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Mit Texten von: Ahne, Bov Bjerg, Daniela Böhle, Uli Hannemann, Jakob Hein, Falko Hennig, Wladimir Kaminer, Manfred Maurenbrecher, Sarah Schmidt, Heiko Werning, Jürgen Witte AM Besten Was Neues 15 Jahre Reformbühne Heim & Welt Voland & Quist MIT AUDIO-CD

Reformbühne Heim & Welt - 15 Jahre Reformbühme - Am besten was Neues

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Leseprobe aus "15 Jahre Reformbühne Heim & Welt - Am besten was Neues"

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Die Reformbühne Heim & Welt ist die dienstälteste aktive Lesebühne, seit 1995 findet sie ohne Unter-brechung statt. Jeden Sonntag kann man sie nach der Tagesschau im Berliner Kaffee Burger live erleben. Gegründet von Bov Bjerg, Hans Duschke, Manfred Maurenbrecher, Michael Stein und Jürgen Witte besteht sie jetzt aus Ahne, Uli Hannemann, Jakob Hein, Falko Hennig, Heiko Werning und Jürgen Witte, zwischendurch gehörten auch Sarah Schmidt, Wladimir Kaminer und Daniela Böhle dazu.

Auf CD: Die Reformbühne live im Kaffee Burger www.reformbuehne.de | www.voland-quist.de

1. Jakob Hein – Intro2. Jürgen Witte – Reiches Arschloch3. Heiko Werning – Und mit den Clowns kamen die Tränen4. Ahne – Zwiegespräche mit Gott – heute: Wer schläft, sündigt nicht5. Uli Hannemann – Weihnachtsfilm6. Jakob Hein – Irgendein Künstler7. Falko Hennig – Die Wartburg- Gang und die Schwalben8. Uli Hannemann – Wie ich mal jemandem geholfen hab9. Ahne – Vorwärtsverteidigung10. Heiko Werning – Warten auf den Angriff11. Falko Hennig – Cowboy-Kunst12. Jürgen Witte – Ich habe jetzt auch eine Praktikantin13. Jakob Hein – Outro

Gesamtspielzeit: 75 min

Foto: Tim Jockel

Die Reformbühne Heim & Welt besteht aus (v.l.n.r.): Jakob Hein, Jürgen Witte, Falko Hennig, Heiko Werning, Ahne und Uli Hannemann.

Mit Texten von: Ahne, Bov Bjerg, Daniela Böhle, Uli Hannemann,

Jakob Hein, Falko Hennig, Wladimir Kaminer, Manfred Maurenbrecher, Sarah Schmidt,

Heiko Werning, Jürgen Witte

AMBesten

WasNeues

15 Jahre ReformbühneHeim & Welt

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Voland

& Quist

MIT AUDIO-CD

EUR 14,90 (D) ISBN 978-3-938424-54-4

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Uli Hannemann ...............Rückfahrt 96Heiko Werning ................Schlimmste Nächte:

Los Angeles 98Sarah Schmidt ................. Ich muss zelten 103Jürgen Witte ....................Manchmal sehe ich nachts auch den

Fuchs aus dem Stadtpark, wenn er meine Straße entlangkommt und durch das Viertel streift 106

Uli Hannemann ...............Kein Herzschlag am Potsdamer Platz 108

Falko Hennig ...................Bärchenfunk 110Ahne ................................Der Einbürgerungstest 115Jakob Hein ....................... Im Grunde lächerlich 119Uli Hannemann ...............Drinnen sind nur Kännchen 122Heiko Werning ................Und mit den Clowns kamen

die Tränen 124Ahne ................................Die mittlere Lebenskrise 128Jürgen Witte ....................Wie ist das Leben, wenn man 50

ist? 130Uli Hannemann ...............Zwei Märchen 133Jakob Hein ....................... Im Feierabendheim

»Howard Carpendale« 135

Vorwort

»Wie kommen euch eigentlich die Ideen?« »Wann habt ihr mit dem Schreiben angefangen?« »Könnt ihr davon leben?«

Diese drei Fragen werden jedem Mitglied der Reformbühne Heim & Welt, so oder in umgekehrter Reihenfolge, am häufigs-ten gestellt. Damit sich das in Zukunft ändert, hier die ultimative Antwort:

Am Anfang war das Licht. Oder irgendwas anderes. So genau kann das keiner wissen, weil, es war ja niemand dabei. Jedenfalls keiner von uns. Jedenfalls kann sich keiner von uns dran erinnern. Aber im Februar 1995 entstand die Reformbühne Heim & Welt. Oder war es im Januar? ’94? ’96? Man traf sich gemütlich zu Kaffee und Kuchen und dachte sich diesen wunderschönen Na-men aus. Reformbühne Heim & Welt. Ist doch schön, oder? Was man überhaupt wollte, war damals nicht so wichtig. Es herrschte ja Anarchie in Berlin. Alle Häuser waren besetzt, kein Mensch bezahlte irgendetwas, die Kinder machten, was sie wollten und jeder ging mit jedem ins Bett. Natürlich auch jede mit jeder oder jeder mit jede, das war vollkommen schnuppe damals. Es gab ja noch keine Trennung der Geschlechter, die Polizei hatte nichts zu sagen und Twix hieß noch Raider.

Arbeiter waren wir. Einfache Menschen aus Schrot und Korn. Wir waren Bauern. Kamen vom Land. Unsere Häute gegerbt von der Sonne. Aber wir waren auch Finanzbeamte, Schülerlotsen, Meerjungfrauen, Spinner, jedenfalls einige von uns, und das schweißt bekanntlich zusammen. Zu Anfang tranken wir immer nur Kaffee und aßen Kuchen, aber dann kam jemand auf die Idee, auch mal Pizza mitzubringen. Mal was anderes. Wir wa-ren Punker, aber mit natürlichen Haaren. Wir liebten die Natur. Jeden Morgen pflückte einer von uns einen Strauß Blumen und spendete ihn für Afrika, denn Solidarität ist die Zärtlichkeit der Völker, und wenn jemand zärtlich war, dann ja wohl wir! Jeden-falls vor der Rechtschreibreform. Die kam 1998. Oder kam sie erst 2002? Wir dagegen kamen von weit weg, oder von direkt

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um die Ecke, je nachdem, wo wir vorher gerade gewesen waren, denn wir saßen ja nicht immer nur zu Hause rum, auch wenn manche das behaupteten, aber die hatten ja wohl gar keine Ah-nung, die Trottel!

Zur Reformbühne Heim & Welt gehörten und gehören: Ahne, Bov Bjerg, Daniela Böhle, Falko Hennig, Hans Duschke, Heiko Werning, Jakob Hein, Jürgen Witte, Manfred Maurenbrecher, Michael Stein, Sarah Schmidt, Uli Hannemann und Wladimir Kaminer.

Unser aktuelles Ensemble hat, an wirklich jedem Sonntag, um 20.15 Uhr im Berliner Kaffee Burger mit Text und Ton das Ohr am Zahn der Zeit. In der Regel sogar mit einem musikali-schen und einem literarischen Gast und selbstverständlich mit jeder Menge Ernst und Spaß. Die ersten fünf, die das hier lesen, kriegen übrigens ein Freigetränk. Völlig abgedrehte Freaks kön-nen uns natürlich auch in der anderen Welt besuchen, unter www.reformbuehne.de.

PS: Ach so, die Antwort auf die drei Fragen haben wir ganz vergessen. Sie lautet: Ja.

Falko Hennig

Wie ich mal eine Sportzeitung redigierte

Viele Chancen hatte ich mir nicht ausgerechnet, als ich mich auf den Hinweis eines früheren Schriftsetzerkollegen um die Urlaubs-vertretung des Schlussredakteurs einer Sportzeitung bewarb. Ich hatte Sport eigentlich immer gehasst und seit Jahrzehnten selbst die Tagesschau ausgeschaltet, sobald Sportberichte kamen.

Ich wusste ziemlich genau, woher mein Hass auf Sport kam, es hatte mit meinen Eltern zu tun, die Sportlehrer waren, und dadurch, dass ich Sport hasste, musste ich sie nicht hassen, eine elegante Lösung. Jetzt allerdings konnte sich dieses Lebensprin-zip als Hindernis meiner Karriere erweisen.

Wahrheit ist ein sehr wertvolles Gut, deshalb sollte man spar-sam damit umgehen. Ich schrieb meinen Lebenslauf um und verwandelte mich darin in einen perfekten Sportlehrersohn, der alle Sportarten, Spiele und Weltmeisterschaften akribisch verfolgt und wissenschaftlich analysiert hatte. Der Redakteur rief mich an und lud mich zum Vorstellungsgespräch ein.

Zu meinem Glück suchte er sehr dringend eine Vertretung, da er die einzige tägliche Sportzeitung gegründet, sie seitdem bei Zigaretten, Kaffee und Alkohol bis zur Erschöpfung geleitet hatte und sein erster, dringend nötiger Erholungsurlaub ohne entsprechenden Stellvertreter scheitern würde. Er hatte sich eine Reihe nervöser Macken zugelegt, über die ich während des Be-werbungsgesprächs großzügig hinwegsah.

Ich bekam den Job, als ich ihm die Anzahl der deutschen und amerikanischen Goldmedaillen bei den Olympischen Spielen 1936 korrekt referieren konnte, eine zufällige Kennt-nis aus meiner aktuellen Charles-Bukowski-Forschung. Wen es interessiert: Deutschland 33, USA 24. Heute sei sein letzter Ar-beitstag, morgen mein erster. Ich durfte ihm assistieren, er stell-te mir verschiedene Redakteure und Autoren vor und schärfte mir ein: »Es geht um die Spätredaktion, also um den letzten Blick

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um die Ecke, je nachdem, wo wir vorher gerade gewesen waren, denn wir saßen ja nicht immer nur zu Hause rum, auch wenn manche das behaupteten, aber die hatten ja wohl gar keine Ah-nung, die Trottel!

Zur Reformbühne Heim & Welt gehörten und gehören: Ahne, Bov Bjerg, Daniela Böhle, Falko Hennig, Hans Duschke, Heiko Werning, Jakob Hein, Jürgen Witte, Manfred Maurenbrecher, Michael Stein, Sarah Schmidt, Uli Hannemann und Wladimir Kaminer.

Unser aktuelles Ensemble hat, an wirklich jedem Sonntag, um 20.15 Uhr im Berliner Kaffee Burger mit Text und Ton das Ohr am Zahn der Zeit. In der Regel sogar mit einem musikali-schen und einem literarischen Gast und selbstverständlich mit jeder Menge Ernst und Spaß. Die ersten fünf, die das hier lesen, kriegen übrigens ein Freigetränk. Völlig abgedrehte Freaks kön-nen uns natürlich auch in der anderen Welt besuchen, unter www.reformbuehne.de.

PS: Ach so, die Antwort auf die drei Fragen haben wir ganz vergessen. Sie lautet: Ja.

Falko Hennig

Wie ich mal eine Sportzeitung redigierte

Viele Chancen hatte ich mir nicht ausgerechnet, als ich mich auf den Hinweis eines früheren Schriftsetzerkollegen um die Urlaubs-vertretung des Schlussredakteurs einer Sportzeitung bewarb. Ich hatte Sport eigentlich immer gehasst und seit Jahrzehnten selbst die Tagesschau ausgeschaltet, sobald Sportberichte kamen.

Ich wusste ziemlich genau, woher mein Hass auf Sport kam, es hatte mit meinen Eltern zu tun, die Sportlehrer waren, und dadurch, dass ich Sport hasste, musste ich sie nicht hassen, eine elegante Lösung. Jetzt allerdings konnte sich dieses Lebensprin-zip als Hindernis meiner Karriere erweisen.

Wahrheit ist ein sehr wertvolles Gut, deshalb sollte man spar-sam damit umgehen. Ich schrieb meinen Lebenslauf um und verwandelte mich darin in einen perfekten Sportlehrersohn, der alle Sportarten, Spiele und Weltmeisterschaften akribisch verfolgt und wissenschaftlich analysiert hatte. Der Redakteur rief mich an und lud mich zum Vorstellungsgespräch ein.

Zu meinem Glück suchte er sehr dringend eine Vertretung, da er die einzige tägliche Sportzeitung gegründet, sie seitdem bei Zigaretten, Kaffee und Alkohol bis zur Erschöpfung geleitet hatte und sein erster, dringend nötiger Erholungsurlaub ohne entsprechenden Stellvertreter scheitern würde. Er hatte sich eine Reihe nervöser Macken zugelegt, über die ich während des Be-werbungsgesprächs großzügig hinwegsah.

Ich bekam den Job, als ich ihm die Anzahl der deutschen und amerikanischen Goldmedaillen bei den Olympischen Spielen 1936 korrekt referieren konnte, eine zufällige Kennt-nis aus meiner aktuellen Charles-Bukowski-Forschung. Wen es interessiert: Deutschland 33, USA 24. Heute sei sein letzter Ar-beitstag, morgen mein erster. Ich durfte ihm assistieren, er stell-te mir verschiedene Redakteure und Autoren vor und schärfte mir ein: »Es geht um die Spätredaktion, also um den letzten Blick

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auf die Zeitungsseiten vor dem Druck, um noch das Schlimmste zu verhindern.« Ich war gegen Mitternacht froh, den glücklichen Mann in seinen wohlverdienten Urlaub abreisen zu sehen.

Als ich meinen Freunden von meinem Job erzählte, sahen sie mich ungläubig an: »Aber du hast doch überhaupt keine Ahnung von Sport!«

Ich konnte nur mitleidig erwidern: »Als Schriftsteller kann man sich leicht in fremde Welten einfühlen.« Mittags ging ich in die Redaktion in einem Hochhaus in Berlin und machte mich nützlich. Um 23.30 Uhr waren alle Redakteure im Feierabend und meine eigentliche Arbeit begann. Die Druckerei war verär-gert, weil ich es mit meinem Gewissen nicht vereinbaren konn-te, ihnen die von Fehlern wimmelnden Seiten zu senden. Ich hatte viel zu tun, es war erstaunlich, welche Unmengen von Stilblüten und grammatikalischen Schnitzern die lieben Kolle-gen in ihre Texte geschrieben hatten, von denen »Sie spielten auf Schalke« noch eine Kleinigkeit war. Immer wieder rief die Druckerei an und verlangte zunehmend dringender die fertigen Zeitungsseiten, aber gerade an meinem ersten Arbeitstag woll-te ich nicht schlampig sein, sondern der Presse ein Vorbild an Sorgfalt liefern und die Sportzeitung zu neuen Erfolgen führen.

Um vier Uhr morgens war ich endlich durch und hatte, wie es meine Aufgabe war, das Schlimmste verhindert. Ich fuhr sehr glücklich über die gelungene Arbeit nach Hause.

Am nächsten Tag rasierte ich mich sorgfältig, ließ mir aber ei-nen Schnauzbart stehen und bleichte meine Haare, außerdem kaufte ich mir einen weißen Anzug. So angemessen gekleidet kam ich zur Redaktion, wo Männer, Knaben und Paare am Ein-gang standen. Ich hörte einige sagen: »Das ist er!«, und andere: »Seht mal, die Augen!«

Das schmeichelte mir natürlich und ich tat so, als nehme ich die Aufmerksamkeit nicht wahr, aber innerlich freute ich mich doch. Auch in der Redaktion waren nicht nur die Redakteure und Autoren der aktuellen Ausgabe versammelt, sondern auch viele andere Neugierige. Und auch dort ging ein Rumoren durch die Gruppe, als ich eintrat. Einer der Autoren sprach mich an:

»Wir sind uns gestern nicht begegnet, ich habe den Leitartikel über die Bundesliga geschrieben, den Sie rausgeworfen und durch Ihren eigenen ersetzt haben.« Er nahm die Sportzeitung hervor und las aus meinem Artikel vor: »›Fußball ist ein schöner Vogel, aber bei der Aufzucht muss man beachten, dass er norma-lerweise erst in seiner Brunftzeit schlüpft und die Eier nur im Juni eingeführt werden dürfen. Im Winter muss er in einem warmen Raum gehalten werden, wo er seine Jungen großziehen kann.‹ Kommt Ihnen dieser Text bekannt vor?«

»Selbstverständlich, ich habe ihn ja geschrieben.«»Dann gehört auch das dazu?«, er las wieder vor: »›Einen aus-

gewachsenen Fußball zu zähmen ist nützlich, weil er verspielt und ein guter Rattenfänger ist.‹« Ich stimmte zu: »Dieser Aspekt kam mir tatsächlich bei Ihrem Leitartikel zu kurz.« Er nickte und sagte: »Ich danke Ihnen für Ihre offenen Worte, ich war bis eben der Überzeugung, dass ich unter einer nachhaltigen Sinnestäu-schung litt.« Ich freute mich, dem Kollegen so mühelos Erleichte-rung verschafft zu haben. Ein anderer hatte zugehört und fragte:

»Wieso haben Sie bei Leichtathletik ›Stabhochsprung‹ in ›Sta-pellauf‹ geändert? Es gibt keinen Stapellauf in der Leichtathle-tik!«

»Ich bin froh, etwas frische Luft in die Redaktion zu bringen. Und vielleicht kann ich ergänzen: Noch nicht!« Die Reihen teil-ten sich und der Redakteur, den ich im Urlaub wähnte, trat auf mich zu: »Haben Sie schon einmal in einer Sportredaktion ge-arbeitet?«

»Nein«, sagte ich, »es ist mein erster Versuch in diese Rich-tung.« Er nahm die Zeitung, und auch er kam nicht umhin, aus meinen bemerkenswerten Texten zu rezitieren: »›Statt die Ten-nisbälle durch Taucher vom Grunde der Seen zu holen, wäre es viel praktischer und auch schöner fürs Auge, sie von jungen, gut gewachsenen Frauen pflücken zu lassen.‹ Tennisbälle schwim-men, Seen sind sehr selten in der Nähe von Tennisplätzen!« Ich spürte einen Vorwurf in seinen Worten und sprach: »Das ist doch bildlich gemeint, eine Metapher. Eher meinte ich, dass doch im-mer fünf bis sechs Mitglieder eines Tennis-Teams sich um die

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auf die Zeitungsseiten vor dem Druck, um noch das Schlimmste zu verhindern.« Ich war gegen Mitternacht froh, den glücklichen Mann in seinen wohlverdienten Urlaub abreisen zu sehen.

Als ich meinen Freunden von meinem Job erzählte, sahen sie mich ungläubig an: »Aber du hast doch überhaupt keine Ahnung von Sport!«

Ich konnte nur mitleidig erwidern: »Als Schriftsteller kann man sich leicht in fremde Welten einfühlen.« Mittags ging ich in die Redaktion in einem Hochhaus in Berlin und machte mich nützlich. Um 23.30 Uhr waren alle Redakteure im Feierabend und meine eigentliche Arbeit begann. Die Druckerei war verär-gert, weil ich es mit meinem Gewissen nicht vereinbaren konn-te, ihnen die von Fehlern wimmelnden Seiten zu senden. Ich hatte viel zu tun, es war erstaunlich, welche Unmengen von Stilblüten und grammatikalischen Schnitzern die lieben Kolle-gen in ihre Texte geschrieben hatten, von denen »Sie spielten auf Schalke« noch eine Kleinigkeit war. Immer wieder rief die Druckerei an und verlangte zunehmend dringender die fertigen Zeitungsseiten, aber gerade an meinem ersten Arbeitstag woll-te ich nicht schlampig sein, sondern der Presse ein Vorbild an Sorgfalt liefern und die Sportzeitung zu neuen Erfolgen führen.

Um vier Uhr morgens war ich endlich durch und hatte, wie es meine Aufgabe war, das Schlimmste verhindert. Ich fuhr sehr glücklich über die gelungene Arbeit nach Hause.

Am nächsten Tag rasierte ich mich sorgfältig, ließ mir aber ei-nen Schnauzbart stehen und bleichte meine Haare, außerdem kaufte ich mir einen weißen Anzug. So angemessen gekleidet kam ich zur Redaktion, wo Männer, Knaben und Paare am Ein-gang standen. Ich hörte einige sagen: »Das ist er!«, und andere: »Seht mal, die Augen!«

Das schmeichelte mir natürlich und ich tat so, als nehme ich die Aufmerksamkeit nicht wahr, aber innerlich freute ich mich doch. Auch in der Redaktion waren nicht nur die Redakteure und Autoren der aktuellen Ausgabe versammelt, sondern auch viele andere Neugierige. Und auch dort ging ein Rumoren durch die Gruppe, als ich eintrat. Einer der Autoren sprach mich an:

»Wir sind uns gestern nicht begegnet, ich habe den Leitartikel über die Bundesliga geschrieben, den Sie rausgeworfen und durch Ihren eigenen ersetzt haben.« Er nahm die Sportzeitung hervor und las aus meinem Artikel vor: »›Fußball ist ein schöner Vogel, aber bei der Aufzucht muss man beachten, dass er norma-lerweise erst in seiner Brunftzeit schlüpft und die Eier nur im Juni eingeführt werden dürfen. Im Winter muss er in einem warmen Raum gehalten werden, wo er seine Jungen großziehen kann.‹ Kommt Ihnen dieser Text bekannt vor?«

»Selbstverständlich, ich habe ihn ja geschrieben.«»Dann gehört auch das dazu?«, er las wieder vor: »›Einen aus-

gewachsenen Fußball zu zähmen ist nützlich, weil er verspielt und ein guter Rattenfänger ist.‹« Ich stimmte zu: »Dieser Aspekt kam mir tatsächlich bei Ihrem Leitartikel zu kurz.« Er nickte und sagte: »Ich danke Ihnen für Ihre offenen Worte, ich war bis eben der Überzeugung, dass ich unter einer nachhaltigen Sinnestäu-schung litt.« Ich freute mich, dem Kollegen so mühelos Erleichte-rung verschafft zu haben. Ein anderer hatte zugehört und fragte:

»Wieso haben Sie bei Leichtathletik ›Stabhochsprung‹ in ›Sta-pellauf‹ geändert? Es gibt keinen Stapellauf in der Leichtathle-tik!«

»Ich bin froh, etwas frische Luft in die Redaktion zu bringen. Und vielleicht kann ich ergänzen: Noch nicht!« Die Reihen teil-ten sich und der Redakteur, den ich im Urlaub wähnte, trat auf mich zu: »Haben Sie schon einmal in einer Sportredaktion ge-arbeitet?«

»Nein«, sagte ich, »es ist mein erster Versuch in diese Rich-tung.« Er nahm die Zeitung, und auch er kam nicht umhin, aus meinen bemerkenswerten Texten zu rezitieren: »›Statt die Ten-nisbälle durch Taucher vom Grunde der Seen zu holen, wäre es viel praktischer und auch schöner fürs Auge, sie von jungen, gut gewachsenen Frauen pflücken zu lassen.‹ Tennisbälle schwim-men, Seen sind sehr selten in der Nähe von Tennisplätzen!« Ich spürte einen Vorwurf in seinen Worten und sprach: »Das ist doch bildlich gemeint, eine Metapher. Eher meinte ich, dass doch im-mer fünf bis sechs Mitglieder eines Tennis-Teams sich um die

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Kugeln kümmern könnten, die ja sonst doch immer im Abseits vor den Löchern stehen.« Der Redakteur brauchte wirklich sehr dringend einen Erholungsurlaub, seine nervösen Macken hatten noch zugenommen.

»Ich frage mich, wie Sie recherchieren, zum Beispiel hier: ›Paul Breitner wird immer ein Gigant in den Annalen der Formel-1-Rennen bleiben, auch wenn bei einer Fahrt sein Bruder ver-schwand und die Fachleute keinen Zweifel daran haben, dass er ihn aufgegessen hat.‹ Woher haben Sie Ihre Kenntnisse?«

»Ich kann dabei auf mein umfangreiches Allgemeinwissen zu-rückgreifen. Und Paul Breitner ist mein großes Idol, seitdem er 1980 für die DDR die Vierschanzentournee gewann.« Er wirkte aufgebracht.

»Ich breche meinen Urlaub ab, ich habe genug davon, dass Sie unter der Rubrik ›Wasserball‹ schreiben: ›Ob es regnet oder nicht, spielt beim jährlichen Wasserball in der Kongresshalle keine Rolle, wenn sich die wichtigsten Vertreter der deutschen Presse treffen. Hauptsache, es wird wie immer das Tanzbein geschwungen.‹ Oder Ihre Einlassungen zum Eishockey, wonach der Puck still liegen bleibt, wenn man ihm Musik vorspielt. Das ist zwar zutreffend, aber völlig überflüssig, Pucks bleiben immer still liegen, wenn sie nicht geschlagen werden. Ihre Bemerkung, wonach die Zukunft des Schachs in Esperanto liegt, muss diese Zeitung ruinieren, auch wenn die aktuelle Ausgabe eine verkauf-te Rekordauflage hat. Ich muss meinen Urlaub verschieben, ich kann es nicht ertragen, dass Sie noch mal Hockey unter der Rub-rik ›Malerei‹ behandeln! Sie sind entlassen! Wieso haben Sie mir nicht gesagt, dass Sie von Sport keinerlei Ahnung haben?«

Nun war meine Geduld zu Ende: »Ich arbeite seit 20 Jah-ren im Zeitungsgewerbe und Sie wollen mir erzählen, dass ein Redakteur irgendwelche Kenntnisse besitzen muss? Wer verfasst denn die Theaterkritiken? Hoffnungslose Trinker, Obdachlose und Müllfahrer. Wer rezensiert denn Bücher? Leute wie ich, die noch nie eines geschrieben haben. Wer schreibt denn für Sportzeitungen? Autoren, die in sämtlichen anderen Bereichen gescheitert sind und für die eine Sportzeitung der letzte Ausweg

vor der Arbeitslosigkeit ist. Sie wissen doch genau, je weniger Ahnung man hat, desto höher ist das Gehalt, das man bekommt. Ich wäre längst berühmt, wenn ich nur unwissend statt gebildet, wenn ich unverschämt statt bescheiden gewesen wäre!«

Ich schwieg einen Augenblick, doch fügte dann noch hinzu: »Ich kündige! Ich hätte alle Bevölkerungsschichten für Ihre Zei-tung interessieren können. Noch eine Woche, und ich hätte die verkaufte Auflage verdoppelt. Ich hätte der Sportzeitung die bes-ten Leser beschafft, die eine solche Zeitung überhaupt haben kann. Niemand von ihnen hätte Fußball von Marathon unter-scheiden können. Aber Sie wollen es anders und weiter in Ihrem eigenen Fett schmoren. Auf Wiedersehen, Sie Flachzange.« So schritt ich davon, als Sieger.

Aufmerksame Leser werden es bemerkt haben, die vorstehende Geschichte ist eine Hommage an den amerikanischen Humoris-ten Mark Twain. Twain ließ sich durch seine journalistische Praxis zur Skizze »Wie ich eine landwirtschaftliche Zeitung herausgab« inspirieren, Falko Hennig von dieser Skizze und seiner Tätigkeit bei der Sport-BZ.

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Kugeln kümmern könnten, die ja sonst doch immer im Abseits vor den Löchern stehen.« Der Redakteur brauchte wirklich sehr dringend einen Erholungsurlaub, seine nervösen Macken hatten noch zugenommen.

»Ich frage mich, wie Sie recherchieren, zum Beispiel hier: ›Paul Breitner wird immer ein Gigant in den Annalen der Formel-1-Rennen bleiben, auch wenn bei einer Fahrt sein Bruder ver-schwand und die Fachleute keinen Zweifel daran haben, dass er ihn aufgegessen hat.‹ Woher haben Sie Ihre Kenntnisse?«

»Ich kann dabei auf mein umfangreiches Allgemeinwissen zu-rückgreifen. Und Paul Breitner ist mein großes Idol, seitdem er 1980 für die DDR die Vierschanzentournee gewann.« Er wirkte aufgebracht.

»Ich breche meinen Urlaub ab, ich habe genug davon, dass Sie unter der Rubrik ›Wasserball‹ schreiben: ›Ob es regnet oder nicht, spielt beim jährlichen Wasserball in der Kongresshalle keine Rolle, wenn sich die wichtigsten Vertreter der deutschen Presse treffen. Hauptsache, es wird wie immer das Tanzbein geschwungen.‹ Oder Ihre Einlassungen zum Eishockey, wonach der Puck still liegen bleibt, wenn man ihm Musik vorspielt. Das ist zwar zutreffend, aber völlig überflüssig, Pucks bleiben immer still liegen, wenn sie nicht geschlagen werden. Ihre Bemerkung, wonach die Zukunft des Schachs in Esperanto liegt, muss diese Zeitung ruinieren, auch wenn die aktuelle Ausgabe eine verkauf-te Rekordauflage hat. Ich muss meinen Urlaub verschieben, ich kann es nicht ertragen, dass Sie noch mal Hockey unter der Rub-rik ›Malerei‹ behandeln! Sie sind entlassen! Wieso haben Sie mir nicht gesagt, dass Sie von Sport keinerlei Ahnung haben?«

Nun war meine Geduld zu Ende: »Ich arbeite seit 20 Jah-ren im Zeitungsgewerbe und Sie wollen mir erzählen, dass ein Redakteur irgendwelche Kenntnisse besitzen muss? Wer verfasst denn die Theaterkritiken? Hoffnungslose Trinker, Obdachlose und Müllfahrer. Wer rezensiert denn Bücher? Leute wie ich, die noch nie eines geschrieben haben. Wer schreibt denn für Sportzeitungen? Autoren, die in sämtlichen anderen Bereichen gescheitert sind und für die eine Sportzeitung der letzte Ausweg

vor der Arbeitslosigkeit ist. Sie wissen doch genau, je weniger Ahnung man hat, desto höher ist das Gehalt, das man bekommt. Ich wäre längst berühmt, wenn ich nur unwissend statt gebildet, wenn ich unverschämt statt bescheiden gewesen wäre!«

Ich schwieg einen Augenblick, doch fügte dann noch hinzu: »Ich kündige! Ich hätte alle Bevölkerungsschichten für Ihre Zei-tung interessieren können. Noch eine Woche, und ich hätte die verkaufte Auflage verdoppelt. Ich hätte der Sportzeitung die bes-ten Leser beschafft, die eine solche Zeitung überhaupt haben kann. Niemand von ihnen hätte Fußball von Marathon unter-scheiden können. Aber Sie wollen es anders und weiter in Ihrem eigenen Fett schmoren. Auf Wiedersehen, Sie Flachzange.« So schritt ich davon, als Sieger.

Aufmerksame Leser werden es bemerkt haben, die vorstehende Geschichte ist eine Hommage an den amerikanischen Humoris-ten Mark Twain. Twain ließ sich durch seine journalistische Praxis zur Skizze »Wie ich eine landwirtschaftliche Zeitung herausgab« inspirieren, Falko Hennig von dieser Skizze und seiner Tätigkeit bei der Sport-BZ.

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Ahne

Proll maskiert

Seit Tagen schon ist der Drucker kaputt. Jedenfalls leuchtet da so ein Lämpchen. Ein gelbes Lämpchen geht da immer an und aus, im Wechsel. Seit zehn Tagen schon. Das Lämpchen blinkt für gewöhnlich, wenn kein Papier mehr drin oder Papier verklemmt ist oder verknüllt, wobei man wahrscheinlich zerknüllt sagt, nor-malerweise, aber ich finde verknüllt passt ganz gut zu verklemmt, aber wollen wir mal nicht zu formal werden hier. Mein Drucker ist kaputt.

Ich selber bin ja auch Drucker. Ich habe jedenfalls mal Drucker gelernt. Offset-Drucker. Ein sehr schlechter Offset-Drucker bin ich gewesen, nicht, weil ich die Lehre nur mit vier abgeschlossen habe, da guckt später keiner mehr drauf, versicherten sie mir bei der Prüfungskommission, nein, ich hab mich auch später bei der Arbeit äußerst ungeschickt angestellt. Es war einfach nicht mein Ding, die schweren Walzen, der ganze Technikkram, den man wissen musste. Welche Walze gehört nun auf welche Walze und welche Walze muss dann auf welche Walzen noch obendrauf. Und dann sollte man da mit dem 17er die Schraube festziehen und aber die andere Schraube nicht zu fest und da einen Spalt lassen aber da muss dann noch die Folie und dann gibst du drei Flächen … musst du nach rechts ziehen und links zwei Flächen hoch und … ich hab das irgendwie alles längst vergessen.

Am liebsten bin ich Frühstück holen gegangen, damals. Und aufs Klo. Manchmal saß ich stundenlang auf dem Klo, bis der Meister persönlich gekommen ist und an die Tür gewummert hat. Ich bin da oft auch eingeschlafen, auf dem Lokus. Ich war auch Meister im Krankfeiern. Alle vier Wochen hatte ich was Schlimmes. Was mit dem Magen. Geschwür, vermutlich. Das dauerte immer ein paar Wochen, und zwischen den Geschwü-ren diverse Zipperlein, erkältet oft, Angina, Kopfschmerzen. Burn-out-Syndrom gab es ja damals noch nicht. Das wäre die

ideale Krankheit für mich gewesen. Da hätte ich nicht mal was vorspielen müssen, da hätte ein Gedanke an die Arbeit genügt und ich wäre voll geburngeoutet gewesen. So musste ich meist meine Mimik einsetzen, beim Arzt. Man wird übrigens auch krankgeschrieben, wenn sich die Freundin von einem getrennt hat, zumindest, wenn sie sich in hinterhältiger Art und Weise von einem getrennt hat. Bei mir reihte sich damals eine tragische Beziehungskrise an die andere, wenigstens, wenn man meine Krankenakte studierte.

Leidensmienen, darin war ich ganz groß. Das übte ich zu Hau-se vor dem Spiegel. Wir mussten ja unseren Krankenschein im-mer persönlich vorbeibringen, im Betrieb. Da bedurfte es schon gewisser schauspielerischer Fähigkeiten, wenn man mittags um eins in den Drucksaal schritt und die sauberen Kollegen sich vor Lachen bogen: »Na, biste krank?« Man konnte schließlich nicht einfach mitlachen. Das fand der Meister selten nur komisch. Und der Abteilungsleiter erst, der nach der Schicht sogar manchmal das FDJ-Hemd überzog. Der nahm das doch alles ernst hier, mit dem Wettbewerb und so: »Meine Hand für mein Produkt«, »Plan-erfüllung Ehrensache«, »Auf, auf zum X. Parteitag«. Der hätte mich doch glatt als konterrevolutionäres Element enttarnt, was wahr-scheinlich auch nicht weiter schlimm gewesen wäre, wir benö-tigten ja damals jeden Mann. Exorbitanter Krankenstand, wenn ihr versteht, was ich meine. Ich war beileibe keine Ausnahme.

Wenn ich mal nicht krank machte oder auf dem Klo saß, dann kam ich zu spät. Ich verschlief besonders gerne, besonders lan-ge. 5.45 Uhr war normalerweise Frühschichtbeginn, ich aber trudelte meist so gegen halb zwölf erst ein. Als Ausrede hatte ich dann parat, dass ich ein altes Mütterchen über die Straße brin-gen musste oder wir Gas gekriegt hätten, für unsere Gasheizung. Ich weiß nicht, ob sie mir die Ausreden jedes Mal abnahmen, aber was sollten sie tun? Rausschmeißen konnten sie mich nicht. Dazu hätte man sich schon mit der DDR-Fahne den Arsch ab-wischen oder Zeuge Jehovas werden müssen. »Na, haste die BZ am Abend mitjebracht?« war der übliche Spruch. Wahrschein-lich verbrachte ich während meiner vierjährigen Berufstätigkeit

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Ahne

Proll maskiert

Seit Tagen schon ist der Drucker kaputt. Jedenfalls leuchtet da so ein Lämpchen. Ein gelbes Lämpchen geht da immer an und aus, im Wechsel. Seit zehn Tagen schon. Das Lämpchen blinkt für gewöhnlich, wenn kein Papier mehr drin oder Papier verklemmt ist oder verknüllt, wobei man wahrscheinlich zerknüllt sagt, nor-malerweise, aber ich finde verknüllt passt ganz gut zu verklemmt, aber wollen wir mal nicht zu formal werden hier. Mein Drucker ist kaputt.

Ich selber bin ja auch Drucker. Ich habe jedenfalls mal Drucker gelernt. Offset-Drucker. Ein sehr schlechter Offset-Drucker bin ich gewesen, nicht, weil ich die Lehre nur mit vier abgeschlossen habe, da guckt später keiner mehr drauf, versicherten sie mir bei der Prüfungskommission, nein, ich hab mich auch später bei der Arbeit äußerst ungeschickt angestellt. Es war einfach nicht mein Ding, die schweren Walzen, der ganze Technikkram, den man wissen musste. Welche Walze gehört nun auf welche Walze und welche Walze muss dann auf welche Walzen noch obendrauf. Und dann sollte man da mit dem 17er die Schraube festziehen und aber die andere Schraube nicht zu fest und da einen Spalt lassen aber da muss dann noch die Folie und dann gibst du drei Flächen … musst du nach rechts ziehen und links zwei Flächen hoch und … ich hab das irgendwie alles längst vergessen.

Am liebsten bin ich Frühstück holen gegangen, damals. Und aufs Klo. Manchmal saß ich stundenlang auf dem Klo, bis der Meister persönlich gekommen ist und an die Tür gewummert hat. Ich bin da oft auch eingeschlafen, auf dem Lokus. Ich war auch Meister im Krankfeiern. Alle vier Wochen hatte ich was Schlimmes. Was mit dem Magen. Geschwür, vermutlich. Das dauerte immer ein paar Wochen, und zwischen den Geschwü-ren diverse Zipperlein, erkältet oft, Angina, Kopfschmerzen. Burn-out-Syndrom gab es ja damals noch nicht. Das wäre die

ideale Krankheit für mich gewesen. Da hätte ich nicht mal was vorspielen müssen, da hätte ein Gedanke an die Arbeit genügt und ich wäre voll geburngeoutet gewesen. So musste ich meist meine Mimik einsetzen, beim Arzt. Man wird übrigens auch krankgeschrieben, wenn sich die Freundin von einem getrennt hat, zumindest, wenn sie sich in hinterhältiger Art und Weise von einem getrennt hat. Bei mir reihte sich damals eine tragische Beziehungskrise an die andere, wenigstens, wenn man meine Krankenakte studierte.

Leidensmienen, darin war ich ganz groß. Das übte ich zu Hau-se vor dem Spiegel. Wir mussten ja unseren Krankenschein im-mer persönlich vorbeibringen, im Betrieb. Da bedurfte es schon gewisser schauspielerischer Fähigkeiten, wenn man mittags um eins in den Drucksaal schritt und die sauberen Kollegen sich vor Lachen bogen: »Na, biste krank?« Man konnte schließlich nicht einfach mitlachen. Das fand der Meister selten nur komisch. Und der Abteilungsleiter erst, der nach der Schicht sogar manchmal das FDJ-Hemd überzog. Der nahm das doch alles ernst hier, mit dem Wettbewerb und so: »Meine Hand für mein Produkt«, »Plan-erfüllung Ehrensache«, »Auf, auf zum X. Parteitag«. Der hätte mich doch glatt als konterrevolutionäres Element enttarnt, was wahr-scheinlich auch nicht weiter schlimm gewesen wäre, wir benö-tigten ja damals jeden Mann. Exorbitanter Krankenstand, wenn ihr versteht, was ich meine. Ich war beileibe keine Ausnahme.

Wenn ich mal nicht krank machte oder auf dem Klo saß, dann kam ich zu spät. Ich verschlief besonders gerne, besonders lan-ge. 5.45 Uhr war normalerweise Frühschichtbeginn, ich aber trudelte meist so gegen halb zwölf erst ein. Als Ausrede hatte ich dann parat, dass ich ein altes Mütterchen über die Straße brin-gen musste oder wir Gas gekriegt hätten, für unsere Gasheizung. Ich weiß nicht, ob sie mir die Ausreden jedes Mal abnahmen, aber was sollten sie tun? Rausschmeißen konnten sie mich nicht. Dazu hätte man sich schon mit der DDR-Fahne den Arsch ab-wischen oder Zeuge Jehovas werden müssen. »Na, haste die BZ am Abend mitjebracht?« war der übliche Spruch. Wahrschein-lich verbrachte ich während meiner vierjährigen Berufstätigkeit

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als Drucker über die Hälfte der Arbeitszeit fern der Arbeit. Am liebsten zu Hause, im Bett.

Und doch, werde ich heute gefragt, was ich von Beruf sei, passiert es recht häufig, dass ich, ohne rot zu werden, behaupte, ich wäre Drucker. Ein Arbeiter eben. Ein ehrlicher, handfester Typ. Nich so ein verpimpelter Student, nee, Dreischichtsystem, Alter! Knochenjob! Ölverschmiert und Rotz am Ärmel! Locker sitzende Faust, aber das Herz auf dem rechten Fleck! Was für eine verlogene Scheiße!

Während ich diesen Text geschrieben habe, hat mir übrigens meine Freundin, eine ehemalige Langzeitstudentin, den Drucker repariert. Sie beherrscht auch perfekt die Bohrmaschine, kann Dinger an die Decke montieren, die zu piepen anfangen, wenn auf dem Herd das Essen verbrennt, und sie hilft mir, wenn ich mal einen Reißverschluss nicht zukriege.

Ich bin sehr, sehr froh, dass ich sie habe.

Uli Hannemann

Mein blaues Auge macht mich so sentimental

Ein dermaßen blaues Auge hatte ich noch nie. Schon kurz nach-dem ich es mir geholt habe, mangelt es nicht an aufmunternden Sprüchen: »Na, gestern großer Boxabend im ZDF?«, »Mit dem Zweiten sieht man besser«, vor allem aber: »Du hast’s gut – so kriegst du heute alle Frauen ab.«

Vor allem Letzteres will mir zunächst nicht in den Kopf. Schließlich sehe ich mit dem geschwollenen Ding noch fieser aus als ohnehin schon. Wie meinen die das bloß, wo ist da die Logik? Die entsprechenden Damen müssten ja wohl vollkom-men blind sein.

Noch am selben Abend jedoch teilen mir bewundernde Bli-cke mit: Weiche Männer sind längst out. Ein echter Mann muss wieder hart und böse sein. Hauen muss er sich, fies aussehen und mit Schmackes in die offene Hand reinschnäuzen. Benzin, Schweiß und Leder. Von einem solchen Mann will die Frau ver-arscht, hingehalten, belogen, betrogen, wie eine Konkubine be-handelt und mit Unaufmerksamkeiten überhäuft werden. Alles andere ist schlicht nicht spannend. Nur Langweiler betten die Liebste auf Rosen – die interessanten, rauen, widersprüchlichen Kerle bereiten ihr ein aufregend schmerzhaftes Lager auf den Scherben im Rinnstein zerschmetterter Bierpullen.

Vorbei die Zeiten, da ich rundum durchs Raster falle, nur weil ich regelmäßig dusche, kein Fell auf dem Rücken habe und we-der homophob, rassistisch noch pausenlos besoffen bin. Mein Riesenveilchen macht das alles mehr als wett. Jetzt endlich bin ich ein richtiger Mann.

Und so finde ich großen Gefallen daran, auf Schritt und Tritt dieselben nervtötenden Fragen gestellt zu bekommen. »Wie siehst du denn aus?«, und fast immer: »Hast du dich geprügelt?«

Ich lerne schnell. Die Behauptung »Ja klar, ich hab mich ge-prügelt«, ist nur der Anfang. Über den Klassiker »Du müsstest

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als Drucker über die Hälfte der Arbeitszeit fern der Arbeit. Am liebsten zu Hause, im Bett.

Und doch, werde ich heute gefragt, was ich von Beruf sei, passiert es recht häufig, dass ich, ohne rot zu werden, behaupte, ich wäre Drucker. Ein Arbeiter eben. Ein ehrlicher, handfester Typ. Nich so ein verpimpelter Student, nee, Dreischichtsystem, Alter! Knochenjob! Ölverschmiert und Rotz am Ärmel! Locker sitzende Faust, aber das Herz auf dem rechten Fleck! Was für eine verlogene Scheiße!

Während ich diesen Text geschrieben habe, hat mir übrigens meine Freundin, eine ehemalige Langzeitstudentin, den Drucker repariert. Sie beherrscht auch perfekt die Bohrmaschine, kann Dinger an die Decke montieren, die zu piepen anfangen, wenn auf dem Herd das Essen verbrennt, und sie hilft mir, wenn ich mal einen Reißverschluss nicht zukriege.

Ich bin sehr, sehr froh, dass ich sie habe.

Uli Hannemann

Mein blaues Auge macht mich so sentimental

Ein dermaßen blaues Auge hatte ich noch nie. Schon kurz nach-dem ich es mir geholt habe, mangelt es nicht an aufmunternden Sprüchen: »Na, gestern großer Boxabend im ZDF?«, »Mit dem Zweiten sieht man besser«, vor allem aber: »Du hast’s gut – so kriegst du heute alle Frauen ab.«

Vor allem Letzteres will mir zunächst nicht in den Kopf. Schließlich sehe ich mit dem geschwollenen Ding noch fieser aus als ohnehin schon. Wie meinen die das bloß, wo ist da die Logik? Die entsprechenden Damen müssten ja wohl vollkom-men blind sein.

Noch am selben Abend jedoch teilen mir bewundernde Bli-cke mit: Weiche Männer sind längst out. Ein echter Mann muss wieder hart und böse sein. Hauen muss er sich, fies aussehen und mit Schmackes in die offene Hand reinschnäuzen. Benzin, Schweiß und Leder. Von einem solchen Mann will die Frau ver-arscht, hingehalten, belogen, betrogen, wie eine Konkubine be-handelt und mit Unaufmerksamkeiten überhäuft werden. Alles andere ist schlicht nicht spannend. Nur Langweiler betten die Liebste auf Rosen – die interessanten, rauen, widersprüchlichen Kerle bereiten ihr ein aufregend schmerzhaftes Lager auf den Scherben im Rinnstein zerschmetterter Bierpullen.

Vorbei die Zeiten, da ich rundum durchs Raster falle, nur weil ich regelmäßig dusche, kein Fell auf dem Rücken habe und we-der homophob, rassistisch noch pausenlos besoffen bin. Mein Riesenveilchen macht das alles mehr als wett. Jetzt endlich bin ich ein richtiger Mann.

Und so finde ich großen Gefallen daran, auf Schritt und Tritt dieselben nervtötenden Fragen gestellt zu bekommen. »Wie siehst du denn aus?«, und fast immer: »Hast du dich geprügelt?«

Ich lerne schnell. Die Behauptung »Ja klar, ich hab mich ge-prügelt«, ist nur der Anfang. Über den Klassiker »Du müsstest

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erstmal den anderen sehen« und ein vieldeutiges, »Tja, nun« ar-beite ich mich in den kommenden Tagen schnell voran. Ich expe-rimentiere viel mit meinem neuen Selbstbild und lerne, dass der Eindruck umso geheimnisvoller und bedrohlicher wird, je mehr ich reduziere. Wenige Worte – große Wirkung. Als Antwort ein-fach mal nur rau und unverständlich vor mich hin geknurrt, und die Männer nehmen fluchtartig Reißaus, während die Weiber in dichten Trauben auf mich zurasen, als sei Godzilla hinter ihnen her und vor ihnen der Heiland.

Am besten kommt es, gar nichts zu sagen, das strahlt subtile Gefährlichkeit aus. Ich fixiere den Fragesteller bloß stahlhart mit dem Auge, mit dem anderen nicht ganz so stahlhart – das hat zurzeit eher die Konsistenz und Farbe von vermodertem Toast-brot. Wortlos drehe ich den Kopf zur Seite, knirsche tückisch mit den Zähnen und spucke verächtlich in den Straßenstaub: Huha! Der Fragesteller bibbert mittlerweile vor Angst: Hätte er mich nur nicht gefragt – das war doch im Grunde gleich zu sehen: Wenn ich schon so aussehe, wie muss dann erst der andere und vor allem in Kürze er selber …

Langsam öffne ich den Hosenstall. Bösartiger und verkom-mener geht nicht mehr. Ich rotze noch eine Ladung blutigen Teer in einen zufällig herumstehenden Beichtstuhl und pinkle den Fragesteller dann in aller Seelenruhe an. Im Stehen! Trotz dieser Demütigung hält er still und wagt kaum zu atmen. In der linken Hand drücke ich ganz fest meinen Tobeteddy Tim. Den habe ich immer mit dabei, im Gegensatz zu meinem Schmuseteddy Schorsch, der bei mir zu Haus im Bettchen wartet.

Als ich mit dem Finger in die leere Augenhöhle fasse, wo vor Kurzem noch das braune Knopfauge des Tobeteddys saß, muss ich nun aber doch weinen. Das ist kein Widerspruch – auch harte Männer müssen manchmal weinen, und sie sind stolz da-rauf, dass sie es können.

Die Erinnerung tut einfach zu sehr weh: Wie ich mit Tim zu fest getobt habe, wie sein Auge heraussprang und mir katapult-artig ins rechte Auge schoss. Wie mein Auge unter dem Bluter-

guss anschwoll und, am schlimmsten, der geliebte Tobeteddy mit nur noch einem Auge am Boden lag.

Wie ich laut weinend in der Rettungsstelle aufkreuzte und mich die Ärzte wegschickten: Das sei hier keine Puppenklinik und ich solle mich doch um Gottes Willen zusammenreißen, ich sei doch ein richtiger Mann mit meinem blauen Auge, und wenn ich wolle, könne man sich das mal ansehen, aber bitteschön nicht das vom Teddybären.

Die Worte dieser schlechten Ärzte waren für uns beide un-erträglich. Dass ich Tims Schicksal nahezu teile, ist im Moment wohl noch mein größter Trost.

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erstmal den anderen sehen« und ein vieldeutiges, »Tja, nun« ar-beite ich mich in den kommenden Tagen schnell voran. Ich expe-rimentiere viel mit meinem neuen Selbstbild und lerne, dass der Eindruck umso geheimnisvoller und bedrohlicher wird, je mehr ich reduziere. Wenige Worte – große Wirkung. Als Antwort ein-fach mal nur rau und unverständlich vor mich hin geknurrt, und die Männer nehmen fluchtartig Reißaus, während die Weiber in dichten Trauben auf mich zurasen, als sei Godzilla hinter ihnen her und vor ihnen der Heiland.

Am besten kommt es, gar nichts zu sagen, das strahlt subtile Gefährlichkeit aus. Ich fixiere den Fragesteller bloß stahlhart mit dem Auge, mit dem anderen nicht ganz so stahlhart – das hat zurzeit eher die Konsistenz und Farbe von vermodertem Toast-brot. Wortlos drehe ich den Kopf zur Seite, knirsche tückisch mit den Zähnen und spucke verächtlich in den Straßenstaub: Huha! Der Fragesteller bibbert mittlerweile vor Angst: Hätte er mich nur nicht gefragt – das war doch im Grunde gleich zu sehen: Wenn ich schon so aussehe, wie muss dann erst der andere und vor allem in Kürze er selber …

Langsam öffne ich den Hosenstall. Bösartiger und verkom-mener geht nicht mehr. Ich rotze noch eine Ladung blutigen Teer in einen zufällig herumstehenden Beichtstuhl und pinkle den Fragesteller dann in aller Seelenruhe an. Im Stehen! Trotz dieser Demütigung hält er still und wagt kaum zu atmen. In der linken Hand drücke ich ganz fest meinen Tobeteddy Tim. Den habe ich immer mit dabei, im Gegensatz zu meinem Schmuseteddy Schorsch, der bei mir zu Haus im Bettchen wartet.

Als ich mit dem Finger in die leere Augenhöhle fasse, wo vor Kurzem noch das braune Knopfauge des Tobeteddys saß, muss ich nun aber doch weinen. Das ist kein Widerspruch – auch harte Männer müssen manchmal weinen, und sie sind stolz da-rauf, dass sie es können.

Die Erinnerung tut einfach zu sehr weh: Wie ich mit Tim zu fest getobt habe, wie sein Auge heraussprang und mir katapult-artig ins rechte Auge schoss. Wie mein Auge unter dem Bluter-

guss anschwoll und, am schlimmsten, der geliebte Tobeteddy mit nur noch einem Auge am Boden lag.

Wie ich laut weinend in der Rettungsstelle aufkreuzte und mich die Ärzte wegschickten: Das sei hier keine Puppenklinik und ich solle mich doch um Gottes Willen zusammenreißen, ich sei doch ein richtiger Mann mit meinem blauen Auge, und wenn ich wolle, könne man sich das mal ansehen, aber bitteschön nicht das vom Teddybären.

Die Worte dieser schlechten Ärzte waren für uns beide un-erträglich. Dass ich Tims Schicksal nahezu teile, ist im Moment wohl noch mein größter Trost.

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Ab dem wievielten Stock kann man in Deutschland beruhigt aus dem Fenster springen, wenn man sterben will?a) ab dem zwölftenb) erst mal gucken, ob der Fußboden hart genug istc) in Deutschland kann man nicht aus dem Fenster springen,

weil sich die Fenster, wegen der strengen Brandschutzkriteri-en, nicht öffnen lassen

Seit wann überhaupt spricht man von »den Deutschen«?a) seit dem Einbürgerungstestb) seit die Polen angefangen habenc) ich war doch damals noch gar nicht geboren

Na dann, herzlich willkommen, Fremder!

Jakob Hein

Im Grunde lächerlich

Sehr geehrter Herr Bundesfinanzminister,sehr geehrte Damen und Herren,

erlauben Sie mir zunächst, Ihnen alles Gute für das kommende Jahr zu wünschen. Sicherlich haben auch Ihnen die ungeheuer tiefschürfenden Analysen der Presse viel Hoffnung gegeben, dass die Finanz- und Wirtschaftskrise überwunden werden kann. Es wird Sie nicht wundern, dass auch ich mich in diesem Zusam-menhang heute an Sie wenden möchte, im Namen der Reform-bühne Heim & Welt, der ältesten Lesebühne Berlins und damit Deutschlands und damit der Welt.

Um es geradeheraus zu sagen: Wir benötigen einen finan-ziellen Rettungsschirm über unserer Unternehmung, um einen ökonomischen Zusammenbruch und damit nicht absehbare Folgen für das gesamtwirtschaftliche Gefüge abzuwenden. Wir haben in den letzten Jahren sicherlich nicht schlechter gewirt-schaftet als die meisten Banken, denen jetzt ein solcher Schutz gewährt wird. Natürlich haben wir schlecht gewirtschaftet, aber während beispielsweise die Hypo Real Estate Verluste im drei-stelligen Milliardenbereich abschreiben muss, beläuft sich un-ser Gesamtschaden auf einen niedrigen Millionenbetrag. Wenn man davon ausgeht, dass ein Schriftsteller für eine Lesung ein gewerkschaftlich festgelegtes Mindesthonorar von 250 Euro zu erhalten hat, so sind während unserer etwa 700 Lesungen der letzten Jahre 1,2 Millionen an Honorarforderungen aufgelau-fen. Von diesen haben wir bereits etwa 80.000 Euro an die Kollegen beglichen, so dass nur noch 1,12 Millionen an Ver-bindlichkeiten bestehen.

Unsere strategische Ausrichtung sieht vor, mindestens wei-tere 13 Jahre lang aufzutreten, so dass weitere finanzielle Ver-pflichtungen von vier Millionen Euro entstehen werden – hier

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haben wir die Inflationsentwicklung sowie den Umstand einge-rechnet, dass wir alle zu festen Größen in der literarischen Welt herangewachsen sein werden und uns daher nicht weiter mit 250 Euro Honorar zufriedengeben können. Die Begleichung der Kosten aus Eintrittsgeldern hoffen wir von 6 Prozent auf 7,5 Prozent bis zum Jahr 2018 zu steigern, aber von einer Kos-tendeckung durch Eintrittsgelder sind wir derzeit leider noch zu weit entfernt – diese wird ein strategisches Ziel bleiben.

Um langfristig wirtschaftlich unabhängiger zu werden, sollten wir eine eigene Lokalität für die Reformbühne kaufen. Ein günsti-ges Angebot für zwei Millionen Euro liegt uns vor. Dies ermöglicht uns auch eine Steigerung der Einnahmen, da wir so Getränkeein-nahmen selbst erzielen. Da wir aber nur sonntags auftreten, wird eine gewisse Deckungslücke in den Betriebs- und Personalkosten entstehen, die jedoch mit nochmals fünf Millionen Euro für zehn Jahre kompensiert werden kann. Alles in allem benötigen wir ein Paket über die im Grunde lächerliche Summe von 14 Millionen Euro für die kommenden zehn Jahre – nicht einmal ein Drittel eines Promilles des Bankenpakets! –, das sind nach Abzug der Verwaltungskosten nicht einmal zwei Millionen für jeden von uns, soviel wie Herr Ackermann in einem Monat verdient!

Sollten Sie dieser Lösung nicht zustimmen, sind die Folgen absolut unabsehbar. Es handelt sich bei uns um Schriftsteller mit herausragender Bedeutung. Einer der Kollegen ist gerade aus Sofia zurückgekehrt, ein anderer ist von zentraler Bedeutung für die Befriedung des explosiven sozialen Gefüges im Bezirk Neukölln, einer befindet sich im regelmäßigen Zwiegespräch mit Gott usw. usf. Darüber hinaus haben wir überdurchschnitt-lich talentierte Kinder, die wir alle zu Wirtschaftskapitänen er-ziehen wollen. Wenn uns aber hierfür die notwendigen Mittel fehlen, können wir sie nur auf eine Karriere beim Sozialamt vorbereiten, wodurch jedes Kind für sich Transferzahlungen im Millionenbereich erhielte, anstatt großzügig in das Sozialsystem einzuzahlen.

Es gibt folglich ohnehin keine Alternative, so dass wir Sie ein-dringlich bitten, bald die erforderliche Zahlung zu veranlassen.

Und wenn Sie in nächster Zeit mal Ihren Kollegen Verteidigungs-minister treffen, bitten Sie ihn doch um ein robustes Mandat für die Reformbühne. Wir wissen zwar nicht so genau, was das be-deutet, aber das weiß der bestimmt auch nicht, und wir finden den Klang einfach großartig.

Viele Grüße,Jakob Hein

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haben wir die Inflationsentwicklung sowie den Umstand einge-rechnet, dass wir alle zu festen Größen in der literarischen Welt herangewachsen sein werden und uns daher nicht weiter mit 250 Euro Honorar zufriedengeben können. Die Begleichung der Kosten aus Eintrittsgeldern hoffen wir von 6 Prozent auf 7,5 Prozent bis zum Jahr 2018 zu steigern, aber von einer Kos-tendeckung durch Eintrittsgelder sind wir derzeit leider noch zu weit entfernt – diese wird ein strategisches Ziel bleiben.

Um langfristig wirtschaftlich unabhängiger zu werden, sollten wir eine eigene Lokalität für die Reformbühne kaufen. Ein günsti-ges Angebot für zwei Millionen Euro liegt uns vor. Dies ermöglicht uns auch eine Steigerung der Einnahmen, da wir so Getränkeein-nahmen selbst erzielen. Da wir aber nur sonntags auftreten, wird eine gewisse Deckungslücke in den Betriebs- und Personalkosten entstehen, die jedoch mit nochmals fünf Millionen Euro für zehn Jahre kompensiert werden kann. Alles in allem benötigen wir ein Paket über die im Grunde lächerliche Summe von 14 Millionen Euro für die kommenden zehn Jahre – nicht einmal ein Drittel eines Promilles des Bankenpakets! –, das sind nach Abzug der Verwaltungskosten nicht einmal zwei Millionen für jeden von uns, soviel wie Herr Ackermann in einem Monat verdient!

Sollten Sie dieser Lösung nicht zustimmen, sind die Folgen absolut unabsehbar. Es handelt sich bei uns um Schriftsteller mit herausragender Bedeutung. Einer der Kollegen ist gerade aus Sofia zurückgekehrt, ein anderer ist von zentraler Bedeutung für die Befriedung des explosiven sozialen Gefüges im Bezirk Neukölln, einer befindet sich im regelmäßigen Zwiegespräch mit Gott usw. usf. Darüber hinaus haben wir überdurchschnitt-lich talentierte Kinder, die wir alle zu Wirtschaftskapitänen er-ziehen wollen. Wenn uns aber hierfür die notwendigen Mittel fehlen, können wir sie nur auf eine Karriere beim Sozialamt vorbereiten, wodurch jedes Kind für sich Transferzahlungen im Millionenbereich erhielte, anstatt großzügig in das Sozialsystem einzuzahlen.

Es gibt folglich ohnehin keine Alternative, so dass wir Sie ein-dringlich bitten, bald die erforderliche Zahlung zu veranlassen.

Und wenn Sie in nächster Zeit mal Ihren Kollegen Verteidigungs-minister treffen, bitten Sie ihn doch um ein robustes Mandat für die Reformbühne. Wir wissen zwar nicht so genau, was das be-deutet, aber das weiß der bestimmt auch nicht, und wir finden den Klang einfach großartig.

Viele Grüße,Jakob Hein

Die Reformbühne Heim & Welt ist die dienstälteste aktive Lesebühne, seit 1995 findet sie ohne Unter-brechung statt. Jeden Sonntag kann man sie nach der Tagesschau im Berliner Kaffee Burger live erleben. Gegründet von Bov Bjerg, Hans Duschke, Manfred Maurenbrecher, Michael Stein und Jürgen Witte besteht sie jetzt aus Ahne, Uli Hannemann, Jakob Hein, Falko Hennig, Heiko Werning und Jürgen Witte, zwischendurch gehörten auch Sarah Schmidt, Wladimir Kaminer und Daniela Böhle dazu.

Auf CD: Die Reformbühne live im Kaffee Burger www.reformbuehne.de | www.voland-quist.de

1. Jakob Hein – Intro2. Jürgen Witte – Reiches Arschloch3. Heiko Werning – Und mit den Clowns kamen die Tränen4. Ahne – Zwiegespräche mit Gott – heute: Wer schläft, sündigt nicht5. Uli Hannemann – Weihnachtsfilm6. Jakob Hein – Irgendein Künstler7. Falko Hennig – Die Wartburg- Gang und die Schwalben8. Uli Hannemann – Wie ich mal jemandem geholfen hab9. Ahne – Vorwärtsverteidigung10. Heiko Werning – Warten auf den Angriff11. Falko Hennig – Cowboy-Kunst12. Jürgen Witte – Ich habe jetzt auch eine Praktikantin13. Jakob Hein – Outro

Gesamtspielzeit: 75 min

Foto: Tim Jockel

Die Reformbühne Heim & Welt besteht aus (v.l.n.r.): Jakob Hein, Jürgen Witte, Falko Hennig, Heiko Werning, Ahne und Uli Hannemann.

Mit Texten von: Ahne, Bov Bjerg, Daniela Böhle, Uli Hannemann,

Jakob Hein, Falko Hennig, Wladimir Kaminer, Manfred Maurenbrecher, Sarah Schmidt,

Heiko Werning, Jürgen Witte

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15 Jahre ReformbühneHeim & Welt

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MIT AUDIO-CD

EUR 14,90 (D) ISBN 978-3-938424-54-4