, heißt für den libertären Paternalismus
Nudging.20 Mit der Idee des Nudging wollen die Autoren den Wider-
spruch zwischen der freien Entscheidung von Individuen und dem
18 Foucault, 2006a, S. 158 19 Foucault, 2005a 20 Thaler & Sunstein, 2009
191
Einfluss auf diese Entscheidungen lösen – ein Nudge, so die Idee,
lenkt zwar das Verhalten von Individuen, aber er schränkt dabei
nicht ihre Freiheit ein. Wenn man davon ausgeht, dass sich Men-
schen zwar gut verhalten wollen, aber es nicht immer schaffen, dann
ist es keine Beschneidung ihrer Freiheit, ihnen dabei zu ›helfen‹ sich
›richtig‹ zu entscheiden. Deshalb ist ein freiheitlicher Paternalismus
für Sunstein und Thaler kein Oxymoron.21 Man muss in den meisten
Fällen nur ganz sanft auf das Handeln der Menschen einwirken, um
in der Summe einen großen positiven Effekt zu erzielen. Möchte
man etwa die gesunde Ernährung an der Schule fördern – so ein be-
liebtes Beispiel der Vertreter – reicht es schon, das Obst in der Aus-
lage der Mensa nach vorne zu legen und den Pudding nach hinten zu
stellen.22 Ohne die Freiheit der Einzelnen eingeschränkt zu haben,
konnten die Menschen zu einer besseren, gesünderen Entscheidung
gelenkt werden.
Egal wer nudgt – ob der Staat oder Unternehmen – die Idee des
Nudging entspricht ziemlich genau dem, was Foucault als charakte-
ristische Form der Machtausübung des modernen Staates bestimmt
hat: Es ist auf Handeln einwirkendes Handeln, das im besten Fall
nicht nur das Verhalten von Individuen beeinflusst, sondern auch
zum Ziel hat, Effekte auf der kollektiven Ebene (Bevölkerung, Beleg-
schaft, Schülerschaft etc.) zu produzieren. Nudging richtet sich
ebenso wie staatliches Regieren auf den Wohlstand des kollektiven
Akteurs, wie die vielen Beispiele von Sunstein und Thaler zeigen: Es
geht in jedem Fall darum, gesünder zu leben, Geld zu sparen oder
für das Alter vorzusorgen. Der libertäre Paternalismus kann weich
und fast unbemerkt das Leben von Menschen durch leichtes ›An-
stupsen‹ beeinflussen.23
21 Sunstein & Thaler, 2003 22 Thaler & Sunstein, 2003, S. 175 23 Bröckling, 2017, S. 189
192
Der Zusammenhang von Foucaults Regierungsperspektive und der
Idee des Nudging ist trotz der gebotenen Kürze der Rekonstruktion
bereits an dieser Stelle in zwei Hinsichten bemerkenswert. Erstens
nimmt die Bedeutung des Nudging in dem Maße zu, in dem statisti-
sche Wissensbestände nicht mehr exklusiv dem Staat zugänglich
sind. Mit der Verbreitung von Computern und Sensoren sowie der
Entwicklung und Nutzung des Internets werden vielfältige statisti-
sche Daten produziert und nutzbar auch für nichtstaatliche Instan-
zen. Nudging braucht Daten über das Verhalten einer Population,
anders als im 19. und 20. Jahrhundert sind diese Informationen
heute in vielen Fällen nicht mehr allein dem Staat vorbehalten.
Zweitens ist nicht nur ein präzises Wissen über diejenigen nötig, die
beeinflusst werden sollen, sondern es muss auch Gelegenheiten ge-
ben, sie zu beeinflussen. An der Schnittstelle dieser zwei Feststel-
lungen kommen die algorithmischen Modelle ins Spiel. Sie können
heute, erstens, mit einer Unmenge von Daten umgehen – nichts An-
deres ist die Einsicht des schillernden Begriffs Big Data. Und zwei-
tens schafft die allgemeine Verbreitung, Nutzung und Vernetzung
von Computern zahllose Möglichkeiten, genudged zu werden. »Je
mehr Spuren jemand hinterlässt«, so schließt Ulrich Bröckling,
»desto präzisere Stupser können die selbstlernenden Maschinen set-
zen, und desto genauer erkennen die Einzelnen ihre Präferenzen da-
rin wieder. Jeder bekommt, was er will, nach Maßgabe dessen, was
er bis jetzt gewollt hat«.24 Was die Diskussion zum Nudging grundle-
gend zeigt, ist, dass heute nicht nur der Staat regieren kann, sondern
im Grunde jeder, der die entsprechenden Mittel besitzt (Daten, po-
tente Modelle und Zugang zur Population).
Um zur Ausgangsfrage – Regieren Algorithmen? – zu kommen,
möchte ich das Beispiel der Google-Suche anführen. Die von Google
24 Bröckling, 2017, S. 193
193
bereitgestellte Suchmaschine ist vielleicht das Modell, mit dem
Menschen am meisten interagieren. Obwohl der genaue Wortlaut
des von Google entwickelten Algorithmus ›PageRank‹ geheim ist, ist
bekannt, dass es auf einem einfachen Prinzip aufbaut: der Rele-
vanz.25 Immer wenn eine Suchanfrage bei Google eingegeben wird,
entscheidet ein Algorithmus darüber, was als Ergebnis der Anfrage
angezeigt wird. Der Erfolg der Suchmaschine von Google beruht da-
rauf, dass während der Suche gewertet wird, welche der gefundenen
Seiten relevant sind. Die Platzierung (Relevanz) eines Links in der
Ergebnisreihenfolge ergibt sich aus seiner Gewichtung (PageRank),
die wiederum anhand einer speziellen Methode aus der Verlin-
kungsstruktur im World Wide Web abgeleitet wird.
Die Bedeutung der Verbreitung und des Erfolgs der Suchmaschine
von Google wird zumeist auf zwei Weisen bewertet. Einmal wird der
mit der Suchmaschine eingeläutete kulturelle Wandel benannt. Die
Google-Suche hat einen Wandel hin zu einer Kultur der Suche initi-
iert, der unseren Zugriff auf Wissen grundsätzlich verändert hat.26
Wissen und die Praxis der Suchanfrage werden in diesem Kulturwan-
del zunehmend synonym. Zweitens haben bereits im Jahr 2000 He-
len Nissenbaum und Lucas Introna auf die politischen Effekte des
Modells der Google-Suche hingewiesen. Für sie sorgt die hegemoni-
ale Stellung, die die Google-Suche hat, dafür, dass die Dinge, die in
der Suche nicht gefunden werden, praktisch nicht existieren. Das In-
ternet wird gewissermaßen identisch mit dem, was die Google-Su-
che als relevante Ergebnisse ausgibt. Sie schließen: »what people (the
seekers) are able to find on the Web determines what the Web consists
of for them«.27 Die politische Bedeutung der Google-Suche besteht
also in der performativen Konstruktion von (gesellschaftlicher)
25 Pasquale, 2015, S. 64; in rudimentärer Form: Brin & Page, 1998 26 Hillis, Petit & Jarrett, 2013 27 Introna & Nissenbaum, 2000, S. 171
194
Wirklichkeit, die O’Neil ebenfalls für die Wertung von Modellen zur
Kreditvergabe zeigt: Statt die Google-Suche als einen Zugriff auf das
im Internet befindliche Wissen zu begreifen und die Ergebnisse so
einzuschätzen, werden die Ergebnisse selbst zu dem Wissen, das sie
eigentlich nur abbilden sollen.
Obgleich das kulturelle und das politische Argument überzeugend
sind, lässt die Regierungsperspektive noch einen grundlegenderen
Schluss zu: Das Modell der Google-Suche lenkt unsere Aufmerksam-
keit mehr oder weniger weich auf die als relevant eingestuften Er-
gebnisse einer Suchanfrage. Google tritt hier als wohlwollender In-
formationsdienstleister auf, der zweifellos ein für die meisten Men-
schen nützlichen Service anbietet. Das Nudging der Google-Suche ist
jedoch offensichtlich: Alle Ergebnisse zu einer bestimmten Suchan-
frage sind für uns potenziell einsehbar – aber wir werden durch die
Spezifizierung des Modells und die Funktion des Algorithmus darauf
gelenkt, zunächst oder ausschließlich (je nach individueller Aus-
dauer) die als relevant gewichteten Ergebnisse zur Kenntnis zu neh-
men. Damit kommt der Google-Suche aber auch ein beispielloses
Steuerungsvermögen zu, das bislang zu wenig beachtet wurde. Mitt-
lerweile nutzt die Google-Suche unzählige weitere Regierungsmo-
mente, etwa die Anzeige von Suchvorschlägen oder bestimmte Stan-
dardeinstellungen abhängig von der Suchhistorie oder dem Stand-
ort.
5. Das Problem mit der Forderung nach
ethischen Algorithmen
Bevor wir die politischen Implikationen der Regierungsperspektive
für die Kritik algorithmischer Modelle diskutieren, möchte ich auf
die Forderung nach ethischen Algorithmen in der kritischen Diskus-
sion über algorithmische Modelle eingehen. »We have to explicitly
195
embed better values into our algorithms«, fordert etwa O’Neil, »crea-
ting Big Data models that follow our ethical lead. Sometimes that will
mean putting fairness ahead of profit«.28 Die Forderung nach ethi-
schen Algorithmen findet sich gegenwärtig vor allem in zwei For-
men. Am häufigsten findet sie sich als Forderung nach Transparenz.
Transparenz ist, wie Mike Ananny anmerkt, die Forderung, Modelle
überhaupt auf ihre, auch ethischen, Implikationen einschätzen zu
können.29 Da die völlige Transparenz von algorithmischen Modellen
konträr zu der gegenwärtigen Praxis großer Unternehmen steht, die
ihre Modelle wie Staatsgeheimnisse behandeln, hat sich eine zweite
Forderung nach der Erklärbarkeit algorithmischer Entscheidungen
entwickelt. In einem jüngst erschienen Artikel zeigen Finale Doshi-
Velez und Andere, dass es grundsätzlich möglich ist, eine Art Re-
chenschaftsschicht oder -funktion in Modelle einzubauen, die, ohne
die Geheimnisse der Algorithmen preiszugeben, erklärt, wie be-
stimmte Ergebnisse der Modelle zustande gekommen sind.30
Die Utopie hinter dieser Forderung ist, dass wir im Zweifelsfall Er-
klärungen für automatisch getroffene Entscheidungen erhalten.
Entweder dadurch, dass die Modelle ›befragt‹ werden können und
Rechenschaft über ihr Handeln geben. Oder dadurch, dass ihre
Funktionsprinzipien vollkommen transparent sind. Diese Tatsache
kennen wir vor allem von freier Software, bei der jede und jeder den
Quelltext von Anwendungen einsehen kann, etwa beim Betriebssys-
tem Linux oder dem Webbrowser Firefox. Genau hier liegt allerdings
das Problem der Forderung nach ethischen Algorithmen. Wenn wir
noch einmal die drei Schritte der Kritik an den Weapons of Math De-
struction bemühen – sie sind vorurteilsbehaftet, versteckt und um-
28 O’Neil, 2017, S. 204; auch: Kraemer u. a., 2011 29 Ananny, 2016 30 Doshi-Velez u. a., 2017
196
fassend –, dann löst die Forderung nach ethischen Algorithmen al-
lein die ersten beiden Probleme. Es lassen sich verzerrende oder dis-
kriminierende Aspekte der Modelle aufzeigen und das Wirken der
Modelle wird transparenter. Allerdings können auch ethische oder
transparente Modelle weiterhin umfassende gesellschaftliche Wir-
kungen entfalten. Der Einfluss der Modelle wird durch die Transpa-
renz oder ihr ethisches Design keineswegs geschmälert.
Wenn wir als Grundproblem die ›Regierungstätigkeit‹ algorithmi-
scher Modelle nehmen, dann löst weder die Transparenz noch das
ethische Design das Problem, dass Google mit der Google-Suche die
Möglichkeit hat, im globalen Maßstab auf eine große Zahl von Men-
schen Einfluss zu nehmen. Dieses Grundproblem sieht auch O’Neil
die feststellt, dass Facebook ein großes Machtpotenzial über politi-
sche Entscheidungen besitzt.31 Obgleich die Unternehmen über ihre
Modelle die Macht hätten, politische Prozesse bewusst und miss-
bräuchlich zu ihrem eigenen Gunsten entscheidend zu beeinflussen,
gibt es nach O’Neil bislang noch keine Anzeichen dafür, dass sie dies
auch tatsächlich tun würden. Aber ebenso wenig, wie sich das
Machtpotenzial des Staates durch den letztendlichen Rückgriff auf
das Gewaltmonopol realisiert, so wenig besteht die Macht von
Google oder Facebook darin, durch ihre Dienste bewusst den Aus-
gang von Wahlen in ihrem Interesse zu beeinflussen. Die Bedeutung
der Modelle besteht vielmehr in der faktischen und sanften Regie-
rung, also Lenkung der Nutzenden.
Die Regierungsperspektive nach Foucault erlaubt uns, die Macht des
liberalen Staates als die Regierung der Bevölkerung zu verstehen.
31 O’Neil, 2017, S. 181. Für das in dieser Hinsicht interessante, vieldiskutierte
Beispiel des Micro Targeting auf Facebook während der US-Präsidentschafts-
wahl 2016 durch das Unternehmen Cambridge Analytica siehe Nosthoff &
Maschewski, 2017.
197
Mit den Überlegungen zum Nudging können wir sehen, wie dieses
Regieren seine staatliche Exklusivität einbüßt. Vor dem Hinter-
grund potenter algorithmischer Modelle, die auf einen schier un-
endlichen Fundus an Daten zurückgreifen können, entsteht die
Möglichkeit, diese Macht des liberalen Staates etwa auf Unterneh-
men wie Google oder Facebook zu übertragen. Genau hierin besteht
die fundamentale politische Bedeutung dieser Modelle, die perfor-
mativ gesellschaftliche Wirklichkeit konstruieren können, wie Lucas
Introna noch einmal herausstellt: »Their actions are not just in the
world, they make worlds«.32 Dieser politische Einfluss wird durch
Ethik und Transparenz nicht berührt. Entscheidend ist somit, was
wir mit Foucault als ›Gouvernementalisierung‹ von Unternehmen
wie Google oder Facebook bezeichnen können. Das heißt, dass Un-
ternehmen, die im Besitz verbreiteter algorithmischer Modelle sind,
zunehmend das tun, was eigentlich dem modernen Staat vorbehal-
ten war, nämlich die Regierung ihrer ›Bevölkerung‹, die Regierung
ihrer ›Nutzerschaft‹.33
6. Schluss
Was bedeutet es zu behaupten, dass Algorithmen oder algorithmi-
sche Modelle regieren, und zwar sanft und ohne großen Lärm?34 Ich
32 Introna, 2016, S. 27 33 Intronas Arbeit ebenso wie andere Arbeiten, die versuchen die Gouver-
nementalität von Algorithmen zu bestimmen, etwa Borch, 2017; Flyverbom,
Madsen & Rasche, 2017; Aradau & Blanke, 2017, konzentrieren sich sehr
stark auf die konkrete ›Regierungswirkung‹ von bestimmten Modellen ohne
die historische Dimension von Foucaults Argument zu reflektieren.
Interessanter als zu zeigen, dass bestimmte Modelle als gouvernementale
Regierungspraktiken verstanden werden können, ist doch die Frage, was
genau es politisch bedeutet, wenn diese Modelle Einfluss gewinnen. 34 Bunz, 2012
198
möchte abschließend nur auf eine von vielen Konsequenzen zu spre-
chen kommen, nämlich auf das Verhältnis von staatlicher Regierung
und der Regierung durch private Unternehmen wie Google. Aus ei-
ner demokratietheoretischen Perspektive, die Foucault zweifellos
fern liegt, lässt sich auf die zentrale Diskrepanz zwischen einer de-
mokratisch legitimierten staatlichen und einer ökonomisch legiti-
mierten privaten Form der Regierung hinweisen. Während die Re-
gierung demokratischer Staaten durch bestimmte Verfahren legiti-
miert wurde, ist die Regierung durch Google oder Facebook nicht de-
mokratisch legitimiert. Im letzteren Fall ließe sich lediglich darauf
verweisen, dass ihre Nutzung zumindest theoretisch nicht alterna-
tivlos ist und von Individuen ›frei‹ gewählt wird. Es gibt Alternativen
zu Google und Facebook. Das Problematische an dieser Überlegung
stellen jedoch aktuelle Arbeiten zum Plattformkapitalismus oder der
Plattformökonomie heraus. Ein Vorschlag in dieser Diskussion lau-
tet, Unternehmen wie Google und Facebook grundsätzlich als Platt-
formen zu verstehen, die versuchen, in einem bestimmten Bereich
eine Monopolstellung zu erreichen. Sobald das Unternehmen oder
der Service eines Unternehmens einen kritischen Punkt überschrei-
tet und sich als Plattform etabliert, ist sie praktisch alternativlos.35
Frank Pasquale hat in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen,
dass die Strategie der Plattformen eben genau darin besteht, nicht
als Marktteilnehmer aufzutreten, sondern als Regulatoren oder eben
Regierungen.36
Wir sehen hier, wie die konkrete Machtform der Regierung, die sich
bei algorithmischen Modellen mit sehr hohem Verbreitungsgrad
zeigt, demokratietheoretisch zunehmend problematisch wird. Algo-
rithmische Modelle wie das der Google-Suche treten in Konkurrenz
35 Srnicek, 2017; Kenney & Zysman, 2016; Langley & Leyshon, 2016; auch
Lovink, 2017 36 Pasquale, 2016, S. 314-315
199
zur staatlichen Regierung, weil beide im Endeffekt darauf zielen,
ihre Bevölkerung oder ›Nutzerschaft‹ zu regieren. Das Bereitstellen
von konkreten Services durch private Akteure erhält eine besondere
politische Relevanz, wenn diese Services ihrer tatsächlichen Nut-
zung und Bedeutung nach den Charakter öffentlicher Infrastruktu-
ren erlangen. Gerade mit Foucault können wir sehen, dass es hier
um eine wirkliche Machtverschiebung geht. Wenn wir den moder-
nen Staat als ›Regierungsstaat‹ betrachten, der die tatsächliche Re-
gierung der Bevölkerung zum Gegenstand hat, dann sehen wir, wie
und warum algorithmische Modelle und die Unternehmen, die sie
besitzen, zur Konkurrenz der staatlichen oder öffentlichen Regie-
rung werden.
Für die Kritik algorithmischer Modelle, die wir hier als Weapons of
Math Destruction untersucht haben, heißt das, nicht allein auf die
diskriminierenden oder versteckten Aspekte der Modelle zu
schauen. Vielmehr müssen wir über die politische Wirkung der Mo-
delle sprechen. Wir müssen etwa darüber nachdenken, unter wel-
chen Bedingungen algorithmische Modelle mit einer bestimmten
Reichweite und Wirkmacht entwickelt und angewendet werden soll-
ten. Und: Sollten sie außerhalb von öffentlichen oder genossen-
schaftlichen Strukturen existieren? Wenn das Geschäftsmodell von
›gouvernementalen‹ Unternehmen wie Google darin besteht, ihre al-
gorithmischen Modelle als öffentliche Infrastruktur zu etablieren,
dann muss man dieses Ansinnen vielleicht ernst nehmen und sie tat-
sächlich als öffentliche Infrastruktur institutionalisieren. Das hieße
aber auch, das Politische nicht der technischen Entwicklung und ei-
ner ›Ethik der Machbarkeit‹ unterzuordnen, sondern zunächst die
Frage zu stellen, wie wir leben wollen.
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Danksagung
Für hilfreiche Anmerkungen und Hinweise zu früheren Versionen
dieses Beitrags danke ich Alex Janßen, Clelia Minnetian, Malte Möck
und Frederik Metje.
Über den Autor
Janosik Herder
Janosik Herder hat in Bremen und Göteborg Politikwissenschaft stu-
diert. Er ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Osna-
brück im Arbeitsgebiet Politische Theorie. Seine Forschungsschwer-
punkte sind neuere politische Theorie, Poststrukturalismus und Kri-
tische Theorie. In seiner Dissertation beschäftigt er sich aus genea-
logischer Perspektive mit Informationstheorie, Kybernetik und
Kryptographie und fragt nach dem Politischen des informationellen
Denkens.