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Tagungsdokumentation

Rassismus in der Sozialen Arbeit – Normalit¤ten sichtbar machen

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Tagungsdokumentation

Inhalt

Inhalt

Zur Idee des Fachtages „Rassismus in der Sozialen Arbeit“..................................................................3

Begrüßung - Ali Elis................................................................................................................................. 5

Input 1: „Rassismus in der Sozialen Arbeit“ – Worüber reden ‚wir‘ eigentlich? - Friederike Lorenz, Maren Schreier...................................................................................................8

Input 2: Die Normalität des Rassismus - Paul Mecheril.............................................................................................................................. 16

AG1: Reflexion and discussion on white privilege in a German society; from guilt to responsibility - Dorian Boncoeur.........................................................................................................................26

Reflexion des Workshops AG1 von Dorian Boncoeur: „White privilege- from guilt to responsibility“ - Lydia Waldmann.........................................................................................................................28

AG2: Politisch gewollter und legislativ beschlossener Rassismus - Moussa Dieng.............................................................................................................................30

AG3: Reflexion verinnerlichter Dominanz und Unterdrückung als Ausgangspunkt für ein Handeln gegen Rassismus?! - Bettina Schmidt........................................................................................................................... 34

AG4: „Unbewusstes spielerisch aufbrechen“ – Methoden Rassismusbewusster Bildungsarbeit - Oliver Kornau, Antje Krueger, Lisa Stütz........................................................................................44

AG5: Unsichtbares sichtbar machen – Courage zeigen, aber wie?- Ali Elis, Jörn Rabeneck.................................................................................................................49

AG6: „Hier wird Deutsch gesprochen“ – Be-Deutungen von Sprache in rassistischen Strukturen- Ali Uysun, Friederike Lorenz..........................................................................................................52

Rassismus – Schlussbemerkungen einer Podiumsteilnehmerin - Fatos Atali-Timmer......................................................................................................................57

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Zur Idee des Fachtages „Rassismus in der Sozialen Arbeit“

Zur Idee des Fachtages „Rassismus in der Sozialen Arbeit“

Wie wirken rassistische Strukturen und Verhältnisse im Alltag der Sozialen Arbeit? Inwieweit bestimmen sie Arbeitsverteilungen in Einrichtungen, Teamkonstellationen und unterschiedli-che Karrierechancen? Wie beeinflussen rassistische Zuschreibungen den Umgang mit Adres-sat_innen und unter Kolleg_innen? Wie zeigt sich die „Normalität des Rassismus“ (Mecheril 2007) in Fallbesprechungen, Flurgesprächen oder in vermeintlichen „Witzen“ unter Kolleg_innen? Welche Bedeutung haben rassistische Konstruktionen und Bilder in Berichten, Hilfeplänen und Dokumentationen? Und nicht zuletzt: Welche Deckmäntelchen und Strategi-en tragen in den gegebenen Verhältnissen dazu bei, Rassismus in der Sozialen Arbeit zu de-thematisieren oder zu verharmlosen? Diese und viele weitere Fragen waren Ausgangspunkt des Fachtages „Rassismus in der Sozialen Arbeit – Normalitäten sichtbar machen“, der am 07. Juni 2012 als Kooperationsveranstaltung von vier1 Bremer Akteur_innen Sozialer Arbeit organisiert wurde.

Inspiriert durch Paul Mecherils Überlegungen zur Alltäglichkeit des Rassismus (vgl. S. 16 in dieser Broschüre) war es uns ein Anliegen eine Tagung zu organisieren, in der Soziale Arbeit als involviert und damit beteiligt an der Aufrechterhaltung rassistischer Strukturen reflektiert wird – und sich damit nicht als vermeintliche „Lösung“, sondern zunächst als Teil des Pro-blems von Rassismus begreift. Dementsprechend sollte nicht der Rassismus der „Anderen“ (z.B. von Adressat_innen Sozialer Arbeit) in den Blick genommen werden, sondern die Pro-fession Soziale Arbeit (und damit die Professionellen innerhalb ihrer jeweiligen Strukturen).

Wir stellten im Vorbereitungsteam fest, dass diese Perspektive ungewohnt ist und Auseinan-dersetzungen notwendig macht. Daher versuchten wir uns in einer vorbereitenden Klausurta-gung im Sommer 2011 auf Grundlage eines Vortrags von Dorian Bonceur zu weißen Privile-gien (vgl. S. 26) zunächst innerhalb des Vorbereitungsteams über Themen und Anliegen zu verständigen. Bereits in diesen Auseinandersetzungen wurde deutlich, auf wie vielen Ebenen sich die Alltäglichkeit des Rassismus in Kontexten Sozialer Arbeit zeigt. Die auf der Fachta-gung in Rahmen von Inputs, Arbeitsgruppen und Diskussionen stattgefundenen Thematisie-rungen verstehen wir somit als Teil eines dringend anstehenden langfristigen Lern- und Ver-änderungsprozesses auf dem Weg zu einer rassismuskritischeren Sozialen Arbeit. Dabei stellt sich jedoch auch die Frage, welche konkreten Möglichkeiten den von rassistischer Diskrimi-nierung betroffenen Adressat_innen und Professionellen Sozialer Arbeit aktuell zur Verfü-gung stehen. Hier verwies Fatos Atali-Timmer in der abschließenden Fishbowl der Tagung darauf, dass es in Bremen bisher keine Antidiskriminierungsstelle gibt, die Menschen profes-sionelle und politisch institutionalisierte Unterstützung bietet, um sich gegen rassistische Nor-malitäten wehren zu können (siehe auch S. 57).

In dieser Tagungsdokumentation haben wir versucht, sowohl theoretische Annäherungen an Rassismus und Rassismuskritik als auch Erfahrungsberichte und Einblicke in alltägliche Aus-einandersetzungen aus den Arbeitsgruppen einzubeziehen. Dass sich die Beiträge inhaltlich

1 Das Amt für Soziale Dienste Bremen (AfSD) mit dem Lokalen Arbeitsplan – Gegen Diskriminierung im Stadt-teil wirken, der Arbeitskreis Kritische Soziale Arbeit Bremen (AKS), das Bremer Institut für Soziale Arbeit und Entwicklung e.V. (BISA+E) sowie das Zentrum für Migranten und interkulturelle Studien e.V. (ZIS).

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Zur Idee des Fachtages „Rassismus in der Sozialen Arbeit“

zum Teil ergänzen, zum Teil aber auch widersprechen verstehen wir als Spiegel der noch lan-ge nicht abgeschlossenen Auseinandersetzungen mit dieser Thematik. Die Gliederung der Broschüre ist orientiert am chronologischen Verlauf der Tagung.

Wir freuen uns sehr, dass über 170 Menschen an der Tagung teilgenommen und damit an der dringend notwendigen Auseinandersetzung mit Rassismus in der Sozialen Arbeit mitgewirkt haben. Ein herzliches Dankeschön an alle, die dabei waren und auf unterschiedlichste Weise zur Tagung beigetragen haben!

Bremen im Januar 2013, für das Vorbereitungsteam

Friederike Lorenz, Wolfgang Schmidt, Maren Schreier und Lydia Waldmann

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Begrüßung

Begrüßung

Ali Elis:

Merhaba, guten Tag.

Mein Name ist Ali Elis und ich bin der 1. Vorsitzende des ZIS, Zentrum für Migranten und In-terkulturelle Studien.

Ich heiße Sie herzlich Willkommen hier im Centro Cultural zum Fachtag „Rassismus in der Sozialen Arbeit“.

Selbstverständlich auch im Namen unserer Mitveranstalter:

• dem Arbeitskreis Kritische Soziale Arbeit

• dem Bremer Institut für Soziale Arbeit und Entwicklung

• dem Amt für Soziale Dienste Bremen

sowie

dem Lokalen Aktionsplan Bremen - „Gegen Diskriminierung im Stadtteil wirken“.

Insbesondere freue ich mich, dass so viele Menschen aus ganz Deutschland heute den Weg zu uns gefunden haben. Und dass so viele Menschen Interesse an unserem Thema haben!

Auch darf ich Sie herzlich durch das Team des Centro Cultural willkommen heißen, welches uns die Infrastruktur und den Service des heutigen Tages zur Verfügung gestellt hat.

Das Zentrum für Migranten und Interkulturelle Studien bildet einen festen Bestandteil in der Bremer Trägerlandschaft und zeichnet sich bereits seit 32 Jahren durch Praxis- und Bürger-nähe aus.

Dabei steht das ZIS für die Gleichberechtigung und Gleichbehandlung und somit Integration von Migrantinnen und Migranten in Deutschland.

Das ZIS bietet neben Integrationskursen auch Gemeinwesenarbeit insbesondere für Eltern sowie für ältere Migrantinnen und Migranten in Bremen an.

Darüber hinaus ist das ZIS auch bekannt für die Durchführung von Modell- und Forschungs-projekten sowie damit zusammenhängend entsprechende Fachveröffentlichungen.

Dabei kooperiert das ZIS neben Trägern Sozialer Arbeit auch mit mehreren Universitäten, u.a. der Universität Bremen und der Marmara Universität in Istanbul.

Nun aber zurück zu unserem heutigen Fachtag:

Der heutige Fachtag, UNSER heutiger Fachtag steht ganz im Zeichen einer selbstkritischen Perspektive auf rassistische Praktiken, Strukturen und damit verbundener Diskurse.

Es geht uns um die Sichtbarmachung von Rassismus in der Sozialen Arbeit, die sich sowohl auf gesellschaftlicher, politischer als auch auf sozialer und kultureller Ebene, oder auch auf der Ebene von beispielsweise schulischer Bildung widerspiegelt.

Aber lassen Sie mich Ihnen doch einmal 2 kurze Beispiele für Rassismus nennen, die einer-seits in sich sehr different erscheinen, andererseits aber die verschiedenen Ebenen, die Ras-sismus hat, deutlich aufzeigen:

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Begrüßung

1) Seit 1990 wurden mindestens 180 Migrantinnen und Migranten durch Neonazis umge-

bracht. Dennoch wird aber politisch kein Einhalt geboten gegen die Neonazis, gegen Nazi-aufmärsche, gegen nationalsozialistische Parteien. Dabei ist hervorzuheben, dass das Ge-fühl entsteht, dass die sogenannte Neonazi-Szene in den vergangenen Jahren zugenommen hat mit der gesellschaftlichen Veränderung, mit der gesellschaftlichen Verhärtung, mit harten Fakten wie steigender Arbeitslosigkeit und Hartz 4.

2) Auch unser tägliches Handeln müssen wir selbstkritisch betrachten. Vielleicht geschieht es aus eigener Unwissenheit oder Unüberlegtheit, wenn wir sowohl in unserem privaten All-tag, als auch in unserem Arbeitsalltag bestimmte Ausdrücke benutzen. - Heißt es „schwarz-fahren“ oder „ohne Ticket fahren“? Was heißt es, wenn man von „getürkt“ spricht? Muss es „getürkt“ heißen oder wäre nicht auch hier ein anderer, weniger stigmatisierender Begriff, rat-sam? - Haben Sie sich vielleicht auch schon einmal dabei erwischt, wie Sie in Ihrem Berufs-alltag von „DEM Türken, DEM Bulgaren oder aber auch DEM Griechen“ gesprochen haben? Sprechen Sie genauso oft von „DEM Deutschen“? - Oder neigen Sie dazu, auf die soge-nannte Amtssprache Deutsch zu verweisen? „Amtssprache ist deutsch. Punkt. Aus. Basta. Keine Widerrede.“ Punkt.

3) Die Ängste von Benachteiligten werden hier ausgenutzt indem man sie gegen Migrantin-nen und Migranten als Sündenböcke aufhetzt. Die Migrantinnen und Migranten nehmen hier die Opferrolle ein, also die Rolle der „Arbeitsplatz-Klauer“, die Rolle der „Sozial-Schnorrer“, die Rolle der „Unerwünschten“, wobei vergessen wird, dass viele von ihnen dazu beigetra-gen haben, Deutschland zu einem durchaus wohlhabenden Wirtschaftsstandort heranwach-sen zu lassen. Punkt.

Sie sehen also:

Rassismus ist nicht gleich Rassismus. Einerseits. Andererseits aber doch irgendwie...

Rassismus kann durchaus different sein.

Rassismus wird alltäglich genutzt, formuliert, von einigen sogar ausgelebt. Wissentlich oder unwissentlich? Bewusst oder unbewusst? Reflektiert oder unreflektiert? Durchdacht oder nicht durchdacht?

Sie sehen also:

Bei Rassismus handelt es sich um ein durchaus komplexes Thema. Noch komplexer als Sie und wir es erwartet hätten...

Rassismus spielt sich auf vielen Ebenen ab. Auch innerhalb der Sozialen Arbeit und trotz so-zialer Berufsethik und eigenem Rollenverständnis in der Sozialen Arbeit.

Lassen Sie uns also gemeinsam den heutigen Tag begehen.

Lassen Sie uns gemeinsam am heutigen Tag arbeiten.

Lassen Sie uns gemeinsam reflektieren, wie WIR, das heißt möglichst jeder von uns, zukünf-tig rassismuskritischer agieren können, reflektierter agieren können. Im privaten Alltag, im Arbeitsalltag, in unseren Köpfen.

Ich wünsche Ihnen und uns einen spannenden Fachtag.

Gerne auch mit kontroversen Diskussionen.

Mit interessanten Vorträgen.

Mit mutigen Menschen.

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Begrüßung

Mit lehrreichen aber auch lernreichen Arbeitsgruppen.

Und ich wünsche mir, dass wir heute Abend mit vielen neuen Ideen und vielleicht sogar vie-len neuen Kontakten das Centro Cultural verlassen werden. Und dass wir gerne zurückden-ken an diesen Fachtag, an UNSEREN Fachtag!

Ich wünsche Ihnen viel Spaß und Spannung am heutigen Tage.

Danke. Tesekkür ederim.

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Input 1: „Rassismus in der Sozialen Arbeit“ – Worüber reden ‚wir‘ eigentlich?

Input 1: „Rassismus in der Sozialen Arbeit“ – Worüber re-den ‚wir‘ eigentlich?

Friederike Lorenz und Maren Schreier

„Natürlich ist man gegen Rassismus. Am liebsten gegen den der anderen. Aber es braucht mehr als nur Bekenntniskultur.“ (Anetta Kahane 2012, Vorsitzende der Amadeu Antonio Stiftung)

Dieses Zitat von Anetta Kahane berührt ein Motiv unseres Fachtages: Wir möchten heute einen Raum eröffnen, in dem wir nicht über den Rassismus „der Anderen“, zum Beispiel der Adressat_innen Sozialer Arbeit oder einzelner Behörden-Mitarbeiter_innen reden, sondern in dem wir den Blick auf „uns“ selbst richten, als Professionelle der Sozialen Arbeit. Damit set-zen wir an der Verwobenheit Sozialer Arbeit innerhalb rassistischer Strukturen an.

Rassismus hat eine lange Geschichte und nicht zuletzt deshalb ist er so wirkmächtig. Rassisti-sche Strukturen durchziehen sämtliche Bereiche unserer Gesellschaft. Sie wirken oftmals ganz subtil – sie sind verwoben in unseren Sprachgebrauch, prägen unsere Wahrnehmung, un-sere Gewohnheiten und unsere Handlungen und wir sind an ihrer Aufrechterhaltung stets be-teiligt. Paul Mecheril spricht von einer Art „Gewöhnungseffekt“ und damit von einer „Nor-malität des Rassismus“ in Deutschland (vgl. Mecheril 2007: 4). Deshalb können wir Rassis-mus nicht „ablegen“ oder einfach „dagegen sein“ und uns damit scheinbar außerhalb rassisti-scher Verhältnisse stellen.

Wie zeigt sich diese Normalität des Rassismus in der Sozialen Arbeit? Und (wie) wird sie the-matisiert? Wie können wir unsere jeweiligen Perspektiven und Positionen innerhalb rassisti-scher Strukturen in den Blick nehmen mit dem Ziel, Schritte hin zu einer rassismuskritisch(er)en Sozialen Arbeit zu machen?

Fragen wie diesen möchten wir heute nachspüren – im Rahmen von Vorträgen heute Vormit-tag, in Workshops am Nachmittag und in der abschließenden Fishbowl-Diskussion. Wir freu-en uns daher sehr, dass so viele Sozialarbeiter_innen und an der Sozialen Arbeit Interessierte heute hierher gefunden haben!

Rassismus in der Sozialen Arbeit – worüber reden „wir“ hier heute ei-gentlich?

Zunächst zum „wir“: Wie viele „wirs“ sind überhaupt in diesem „wir“? 2

Gemeinsamer Einstieg durch Fragen an alle Anwesenden, die Menschen im Raum werden ge-beten, sich jeweils zu melden:

o Wer ist länger als eine Stunde angereist?

o Wer interessiert sich für Fußball?

2 In Anlehnung an Anti-Bias-Werkstatt (Hg.) 2007: Ich - Ich nicht. In: Methodenbox: Demokratie-Lernen und Anti-Bias-Arbeit, Aurich.

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Input 1: „Rassismus in der Sozialen Arbeit“ – Worüber reden ‚wir‘ eigentlich?

o Wer ist in der Schule mal sitzen geblieben?

o Wer spricht mehr als zwei Sprachen so, dass er oder sie sich verständigen kann?

o Wer fühlt sich interkulturell?

o Wer fühlt sich in irgendeiner Weise behindert?

o Wer ist auf dem Land aufgewachsen?

o Wer hat am Arbeitsplatz schon mal Rassismus mitbekommen?

Zahlreiche weitere Fragen wären denkbar, denn viele verschiedene (selbst gewählte und zuge-schriebene) Zugehörigkeiten bilden dieses „wir“ hier im Raum. Damit wird deutlich: „wir“ sind keine homogene Gruppe. Soziale Positionierungen, die wir in der Gesellschaft einneh-men wollen, die wir aufgrund von Privilegien inne haben, oder die wir einnehmen müssen, sie wirken auch in diesen Raum hinein. Darunter sind auch Machtverhältnisse, die sich über Zu-gehörigkeiten ausdrücken: Ihre Kehrseite ist die Nicht- Zugehörigkeit, deutlicher: die Aus-grenzung. Hier wirkt die binäre Kategorisierung „wir“ in Abgrenzung zu „den Anderen.“

Mehrere Differenzlinien hier im Raum sind eben angeklungen. Wir wollen im Folgenden einen Blick auf konstruierte Differenzlinien werfen, die in rassistischen Strukturen besonders wirkmächtig sind.

Viele Menschen in der bundesdeutschen Gesellschaft müssen in ihrem Alltag damit leben, kontinuierlich fremdbezeichnet zu werden: Zum Beispiel als „Jugendliche mit Migrationshin-tergrund“, oder indem eine (vermutete) Nationalität mit benannt wird. Auch Fremdbezeich-nungen, die sich auf körperliche Merkmale, Eigenschaften oder Vorstellungen von „Kultur“ und Religion beziehen, wirken auf viele Menschen tagtäglich ein. Damit werden diese immer wieder als „irgendwie fremd und anders“ markiert.

Auf solchen Unterscheidungspraktiken baut die Ideologie des Rassismus auf. Immer dann, wenn wir auf (körperliche, kulturelle, religiöse,…) Unterscheidungsmerkmale zurückgreifen, denen eine „Naturwüchsigkeit“ zugeschrieben wird, und immer dann, wenn wir an diese Un-terscheidungen Bedeutungen knüpfen, die mit eigener Aufwertung und Abwertung „Anderer“ einhergehen und mit denen Grenzen zwischen Menschen gezogen werden: Immer dann wir-ken Machtverhältnisse, aus denen sich Rassismus speist (vgl. Arndt 2012, Mecheril 2007).

Als weiß gelesene Menschen erleben derartige rassistische Fremdzuschreibungen in dieser Gesellschaft nicht. Sie werden in der Regel als Individuen wahrgenommen und auch als sol-che beschrieben, ohne dass sie mit Zuschreibungen wie z.B. „meine weiße Kollegin“ oder „mein deutscher Kollege“ konfrontiert werden.

Hier wirken weiße Privilegien. Die Menschenrechtlerin Peggy McIntosh verwendet das Bild, weiß sein bedeute, mit einem unsichtbaren Rucksack gesellschaftlicher Privilegien ausgestat-tet zu sein (vgl. McIntosh 1989). So ging und geht weißsein beispielsweise mit dem Herr-schaftsanspruch einher, andere Menschen beschreiben und markieren zu können. Damit wird versucht, diese Menschen (oder Gruppen) zu „den Anderen“ zu machen und ihnen damit zu-gleich den Subjektstatus zu entziehen (vgl. Sow 2009: 42ff.).

Gesichert werden diese Privilegien durch eine gewaltsame, rassistische Dominanzstruktur. Sie erscheinen naturgegeben und selbstverständlich. Damit sind sie schwer anzugreifen (vgl.

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Input 1: „Rassismus in der Sozialen Arbeit“ – Worüber reden ‚wir‘ eigentlich?

Wendkte 2012) und ebenso schwer zu thematisieren. Deshalb ist eine Auseinandersetzung auch mit weißen Positionierungen in gesellschaftlichen Strukturen für eine rassismuskritische Soziale Arbeit so wichtig.

Es geht bei der Verwendung des Begriffes „weiß“ im Kontext von Rassismuskritik keinesfalls darum, Menschen weiterhin anhand vermeintlicher „Rassen“ in Gruppen aufzuteilen. Es geht vielmehr darum, die Selbstverständlichkeiten unseres Denkens, Sprechens und Handelns zu irritieren und abzuwehren. Es ist ein Versuch, tief verwurzelten weißen Herrschaftsansprü-chen etwas entgegen zu setzen und darauf aufmerksam zu machen, dass mit konstruierten Zu-schreibungen im Rassismus real wirksame Hierarchisierungen einhergehen, die den Einen Privilegien bringen und die Andere unterdrücken bzw. für sie eine existenzielle Bedrohung sind - weil Rassismus in letzter Konsequenz töten kann.

Für die Einleitung eines solchen Paradigmenwechsel haben Menschen, die durch Rassismus unterdrückt wurden und werden, gekämpft: Aus Bewegungen von Schwarzen Menschen und People of Color kommt die Forderung, sich selbst zu bezeichnen und sich damit gegen rassis-tische Fremdbezeichnungen zu wehren. Damit ging auch die Forderung einher, die soziale Po-sition von weißen Menschen in rassistischen Strukturen zu markieren (vgl. Arndt 2005). Das ist dringend notwendig, weil weißsein ansonsten als unbenannte, unmarkierte Norm wirkt, die unsichtbar ist und dennoch – oder genau deswegen - mit Macht, Herrschaft und Gewalt über andere verbunden ist. Dazu gehören auch unsichtbare weiße Privilegien (vgl. hierzu auch Eg-gers et al. 2005).

Bei der Thematisierung dieser Privilegien geht es um ein Bewusstsein dafür, dass Menschen in rassistischen Strukturen unterschiedliche Perspektiven und Positionen einnehmen bzw. die-se zugewiesen bekommen – und dass diese Unterschiede einen Unterschied machen, auch wenn wir uns heute vornehmen, in eine „gemeinsame Auseinandersetzung“ mit Alltagsrassis-mus in der Sozialen Arbeit zu gehen.

2. „Rassismus in der Sozialen Arbeit“ – Worüber reden wir, wenn wir uns heute vornehmen, Rassismus in der Sozialen Arbeit zu thematisieren?

In unseren Diskussionen im Vorfeld der Tagung wurde deutlich, dass sich die Auseinander-setzung mit Rassismus unter Sozialarbeiter_innen ungewohnt anfühlt: Weder im Studium, noch in Programmen und Konzepten Sozialer Arbeit oder im Rahmen von Forschung, werden rassistische Strukturen systematisch thematisiert. Bezogen auf Themen wie beispielsweise frühkindliche Bildung, Sozialraumorientierung oder Kinderschutz gehört es mittlerweile zum professionellen Selbstverständnis, sich etwa im Rahmen von Fortbildungen, oder Fallsupervi-sion reflexiv und theoriegeleitet auseinander zu setzen. In die Auseinandersetzung mit Rassis-mus, aber auch mit Migration oder „Integration“ bringen Sozialarbeiter_innen hingegen ihre persönlichen Haltungen häufig unreflektiert ein. In der Folge dominieren (auch) in der Sozia-len Arbeit Alltagsdiskurse zu Rassismus (vgl. Lück 2009). Eine rassismuskritische Reflexion der untrennbaren Verwobenheit Sozialer Arbeit in die gewaltförmigen rassistischen Struktu-ren unserer Gesellschaft bleibt damit aus.

Woher kommt diese Leerstelle in der Auseinandersetzung mit Rassismus in der Sozialen Ar-beit?

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Input 1: „Rassismus in der Sozialen Arbeit“ – Worüber reden ‚wir‘ eigentlich?

Wir möchten an dieser Stelle drei von vielen Aspekten erwähnen, die gesamtgesellschaftlich zur Unsichtbarmachung von Rassismus beitragen und die auch in der Sozialen Arbeit wirken. Es geht hierbei immer um die machtvolle Trennung des „Eigenen“ vom „Anderen“, und es geht um Abwehrformen, die eine Auseinandersetzung mit individuellem und strukturellem Rassismus verhindern:

1. Rassismus ist nicht immer gleich, sondern Rassismen sind immer abhängig von den jeweiligen historischen Kontexten (vgl. Mecheril/Melter 2010: 150f.)

Seit den Verbrechen des Nationalsozialismus in Deutschland ist der „Rasse“-Begriff in der gegenwärtigen bundesdeutschen Gesellschaft weitestgehend verpönt. Die da-durch entstandene Leerstelle wurde neu besetzt durch einen Kulturalismus (vgl. Mes-serschmidt 2008: 2). Rassismus ist damit unter dem neuen Etikett der „Kultur“ weiter wirkmächtig: „An die Stelle von ‚Rasse‘ ist ‚Kultur‘ getreten“ (Mecheril/Melter 2010: 152f.). Der französische Theoretiker Etienne Balibar spricht von „Neo-Rassismus“ oder „Kultur-Rassismus“. Dieser wirkt dadurch, dass neben Unterscheidungen entlang biologischer und körperlicher Merkmale rassistische Unterscheidungen auf vermeintli-che „Kulturunterschiede“ zurückgeführt werden. Dieser kulturelle Rassismus ist sehr wirkmächtig und sehr verbreitet, nicht zuletzt in der Sozialen Arbeit (vgl. Kalpaka/Mecheril; Mecheril/Melter 2010). Hier werden z.B. soziale und/oder wirt-schaftliche Nöte, mit denen sich Menschen an Soziale Dienste wenden, von Sozialar-beiter_innen zu einem Problem einer vermeintlichen „Kultur“ umgedeutet. Kulturali-sierung dient damit einer „spaltenden Selbstvergewisserung“ (Messerschmidt 2008: 44): „die“ deutsche „Kultur“ wird beispielsweise als vermeintlich aufgeklärtes, demo-kratisches „wir“ konstruiert, „andere Kulturen“ werden in Abgrenzung dazu als frau-enfeindlich, unaufgeklärt und vor-modern dargestellt. Dabei wird nach wie vor Mus-tern der Kolonialgeschichte gefolgt, die Vorstellungen von Unter- und Überlegenheit Einzelner oder Gruppen beinhalten (vgl. ebd., vgl. auch Arndt 2012).

2. Wenn Rassismus, zum Thema wird, dann wird die Kritik daran eher an die sogenann-ten „Ränder“ der Gesellschaft, vorwiegend in den Rechtsextremismus, ausgelagert: Rassismus wird, indem er in rechtsextremen Positionen und Handlungen kritisiert und bekämpft wird, abgewehrt und externalisiert. Damit kann Rassismus in Distanz zum eigenen (Arbeits-)Alltag gehalten werden (vgl. hierzu auch Messerschmidt 2010:45).

3. Astrid Messerschmidt führt die fehlende Auseinandersetzung mit gegenwärtigem All-tagsrassismus auch auf einen sehr spezifischen Umgang mit Geschichte in der BRD zurück: Durch die Vorstellung einer erfolgreichen Aufarbeitung der NS-Verbrechen erscheinen rassistische (ebenso wie antisemitische) Menschen- und Weltbilder als wei-testgehend überwunden. Hier findet eine zeitliche Verlagerung des Rassismus statt, mit der Funktion der individuellen wie kollektiven Entlastung von Schuld: „Man hat es hinter sich“ (Messerschmidt 2008:44).

Die Weigerung, die Alltäglichkeit des Rassismus und die Rassismuserfahrungen in dieser Gesellschaft anzuerkennen, kann zudem im Zusammenhang mit der Ausblen-dung der deutschen Kolonialgeschichte und ihrer mangelnden historischen Aufarbei-tung gesehen werden (vgl. Messerschmidt 2008: 44f.). Messerschmidt spricht von ei-ner „Amnesie“, in deren Folge die rassistische und damit gewaltförmige Kolonialisie-

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Input 1: „Rassismus in der Sozialen Arbeit“ – Worüber reden ‚wir‘ eigentlich?

rung von Ländern und ihren Bewohner_innen durch Deutschland vergessen gemacht und Kolonialismus zu einem Problem anderer Länder und anderer Teile der Welt er-klärt werde.

Rassismus bleibt im Alltag der bundesdeutschen Gesellschaft, und damit auch im professio-nellen Alltag Sozialer Arbeit, meist dethematisiert. Es ist jedoch notwendig, Rassismus und rassistische Diskriminierungen als solche zu benennen, den Begriff Rassismus also explizit dahin zu bringen, wo er hingehört: In die sogenannte Mitte der Gesellschaft3. Wir sollten ihn verwenden, um rassistische Normalitäten sichtbarer und damit thematisierbar, aber auch de-konstruierbarer zu machen. Damit gehen Fragen und Unsicherheiten einher, auch in der So-zialen Arbeit: „Wirken in meinen Bericht über die Familiensituation der Jugendlichen in der stationären Jugendhilfe rassistische Bilder mit rein?“ oder „Der ‚Witz‘ der Kollegin in Rich-tung des Kollegen: war das rassistisch?“ Diese Auseinandersetzungen können unbequem sein – sie sind aber keine Frage von persönlichen politischen Einstellungen, sondern sie sind für alle Bereiche Sozialer Arbeit unumgänglich - es geht dabei um die Entwicklung professionel-ler rassismuskritischer Standards und Leitlinien (vgl. Lück 2009: 9).

Es stellt sich also die Frage, wie der normalisierte Rassismus, der in Strukturen, in verinner-lichten Bildern sowie in als selbstverständlich erscheinenden Handlungen wirkt (in der Sozia-len Arbeit etwa in den Einstellungsverfahren, in Hilfeplangesprächen, in Kulturalisierungen der Problemlagen von Adressat_innen, in Fallbesprechungen, Berichten und in vielem mehr) sichtbarer und damit thematisierbar gemacht werden kann.

Als eine mögliche theoretische Folie wollen wir auf das von Valerie Batts entwickelte Modell „Modern racism – internalised oppression“ (moderner Rassismus – verinnerlichte Unter-drückung“) verweisen, das im Aufsatz von Bettina Schmidt ausführlicher vorgestellt wird (vgl. S. 34 in dieser Tagungsdokumentation). Es lässt sich sowohl zur Praxisreflexion anwen-den, kann aber ebenso als Analyse-Folie für empirische Forschungsvorhaben dienen.4

Wir möchten im Folgenden anhand eines Beispiels sichtbar machen, wie sich verinnerlichte rassistische Dominanz- und Unterdrückungsverhältnisse konkret im Alltag Sozialer Arbeit zeigen. Das Beispiel wurde uns im Rahmen eines Interviews von einer Fachkraft Sozialer Ar-beit erzählt, die wir anlässlich einer Situations- und Ressourcenanalyse zu Diskriminierung in Stadtteilen geführt haben.5

3 Laut dem Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung (IKG) ordneten sich mit 60 Prozent im Jahr 2010 die Mehrheit der Deutschen selber der politischen „Mitte“ der Gesellschaft zu, 25 Prozent würden sich links der Mitte verorten (vgl. IKG 2010: 9). Demgemäß wird der Begriff der „Mitte“ hier synonym für die breite Mehrheit der Gesellschaft verwendet. 4 So hat das Bremer Institut für Soziale Arbeit und Entwicklung e.V. (BISA+E) dieses Modell im Rahmen einer qualitativen Untersuchung zu Diskriminierung in drei Bremer Stadtteilen angewendet, vgl. Fritsche et al. 2011.5 Im Rahmen der Studie „Gegen Diskriminierung im Stadtteil wirken. Situations- und Ressourcenanalyse zu menschenfeindlichen Haltungen und Diskriminierung in den Bremer Stadtteilen Findorff, Mitte und Östliche Vorstadt“ wurden Expert_inneninterviews mit 13 Akteur_innen Sozialer Arbeit geführt. Im Fokus der Analyse standen individuelle Erlebens- und Thematisierungsweisen menschenfeindlicher Haltungen und Diskriminie-rungsformen innerhalb der drei untersuchten Stadtteile. Die Studie wurde durch das Bundesprogramm „Toleranz fördern – Kompetenz stärken“ (BMFSFJ) gefördert und stellt eine Grundlage des Lokalen Aktionsplans Bremen dar (vgl. Fritsche et al. 2011).

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Input 1: „Rassismus in der Sozialen Arbeit“ – Worüber reden ‚wir‘ eigentlich?

Zum Kontext des Interviewausschnittes: Eine Sozialarbeiterin beschreibt auf die Frage nach Diskriminierungen eine Situation, in der in ihrer Einrichtung Bewerbungsunterlagen gesichtet wurden. Sie geht auf die Diskussion des Teams zu einer kopftuchtragenden Bewerberin ein:

„Erinnere mich an Diskussionen (…), dass dann diskutiert wird, `ne Frau mit Kopftuch wäre ja auch nicht so gut für eine fortschrittliche Einrichtung, macht sich nicht gut. Dann werden auf der Oberfläche vermeintlich praktische Fragen für den Alltagsablauf genannt, zum Bei-spiel ‚willst Du hier einen Gebetsteppich in der Einrichtung sehen? Willst Du ja wohl auch nicht.‘ Da wird deutlich, dass es Ängste und Ressentiments gab. Da gab‘s konkrete Bewer-bungen, und wir reden einerseits von interkultureller Öffnung von Einrichtungen, und dann Rückzug auf vermeintlich praktische Fragen. (…) Was ist mein Anteil? Finde ich das klasse, wenn Kopftuchfrauen bei uns in der Einrichtung arbeiten. Kann ja leicht sagen, kein Pro-blem. Aber wie geht’s mir z.B. als Feministin mit Kopftuchfrauen? Dann ertappe ich mich da-bei: Aha, Kopftuchfrauen können keine Feministinnen sein? Wir wissen, dass sie das sein können und auch viele sind. (…) Aber wenn man im Team redet ist das Klischee da, das Vor-urteil, dann sind wir selber Teil der ganzen Geschichte.“ (Fritsche u.a. 2011: 49).

Eine Auswahl möglicher Interpretationen des Interviewausschnittes:

• Nach dem Modell von Valerie Batts wäre dies ein Beispiel für „Kontaktvermei-dung“ mit einer strukturell benachteiligten Person (siehe S. 34 in dieser Dokumen-tation);

• Die interviewte Fachkraft benennt ihre eigene Verstrickung und die Verstrickung des Teams in rassistische Denkweisen;

• Sie hinterfragt ihr Selbstverständnis „nicht-rassistisch“ zu sein und stellt die Wirk-mächtigkeit von Zuschreibungen und Bildern fest;

• Durch die Herstellung des vermeintlichen Gegensatzes „Feministin“ und „kopf-tuchtragende Frau“ wird das muslimische Kopftuch implizit mit dem Bild einer „unterdrückten Frau“ verbunden. ,Das eigene Selbstverständnis des Teams als „modern“ und „emanzipiert“ in Abgrenzung zum Islam wird deutlich;

• Die Interviewte erklärt, dass „Wir wissen…“, dass „Kopftuchfrauen Feministinnen sein können“.- Wer ist hier dieses „wir“? Die Interviewerin und Interviewte als weißes „wir“, oder das weiße Team?

• Aus den Bildern und Assoziationen des Teams resultiert eine konkrete Konse-quenz: Die Bewerberin mit Kopftuch hat in diesem Beispiel aufgrund verinnerlich-ter rassistischer Bilder unabhängig von ihren Qualifikationen und fachlichen Kom-petenzen geringere Chancen, in dieser Einrichtung Sozialer Arbeit zum Vorstel-lungsgespräch eingeladen zu werden.

Bezogen auf den Umgang mit Beispielen dieser Art wird sichtbar, dass die Auseinanderset-zung mit Rassismus ein nicht auflösbares Spannungsfeld beinhaltet. Das Dilemma besteht darin, dass wir am heutigen Fachtag dazu einladen, die Normalität des Rassismus in der Pra-xis Sozialer Arbeit „sichtbar“ zu machen. Dies legt nahe, konkrete Situationen und Strukturen zu benennen. Hierbei werden rassistische Kategorien aufgemacht, um sie kritisierbar und be-sprechbar zu machen. Damit werden jedoch unweigerlich rassistische Bilder und Begriffe re-produziert. So haben wir uns bei der Auswahl des Zitates gefragt, ob es tatsächlich notwendig

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Input 1: „Rassismus in der Sozialen Arbeit“ – Worüber reden ‚wir‘ eigentlich?

ist, zum Beispiel den Begriff „Kopftuchfrauen“ zu wiederholen (der Frauen mit Kopftuch als vermeintlich homogene Gruppe darstellt), um die damit einhergehenden Zuschreibungen kri-tisieren zu können? Dieser kritische Blick auf die eigene Sprache gehört zu einer rassismus-kritischen Auseinandersetzung. Das kann mit Ringen um Begriffe einhergehen, mit Verunsi-cherung und mit Sprachlosigkeit. Denn es gibt auch in der Sprache keinen Ort außerhalb ras-sistischer Verhältnisse (vgl. Elverich, Kalpaka, Reindlmeier 2009: 16). In diesem Spannungs-feld bewegen wir uns heute.

Wir beziehen uns daher auf die von Schwarzen Menschen und People of Color aufgestellte Forderung nach Selbstbezeichnung (vgl. Lück 2009). Diese Forderung weist uns darauf hin, beim Reden über Rassismus in der Sozialen Arbeit, also auch heute hier während des Fach-tags, nicht wie selbstverständlich über „die Anderen“ zu sprechen, sondern anzuerkennen, dass Menschen sich und ihre Gruppenzugehörigkeiten selbst benennen können und wollen. Dazu gehört auch, dass ich aus einer weißen Position innerhalb von rassistischen Strukturen nicht einfach festlegen kann: „Das ist doch kein Rassismus, weil, ich hab´s ja nicht rassistisch gemeint.“ Die Definitionsmacht darüber, was Rassismus ist und was nicht, liegt bei denjeni-gen, die sich rassistisch diskriminiert fühlen.

Literatur

Anti-Bias-Werkstatt (Hg.) (2007): Methodenbox: Demokratie-Lernen und Anti-Bias-Arbeit, Aurich.

Arndt, Susan (2005): Weißsein. Die verkannte Strukturkategorie Europas und Deutschlands. In: Eggers et al. 2005, a.a.O., S. 24–28

Arndt, Susan: Die 101 wichtigsten Fragen: Rassismus. München 2012

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der Fachtagung des Autonomen Frauenhauses Hannover zur praktischen Umsetzung von Transkulturalität im Alltag sozialer Arbeit.

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AutorInnen:

Maren Schreier, M.A. Social Work, Diplom Sozialarbeiterin/Sozialpädagogin. Nebenberuflich promovierend als assoziierte Kollegiatin des Böckler-Kollegs „Widersprüche gesellschaftli-cher Integration – zur Transformation Sozialer Arbeit“ an der Universität Duisburg-Essen. Gründungs- und Vorstandsmitglied des Bremer Instituts für Soziale Arbeit und Entwicklung e.V. Freiberuflich tätig seit 2004 in Lehre und Forschung an verschiedenen Hochschulen in BRD/CH; zuvor von 2001 bis 2008 berufstätig als Gemeinwesenarbeiterin im Quartiersma-nagement des Bremer Stadtteils Tenever.

Kontakt: [email protected]

Friederike Lorenz, Sozialarbeiterin BA und staatl. anerkannte Erzieherin, Weiterbildung im Anti-Bias-Ansatz. Von 2004 bis 2011 Berufstätigkeiten in Kindertagesstätten, in einer Kin-der- und Jugendpsychiatrischen Beratungsstelle und in der stationären Jugendhilfe. Aktuell im MA-Studium Erziehungswissenschaften, daneben tätig in der Gedenkstättenpädagogik sowie am Bremer Institut für Soziale Arbeit und Entwicklung e.V. (BISA+E) in den Bereichen Fortbildung und Praxisforschung.

Kontakt: [email protected]

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Input 2: Die Normalität des Rassismus

Input 2: Die Normalität des Rassismus

Paul Mecheril

Einige Vorbemerkungen

Es gibt drei Aspekte, auf die die Formulierung „Normalität des Rassismus6“ verweist:

Erstens: Die Formulierung „Normalität des Rassismus“ bringt zum Ausdruck, dass Rassismus sich in dem Sinne auf Normalität bezieht, dass er Normalität produziert, aber auch voraus-setzt. Rassismus rekurriert auf Normalitätsvorstellungen und ermöglicht diese.

Zweitens: Rassismus ist weiterhin „normal“ im Sinne von alltäglich und banal. Rudolf Lei-precht verweist in seinem Buch „Alltagsrassismus“ auf alltägliche gewaltförmige Unterschei-dungen, die kennzeichnend für eine vorherrschende Spielart des Rassismus sind (vgl. Lei-precht 2001). Die Normalität des Rassismus heißt somit auch, dass Rassismus in der Normali-tät des Alltags angesiedelt und anzutreffen ist.

Drittens: Schließlich ist Rassismus in dem Sinne „normal“, dass aufgrund der Dauerhaftigkeit des Rassismus bestimmte Gewöhnungseffekte zu beobachten sind. Berichte über rassistische Vorkommnisse gehören zur „Normalität“, wir haben uns an sie gewöhnt, auch mit dem Effekt einer gewissen Abstumpfung und achselzuckenden Zurkenntnisnahme.

Ich möchte mit einem Zitat die drei genannten Punkte illustrieren. Es ist die Äußerung eines Schülers (zitiert in dem Buch „Migranten in Deutschland“ von Helena Flam):

„Also ich habe insofern ein Problem gehabt, dass ich mit sechs Jahren nach Deutschland kam, kein deutsch gesprochen habe und eingeschult wurde. Und aufgrund der mangelnden Sprache sollte ich zur Sonderschule geschickt werden. Und dann hat sich meine Mutter dagegen ge-wehrt, hat mir das bisschen Deutsch, das ich konnte, beigebracht … [Im] 4. Schuljahr wurde mir gesagt, also es ist nur Hauptschule möglich, okay, ab auf die Hauptschule und dann ging es halt 5., 6., 7. war ich halt Klassenbester, 8. war ich Stufen- und Jahrgangsbester und nach der 10. bin ich auf das Gymnasium gegangen, habe mein Fachabi gemacht. Und ich will jetzt nicht auf mich zeigen, aber ich glaube, ich wäre jetzt nicht an der Stelle, wenn ich auf die Sonderschule gekommen wäre. Dann würde ich irgendetwas feilen oder …“ (Flam 2007, 96).

Mit diesem Zitat möchte ich die drei genannten Punkte verdeutlichen:

Rassismus stellt eine Normalität, eine Ordnung der Normalität her. Sie produziert einen Zu-sammenhang symbolischer und materieller Geregeltheit: Weil Schüler, die nicht „richtig Deutsch“ sprechen, als Folge dominanter Diskurse eigentlich nicht nach Deutschland gehö-ren, werden sie aus der normalen Schule genommen und an den stigmatisierten und stigmati-sierenden Rand der Sonderbehandlung gegeben. Damit ist eine Ordnung hergestellt, Normali-tät.

6 Dieser Text geht auf einen Vortrag zurück, dessen Transkription bereits an anderer Stelle publiziert wurde: Mecheril, P. (2007). Die Normalität des Rassismus. Überblick. Zeitschrift der Informations- und Dokumentationsstelle gegen Gewalt, Rechtsextremis-mus und Ausländerfeindlichkeit in Nordrhein-Westfalen, 13,2, 3-9

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Input 2: Die Normalität des Rassismus

Rassismus bezieht sich auf eine Normalität und diese Normalität, die beispielsweise für Deutschland kennzeichnend ist, hat etwas damit zu tun, dass wir eine nahezu systematische Verteilung der Schülerinnen und Schüler mit und ohne Migrationshintergrund entlang des Anerkennungsstatutes von Schulformen beobachten können. In einer beeindruckenden Weise, mit einer beeindruckenden Regelmäßigkeit sind beispielsweise Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund überproportional an Sonderschulen vertreten. Die Zuweisung an Son-derschulen folgt einer bestimmten Überweisungspraxis. Diese Überweisungspraxis wird bei-spielsweise in der Studie von Mechtild Gomolla und Frank-Olaf Radtke „Institutionelle Dis-kriminierung. Die Herstellung ethnischer Differenz in der Schule“ nachgezeichnet (Gomolla/Radtke 2002). Dieser Studie kann man entnehmen, dass an bestimmten kritischen Entscheidungspunkten, so beispielsweise bei der Einschulung, beispielsweise beim Übergang zur Sekundarstufe oder beispielsweise bei der Aufnahme eines Sonderschulverfahrens, der Schule das Kriterium der Ethnizität zur Verfügung steht, um anstehende organisatorische Fra-gen zu entscheiden. Ich möchte für unseren Zusammenhang hervorheben, dass diese Praxis Normalität ist. Nach der Studie von Gomolla und Radtke gehört es zur alltäglichen Normalität von Schulpraxis, auf Unterscheidungsweisen zurückzugreifen, die systematisch Ungleichheit produzieren.

Wir haben diesen Zustand der Ungleichheit in Deutschland seit über 30 Jahren. Daran haben wir uns gewöhnt. Die Schulpraxis der Herstellung von Ungleichheit durch Rückgriff auf eth-nische Unterscheidungen ist also nichts, was erst durch die Studie von Gomolla und Radtke thematisiert worden wäre. Es handelt sich hier vielmehr um ein Moment, auf das der erzie-hungswissenschaftliche Diskurs beständig hingewiesen hat. Der Bildungspolitik steht diese Erkenntnis seit Jahren zur Verfügung.

Wir haben uns an die ethnische Ungleichheit gewöhnt und wir haben uns auch deshalb im Sinne einer Nicht-Thematisierung daran gewöhnt, weil die Praxis der Zuweisung erst dann ar-tikulierbar wird, wenn jemand einigermaßen erfolgreich das bundesdeutsche Bildungssystem durchlaufen hat, also erst dann, wenn man an der Aufnahme des Sonderschulverfahrens vor-beigekommen ist, erst dann, wenn man es geschafft hat, sich von der Hauptschule bis zum Fachabitur hochzulernen, erst dann ist man im Rahmen des hiesigen Bildungssystems in der Lage, diese Erfahrung zu artikulieren und sichtbar zu machen. D. h. wir haben uns auch des-halb daran gewöhnt, weil diejenigen, die von dieser Diskriminierung negativ betroffen sind, über diese Diskriminierung nicht respektabel sprechen können.

Soweit die Einstiegs-Illustration der drei eingangs erwähnten Punkte.

Normalität als Imagination von Ordnung

Renata Salecl, eine Psychoanalytikerin, die beispielsweise über die Frage nachgedacht hat, was eine Nation ist, schreibt, dass Imaginationen, Vorstellungen, immer dann besondere Be-deutungen gewinnen, wenn wir das, was uns definiert, nicht definieren können (1994). Dies gilt beispielsweise für große Gemeinschaften wie die Nation, die uns definiert, die wir aber selbst nicht definieren können. Eine Nation stellt einen Zusammenhang dar, der uns aus-macht, den wir aber nicht wirklich adäquat erfassen können, weil beispielsweise in Bezug auf die Bundesrepublik Deutschland mehrere Zehnmillionen Menschen zu erfassen wären, was schlichtweg nicht möglich ist. Und hier kommen Imaginationen ins Spiel, also Vorstellungen,

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Input 2: Die Normalität des Rassismus

die das begreifbar machen, was wir nicht begreifen können. Im Rahmen dieser Imagination spielt Normalität eine große Rolle. Normalität ist etwas, das erzeugt wird aufgrund von Ima-ginationen: Das, was „normal“ ist, gilt aufgrund von Imaginationen als erwartbar.

Ich möchte auf eine Imaginationsform zu sprechen kommen, die etwas mit Rassismus zu tun hat. Stuart Hall sagt zum Rassismus weißer Engländer:

„Die [weißen] Engländer sind nicht deshalb rassistisch, weil sie die Schwarzen hassen, son-dern weil sie ohne die Schwarzen nicht wissen, wer sie sind“ (Stuart Hall 1999, 93).

Rassismus hat viel mit Wir-Imaginationen zu tun. Rassismus antwortet auf die Frage, wer wir sind, mit einer Vorstellung darüber, wer wir und wer die Anderen sind. Dies ist eines der ana-lytischen Bestimmungsstücke des Rassismus. Rassismus ist wichtig, damit eine Mehrheit weiß, wer sie ist. Das interessante Moment ist, dass dieses Wissen nicht thematisiert wird. Wie in vielen modernen Herrschaftsverhältnissen wird das Wissen darum, wer ich, wer wir sind, nicht thematisiert, denn sonst müssten die Herrschaftsverhältnisse thematisiert werden.

Ich möchte in diesem Zusammenhang auf eine antirassistische Plakataktion aufmerksam ma-chen, eine, so meine ich, interessante rassismuskritische Aktion in Wien. Dort wurden bei-spielsweise an Bushaltestellen Plakate mit dem Portrait einer Frau gezeigt und darunter stand: „Weißsein ist nichts als das Produkt einer kollektiven Imagination, das ausschließlich durch die Existenz der Anderen definiert werden kann.“

Ein Aspekt der Normalität des Rassismus besteht darin, dass qua Imagination eine bestimmte Normalität beständig hergestellt wird, nämlich die Normalität, dass wir jemand sind, dass wir ein „wir“ sind, weil wir uns von anderen unterscheiden.

Ein wichtiger Punkt ist, dass dies in Hinblick auf die Frage nach der Normalität des Rassis-mus ein entscheidendes Moment ist, dass aufgrund von Imaginationen so etwas entsteht wie ein Wissen darum, wer wir sind bzw. wer wir nicht sind.

Santina Battaglia (2000) hat den nachfolgenden Dialog analysiert - und ich vermute, Sie ken-nen solche Dialoge:

„Woher kommst Du?“ – „Aus Essen.“

„Nein, ich meine, ursprünglich?“ - „Ich bin in Essen geboren.“

„Aber Deine Eltern?“ - „Meine Mutter kommt auch aus Essen.“

„Aber Dein Vater?“ - „Mein Vater ist Italiener.“

„Aha ....“ - ...

Solche Dialoge sind nur möglich aufgrund unterstellter Normalitätsvorstellungen. Solche Dia-loge sind nur möglich, weil ein imaginäres Wissen über Zugehörigkeit und Identität existiert. Aus einer rassismustheoretischen Perspektive kann man sagen, dass dieses Wissen eine Ima-gination ist, die - zumeist unbewusst - an Rassekonstruktionen anschließt, nämlich an Kon-struktionen, in denen aufgrund von natio-ethno-kulturellen Kennzeichen Menschen zu Grup-pen zusammengefasst werden, denen Eigenschaften zugewiesen werden, die sie als „fremd“, „unzugehörig“ oder gar „minderwertig“ bezeichnen.

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Input 2: Die Normalität des Rassismus

Hier zwei Beispiele einer Postkartenaktion des Antidiskriminierungsbüros Leipzig zum The-ma Alltagsrassismus:

Die Frage „Woher kommst du?“ ist aus rassismustheoretischer Perspektive eine Frage, die Normalität anruft, die versucht, eine bestimmte Ordnung anzurufen und zu beschwören, in der eindeutig ausgesagt ist, wohin die Menschen gehören. Wichtig ist: Um diese Ordnung herzu-stellen ist, so die Rassismustheorie, nicht so etwas wie ein böser Wille erforderlich. Die Frage „Woher kommst du?“ ist eine ganz unschuldige, ganz unverdächtige Frage, unverdächtig des-sen, rassistisch zu sein. Und darum geht es auch gar nicht. Es geht nicht um die Frage der In-tention, vielmehr handelt es sich hier um eine bestimmte gesellschaftliche oder kulturelle Struktur, in der wir uns verstehen und in der wir sozialen Sinn produzieren und reproduzieren: indem wir Fragen stellen, indem wir Wahrnehmungen haben, indem wir Gespräche führen, indem wir Dinge sagen und andere Dinge nicht sagen, reproduzieren und wiederholen wir die rassistische Struktur. Das ist ein Aspekt der Normalität des Rassismus.

Auf einer anderen Postkarte ist eine junge Frau zu sehen, die zitiert wird mit der Äußerung "‘Sie sprechen aber gut Deutsch!‘ ist kein Kompliment für mich." Auch diese Karte ist inter-essant, weil es unterschiedliche Formen von Rassismus gibt und auch unterschiedliche For-men alltäglichen Rassismus’.

Aus rassismustheoretischer Perspektive wird ersichtlich, dass die rassistische Normalität nicht auf die Unterscheidung der Hautfarben im Sinne von schwarz und weiß, auf phänotypische Unterscheidungen beschränkt ist. Rassismus ist eine Ordnung, in der der Kultur, also dem Kulturbegriff, ein wichtiger Platz zukommt. Die rassistische Normalität bringt Imaginationen hervor, in der die Frage, wer zugehörig ist und wer nicht, nicht nur abhängig von phänotypi-schen Merkmalen beantwortet wird, sondern auch mit Bezug auf „Kultur“. Darauf bezieht sich die zweite Postkarte. Sie ruft in Erinnerung, dass die Zuschreibung auf bestimmte kultu-relle Fertigkeiten in rassismuskritischer Perspektive als machtvolle Zuschreibung beschrieben und gesehen werden kann:

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Input 2: Die Normalität des Rassismus

In seinem Buch über Staatsbürgerschaftskonzepte in Frankreich und Deutschland (Brubaker 1994) zitiert Rogers Brubaker einen Jugendlichen: „Dein Pass, das ist deine Fresse“, sagt der „maghrebinische Jugendliche“ in einem Interview. Das Zitat macht deutlich, dass einer sol-chen Ordnung, in der aufgrund von Fressen, Gesichtern und weiteren kulturellen Signalen, Aussagen über Zugehörigkeit gemacht werden, dass einer solchen Ordnung Normalitätskon-struktionen zugrunde liegen.

Es ist „normal“, wie ein Franzose aussieht, wie ein Deutscher aussieht, wer ein Deutscher ist und wer nicht. Diese nationalen Konstruktionen sind da, aber sie sind diffus und unklar. Diese Vagheit macht das Wesen der Imagination gerade aus. Sie sind gewissermaßen nicht greifbar; sie wirken nur, wenn wir nicht über sie sprechen, wenn nicht verlangt wird anzugeben, was einen Franzosen denn nun ausmache, sondern wenn wir uns der Kraft der Imagination hinge-ben, wenn wir nicht definieren müssen, was uns definiert, was wir aber nicht definieren kön-nen, genau dann entfaltet die Imagination ihre Kraft.

Wie ist das zu erklären? Und geben sich nicht alle Menschen, Kulturen und Gesellschaftsfor-men Imaginationen hin?

Ich will darauf hinweisen, dass wir die rassistischen Konstruktionen, so wie sie in der von mir favorisierten Rassismustheorie diskutiert werden, dass wir, wenn wir Rassismus verstehen wollen, uns mit den historischen Bedingungen der Entstehung von „Rasse“-Konzeption be-schäftigen müssen. Unter einer sozialwissenschaftlichen Perspektive interessiert die Frage, wie Menschen darauf kommen, sich mit Hilfe der Vokabel „Rasse“ und ihrem Ersatz „Kultur“ zu unterscheiden. Wie kommen Menschen darauf, andere unter bestimmten Merk-malen als Andere zu erkennen? In diesem Zusammenhang ist die Erfindung des Nationalstaa-tes interessant.

„In dem Augenblick, in dem der moderne Staat seit dem 19. Jahrhundert über die Gewißheit verfügen will, ob es sich in jedem einzelnen Fall um einen seiner Bürger (oder um einen Fremden) und weiterhin, um welchen seiner Bürger (oder welchen Fremden) es sich genau handelt, gewinnen Techniken physischer Identifikation mittels Lichtbild, Hinweise auf kör-perliche Besonderheiten (Narben, Haar- und Augenfarbe) an Bedeutung“ (Stichweh 1995, 180).

Erst mit einer relativ jungen Entwicklung und mit der überaus erfolgreichen Geschichte des Nationalstaates, kommen bestimmte Bedarfe der Unterscheidung und der Identifikation auf; etwa administrative und organisatorische Bedarfe, Personen einer bestimmten Gruppe als zu-gehörig oder als nicht zugehörig zu definieren und diese Definitionen 1:1 umzusetzen. Es sind unter anderem die nationalstaatlichen Unterscheidungen, die in einer bis dahin nicht gekann-ten Systematik und technologischen Perfektion darüber bestimmen, welche Körper sich wo aufhalten dürfen und dadurch den Boden bereiten für den verkörperten Zugriff auf die Men-schen. Wir müssen uns vergegenwärtigen, dass dies menschheitsgeschichtlich eine sehr junge Praxis ist, eine Praxis des Ordnens und Trennens, an die wir uns gewöhnt haben. Diese junge Praxis ist an eine Vorstellung von politischer Ordnung gebunden, ist an eine Vorstellung von Staatlichkeit gebunden, die, wie gesagt, relativ neu ist.

Mit dem Zitat von Rudolf Stichweh möchte ich überleiten zum 2. Punkt meines Beitrags, nämlich der Alltäglichkeit des Rassismus. Sie ahnen vermutlich schon, was es mit dem alltäg-

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Input 2: Die Normalität des Rassismus

lichen Rassismus auf sich hat: Unter einer rassismustheoretischen Perspektive stellt sich Ras-sismus weniger als das Problem einiger weniger, desorientierter, irregeleiteter, arbeitsloser Männer aus Ostdeutschland dar, also weniger als das Kennzeichen eines Randes. Rassismus muss vielmehr als eine gesellschaftliche Realität strukturierende Größe verstanden werden, die in dem Moment besonderes mediales Interesse erfährt, wenn diese strukturierende Größe sich als „böses Ereignis“ zum Ausdruck bringt. Aus einer rassismustheoretischen Perspektive würde man sagen, dass böse Gewalttätigkeiten eine Spielart, eine Variante rassistischer Un-terscheidungen sind. Rassismus ist allerdings auch viel trivialer als es die Inszenierung der bösen Gewalt weiß machen möchte. Rassismus ist alltäglich und allgegenwärtig, wodurch er noch viel weiter reichende Konsequenzen besitzt: Rassismus disponiert. Dies sei mit einem Zitat von Christoph Butterwegge unterstrichen:

„Rassismus hat nicht nur mit der Legitimation/Reproduktion bestehender Herrschafts-, Pro-duktions- und Klassenverhältnisse zu tun, sondern auch mit der psychosozialen Disposition von Beherrschten“ (Butterwegge 1996, 131).

Rassismus hat aber auch - so möchte ich hinzufügen - mit dem Ensemble der Dispositionen, dem Habitus derer, die vom Rassismus faktisch und symbolisch profitieren zu tun.

Alltagsrassismus

Dies bedeutet, dass Rassismus als Strukturierungsgröße gesellschaftlicher Realität gewisser-maßen uns alle betrifft. Das ist die Alltäglichkeit des Rassismus. Wir alle sind in einer Gesell-schaft, die zwischen legitim natio-ethno-kulturell Zugehörigen und legitim nicht Zugehörigen unterscheidet – vielleicht analog der patriachalen Struktur, die zwischen Männern und Frauen unterscheidet -, wir alle sind in diesem System positioniert und von dieser Position betroffen. Wir alle machen unsere Erfahrungen in diesem System, entwickeln psychosoziale Dispositio-nen, abhängig von unserer Position im System rassistischer Unterscheidungen. Wir sind also – biographisch gesehen - natio-ethno-kulturell legitim und fraglos Zugehörige oder weniger legitim, prekär Zugehörige. Und diese Zugehörigkeitserfahrungen in einer rassistisch struktu-rierten Gesellschaft haben nicht allein etwas mit Teilhabemöglichkeiten zu tun, sondern sind Erfahrungen, die sich in die Körper einschreiben. Es sind Erfahrungen, die die Grenzen zum Leib gewissermaßen überschreiten und dadurch zu einem Habitus werden.

Ich will das, was ich schon angedeutet habe, nämlich dass die rassistische Unterscheidung nicht auf Unterscheidungen auf der Ebene körperlicher Merkmale beschränkt ist, unterstrei-chen mit einem bekannten Zitat von Etienne Balibar. Balibar spricht über den neuen Rassis-mus, den kulturellen Rassismus und weist darauf hin, dass

„[d]er neue Rassismus […] ein Rassismus der Epoche der ‚Entkolonialisierung’ [ist], in der sich die Bewegungsrichtung der Bevölkerung zwischen den alten Kolonien und den alten ‚Mutterländern’ umkehrt und sich zugleich die Aufspaltung der Menschheit innerhalb eines einzigen politischen Raumes vollzieht. Ideologisch gehört der gegenwärtige Rassismus, der sich bei uns um den Komplex der Immigration herum ausgebildet hat, in den Zusammenhang eines ‚Rassismus ohne Rassen’, wie er sich außerhalb Frankreichs, vor allem in den angel-sächsischen Ländern, schon recht weit entwickelt hat: eines Rassismus, dessen vorherrschen-des Thema nicht mehr die biologische Vererbung, sondern die Unaufhebbarkeit der kulturel-len Differenzen ist; eines Rassismus, der - jedenfalls auf den ersten Blick - nicht mehr die

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Input 2: Die Normalität des Rassismus

Überlegenheit bestimmter Gruppen oder Völker über andere postuliert, sondern sich darauf ‚beschränkt’, die Schädlichkeit jeder Grenzverwischung und die Unvereinbarkeit der Lebens-weisen und Traditionen zu behaupten.“ (Balibar 1990, 28)

Der hier angesprochene Punkt ist folgenreich für unsere Debatte über die Alltäglichkeit und Normalität des Rassismus. Folgenreich deshalb, weil hier in der Rassismustheorie und der rassismuskritischen Forschung darauf hingewiesen wird, dass zumindest in offiziellen euro-päischen Kontexten die affirmative Benutzung, die bejahende Benutzung von „Rassehierachi-en“ und des Wortes „Rasse“ in diesem Sinne diskreditiert ist. Das ist im Wesentlichen auf die Erfahrung des Nationalsozialismus, auf die Auseinandersetzung mit dem Grauen, das sich mit der „Rassen“-Frage verknüpft hat, zurückzuführen. Insofern ist es offiziell kaum noch mög-lich, sich legitim als Rassist zu initiieren. Nicht nur hier nicht, an diesem Ort, also in einem sich antirassistisch gerierenden Zusammenhang (Beirat des IDA-NRW, Anm. d. Red.), in ei-nem ministeriellen Zusammenhang (der Beirat tagte im Jugendministerium NRW, Anm. d. Red.), sondern überhaupt ist es schwerlich vorstellbar, dass jemand aufsteht und sagt: „Ich als Rassist meine zu der Frage, mit der wir beschäftigt sind, Folgendes …“. Eine solche Position ist offiziell diskreditiert. Es ist aber möglich zu sagen, so die Botschaft des Zitates von Bali-bar: „Ich als jemand, der Wert darauf legt, dass wir eine Gesellschaft sind, in der bestimmte Normen nun einmal gelten, meine, dass diejenigen, die andere Normen haben, hier nichts ver-loren haben. Es sei denn, sie passen sich an.“

Was also Balibar sagen will, was mit dem Ausdruck Neorassismus oder kultureller Rassismus gesagt wird, ist, dass an die Stelle der „Rasse“-Vokabel das Wort Kultur getreten ist. Nicht immer, aber immer potenziell werden mit „Kultur“ bekannte Unterscheidungsformen repro-duziert, die die Normalität einer bestimmten Ordnung anrufen, nämlich die Normalität, dass es ein legitimes natio-ethno-kulturelles „Wir“ gibt, dass sich hier legitimer Weise aufhält, und das es Andere gibt, die zumindest in einem fraglichen Verhältnis zu dem jeweiligen Kontext stehen.

Zwar wäre es hier möglich, die rassistische Normalität auf der Ebene von empirischen Daten zu diskutieren, z. B. die Verbreitung nationalistischer, rechtsextremer und rassistischer Ein-stellungen, wie sie u. a. in den mit „Deutsche Zustände“ betitelten Untersuchungen (Heitmey-er 2007) angesprochen wird. Diese Studien verweisen auf die überdauernde Bedeutung rassis-tischer Einstellungen. Aber auch die Kontinuität rassistischer Diskriminierungsfälle in den Sektoren Wohnen, Arbeit und Bildung (etwa Flam 2007), ist in Ansätzen dokumentiert. Wei-terhin stehen uns Daten aufgrund von Selbstäußerungen von Rassismus negativ Betroffener, die in qualitativen Studien (etwa Melter 2006) untersucht werden, zur Verfügung. Dennoch liegen, wie das European Monitoring Centre on Racism and Xenophobia (EUMC) feststellt, vor allem für den deutschsprachigen Bereich keine validen Daten vor in Hinblick auf Diskri-minierungsfälle. Wir haben bislang kein System, das stabile und über längere Zeiträume ver-gleichbare Daten der Beobachtung von rassistischer Diskriminierung erfasst. Der jährliche Bericht des EUMC aus dem Jahr 2006 kommt zu dem Ergebnis, dass die Dunkelziffer der ras-sistischen Diskriminierungsfälle weit größer sein dürfte als die zugänglichen Daten:

“Available information for the period 2004 – 2005 indicates that racist violence and crime continues to be an on-going problem in the EU, with evidence that it emerges in different

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Input 2: Die Normalität des Rassismus

forms which are generally under-documented by official data collection mechanisms.“ (EUMC 2006)

Rassismus als Gewöhnungseffekt

Das dritte Moment der Normalität des Rassismus besteht darin, dass die Gegebenheit rassisti-scher Vorkommnisse und Strukturen, soweit etwas Gewöhnliches darstellt, dass darum auch kein weiteres Aufheben gemacht wird. Warum haben wir uns an rassistische Diskriminierung gewöhnt (gewöhnt auch im Sinne einer Toleranz und im Sinne einer Ignoranz)? Ich möchte abschließend kurz einige mögliche Gründe dafür benennen:

1. Wir haben uns deshalb gewöhnt, weil öffentliche Aufmerksamkeit an mediale Berichter-stattung geknüpft ist, diese aber paradoxer Weise zu einer Entdramatisierung des Dramati-schen beiträgt. Wir haben uns an rassistische Vorkommnisse gewöhnt, haben gelernt, sie hinzunehmen, weil wir uns daran gewöhnt haben, dass hin und wieder in den Medien dar-über berichtet wird, dass jemand angegriffen wurde, verletzt oder gar ermordet wurde – „das ist normal“.

2. Der Gewöhnungseffekt hängt aber auch damit zusammen, dass zumeist ein irreführendes und verharmlosendes Vokabular benutzt wird. Es wird weniger über (rassistische) Diskri-minierung, sondern vielmehr über „Benachteiligung aufgrund von Sprachdefiziten“ ge-sprochen, so als hätten „die Migranten“ ihre Benachteiligung sich selbst und ihren Kom-petenzdefiziten zuzuschreiben oder gar ihrer mangelhaften „Integrationsbereitschaft“. So-bald Dominanzverhältnisse thematisierendes Vokabular gemieden wird (indem rassisti-sche Ereignisse als Fremdenfeindlichkeit bezeichnet oder Diskriminierungsstrukturen als Integrationsbedarfe ausgegeben werden), tendiert der Diskurs dazu, Machtverhältnisse zu konservieren.

3. Auch ist vielleicht etwas, was als Krise des Antirassismus bezeichnet werden könnte, mit einer gewissen Ermattung der Rassismuskritik in Zusammenhang zu bringen. Einige Stu-dien (z. B. Weiß 2001; Scherschel 2006) zeigen, dass antirassistische Ansätze verstrickt sind in rassistisches Denken und Deuten.

4. Wir haben auch vielleicht so etwas wie eine Erschöpfung zu beobachten aufgrund parado-xer Effekte, die das Gleichstellungsgesetz mit sich gebracht hat. Mit dem zwar in vielerlei Hinsicht unbefriedigenden Gesetz ist das Motiv, rassistische Diskriminierung anzuklagen und immer wieder auf die Agenda öffentlicher Auseinandersetzungen zu setzen für viele, die sich für ein Antidiskriminierungsgesetz eingesetzt haben, schwächer geworden.

5. Es gibt eine strukturelle Abwehr des Sprechens über Rassismuserfahrungen, die eine dop-pelte Abwehr ist: Diejenigen, die von Rassismus symbolisch und faktisch profitieren, ha-ben eine selbstverständliche Scheu, Rassismus zu thematisieren, weil sie damit ihre sym-bolische und faktische Bevorteilung thematisieren müssten. Diejenigen auf der anderen Seite, die Rassismuserfahrungen machen, haben eine Scheu, in öffentlichen Kontexten Rassismus zu thematisieren, weil sie sich dann mit der Wirklichkeit ihrer Deprivilegie-rung auseinandersetzen müssten und dies zumeist in einem Kontext, der ihnen gegenüber nicht immer sehr freundlich gestimmt ist. Es gibt insofern im deutschsprachigen Raum eine doppelte strukturelle Schwelle, die das Sprechen über Rassismus erschwert.

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Input 2: Die Normalität des Rassismus

6. Der letzte Punkt, den ich hier ansprechen möchte, ist der, dass wir uns vielleicht an die Normalität des Rassismus gewöhnt haben, weil diejenigen, die Rassismuserfahrungen ma-chen, dass die Anderen, die illegitimen Anderen, einer Nicht-Subjektposition zugewiesen werden. Dies möchte ich mit einem letzten Zitat belegen:

„Es lässt sich ohne weiteres argumentieren, dass in dem neuen Kontext der ethnisierenden und rassistischen Diskurs- und Diskriminierungsmuster die mit Rechten, Ressourcen und Voice-Optionen ausgestatteten Zugewanderten Schwedens eine viel bessere Ausgangspo-sition besitzen, um sich zu verteidigen oder sogar zum Angriff überzugehen, als die prak-tisch recht- und ressourcenlosen Zugewanderten Deutschlands, die (…) oft die vorherr-schenden Defizitdiskurse übernehmen und nicht nur unter einer Fremd-, sondern auch un-ter Selbstanklage leiden. Eine große Mehrheit Zugewanderter scheint über keine sprach-lich-symbolischen Mittel und eine kleine Minderheit nur über Fundamentalismus als dis-kursives Gegenargument zu verfügen, mit denen sie sich gegen die ständigen Angriffe auf ihre Integrität wehren können.“ (Flam 2007, 34)

Wir haben uns also an Rassismus gewöhnt, weil es zur Logik des Rassismus gehört, dass die-jenigen, die auf der anderen Seite stehen, entmachtet und sozusagen entstimmt sind.

Ich danke Ihnen.

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Leiprecht, Rudolf (2001): Alltagsrassismus. Eine Untersuchung bei Jugendlichen in Deutsch-

land und in den Niederlanden, Münster

Melter, Claus (2006): Rassismuserfahrungen in der Jugendhilfe. Eine empirische Studie zu

Kommunikationspraxen in der Sozialen Arbeit, Münster/New York/Berlin/München

Salecl, Renata (1994): Politik des Phantasmas. Nationalismus, Feminismus und Psychoanalyse,

Wien

Stichweh, Rudolf (1995): Der Körper des Fremden, in: Hagner, Michael (Hg.): Der falsche

Körper. Beiträge zu einer Geschichte der Monstrosität, Göttingen, 174-186.

Prof. Dr. Paul Mecheril ist seit Oktober 2011 Professor für Interkulturelle Pädagogik an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg. Dort leitet er das Center for Migration, Education and Cultural Studies (CMC). Zuvor war er Professor für Interkulturelles Lernen und Sozialer Wandel sowie Leitung des Instituts für Erziehungswissenschaften an der Fakultät für Bil-dungswissenschaften der Universität Innsbruck. Er promovierte 1991 an der Universität Münster in Psychologie und habilitierte sich 2001 an der Universität Bielefeld in Erziehungs-wissenschaften mit einer Arbeit zum Thema „(Mehrfach-) Zugehörigkeiten in der Migrations-gesellschaft“.

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AG1: Reflexion and discussion on white privilege in a German society; from guilt to responsibility.

AG1: Reflexion and discussion on white privilege in a Ger-man society; from guilt to responsibility.

Dorian Boncoeur

We live today with the idea that public policies should be - in theory - fair to everyone, by us-ing and embracing words like democracy, tolerance, diversity and colorblindness. Germany, amongst other countries in 'the free world', is one where such values are the very core of the society which evolves and adapts to its past and welcomes the new differences it is faced in the present and future to come. However, the one semantic commonality with the above-mentioned terms is the denial of difference of realities.

Public policy in the west has evolved with time and largely within the last two decades, highly signified by transcendence. Getting over racism to talk about welcomeness in Multicultural-ism but also 'realizing that Multiculturalism has failed' to embrace diversity. The right-wards shift in discourse was a gradual move towards the alleviation of responsibility from public policy to individuals where today's idea of diversity lies intercultural competence and the abil-ity to tolerate the others difference; and by difference we mean not young, not able bodied, non-German and mostly non-white.

As properly pointed out by Paul Mecheril, we moved away from the problem that is racism. Although some more than others fit a profile that gives the system what it wants; without knowing how but simply renders some comfort in our ways. Race is one of those criterias. One not meant to be seen nor discussed in Germany, a society which inherits from an 'am-nesic' colonial past.

This is where 'white privilege' comes into play as a proper conceptualization of these phe-nomena where some are able to rip more than they might have sowed. White privilege can be defined as "the unearned advantages of being white in a racially stratified society'' and has been characterized as an expression of institutional power that is largely unacknow-ledged by most white individuals. White privilege is manifested in terms of history, wealth, justice, employment and economics, housing, education, and self-image. Concretely said, Whites - in a society which inherits a past of race superiority and inferiority - when confronted with their racial identity, view their social, cultural, and economic experiences as a norm that everyone should experience, rather than as an advantaged position that must be maintained at the expenses of others.

An example could lie in the way African kids are being depicted in the media and the use of such in development aid or charity advertising. The hindered reading of such images tells us not only that people of color are failing to achieving the norm which explains their relegated and impoverished position and the need for this society we live in 'to do good' by ''helping'' them.

But if racial injustice is the system of structural arrangements which produces and sustains inequalities on a racial basis; that is what are the changes given to individuals at the begin-ning and the places they occupy at the end of it. Attaining racial justice would mean the changing – not particularly reversing, of this arrangement.

'How to go about with this when it is not the fruit of my work that I enjoy those privileges', might ask someone. Well, 'it did not matter whether I did this or not; what mattered is my feel-

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AG1: Reflexion and discussion on white privilege in a German society; from guilt to responsibility.

ing of living in the residue of someone else's action, which I was not to be blamed directly for but had a repercution in my life. We have to clean the mess not because we're guilty... but only because we are the only ones left.'

Hence comes into play, the two ideas discussed in our workshop; the intrinsic semantic & philosophical difference between guilt and responsibility. Guilt being the sentiment one feels because of what they have done, whereas responsibility are the actions one does because of who they are.

Responsibility and accountability work like the braking system of a crane; to efficiently stop the motion of the weight going down, there is a need for another engine of the same power capacity to pull the weight up only for it to stop in mid-air. Bringing the weight up, would re-quire more energy, confronting the liability we had involved another step, another effort.

Where can one go from here? The workshop's discussion revolved a lot on the actions one can do. The discussion sparked much discomfort and denial about the issue of whiteness. But does playing the good white knight in the tram mean that we transcend our racial bias? Does playing the 'wigger' means that we transcend our whiteness and white guilt? We should rather identify and posit ourselves in this very system; equity is by no means, the negation of an individual’s responsibility/ies as social workers or an institutional agent of the former.

Dorian Boncoeur, Soziologe M.A, Kontakt: [email protected]

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Reflexion des Workshops AG1 von Dorian Boncoeur: „White privilege- from guilt to responsibility“

Reflexion des Workshops AG1 von Dorian Boncoeur: „Whi-te privilege- from guilt to responsibility“

Lydia Waldmann

Im Folgenden möchte ich versuchen aus meiner Perspektive die Erlebnisse, Gedanken und das Wirken des besuchten Workshops auf mich, zu reflektieren. Es geht mir nicht darum ähn-lich wie ein Protokoll die diskutierten Inhalte zu dokumentieren, sondern mir geht es darum hier meinen persönlichen Eindruck und meine Gedanken dazu zu formulieren und somit zu sortieren. Zweifelsohne wühlt das Thema Rassismus und vor allem die Sichtbarmachung der eigenen rassistischen Strukturen auf. Es erfordert also den Willen die eigenen rassistischen Strukturen die wir im Job und in unserer Umwelt reproduzieren an die Oberfläche zu bringen. Dies kann schmerzhaft, lästig und unangenehm sein. Unser Workshopleiter Dorian hat das Thema der weißen Privilegien und den Umgang damit in den Fokus genommen. Ich hatte das Gefühl, dass obwohl der Rahmen gesetzt wurde im Workshop die eigenen Strukturen zu be-nennen und zu beleuchten, es dennoch als eine große Schwierigkeit erschien diese anzuspre-chen. So gab es die Tendenz Beispiele von Rassismus, oder der Sichtbarmachung von eigenen Privilegien, nicht auf sich selbst zu beziehen. Es wurden auch sogenannte weiße Privilegien negiert oder erst gar nicht als Privileg gesehen. Es gilt sich folgendes deutlich zu machen: „Weiß-sein“ lässt mich zu einer dominierenden Gruppe werden, die Privilegien genießt, wel-che den Angehörigen der Gruppe meist nicht bewusst sind bzw. als selbstverständlich emp-funden werden. Es gilt sich diese bewusst zu machen und selbstkritisch zu hinterfragen.

Dorian führte auch ein, wie ich finde, beeindruckendes Beispiel an. Ich hoffe dies auch richtig verstanden zu haben. Wobei es wahrscheinlich sowieso jeder Mensch unterschiedlich wahr-nehmen und beschreiben würde. Er beschrieb, dass wenn wir uns ein Kreisel vorstellen und wir an unterschiedlichen Punkten z. B. unseren Karriereweg starten, wir eigentlich immer alle die gleiche Entfernung zurück legen müssen. Dadurch dass es aber Privilegien gibt, die andere nicht oder weniger erfahren, entsteht eine Ungleichbehandlung bzw. die Möglichkeit andere zu überholen. Dies hängt somit nicht an besseren Kompetenzen einzelner, sondern an der Chancenverteilung und dem Zugang zu Privilegien. Also kann Diskriminierung, Ausschlie-ßung und Rassismus als Gruppenprivileg gesehen werden, welches weiße Menschen begüns-tigt.

Der Austausch und die Diskussion im Workshop waren hitzig und sehr intensiv. Interessant war auch der Aspekt der Sprache. Manche sprachen deutsch, manche englisch. Es zeigte sich, dass immer wieder rückgefragt werden musste, ob sich auch verstanden wurde. Dies finde ich ist jedoch nicht nur am Gebrauch verschiedener Sprachen festzustellen. Sondern vielmehr zeigte sich wieder, dass, bevor über Inhalte kontrovers diskutiert werden kann, wir uns die subjektive Bedeutung von Aussagen bewusst machen müssen.

Der Workshop ermutigte sehr sich weiter mit dem Thema der Verinnerlichung von eigenen rassistischen Strukturen zu befassen und die Bedeutung von weißen Privilegien zu reflektie-ren. Auch um Handlungsalternativen in der Sozialen Arbeit zu finden, genügt es bei weitem nicht sich eine Zeitlang mit dem Thema zu befassen, sondern es geht darum sich konsequent

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Reflexion des Workshops AG1 von Dorian Boncoeur: „White privilege- from guilt to responsibility“

und kontinuierlich den eigenen verkappten Strukturen zu stellen, um diese sichtbar zu machen und zu bearbeiten. Der Workshop half sehr dabei einen Raum zu schaffen dies zuzulassen und Selbstreflexion anzuregen. Es geht auch nicht darum, sich jetzt selbst auf die Schulter zu klopfen und sich freizumachen weiße Privilegien und rassistische Strukturen durchdacht zu haben. Nein vielmehr ist dieser Prozess niemals abgeschlossen. Es reicht bei weitem nicht sich Anti-Nazi-Buttons anzuheften und sich besser, offener und fern eigener rassistischer Strukturen zu fühlen. Nur durch die Sichtbarmachung und die permanente Auseinanderset-zung mit dem eigenen Handeln, Fühlen und Denken bezogen auf dieses Thema können wirk-liche Handlungsalternativen entstehen.

Mich hat der Workshop animiert und noch mehr Interesse geweckt an einer intensiveren Selbstreflexion, die niemals beendet zu sein scheint.

Lydia Waldmann ist als Diplom Sozialpädagogin im Bereich der Wohnungslosenhilfe tätig. Sie ist im AKS Bremen aktiv und arbeitet des weiteren bei Bisa+e mit. Kontakt: [email protected]

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AG2: Politisch gewollter und legislativ beschlossener Rassismus

AG2: Politisch gewollter und legislativ beschlossener Ras-sismus

… am Beispiel des eingereichten Vorbehalts gegen die aus dem Europäischen Fürsorge-abkommen (EFA) abgeleiteten Leistungsansprüche von Unionsbürger/-innen – Ein Spiel auf Zeit?

Moussa Dieng

Im alltäglichen Sprachgebrauch wird der Begriff Rassismus oft mit „Ausländerfeindlichkeit“ oder „Gewalt gegen Ausländer“ gleich gesetzt. Dabei steckt viel mehr hinter diesem Phäno-men. Rassismus kann in zahlreichen Erscheinungsformen auftreten, von welchen einige of-fensichtlicher bzw. sichtbarer sind als andere. Der vorliegende Artikel soll dazu beitragen, die Leser/-innen für weniger offensichtliche Formen von Rassismus zu sensibilisieren und sie im Zuge dessen zur Einnahme einer rassismuskritischen Perspektive einzuladen. Es sind nämlich nicht bloß die offensichtlichsten Erscheinungsformen – wie Ausländerfeindlichkeit und Ge-walt gegenüber ethnischen Minderheiten – welche als Rassismus gelten. Auch solche Aus-schließungspraxen, die politisch gewollt, mit ökonomischen Argumenten begründet oder le-gislativ beschlossen sind, gelten bereits per Definition als rassistisch motiviert. Dies soll am Beispiel der europa- bzw. völkerrechtswidrigen Verweigerung von aus dem Europäischen Fürsorgeabkommen (EFA) abgeleiteten Leistungsansprüchen von Zuwanderer/-innen mit Unionsbürgerstatus veranschaulicht werden. Die Idee, diese Zielsetzung entlang der genann-ten Thematik zu verfolgen, basiert auf der Feststellung, dass selbst viele Mitarbeiter/-innen, welche mit dem Vollzug ausländerrechtlicher Weisungen befasst sind, den kürzlich seitens der Bundesregierung eingereichten Vorbehalt gegenüber den aus dem EFA abgeleiteten Leis-tungsansprüchen von Unionsbürger/-innen nicht unmittelbar als Erscheinungsform von Ras-sismus wahrnehmen und die in der Praxis resultierenden negativen Folgen für die Klientel oft ohne Weiteres hinnehmen, dieses Vorgehen allenfalls in ihren „stillen Kämmerchen“ kritisie-ren, aber nicht aktiv dagegen vorgehen.

Trotz der Tatsache, dass ich zu denjenigen Menschen zähle, welchen der Migrationshinter-grund (bedingt durch meine dunklere Hautfarbe) quasi ins Gesicht geschrieben steht, habe ich in meiner Kindheit keine nennenswerten Rassismus- bzw. Diskriminierungserfahrungen sam-meln müssen – abgesehen von kindlichen Grausamkeiten, die andere Kinder dafür wegen ih-rer Brille, ihrer Zahnspange, ihrer zu großen oder zu kleinen Nase, ihres Über- oder Unterge-wichts, ihrer Armut oder ihres Reichtums oder wegen einer sonstigen Andersartigkeit erfah-ren haben. Entsprechend entwickelte ich in meiner Jugend eine sozialromantische Haltung zum Thema Rassismus und war optimistisch, dass dieses Thema mit meiner Generation aus-sterben und spätestens im Jahr 2020 keine Rolle mehr spielen würde. Mit der Aufnahme mei-ner jetzigen beruflichen Tätigkeit, schien diese Schon-Phase allerdings vorbei zu sein. Was mir seitdem widerfahren ist, ist nahezu unglaublich.

Bedingt durch meine berufliche Tätigkeit als Case Manager im Bereich Migration und Inte-gration, werde ich in meinem beruflichen Alltag regelmäßig mit diversen Erscheinungsfor-men von Rassismus konfrontiert. Von tätlichen Übergriffen gegenüber meiner Klientel und/

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AG2: Politisch gewollter und legislativ beschlossener Rassismus

oder deren Schlechterstellungen (z.B. ungerechte Beurteilung/ Benotung ihrer Leistungen bis hin zu Ausschließungspraxen durch das Lehrpersonal) an Schulen über Benachteiligungen auf dem Wohn- und Arbeitsmarkt und herabwürdigende Behandlungen auf Ämtern, in (Verwal-tungs-)Behörden, sozialen Diensten oder durch die Polizei bis hin zur Verweigerung von Bleiberechten oder die Anwendung der Drittlandpraxis mit Zurückweisungen nach Italien oder Griechenland, welche zweifelsohne menschenunwürdig sind, erfährt meine nicht-deut-sche Klientel nahezu täglich Rassismus. Selbst in meinem kollegialen Umfeld sowie in Netz-werksitzungen zu den Themen Migration und Integration fallen häufig grenzwertige Äußerun-gen und Bemerkungen von Kolleg/-innen, welche diese selbst kaum noch als Rassismus wahrnehmen. Von Bedenken gegenüber der Beschäftigung von „Kopftuchfrauen“ über rassis-tische Berichterstattungen von Türk/-innen als Paradebeispiel für eine gescheiterte Integration und „die HIV positiven, schwer drogenabhängigen Schwarzafrikaner, die an jeder Ecke dea-len“, bis hin zur wenig empathischen Überzeugung, dass „die meisten Zuwanderer/-innen doch nur nach Deutschland kommen, um die Hand aufzuhalten!“, wurden seitens vermeint-lich professioneller Fachkräfte Aussagen getätigt, die nicht gerade für interkulturelle Kompe-tenz und kulturelle Sensibilität sprechen. Ebenso hört bei vielen sich selbst als tolerant und rassismuskritisch bezeichnenden einheimischen Kolleg/-innen die Toleranz und Weltoffenheit auf, wenn die eigene Tochter einen Muslimen heiraten will. Zum Schutz der Tochter vor Un-terdrückung und Gewalterfahrungen, versteht sich. Ein konkretes Beispiel bezieht sich auf meine aktuelle Tätigkeit im Migrationsbereich. Da sich der Fokus von Case Manager/-innen im Bereich Migration insbesondere auf die Unterstützung von Neuzuwander/-innen richtet, besteht ein nicht unwesentlicher Anteil meiner jetzigen Klientel aus EU-Bürger/-innen (mit Unionsbürgerstatus). Im Zuge der gegenwärtigen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Ent-wicklungen in der Europäischen Union (Stichwort: EU-Finanzkrise; sinkendes EU-Schiff) so-wie infolge der Wanderbewegungen vieler Roma aus den EU-Ländern, gerät die Akzeptanz der EU-Freizügigkeit und damit einhergehend die „gegenseitige europäische Solidarität“ zu-nehmend in den Hintergrund. Entsprechend spielen Erfahrungen von Diskriminierung und Rassismus seitens der einheimischen Bevölkerung im Alltag meiner fKlientel mit Unionsbür-gerstatus eine zentrale Rolle.

Nachdem ich immer häufiger von institutionellen Rassismuserfahrungen meiner Klient/-innen mit Unionsbürgerstatus erfahren hatte, begann ich zu hinterfragen, ob es tatsächlich sein kann, dass diese in den Ämtern, Verwaltungsbehörden und sozialen Diensten so ungerecht behan-delt und europarechtswidrig abgefertigt werden, sowie ob ihnen wahrhaftig mit einer derart rassistischen Haltung begegnet wird, wie sie es regelmäßig in der Beratung schilderten. Um mir ein eigenes Bild von den (unabhängig voneinander berichteten) Diskriminierungserfah-rungen meiner Klientel zu verschaffen, beschloss ich, aktiv vorzugehen und meinen Migrati-onshintergrund bzw. meine Hautfarbe in diesem Kontext gewissermaßen als Chance zu nut-zen. So entschied ich, diejenigen Klient/-innen, deren Hautfarbe meiner zumindest ähnelt, als eine Art „Undercover Case Manager“ zu den jeweiligen Institutionen zu begleiten. Wenn Sie selbst schon einmal eine etwas größere Roma-Familie gesehen haben, wird Ihnen vielleicht eines aufgefallen sein: Stellt man bspw. eine größere Roma-Familie nebeneinander in einer Reihe auf, so unterscheiden sich die Hautfarben einzelner Familienmitglieder oft voneinander. Wenn ich dann eine dieser Familien als Case Manager in ein Amt oder eine Behörde begleite, machte ich die Erfahrung, dass die Sachbearbeiter/-innen mich und die Roma-Familie als „ir-

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AG2: Politisch gewollter und legislativ beschlossener Rassismus

gendwie nicht-weiß“ und damit automatisch als eine Gruppe wahrnahmen und davon ausge-hen, ich gehöre zu der Familie. In jedem Fall wird diesen nicht immer sofort auf den ersten Blick klar, dass ich der Case Manager der Roma-Familie bin. Ich begleitete also diejenigen Familien, mit deren Sachbearbeiter/-in ich noch keinen Kontakt gehabt habe, im Rahmen des Case Managements („undercover“) zu den verschiedenen Ämtern, (Verwaltungs-)Behörden und sozialen Diensten und war entsetzt, wie menschenverachtend dort mit den jeweiligen Fa-milien umgegangen worden ist. Sie wurden respektlos behandelt, Termine wurden spontan auf den nächsten Tag verschoben, es wurden falsche Auskünfte gegeben, es fielen Beleidi-gungen, Beschimpfungen und vieles mehr. Da ich die Sachbearbeiter/-innen nicht sofort er-kennen ließ, dass ich die Familien im Auftrag eines Trägers der Wohlfahrt begleite, musste auch ich mir Beleidigungen und Beschimpfungen anhören. So wurde ich beispielsweise von einem Leiter einer Behörde gefragt, welchen Auftrag ich überhaupt hätte? Ob ich alle Zigeu-ner dieser Welt nach Deutschland holen wolle? Eine Sachbearbeiterin fragte mich, nachdem sie festgestellt hatte, dass ich der deutschen Sprache mächtig bin, ob ich der neue „Lover“ der Mutter eines Klienten wäre, oder ob ich nur das Geld bräuchte, welches ich für die Scheinehe mit ihr bekommen würde. Der menschenunwürdigste Fall war jedoch, als ich eine meiner Ro-ma-Familien zu einem Amt begleitet habe, weil dieser – infolge eines durch das Amt verur-sachten buchhalterischen Fehlers sowie entgegen der gesetzlichen Bestimmungen – die Was-serzufuhr gesperrt worden war. Als ich die Familie das erste Mal zu dem Amt begleitete, ver-sicherte die zuständige Sachbearbeiterin mir, dass sie unverzüglich mit dem Vermieter in Kontakt treten wollte, sodass schnellstmöglich die Wasserzufuhr entsperrt werden könnte. Drei Tage später hatte die Familie noch immer kein Wasser. Auf Nachfrage, bestätigte mir der Vermieter der Familie, dass weder eine Zahlung eingegangen wäre noch die Sachbearbei-terin sich bei ihm gemeldet hätte. Als ich daraufhin gemeinsam mit der Mutter der Roma-Fa-milie bei dem sozialen Dienst aufschlug, grinste mich die Sachbearbeiterin lediglich unver-schämt an und äußerte, dass wir jetzt mal keinen Aufstand machen sollten, da wir in unseren Zelten schließlich auch kein fließendes Wasser gehabt hätten. Als ich dann entgegnete, dass es hier nicht um meine Wasserzufuhr, sondern um die meiner Klientin ginge und meine Visi-tenkarte zückte, entschuldigte die Sachbearbeiterin sich zwar bei uns, beendete den Satz je-doch mit: „… aber ist doch wahr!“ und zeigte somit, dass sie ihr Verhalten nach wie vor ver-ständlich fand. Daraufhin reichte ich eine Beschwerde beim Leiter der Sachbearbeiterin ein. Dieser entschuldigte sich ebenfalls für die krassen Äußerungen seiner Mitarbeiterin, räumte aber ebenfalls Vermutungen bezüglich eventueller Hintergründe und Ursachen für das Fehl-verhalten seiner Mitarbeiterin ein, die rein ökonomisch geleitet waren. So erläuterte er, zwar absolutes Verständnis für diejenigen Menschen mit Migrationshintergrund zu haben, die aus ihrem Leben das bestmögliche rausholen wollen, fügte aber im gleichen Atemzug hinzu, dass er „Verständnis für die aus rein ökonomischer Sicht nicht vertretbaren Vorbehalte seiner Mit-arbeiterin“ hätte, weil sich Deutschland die Entrichtung von Sozialleistungen an Unionsbür-ger/-innen de facto nicht leisten könne. Nachdem ich das Gespräch vorzeitig beendet hatte, weil keine Einsicht zu erhoffen war, wunderte ich mich kaum noch über die Haltung der ihm unterstellten Mitarbeiter/-innen.

Weitaus schlimmer als den Umstand, dass meine Klientel regelmäßig auf Ämtern, Verwal-tungsbehörden und sozialen Diensten diskriminiert wird, empfand ich in diesem Kontext al-lerdings die Tatsache, dass ich mich gelegentlich – z.B. wenn eine größere Familie aus den

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AG2: Politisch gewollter und legislativ beschlossener Rassismus

EU-Ländern hier einreist und mich um Unterstützung bei der Beantragung von Sozialleistun-gen bittet, bei rassistischen Gedankengängen erwischte. Obwohl ich selbst einen Migrations-hintergrund habe, mich partout als rassismuskritischen Sozialarbeiter bezeichnen würde, der sowohl ehrenamtlich als auch beruflich auf der Mikro-, Meso- und Makroebene aktiv gegen Rassismus und Diskriminierung vorgeht, habe auch ich mich teilweise gefragt, wie es sich der deutsche Staat im Zuge der aktuellen Finanzmittelknappheit leisten kann, Hunderttausende von Arbeitslosen des sinkenden EU-Schiffes den Anspruch auf Sozialleistungen zuzuspre-chen. So musste auch ich feststellen, dass in meinem Kopf ein durch künstlich geschaffene Grenzen konstruiertes „Mein“ und „Dein“ zu wurzeln schien. Ich stellte fest, dass ich es aus rein ökonomischer Sicht nicht gutheißen konnte, als ich hörte, dass EU-Bürger/-innen nun auch mit an unseren Sozialleistungen „zerren“ dürfen sollten. Für weitaus weniger Unbehagen sorgt bei mir hingegen der Gedanke daran, dass zahlreiche Projekte, Einrichtungen und Dienste zu einem großen Teil aus EU-Töpfen finanziert werden. Ich begann mich zu fragen, ob nicht vielleicht auch in mir rassistische Haltungen und Bilder wirken und kam zu dem Fa-zit, dass jeder von uns – bedingt durch verschiedene Faktoren, wie die verzerrte mediale Be-richterstattung, die wirtschaftliche Situation auf Bundes- und EU-Ebene, die gegenwärtigen gesellschaftlichen Entwicklungen und vieles mehr – Rassismus sowohl verinnerlicht als auch (re-)produziert. Davon kann sich vermutlich niemand völlig frei sprechen. Wichtig ist, dass diese (verinnerlichten) rassistischen Strukturen aufgebrochen werden sowie, dass vorurteils-behaftete und rassistische Gedanken und Einstellungen selbst- und rassismuskritisch reflek-tiert und erforderlichenfalls an die realen Gegebenheiten angepasst werden. Allerdings reicht es in keinem Fall aus, seine eigenen Einstellungen, Haltungen und Meinungen kontinuierlich selbst- und rassismuskritisch zu hinterfragen. Der Sozialen Arbeit obliegt der Auftrag, Un-gleichbehandlungen, Ausschließungspraxen und somit auch Rassismus auf sämtlichen gesell-schaftlichen Ebenen aktiv entgegenzuwirken. Entsprechend müssen wir auch die Haltungen, Einstellungen und Äußerungen unserer Kolleg/-innen rassismuskritisch reflektieren und erfor-derlichenfalls kritisieren. Meiner Ansicht nach dürfen Solidarität und Gemein(wohl)sinn kei-nesfalls an (konstruierten!) Grenzen enden; schließlich hat es sich niemand selbst erarbeitet, dort geboren zu sein, wo er/ sie geboren worden ist. Wir dürfen uns nicht von verinnerlichten, strukturell und historisch verwurzelten rassistischen Machtverhältnissen leiten lassen. Im Kontext der vorangegangenen Thematik gilt es kritisch zu hinterfragen, warum Leute, die zu-fällig vor einer (künstlich geschaffenen) Grenze geboren sind, mehr Ansprüche haben sollten, als Leute, die zufällig hinter einer Grenze geboren sind.

Moussa Dieng ist Sozialarbeiter M.A. (Schwerpunkt: Soziale Teilhabe); aktuelle Tätigkeiten: Einrichtungsleitung im Übergangswohnheim Ludwig-Quidde-Straße; Leiter des Paten-schafts-Projekts „PafüM (Patenschaften für Migranten) II“ in Bremen-Mitte und West; freibe-ruflicher Referent des Fachdienstes Migration und Integration (der AWO in OWL); Promo-vend der HAW Hamburg (in Anbindung an die Universität Hamburg).Kontakt: [email protected]

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AG3: Reflexion verinnerlichter Dominanz und Unterdrückung als Ausgangspunkt für ein Handelngegen Rassismus?!

AG3: Reflexion verinnerlichter Dominanz und Unter-drückung als Ausgangspunkt für ein Handeln gegen Rassis-mus?!

Bettina Schmidt

1.) Einleitung

In der Anti-Bias-Arbeit ist das Modell der Internalisierung von Dominanz und Unterdrückung zentral, da es einen Zugang zur vertieften Auseinandersetzung mit der eigenen Involviertheit in Machtverhältnisse anbietet. Ebenso wie in meinem Workshop auf dem Fachtag 'Rassis-mus in der Sozialen Arbeit‘ in Bremen werde ich das Modell internalisierter Dominanz und Unterdrückung in diesem Beitrag in den Fokus rücken. Nach einer kurzen Klärung, was sich hinter dem Anti-Bias-Ansatz verbirgt, werde ich das Modell vorstellen und in die verschiede-nen Aspekte von Veränderungsprozessen in der Anti-Bias-Arbeit einordnen.

Anschließend frage ich danach, welche Möglichkeiten und Grenzen im Umgang mit dem In-ternalisierungs-Modell durch einen spezifischen Fokus auf Rassismus einerseits und durch eine mehrdimensionale / intersektionale Perspektive andererseits gegeben sind und inwie-fern sich diese Blickrichtungen konkret bezogen auf das Modell verbinden lassen.

2.) Der Anti-Bias-Ansatz

Der Begriff 'bias' wird aus dem Englischen mit Schieflage oder Voreingenommenheit über-setzt. Da mit dieser Übersetzung die Grundgedanken des Ansatzes verkürzt bzw. verfälscht werden – weil Diskriminierung entweder auf individuelle Einstellungen einzelner reduziert wird, oder aber gesellschaftliche Ungleichheitsverhältnisse nicht in ihrer Konstruiertheit und Veränderbarkeit beschrieben sind (vgl. Schmidt 2009) – wird der englische Begriff anti-bias auch im deutschsprachigen Raum übernommen.

Der Anti-Bias-Ansatz wurde in den 1980er und 1990er Jahren in den USA und in Südafrika entwickelt und weiterentwickelt. Der Ansatz nimmt verschiedene Formen von Diskriminierung auf verschiedenen Ebenen in den Blick. Es wird davon ausgegangen, dass alle Menschen Erfahrungen mit Diskriminierung machen – dass sie diskriminieren und diskriminiert werden. In der Anti-Bias-Arbeit wird an den Erfahrungen der Einzelnen angesetzt und zur Reflexion eigener Bilder und Voreingenommenheiten ebenso ermutigt wie zur Auseinandersetzung mit der eigenen Positionierung innerhalb gesellschaftlicher Machtverhältnisse, mit eigenen Privi-legien nd Benachteiligungen, Möglichkeiten und Verantwortungen.

Zentral ist die Kontextualisierung von individuellen Erfahrungen. Diese werden nie für sich stehend betrachtet, sondern auf ihre (historische) institutionelle und diskursive Verankerung oder Einbettung in der Gesellschaft hin befragt. In der Anti-Bias-Arbeit stehen demnach (Selbst-)Reflexion, Sensibilisierung für die Wirkungsweisen von Diskriminierung, ein Hinter-fragen scheinbar selbstverständlicher gesellschaftlicher Machtstrukturen sowie der Aus-tausch und die gemeinsame Fokussierung auf Handlungsmöglichkeiten und Veränderungs-perspektiven hin zu einer diskriminierungsfreien Gesellschaft im Vordergrund.

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AG3: Reflexion verinnerlichter Dominanz und Unterdrückung als Ausgangspunkt für ein Handelngegen Rassismus?!

Lerngegenstand

Die eigene Involviertheit in gesellschaftliche Herrschaftsverhältnisse stellt meines Erachtens den zentralen Lerngegenstand in der Anti-Bias-Arbeit dar. Damit ist das Lernangebot not-wendig mit Verunsicherungen für die Lernenden verbunden, da es nicht auf die Stabilisie-rung von Machtverhältnissen hin orientiert ist (vgl. Castro Varela 2002, 45), sondern vorherr-schende Strukturen ebenso hinterfragt wie eigene Denk-, Deutungs- und Handlungsmuster irritiert werden. Gleichzeitig unterscheidet sich der Lernrahmen, der für die Begleitung solch verunsichernder Lernangebote herzustellen versucht wird, meist von eigenen schulischen Lernerfahrungen, da Eigenverantwortung, Mitgestaltung, Kritik und Solidarität anstatt Leis-tungsdruck, Kontrolle und Konkurrenz das Miteinander bestimmen. Damit vermag der für die verunsichernde Auseinandersetzung mit dem Lernangebot als notwendig erachtete Rahmen ebenfalls verunsichernd und irritierend zu wirken (vgl. Schmidt 2011).

Die Auseinandersetzung mit diesem Lerngegenstand, der eigenen Verstricktheit in Herr-schaftsverhältnisse sowie der eigenen Beteiligung an ihrer Aufrechterhaltung, zieht sich durch die gesamte Anti-Bias-Arbeit, die eigene Bilder, Machtpositionierungen und Diskrimi-nierungserfahrungen im Kontext von Ungleichheitsstrukturen und Dominanzverhältnissen thematisiert (s.o.). Besondere Bedeutung für die Annäherung an diesen Lerngegenstand kommt dem Modell internalisierter Dominanz und Unterdrückung zu. Es geht insofern über verbreitetere Reflexionsangebote hinaus, wie die verdeckten und subtilen, aber außerordent-lich wirkmächtigen Dominanzstrukturen in einer Weise fokussiert werden, die eine erfah-rungsorientierte Reflexion ermöglicht und gleichzeitig ein Analyseinstrument anbietet.

3. Das Modell der Internalisierung von (rassistischer) Dominanz und Un-terdrückung

Das Modell der Internalisierung von Dominanz und Unterdrückung wurde ursprünglich von der Psychologin Valerie Batts aus ihrer Beratungs- und Trainingspraxis heraus entwickelt, um den modern racism in den USA zu beschreiben. Modern Racism definiert sie in Abgren-zung zu einem ‚old-fashioned' racism: Während sich old-fashioned Racism auf Gesetze, in-stitutionelle Praktiken und Strukturen bezieht, beschreibt Batts mit Modern Racism die verin-nerlichten Denk-, Deutungs- und Handlungsmuster, an denen festgehalten wird, auch wenn offizielle, formale Veränderungen beispielsweise der Gesetzeslage oder der Verfassung vor-genommen wurden (vgl. Batts 2005, 8). Modern Racism meint die Prozesse des Leugnens und Nicht-Anerkennens rassistischer Strukturen sowie das Festhalten an selbstverständlich erlebten weißen Privilegien (ebd., 9). Batts beabsichtigte mit dem Modell, dem zunehmenden Schweigen in Bezug auf rassistische Verhältnisse etwas entgegenzusetzen und gerade auch subtile und verdeckte Formen von Rassismus thematisierbar zu machen (ebd., 13f).

Valerie Batts fokussierte mit dem Modell ausdrücklich auf Rassismus und differenzierte fünf Formen von 'modern racism' auf der einen und 'internalised oppression' auf der anderen Sei-te (Batts 2005, 12ff). Sie betont aber auch für die rassismusfokussierte Arbeit die Notwendig-keit, mehrere Diskriminierungsformen miteinander in den Blick zu nehmen (ebd., 20f) sowie die Übertragbarkeit des Modells auf andere Unterdrückungsformen (ebd., 22). Ebenso wurde das Modell auch von der NGO Early Learning Resource Unit (ELRU) aus Kapstadt in dem von ihnen herausgegebenen Handbuch ‚Shifting Paradigms’ übernommen (vgl. ELRU 1997, 30). Auf dem Weg in die BRD Ende der 1990er und Anfang der 2000er Jahre wurde der spe-zifische Fokus auf Rassismus in der Arbeit mit dem Modell zunehmend zu Gunsten einer er-weiterten Perspektive auf verschiedene Unterdrückungsformen aufgegeben. Im Rahmen des

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AG3: Reflexion verinnerlichter Dominanz und Unterdrückung als Ausgangspunkt für ein Handelngegen Rassismus?!

Projektes ‚Vom Süden lernen’ von INKOTA arbeiteten beispielsweise Trainer_innen aus Län-dern des Südens mit Trainer_innen aus Ländern des Nordens zusammen (vgl. Reddy 2002, 15). Das Projekt entwickelte sich „von der Arbeit an einzelnen Unterdrückungsformen im Nord-Süd-Kontext hin zur Arbeit gegen Diskriminierung überhaupt“ (ebd.). Dementsprechend wurde im Rahmen des Projektes auch das Internalisierungs-Modell mit einem breiten Fokus auf alle Diskriminierungsformen verwendet und die privilegierte, dominante Position mit ‚ver-innerlichte Dominanz’ bezeichnet (vgl. Küber/Reddy 2002, 109). Ebenso lernte ich das Mo-dell in meinem ersten Anti-Bias-Training, welches von zwei Anti-Bias-Trainerinnen von ELRU aus Kapstadt 2002 an der Universität Oldenburg angeboten wurde, in eben dieser Verwen-dungsweise kennen: die privilegierte Seite im Modell wurde als 'internalised dominance' be-zeichnet, womit uns Teilnehmenden ein erweiterter Reflexionsfokus nahegelegt wurde.

Bei der weiteren Darstellung und Erklärung des Modells (Abbildung 1) sowie der Einordnung in Veränderungsaspekte in der Anti-Bias-Arbeit, versuche ich beide Verwendungsweisen des Modells zu berücksichtigen bzw. ihr Mitdenken in der lesenden Aneignung zu ermöglichen. Anschließend werde ich auf dieser Grundlage die Vorzüge und Gefahren einer jeden Ver-wendungsweise diskutieren.

Abb. 1: Modell der Internalisierung von MachtverhältnissenModern Racism / Verinnerlichte Dominanz Internalized Oppression / Verinnerlichte Unter-

drückungEntmündigende und/oder schädigende Hilfe

Oft ist diese Form dysfunktionaler Hilfe durch Schuld,

Scham oder durch Überlegenheitsgefühle motiviert. Die

Fähigkeit der je anderen, sich selbst zu helfen, ihre

Selbstständigkeit wird eingeschränkt

Abgabe von Verantwortung / im System mitspielen

Diese Form der Abgabe von Verantwortung geht oft mit

Manipulation der dominanten Person/Gruppe einher, in-

dem Schuldgefühle erweckt werden.

Schuldzuweisungen an die Benachteiligten

Strukturelle Unterdrückung wird individualisiert. Die be-

nachteiligte Person wird für die Konsequenzen struktu-

reller Unterdrückung selbst verantwortlich gemacht.

System verantwortlich machen/Passivität

Das System oder die je Anderen werden für die eigene

Situation verantwortlich gemacht, womit die eigenen

Handlungsspielräume unsichtbar werden. Oft ist diese

Form verbunden mit fehlender Hoffnung auf gewünsch-

te Veränderungen.

Kontakt mit der benachteiligten

Person/Gruppe/Kultur* vermeiden

Es wird keine Anstrengung unternommen, um die je

benachteiligten Gruppen oder Personen kennenzuler-

nen. Die Vermeidung basiert auf Verallgemeinerungen

und ist schon durch die Akzeptanz separierender

Strukturen gegeben. Mit einer Kontaktvermeidung geht

oft (uneingestanden) einher, dass die benachteiligte

Gruppe/Person/Kultur nicht als gleichwertig anerkannt

wird.

Kontakt mit der dominierenden Person/Gruppe/Kul-

tur* vermeiden

Es wird keine Anstrengung unternommen, die je privile-

gierten Gruppen oder Personen kennenzulernen. Die

Vermeidung basiert auf Verallgemeinerungen. Mit der

Kontaktvermeidung gehen oft Misstrauen oder Wut ge-

genüber der je privilegierteren Gruppe/Person sowie die

Befürchtung von Ablehnung einher. Die Kontaktvermei-

dung kann sich auch auf Menschen beziehen, die mit

der privilegierten Gruppe in Kontakt gehen.

Unterschiedliche Zugehörigkeiten und Lebensreali-

täten ignorieren

Das Leugnen von unterschiedlichen individuellen Le-

bensrealitäten kann auch als farbenblinde Haltung be-

zeichnet werden: Die Existenz des je Anderen wird als

Verunsicherung der eigenen Anpassung an die Norm

empfunden und zum eigenen Schutz geleugnet. Damit

geraten auch unterschiedliche Erfahrungen mit Zuge-

hörigkeit und Diskriminierung aus dem Blick.

Eigene Zugehörigkeiten/ Lebensrealitäten ablehnen

und verleugnen

Die vorherrschenden Bewertungs- und Deutungsmuster

werden übernommen: Ablehnung und Leugnung der ei-

genen Zugehörigkeit bei gleichzeitiger Aufwertung je-

weils anderer Lebensrealitäten, die angestrebt werden.

36

AG3: Reflexion verinnerlichter Dominanz und Unterdrückung als Ausgangspunkt für ein Handelngegen Rassismus?!

Strukturelle (politische, historische, ökonomische,

psychologische und soziale) Bedeutung und Aus-

wirkungen von Unterscheidungen (Unterdrückung)

nicht anerkennen

Mit der farbenblinden Haltung geht einher, dass struk-

turelle Auswirkungen von Unterscheidungen geleugnet

werden. Die (nach wie vor existierende) Realität von

Ungleichheitsverhältnissen wird nicht anerkannt.

Strukturelle (politische, historische, ökonomische,

psychologische und soziale) Bedeutung und Aus-

wirkungen von Unterscheidungen (Unterdrückung)

nicht anerkennen

Die Verinnerlichung kann sich in gelernter Hilflosigkeit

manifestieren. Die Wut gegenüber der dominanten

Gruppe wird durch Statussymbole, Konfliktvermeidung,

Konkurrenz und/oder Aggressionen gegenüber benach-

teiligteren Gruppen und Personen kompensiert.

*Mit Kultur sind verschiedene, sich verändernde und veränderbare Zusammenschlüsse, Gewohnheiten, Praxen

etc. gemeint, nicht aber auf Nationalstaaten bezogene determinierende Zuschreibungen.

Batts 2005; ELRU 1997, INKOTA 2002, Anti-Bias-Werkstatt 2006; aktuell verändert:

Schmidt 2012

Das Modell basiert auf der Annahme, dass (rassistische/weiße) Dominanz und Unter-drückung durch direkte Erfahrungen mit Diskriminierung und Privilegierungen, sowie durch indirekte Erfahrungen der Zugehörigkeit bzw. Abweichung im Kontext von gesellschaftlichen Normalitätsvorstellungen verinnerlicht werden. Die Selbstwahrnehmung wird demnach gera-de auch durch die subtilen, aber wirkungsmächtigen, von der Gesellschaft nahegelegten Bil-der und vorherrschende Zuschreibungen, durch scheinbar selbstverständliche Verteilungen von Positionen und unhinterfragte Repräsentationsverhältnisse beeinflusst (vgl. Batts 2005, 8f und 17).

Batts erklärt, dass die Machtasymmetrien von Seiten der Dominanz sowie Seiten der Unter-drückung aufrechterhalten werden und sich sozusagen gegenseitig bestätigen (vgl. ebd. 2005, 19). Da das Modell nicht einseitig die dominanten/rassistischen Positionen, Denk- und Handlungsmuster fokussiert, sondern auch die Involviertheit in den unterdrückten Positionen markiert, rücken hinsichtlich der Frage nach den Möglichkeiten zur Veränderung von interna-lisierten Machtstrukturen auch beide Positionen in den Blick. Es wird davon ausgegangen, dass es eines gemeinsamen Prozesses von Seiten der verinnerlichten (rassistischen) Domi-nanz und der verinnerlichten (rassistischen) Unterdrückung bedarf, um Veränderungsprozes-se anzustoßen.

Diese Annahme ist einerseits überaus zentral, da sie Handlungsmöglichkeiten betont, anstatt Menschen in (rassistisch) diskriminierten Positionen ihre Handlungsfähigkeit abzusprechen. Gleichzeitig birgt diese Perspektive die Gefahr von Schuld- und Verantwortungszuweisungen an die Menschen in den (rassistisch) unterdrückten Positionen, was – insbesondere aus der dominanten Position – eine erneute Bestätigung von rassistischen/unterdrückenden (verin-nerlichten) Strukturen darstellt. Wie auch Derman-Sparks und Brunson-Phillips betonen, ist es unabdingbar, zu berücksichtigen, dass die Verantwortung für bestehende (rassistische) Schieflagen sowie die Möglichkeiten zu ihrer Veränderung ungleich verteilt sind – also in be-sonderer Weise auf der Seite derjenigen liegen, die von diesen Schieflagen profitieren (vgl. Derman-Sparks/Brunson-Phillips 1997, 24).

Valerie Batts weist außerdem darauf hin, dass die Formen der verinnerlichten Unterdrückung ihren Ursprung in Situationen haben, in denen die Übernahme vorherrschender Ideologien der eigenen Unterlegenheit zum Überleben teilweise notwendig war. Und in ihrer Fortführung werden diese Handlungsmuster ebenso gerade in Bedrohungsmomenten relevant (Batts 2005, 17). Auch wenn Batts die Seite der internalisierten Unterdrückung als reaktive Position in Bezug auf Rassismus bezeichnet und die Notwendigkeit und Möglichkeit der Beteiligung

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AG3: Reflexion verinnerlichter Dominanz und Unterdrückung als Ausgangspunkt für ein Handelngegen Rassismus?!

unterdrückter Positionen an Veränderungsprozessen hervorhebt, so betont sie auch aus-drücklich, dass die verinnerlichten 'reaktiven' Verhaltensweisen in keiner Weise als Grundla-ge für Anschuldigungen genommen werden dürfen: „In the face of overt or covert racism, in-ternalized oppression behaviors can be the key to psychological or physical survival. It is very important that such behaviors which are reactive to racism not be used to blame people of color or other target group members for their adaptations to oppression“ (ebd., 20).

Die Formen der internalisierten (rassistischen) Dominanz und Unterdrückung lassen sich auf verschiedenen Ebenen denken (vgl. ebd.,10ff) und somit für unterschiedliche Situationen, Phänomene und Kontexte anwenden. Es ist sowohl möglich, festgefahrene Beziehungskon-stellationen und einzelne Interaktionen mit Hilfe des Modells daraufhin zu befragen, inwiefern hier verinnerlichte (rassistische) Dominanz und Unterdrückung zum Tragen kommen, als auch das Modell zur Analyse von strukturellen Dynamiken und Prozessen sowie diskursiv-ideologischen Mechanismen heranzuziehen.

Handlungsmöglichkeiten & Veränderungsprozesse

Über die Sensibilisierung und Analyse hinaus, wird in der Anti-Bias-Arbeit durch die Ausein-andersetzung mit dem Modell beansprucht, ein Nachdenken über Ansatzmöglichkeiten zur Veränderung anzuregen und konkret über alternative Handlungsmöglichkeiten ins Gespräch zu kommen. Die Auseinandersetzungen mit verinnerlichter (rassistischer) Dominanz und Un-terdrückung stellt einen wesentlichen Aspekt im Prozess des Verlernens von Diskriminierung und Rassismus sowie des Umgangs mit eigenen Diskriminierungs-/Rassismuserfahrungen dar (vgl. Abbildung 2).

Im südafrikanischen Handbuch 'Shifting Paradigms' werden in Anlehnung an Louise Der-man-Sparks für die dominante und die unterdrückte Position drei Phasen des Ver- oder Um-lernens von Rassismus differenziert, die vermutlich auch für andere Unterdrückungsformen (um)-denk-bar sind. Mit der Phase der Abwehr („Denial“) sind eben die Denk- und Hand-lungsmuster beschrieben, die auch im Modell selbst fokussiert werden. Die Phase der Ver-unsicherung bzw. des Ungleichgewichts („Disequilibrium“) beschreibt wie unangenehm und verunsichernd die Reflexion auf die eigene Beteiligung an der Aufrechterhaltung von Unter-drückungsstrukturen wirkt, da jene Auswirkungen eigener Handlungsmuster in den Blick ge-raten, die 'nicht gewollt' sind oder im Widerspruch zum (angestrebten) Selbstbild stehen. Mit der Phase des Wiederaufbaus („Reconstruction“) rücken auch die eigenen Handlungsspiel-räume in den Blick – es wird deutlich, dass nicht nur die Beteiligung an der Fortführung von Diskriminierung, sondern gerade auch die Beteiligung an ihrer Veränderung (für je mich) möglich ist. Insofern ist der Auseinandersetzungsprozess oft eben so unangenehm und schmerzhaft wie er langfristig als befreiend und 'empowernd' erlebt werden kann (vgl. ELRU 1997, 7).

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AG3: Reflexion verinnerlichter Dominanz und Unterdrückung als Ausgangspunkt für ein Handelngegen Rassismus?!

Abbildung 2: Veränderungsaspekte in der Anti-Bias-Arbeit

Das konkrete Auseinandersetzungsangebot in Anti-Bias-Seminaren sieht zunächst vor, die einzelnen Formen auf eigene Erfahrungen anzuwenden und sich damit gleichzeitig das Mo-dell als Analyseinstrument anzueignen. Daran anknüpfend wird von den konkreten eigenen Beispielen ausgehend ein Austausch über Handlungsalternativen angeregt. Dabei stellt die Arbeit mit eigenen Erfahrungen und Beispielen meines Erachtens die Voraussetzung dar, um die ausgeführte Gefahr vereinfachender Schuld- und Verantwortungs- zu- bzw. abweisungen von „je mir“ an „die je anderen“ oder ein „übermächtiges System“ zu vermeiden.

Im Folgenden werde ich mit der Diskussion der Frage nach den Vorteilen einer mehrdimen-sionalen bzw. einer rassismusfokussierten Perspektive fortfahren und dabei die formulierten Gedanken an einem Beispiel anzuwenden und zu konkretisieren versuchen.

4.) Diskussion: Rassismusfokus oder alle Diskriminierungsformen?

In der Vorbereitung auf den Workshop „Reflexion verinnerlichter Dominanz und Unter-drückung als Ausgangspunkt für ein Handeln gegen Rassismus?!“ auf dem Fachtag „Rassis-mus in der Sozialen Arbeit“ war ich mit der Frage konfrontiert, ob ich das Modell ausschließ-lich auf Rassismus fokussiere oder aber einen breiten Fokus auf verschiedene Diskriminie-rungsformen wie sonst in meiner Arbeit mit diesem Modell beibehalte.

Die erweiterte Perspektive auf unterschiedliche Diskriminierungsformen in der Arbeit mit dem Modell begründe ich in meiner Praxis in der Regel mit Verweis auf den Grundgedanken in der Anti-Bias-Arbeit, dass alle Menschen Erfahrungen mit Diskriminierung machen und alle Menschen auch Erfahrungen in mächtigen und unterdrückten/benachteiligten Positionen ma-chen und somit alle Menschen sowohl Dominanz als auch Unterdrückung in konkreten Posi-tionen, Konstellationen und Kontexten verinnerlichen (können).

Die allgemeinen Vorzüge dieser grundlegenden Perspektive in der Anti-Bias-Arbeit liegen meines Erachtens darin, dass erstens Menschen in ihrer vielfältigen Positioniertheit wahrge-

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Diskriminierung verlernen

→ eigene Beteiligung (Privilegien, Bias') erkennen

→ Lernen wohlwollend & herausfordernd begleiten

→ (Erprobungs)Räume für Alternativen schaffen

Übertrag in die eigene (Alltags-/Berufs-) Praxis

→ Diskriminierung erkennen

→ eigene Einflussbereiche (Ebenen) erkunden

→ Verbündete suchen & gemeinsam handeln

Umgang mit eigenen Diskriminierungserfahrungen

→ Unrechtserfahrungen benennen und selbst deuten

→ Solidarität und Empathie im Austausch erfahren

→ Herausstellen von hilfreichen Umgangsweisen

Eingreifen/Interventionen gegen Diskriminierung

→ Diskriminierung erkennen

→ Solidarisierung

→ eigene Macht einsetzen (Verantwortung)

PROZESSE DER VERÄNDERUNG

AbwehrVerunsicherungWiederaufbau

SelbstreflexionAustauschHandlungs-alternativen

Individuelle Lernprozesse

gesellschaftliche Transformation

AG3: Reflexion verinnerlichter Dominanz und Unterdrückung als Ausgangspunkt für ein Handelngegen Rassismus?!

nommen werden, also nicht auf eine Zugehörigkeit reduziert werden, was oft auch den Zu-gang bzw. die Einsicht in die eigene 'Betroffenheit' erleichtert; zweitens können Festschrei-bungen auf Opferpositionen vermieden werden und drittens erweitern sich mit dieser Per-spektive auch die Spielräume für die Entwicklung von Handlungsmöglichkeiten, da nicht nur aus einer situativ unterdrückten/machtlosen Position agiert wird, sondern immer auch andere Zugehörigkeiten und Aspekte eine Rolle spielen, die durchaus auch strategisch eingesetzt werden können.

Allerdings gibt es eine begründete und wichtige Kritik an dieser Perspektive, die davor warnt, dass Diskriminierung durch nahegelegte Gleichsetzungen von Diskriminierungsformen relati-viert wird (vgl. Walgenbach 2012, 245). Auch wird hinterfragt, inwiefern eine vertiefende Aus-einandersetzung mit der spezifischen Geschichte und Wirkungsweise eines Herrschaftsver-hältnisses, sowie mit der eigenen Positionierung, den eigenen Deutungs- und Handlungs-mustern in diesem durch die breite Perspektive verhindert wird. In der Anti-Bias-Arbeit gibt es immer die Möglichkeit auszuweichen, den Blick 'woandershin' zu richten und etwas entge-genzusetzen. Es bleibt damit in gewisser Weise oberflächlich bzw. geht selten so in die Tie-fe, wie es Menschen vielleicht aus Gender-Trainings oder rassismuskritischen Seminaren kennen.

Dennoch entspricht die nicht-fokussierte Thematisierung von Differenzkonstruktionen, Machtverhältnissen und Diskriminierungen in der Anti-Bias-Arbeit der alltäglich erfahrenen Anforderung, mit den vielfältigen Positioniertheiten, Zugehörigkeiten, Differenzlinien und Machtwirkungen in konkreten Situationen reflexiv umzugehen.

Ich halte es für notwendig und sinnvoll, sowohl Räume anzubieten, in denen die Spannung, die Herausforderung der breiten Perspektive auf verschiedene Diskriminierungsformen und damit eine vermeintliche Oberflächlichkeit auszuhalten gelernt werden kann, als auch Räu-me anzubieten, wo eine vertiefte Auseinandersetzung mit einzelnen Diskriminierungsformen wie Rassismus, Sexismus, Heteronormativität, Klassismus und anderen Diskriminierungsfor-men und der eigenen Involviertheit darin möglich ist.

Mit diesem Plädoyer für fokussierte und mehrdimensionale Räume ist zwar strukturell ein so-wohl – als auch umgesetzt, auf das konkrete Angebot bleibt es aber beim entweder – oder. Was passiert bei dem Versuch die beiden Perspektiven in einem Angebot zu integrieren? Und was ergibt sich aus diesen Überlegungen für die Arbeit mit dem Modell? Wie kann eine sowohl-als-auch-Praxis mit dem Modell aussehen?

In den Vorbereitungen auf den Workshop versuchte ich die Vorzüge beider Nutzungsweisen zusammenzuführen. Ich bot den Workshopbesucher_innen nach der Vorstellung des Mo-dells wie sonst auch an, sich einem Paar verinnerlichter Dominanz und Unterdrückung zuzu-ordnen, zu dem sie in Kleingruppen eigene Beispiele suchen und sich über die mögliche Handlungsalternativen austauschen.

Um dem Anspruch des sowohl – als auch innerhalb dieses Modells gerecht zu werden, schlug ich den Teilnehmenden vor, ein Beispiel im Zusammenhang mit Rassismus zu su-chen, welches je nach Positionierung innerhalb von rassistischen Verhältnissen auf der do-minanten oder unterdrückten Seite verortet ist. Für die je andere Seite bat ich sie, den Fokus zu weiten und nach einem Beispiel dieser Form der Verinnerlichung zu suchen, welches auf ein anderes Unterdrückungsverhältnis als Rassismus verweist. Wenn eine Person also in Bezug auf Rassismus ein Beispiel für die unterdrückte Form gefunden hat, so sollte explizit nach einem Beispiel der Dominanz in Bezug auf andere Machtverhältnisse gesucht werden. Andersherum sollte für die unterdrückte Seite explizit nach einem Beispiel gesucht werden,

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AG3: Reflexion verinnerlichter Dominanz und Unterdrückung als Ausgangspunkt für ein Handelngegen Rassismus?!

welches sich auf andere Machtverhältnisse bezieht, sofern in Bezug auf Rassismus eigene verinnerlichte Dominanz reflektiert wurde.

Eigenes Beispiel

Ich habe mich entschieden, mich mit den Formen „unterschiedliche Zugehörigkeiten /Le-bensrealitäten“ ignorieren und „eigene Zugehörigkeiten/Lebensrealitäten ablehnen /leugnen“ auseinanderzusetzen. Ausgehend von meiner Positionierung innerhalb rassistischer Verhält-nisse als weiß-privilegiert, fokussiere ich in Bezug auf Rassismus auf eigene verinnerlichte Dominanz.

In der Anti-Bias-Werkstatt diskutieren wir seit längerem zu der Frage, wen wir mit unseren Angeboten erreichen, erreichen möchten und vor dem Hintergrund unserer eigenen Positio-nierungen erreichen können, ohne dass sich die Teilnahme für einzelne als Zumutung dar-stellt. Wir sind ein vorwiegend weißer Zusammenhang mit akademisch beeinflussten Biogra-fien. Ich denke, dass wir viele Perspektiven nicht repräsentieren und dass sich das auch in unseren Ausschreibungen, auf unserer Internetseite und in unseren Angeboten widerspie-gelt. Das Mitdenken verschiedener Sprachen ist in der Anti-Bias-Werkstatt beispielsweise bislang überhaupt keine Selbstverständlichkeit. Interessanterweise habe ich gegenüber an-deren Zusammenhängen und Ausschreibungen oft einen sehr strengen, kontrollierenden Blick hinsichtlich des Mitdenkens unterschiedlicher Sprachen, wohingegen meine eigene Praxis leicht unhinterfragt und selbstverständlich bestehen bleibt. Eine Handlungsmöglichkeit ist meines Erachtens, in der Werkstatt bei Seminarausschreibungen darauf hinzuweisen, dass bei Bedarf Übersetzung organisiert und gegebenenfalls umgesetzt wird.

Auf der Seite der verinnerlichten Unterdrückung fokussiere ich nun nicht auf Rassismus. Hier ist für mich insbesondere die Übernahme der Abwertung als weiblich konstruierter Attribute Gegenstand der Reflexion. Bemerkenswert erscheint mir eine starke Diskrepanz: Einerseits erkenne ich diese Ablehnung und das gleichzeitige Streben, Konkurrieren und Mitspielen im Wettbewerb vermeintlich männlicher Eigenschaften theoretisch sehr lange als patriarchale Macht-Wirkungen und bin mir der Notwendigkeit bewusst, diesen Anforderungen und Zumu-tungen entgegenzutreten und tue das auch in feministischen Zusammenhängen. Gleichzeitig ist es wiederum schwierig, herausfordernd und anstrengend, die eigene Verinnerlichung von gesellschaftlichen Bewertungen gegenüber verschiedenen Eigenschaften und Tätigkeiten zu fokussieren und zu verändern. Das steht irgendwie „auf einem anderen Blatt“. Ein Ansatz-punkt für alternatives Handeln stellt für mich die Möglichkeit dar, die beschriebenen Bewer-tungen von Eigenschaften und Tätigkeiten daraufhin zu hinterfragen, inwiefern ich Zuschrei-bungen übernommen habe, die Teil meiner eigenen Unterdrückung sind, um mich dann re-flektiert entscheiden zu können, wie ich mich zu dieser Bewertung verhalte.

Meines Erachtens macht diese Reflexion eines eigenen Beispiels deutlich, wie die Inblick-nahme internalisierter Dominanz und Unterdrückung die analytische Perspektive auf Diskri-minierung und Herrschaftsverhältnisse bereichert, da eigene Denk- und Handlungsmuster oft im Widerspruch stehen zu eigenen theoretischen Konzepten, politischen Kämpfen sowie An-sprüchen (an Andere) und als Ansatzpunkte für Veränderungen erkennbar werden.

Zusammenfassung

Zusammenfassend möchte ich noch einmal markieren, warum ich diese integrierte Variante in der Arbeit mit dem Modell internalisierter Machtverhältnisse als sinnvoll und weiterführend

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AG3: Reflexion verinnerlichter Dominanz und Unterdrückung als Ausgangspunkt für ein Handelngegen Rassismus?!

erachte (und damit gleichzeitig nachvollziehbar machen, wieso mir die Reflexion auf diese Variante in dieser Ausführlichkeit angemessen erscheint).

Ich halte ein solches Vorgehen mit dem Modell mindestens dann für sinnvoll, wenn Interesse an einer vertiefenden Auseinandersetzung konkret mit rassistischen Unterdrückungsstruktu-ren und der eigenen Involviertheit besteht. Mir erscheint es angemessen, auf diese Weise auch der Geschichte / Entwicklung des Modells, welches auf Rassismus fokussierte, Rech-nung zu tragen. Gerade im bundesdeutschen Kontext sollte durch die wohlgemeinte Hinwen-dung zur mehrdimensionalen Perspektive nicht der hegemonialen Tendenz nachgegeben werden, alltägliche, subtile, sich verselbstständigende Formen von Rassismus auszublen-den, zu ignorieren, zu verschweigen. Weiterhin nimmt diese Variante die Kritik an 'Oberfläch-lichkeit', 'Unkonkretheit' und 'Verwässerung' von Anti-Bias-Arbeit ernst, indem eine vertiefen-de Inblicknahme der eigenen Positionierung angeregt wird. Gleichzeitig kann an den Vortei-len und Herausforderungen der mehrdimensionalen / intersektionalen Perspektive in der An-ti-Bias-Arbeit festgehalten werden: Die teilnehmenden Subjekte werden nicht auf eine Zuge-hörigkeit und eine damit verbundene Position festgeschrieben. Das Nachdenken über Hand-lungsmöglichkeiten bleibt nicht auf eine Position beschränkt, aus der heraus agiert werden kann, sondern der Blick auf die eigene vielfältige Positioniertheit kann auch vielfältigere An-knüpfungspunkte für einen Kampf gegen Rassismus und Diskriminierung sichtbar werden lassen.

Diese kleine Nuance in der Arbeit mit dem Modell ermöglicht es, die favorisierte sowohl – als auch-Strategie nicht nur strukturell umzusetzen, indem Anti-Bias-Arbeit als ein (bedeutungs-voller) Zugang zum Thema Diskriminierung, nicht aber als Ersatz verstanden wird für Ange-bote die auf Rassismus oder eine andere Unterdrückungsform fokussieren. Vielmehr kann die sowohl – als auch-Variante auch in die eigene Praxis integriert werden, indem die eigene Involviertheit in Rassismus thematisiert und der Blick auf weitere Unterdrückungsverhältnisse gerichtet wird. Damit ermöglicht diese Variante eine Gleichzeitigkeit von erweiternder und vertiefender Perspektive, die ich nicht nur in der Anti-Bias-Arbeit für weiterführend halte.

Ausblick

Für eine reflexive Bildungsarbeit ergeben und aktualisieren sich aus dieser integrierten Per-spektive von (Rassismus-)Fokus und Mehrdimensionalität auch Fragen, Probleme und An-forderungen in Bezug auf die eröffneten Bildungsräume und deren Begleitung.

Unabdingbar erscheint mir hier, den Umgang mit Fragen der Repräsentation durch Teamzu-sammensetzungen in der Anti-Bias-Arbeit zu überdenken. In der Regel führen Überlegungen zu bewussten Teamkonstellationen in der Anti-Bias-Arbeit zu der Frage, warum bestimmte Differenzlinien mehr Bedeutung zuteil werden als anderen bzw. welche Differenzlinien dabei aus dem Blick geraten. In einem Seminar mit einer integrierten Perspektive von Rassismus-fokus und Mehrdimensionalität stellt sich die Anforderung an die Teamkonstellation nochmal anders und es bedarf sehr wohl eines Teams, welches sich in Bezug auf Rassismus (oder der jeweils fokussierten Herrschaftsform) in unterschiedlichen Positionierungen befindet (vgl. auch Batts 2005, 21), wenn auch Menschen in unterschiedlichen Positionierungen angespro-chen werden – nicht zuletzt um auch in getrennten Räumen arbeiten zu können (ebd., 22). Das führt auch zu der Einsicht, dass es sich als Zumutung erweist, die ich nicht verantworten kann, wenn ich aus weiß-privilegierter Position gegenüber Menschen die strukturell und all-täglich mit Rassismus konfrontiert sind, zur Reflexion auf Rassismuserfahrungen anrege, auch wenn ich es als 'Angebot' formuliere.

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AG3: Reflexion verinnerlichter Dominanz und Unterdrückung als Ausgangspunkt für ein Handelngegen Rassismus?!

Literatur

Batts, V. (2001): Is Reconciliation Possible? Lessons From Combating “Modern Racism”. http://www.visions-inc.org/Is%20Reconciliation%20Possible.pdf (Stand Januar 2012).

Bremer Institut für Soziale Arbeit und Entwicklung (BISA+E) (Hg.) (2011): Gegen Diskriminie-rung im Stadtteil wirken. Situations- und Ressourcenanalyse zu menschenfeindlichen Haltun-gen in den Bremer Stadtteilen Findorff, Mitte und Östliche Vorstadt. Bremen. http://www.bisa-bremen.de/index.php?Publikationen

Castro Varela, M. (2002): Interkulturelle Kompetenz. Ein Diskurs in der Krise. In: G. Auern-heimer (Hrsg.): Interkulturelle Kompetenz und pädagogische Professionalität (35-48). Wies-baden.

Derman-Sparks, L. und Brunson-Phillips, C. (1997): Teaching/Learning Anti-Racism: A De-velopmental Approach. New York.

Early Learning Ressource Unit (1997): Shifting paradigmes, Lansdowne.

INKOTA-NETZWERK e.V. (2002): Vom Süden lernen. Erfahrungen mit einem Antidiskrimi-nierungsprojekt und Anti-Bias-Arbeit. Berlin.

Schmidt, B. (2009): Den Anti-Bias-Ansatz zur Diskussion stellen – Beitrag zur Klärung theo-retischer Grundlagen in der Anti-Bias-Arbeit. Oldenburg.

Schmidt, B. (2011): Lernen und Lernverhältnisse in der Anti-Bias-Arbeit. In: ZWST (Zentral-wohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland) (Hg.): Die Abwertung der Anderen. Theorien. Pra-xis. Reflexionen. Tagungsdokumentation. Berlin.

Walgenbach, Katharina (2012): Diversity Education – eine kritische Zwischenbilanz. In: Neue Praxis 03/2012.

Bettina Schmidt, Studium der Interkulturellen Pädagogik an der Universität Oldenburg, frei-beruflich tätig in der politischen Bildungsarbeit, insbesondere mit dem Anti-Bias-Ansatz in der Anti-Bias-Werkstatt, seit 2009 Promotionsstipendiatin der Rosa-Luxemburg-Stiftung, seit Juli 2012 wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Oldenburg, im Fokus der der Pro-motion stehen Spannungsverhältnisse in der politischen Bildungsarbeit an Schulen im The-menfeld 'Vielfalt und Demokratie'. Kontakt: [email protected]

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AG4: „Unbewusstes spielerisch aufbrechen“ – Methoden Rassismusbewusster Bildungsarbeit

AG4: „Unbewusstes spielerisch aufbrechen“ – Methoden Rassismusbewusster Bildungsarbeit

Oliver Kornau, Antje Krueger, Lisa Stütz

Rassismus beginnt nicht erst bei gewalttätigen Übergriffen. Rassismus zeigt sich, wenn Men-schen entlang rassistischer Stereotype bewertet, stigmatisiert und ausgeschlossen werden. Rassismus zeigt sich aber auch, wenn mit bester Absicht, Menschen aufgrund ihnen zuge-schriebener Merkmale bevorzugt werden oder allein aufgrund der ihnen unterstellten Her-kunft als besonders interessant gelten. Neben individuellen und gruppenbezogenen rassisti-schen Denkmustern und Praxen, sind rassistische Strukturen in Institutionen und staatlichen Regelungen verankert und werden in ihnen reproduziert und aufrechterhalten. Rassismus und die damit verbundenen unterschiedlichen Gewaltformen gehören entsprechend zum Alltag und sind allgegenwärtig oder, wie Paul Mecheril (2007) es prägnant auf den Punkt bringt: Rassismus ist Normalität.

Unter einem soziologischen Blickwinkel sind normale, also der Norm entsprechende, Denk- und Handlungsweisen durch ein hohes Maß an Internalisierung und Automatisierung abgesi-chert und damit den Individuen zum Teil nicht mehr direkt reflexiv zugänglich. Das bedeutet, dass vielen gar nicht bewusst ist, dass sie und wann sie rassistische Zuschreibungen vorneh-men.

Rassismuskritische Bildungsarbeit setzt unter anderem an diesem Punkt an und versucht mit-tels unterschiedlicher Ansätze und Konzepte rassistische Denkmuster und Praxen bewusst zu machen, subjektive und gesellschaftlich etablierte Kommunikations- und Bewertungsformen infrage zu stellen und zu kritisieren. Die Reflexion der eigenen (machtvollen) Position und die Auseinandersetzung mit Privilegien der eigenen Mehrheitszugehörigkeit gelten dabei als Aus-gangspunkt. Damit eröffnet rassismusbewusste Bildungsarbeit Möglichkeiten zur Verände-rung und zielt darauf komplexe soziale und kulturelle Differenzen aller Menschen anzuerken-nen und nicht in einer Gegenüberstellung von „wir“ und „die Anderen“ zu verbleiben.

Im Rahmen der Lehrveranstaltung Sozialwissenschaften in der der Sozialen Arbeit haben wir uns mit unterschiedlichen Methoden rassismusbewusster Bildungsarbeit auseinandergesetzt und letztlich 3 Methoden ausgewählt, die wir gemeinsam mit den TeilnehmerInnen unseres Arbeitskreises auf dem Fachtag durchgeführt haben. Im Folgenden möchten wir diese so skiz-zieren, dass sie auch von anderen übernommen werden können. Abschließend möchten wir unsere Erfahrungen aus dem Workshop teilen und den Einsatz der Methoden kurz reflektie-ren.

Vorstellung der Methoden:

1) Deutschland Schwarz Weiss

Im Vorspann ihres Buches „Deutschland Schwarz Weiss“ (2009) beschreibt Noah Sow Aus-schnitte aus ihrer Biografie. Der Text ist bewusst so gestaltet, dass er keine eindeutigen Hin-

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AG4: „Unbewusstes spielerisch aufbrechen“ – Methoden Rassismusbewusster Bildungsarbeit

weise auf ihre Herkunft enthält. Ihren tatsächlichen Hintergrund offenbart sie erst am Ende der Ausführungen. Die Beschreibungen wecken verschiedene Assoziationen und Vermutun-gen, die genutzt werden können, um sich eigene Stereotype zu vergegenwärtigen und zu hin-terfragen.

Material: Textauszug: „Vorspann: Meine eigene Herkunft“ (in: ebd.:13-15), Papier und Stifte

Vorbereitung und Verlauf:

Den Teilnehmenden wird gesagt, dass sie gleich einen biografischen Textauszug hören wer-den und aufgefordert, ihre Assoziationen zur Herkunft der Person im Verlauf zu notieren. Ohne den Titel oder den Namen der Autorin zu nennen, wird der Text vorgelesen. Die tat-sächliche Auflösung der Herkunft wird dabei zunächst weggelassen. Anschließend werden die ZuhörerInnen gebeten, ihre Assoziationen und Interpretationen kurz vorzustellen. Nach die-sem Austausch kann die tatsächliche Herkunft gelüftet werden und als Grundlage für ein Ge-spräch über eigene Vorurteile und rassistische Bilder genutzt werden.

2) „Ich – Ich nicht“.

„Ich – Ich nicht“ ist eine Aufstellungsmethode, die die Teilnehmenden auffordert, sich ein-deutig zu Aussagen und Fragen zu positionieren. Je nach Gruppe und thematischen Bezügen können dabei sowohl Statements wie „Du magst den Stadtbezirk, in dem du lebst!“ oder „Du kannst mehr als zwei Sprachen!“ vorbereitet werden, als auch spezifischere Aussagen wie „Du weißt was der Koran ist und kannst erklären worum es in ihm geht!“ oder „Ist es Gewalt, wenn jemand Musik mit sexistischen Liedtexten hört?“ eingebunden werden (weitere Anre-gungen: s. Dissens e.V.). Dabei wird deutlich, dass es nicht immer ein klares Ja/Nein gibt. Oft zeigt sich auch, dass viele Menschen den Drang verspüren sich der Mehrheitsmeinung anzu-schließen bzw. individuelle Meinungspositionen, die die Mehrheit nicht teilt, mitunter schwer auszuhalten sind. Die Methode eignet sich zur Vergegenwärtigung von stereotypen Denk- und Bewertungsmustern und eröffnet den Raum für komplexere Zusammenhänge, thematisiert aber auch die Schutzfunktion von Mehrheitspositionierungen.

Material: je nach Zeit, ca. 15-20 vorbereitete Aussagen und/oder Fragen, Kreppband

Vorbereitung und Verlauf:

Mit Hilfe des Kreppbands werden zwei Felder im Raum abgeklebt, die groß genug sind, dass

sich mehrere TeilnehmerInnen darin aufhalten können. Die beiden Felder werden zusätzlich

mit einem „Plus“- und einem „Minus“-Zeichen markiert. Zu Beginn wird der Gruppe mitge-

teilt, dass sie sich zu den später folgenden Aussagen eindeutig auf eine der Seiten positionie-

ren sollen: „ich stimme zu“ (+); „ich stimme nicht zu“ (-). Lügen ist dabei explizit erlaubt, die

Positionierung auf der Mittellinie oder außerhalb des Feldes allerdings nicht.

Dann werden vorbereitete Aussagen, Vorurteile und Stellungnahmen nach und nach vorgele-sen. Die Positionierungen können dann kommentarlos stehen bleiben und für sich wirken. Die Personen in den Feldern können aufgefordert werden, sich intern über ihre Positionierung auszutauschen, die Moderation kann aber auch TeilnehmerInnen ansprechen und fragen, warum es zu dieser Positionierung gekommen ist oder auch nur, wie es sich z.B. anfühlt als „Minder- oder Mehrheit“ in einem Feld zu stehen. In der Regel bietet es sich an, diese Mög-

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AG4: „Unbewusstes spielerisch aufbrechen“ – Methoden Rassismusbewusster Bildungsarbeit

lichkeiten entlang des individuellen Verlaufs zu variieren. Abschließend können die Erfahrun-gen über Fragen, wie „Was ist euch besonders aufgefallen? Was hat euch überrascht? Hatten alle Fragen für euer Leben dieselbe Bedeutung? Gibt es Unterschiede zwischen den individu-ellen und den gesellschaftlichen Bewertungen der verschiedenen Zugehörigkeiten?“ etc. re-flektiert und besprochen werden. Eine kurze Auswertung reicht. Die Methode zielt darauf, dass die TeilnehmerInnen Gedankenanstöße „mit nach Hause nehmen“.

3) „Speed-daten“

Bei dieser Methode haben die TeilnehmerInnen eine kurze Zeitspanne lang (etwa 3-5 Minu-ten) die Möglichkeit, sich jeweils über ein vorgegebenes Thema oder eine Aussage auszutau-schen. Die Inhalte richten sich auch hier nach der Gruppe; die Inputs können fachspezifische Besonderheiten enthalten oder auch aktuelle politische Debatten aufgreifen. Der intimere Zweierrahmen ermöglicht ein persönlicheres Gespräch, das in der Großgruppe nicht gewollt, oder möglich ist. Dadurch, dass die Zeit begrenzt ist, werden Diskussionen angeregt, die in der Pause vielleicht weiter geführt werden, oder aber später mit anderen wieder aufgegriffen werden können. Die Methode schafft bzw. provoziert, je nach Vorgabe, vor allem Anreize zur Auseinandersetzung. Haben sich DiskussionspartnerInnen gar nichts zu sagen, werden sie aufgrund der kurzen Zeitspanne bald erlöst. Die Wirkung richtet sich nach den vorbereiteten Input-Statements.

Material: ca. 3-5 vorbereitete Aussagen und/ oder Fragen, Stühle

Vorbereitung und Verlauf:

Alle TeilnehmerInnen nehmen ihren Stuhl und bilden einen Innen- und Aussenkreis, der je-weils zugewandt angeordnet sind (innen guckt nach außen, außen guckt nach innen). So sitzt sich jeweils ein Diskussionspaar gegenüber und hat etwa 3 Minuten Zeit, sich über ein vorge-gebenes Gesprächsthema zu unterhalten. In den nächsten Runden rutschen die TeilnehmerIn-nen einer der Kreise ein paar Plätze weiter (z.B. Innenkreis rückt 2 Plätze nach links etc.) und finden ein neues Gegenüber. Grundsätzlich ist der Austausch unter Zeitdruck, der schnelle Wechsel der GesprächspartnerInnen und Themen anstrengend. Aus diesem Grund sollte diese Methode nicht überstrapaziert werden. 3-5 Runden reichen! Abschließend bietet es sich an, kurz zusammenzutragen, was und wie diskutiert wurde, wo weiterer Redebedarf besteht etc. Es genügt nur einige Antworten zu sammeln. Auch diese Methode setzt darauf, dass sie auch nach dem Ende des Workshops zur eigenen Reflexion anregt.

Unsere Erfahrungen auf dem Fachtag:

Bereits in der anfänglichen Kennenlernrunde wurde deutlich, dass die TeilnehmerInnen mit ganz unterschiedliche Hintergründen, Erfahrungen und Motivationen zum Fachtag gekommen waren. Neben Studierenden der Sozialen Arbeit und verwandter Wissenschaften, trafen hier auch Personen aus diversen sozialen Praxisfeldern mit unterschiedlich langen Berufserfahrun-gen zusammen. Entsprechend umfassten die Erwartungen sowohl erste Annäherungen an das Thema, die gezielte Beschäftigung mit der eigenen Haltung als auch die Hoffnung, im Work-shop neue Ideen und Anreize für die eigene pädagogische Arbeit zu bekommen. Die Grup-pengröße von etwa 25 Personen ermöglichte dabei einen intensiven Austausch und erlaubte auch zeitlich, kurze Nachfragen zu den einzelnen TeilnehmerInnen zu stellen. Im Hinblick auf eine langsame Annäherung innerhalb der Gruppe erfolgte der Übergang zur ersten Methode

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AG4: „Unbewusstes spielerisch aufbrechen“ – Methoden Rassismusbewusster Bildungsarbeit

direkt im Stuhlkreis der Vorstellungsrunde. Nach dem Vortrag von Noah Sows Text „Meine eigene Herkunft“, tauschte sich die Gruppe über ihre Vermutungen aus, aus welchem Land die Verfasserin stammen könnte. Die meisten hatten im Verlauf des Zuhörens innerlich ganze Weltreisen angetreten, waren aber auch immer wieder irritiert von ihren Ideen abgewichen. Nach Auflösung der bayrischen Herkunft der Autorin, entspann sich ein interessantes Ge-spräch über die eigenen Vorurteile, aber auch um die Wirkmacht von Wörtern und Zuschrei-bungen, die wir aufgrund verinnerlichter Denkstrukturen oft automatisch anwenden.

Die Umbaupause zum Feldspiel „Ich – Ich nicht“ bot die Möglichkeit, die Erfahrungen ein wenig sacken zu lassen. Während der anschließenden Positionierung in den Feldern wurde deutlich, wie schwer es mitunter sein kann, eindeutig Stellung beziehen zu müssen. Im Ge-gensatz zu Fragen, die die eigenen sprachlichen Fähigkeiten thematisierten, waren beispiels-weise Statements zum Verbot aller religiösen Symboliken in Schulen, weitaus komplexer und schwieriger zu bewerten. Diese Methode zielt bewusst auch darauf, Gedankengänge und Aus-einandersetzungen zu initiieren und Verwirrung zu hinterlassen. Obwohl es einen großen Be-darf der Aussprache gab, wurden die Erfahrungen entsprechend nur punktuell und kurz ausge-wertet. Da gerade die Auseinandersetzung mit und die Bewertung von religiösen Themenfel-dern, die Gruppe intensiv beschäftigte, entschieden wir uns spontan, diesen Aspekt auch in die nächste Methode zu integrieren und so den Raum zu schaffen, sich zumindest im Zweier-gespräch weiter damit zu beschäftigen. Da sich die TeilnehmerInnen des Workshops nur spo-radisch oder gar nicht bekannt waren, begann hier jede der vier Runden des „Karussells“ mit einer kurzen Begrüßung und Vorstellung. Auch hier zeigte sich, dass die 3-minütige Redezeit dem großen Bedarf an Austausch nicht genügen konnte. Oft nur widerwillig lösten sich die einzelnen GesprächspartnerInnen für die nächste Runde, um dann wieder intensiv in die nächste Diskussion einzutauchen.

Zum Ende des Workshops trafen sich alle noch einmal im großen Kreis zur Abschlussrunde. Die letzte Phase wurde genutzt, um dringlichen Gesprächsbedarf zu stillen und die Erfahrun-gen kurz zu reflektieren. Dass sich viele gewünscht haben, noch mehr Zeit im Arbeitskreis zu verbringen und die Diskussionen weiterzuführen, werten wir als Zeichen für einen gelunge-nen Arbeitskreis und eine gute Dynamik unter den TeilnehmerInnen.

Auch uns hat die AG viel Spaß gemacht und unsere eigenen Reflektionsprozesse erweitert. Für die vielen Anregungen und die offene und herzliche Atmosphäre, möchten wir uns bei al-len TeilnehmerInnen bedanken und hoffen, dass auch im Anschluss an den Fachtag an den Gesprächen angeknüpft wurde.

Literatur:

Dissens e.V.: Methoden intersektionaler Gewaltprävention. URL: http://dissens.de/isgp/me-

thoden.php (11.11.2012).

Mecheril, Paul (2007): Die Normalität des Rassismus, in: Überblick, Zeitschrift des Informa-

tions- und Dokumentationszentrums für Antirassismusarbeit in Nordrhein-Westfalen, 13. Jg.,

Nr. 2, Juli 2007, S. 3-9.

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AG4: „Unbewusstes spielerisch aufbrechen“ – Methoden Rassismusbewusster Bildungsarbeit

Sow, Noah (2009): Deutschland Schwarz Weiss. Der alltägliche Rassismus, München: Gold-

mann.

AutorInnen:

Oliver Kornau ist 36 Jahe alt und studiert seit Oktober 2011 Soziale Arbeit an der Hochschu-le in Bremen. Zum Quereinsteiger ins Soziale als Profession machten ihn auch seine Erfah-rungen als Nutzer: öfter ohne festen Wohnsitz, Patient der Psychiatrie und Bewohner betreu-ter WGs, Umschüler auf dem zweitem Arbeitsmarkt und Leiharbeiter. Kontakt: [email protected]

Dr. Antje Krueger vertritt seit Oktober 2011 die Professur für Sozialwissenschaften (LfbA) im Fachbereich Soziale Arbeit an der Hochschule Bremen. Sie hat Kulturwissenschaften und Soziologie studiert und zu niederschwelligen Ansätzen in der Betreuung von traumatisierten Asylsuchenden ohne gesicherten Aufenthaltsstatus an der Universität Bremen promoviert. Sie ist Sprecherin der AG Migration der DGV und widmet sich auch im Rahmen politischer Bildung intersektionalen Themenfeldern. Zuletzt hat sie in Bremen eine Ausstellungs- und Veranstaltungsreihe zur „Blackbox Abschiebung“ organisiert. Kontakt: [email protected]

Lisa Stütz war bis zum letzten Semester Studentin der Sozialen Arbeit an der HS Bremen, mittlerweile setzt sie ihr Studium an einer anderen Hochschule fort.

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AG5: Unsichtbares sichtbar machen – Courage zeigen, aber wie?

AG5: Unsichtbares sichtbar machen – Courage zeigen, aber wie?

Eine selbstkritische Reflektion

Ali Elis & Jörn Rabeneck

Im Rahmen unserer Arbeitsgruppe, die von insgesamt 25 interessierten Teilnehmer*innen besucht wurde, haben wir uns mit Rassismus bzw. rassistischen Strukturen im Alltag intensiv beschäftigt.

Methodisch haben wir hierzu die Methode des sog. World Café mit 5 Gruppen genutzt, um unsere Teilnehmer*innen aktiv mit einzubinden und eine ebenso aktive Kommunikation mit-einander zu ermöglichen.

„Es ist schwierig, unsichtbares sichtbar zu machen.“

Unsichtbares sichtbar machen. Was heißt das eigentlich, wenn wir davon sprechen, dass et-was unsichtbar ist, also eigentlich gar nicht da ist oder nicht gesehen wird, obwohl wir es doch auch allzu oft in unserer Umwelt, unserem Alltag, in den Medien, in unserer Kommuni-kation miteinander erleben bzw. spüren?

Courage zeigen. Wofür und warum, wenn es doch unsichtbar ist? Das klingt beinahe wie Don Quijote in seinem Kampf gegen die Windmühlen.

„Zivilcourage endet, wenn eigene Grenzen gefährdet werden!“

Wie aber kann ich dann Courage zeigen, wie aber können WIR dann Courage zeigen, wie können wir etwas, was gesellschaftlich ja eben irgendwie gar nicht da zu sein scheint und was sogar die eigenen Grenzen gefährden könnte, sichtbar machen??

Das sind Fragen, mit denen wir uns in unserem World Café, in unserer Arbeitsgruppe, be-schäftigt haben.

Denn letztendlich sind wir in unserer beruflichen Tätigkeit als Sozialarbeiterinnen und Sozial-pädagogen aber auch in unserem Alltagsleben

„verpflichtet, uns mit dem Thema auseinanderzusetzen!“

Wir sind gefordert, aufzuklären, Aufklärung zu betreiben, um für Gleichberechtigung und Teil-habe, Gerechtigkeit und Zivilcourage sukzessive zu kämpfen! Professionell, alltäglich, über-all.

„Rassismus bleibt unsichtbar, weil wir stumm sind, unsichtbar weil Sozialarbei-terInnen harmoniesüchtig sind.“

Ist das wirklich so? Trauen wir uns tatsächlich nicht, Partei zu ergreifen, uns einzusetzen für jemanden, der vielleicht gerade mit Worten oder Taten angegriffen oder verletzt wird?

Oder ist die politische Stimme der Sozialen Arbeit einfach nur zu leise??

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AG5: Unsichtbares sichtbar machen – Courage zeigen, aber wie?

Wenn das aber so ist, dass unsere politische Stimme zu leise ist, dann müssen wir uns aber dennoch die Frage stellen, was wir unternehmen können, um unsere Stimme hörbar oder zu-mindest hörbarer zu machen... Oder?

Wie also können wir

„Solidarität schaffen → Öffentlichkeit schaffen“?

Was müssen wir tun, damit wir

„Rassismen nicht hinnehmen, sondern aktive Haltung einnehmen“???

Erstens sollten wir uns bemühen, uns wie auch unser Tun und Handeln in unserem (profes-sionellen) Alltag ständig selbstkritisch zu hinterfragen, uns selbst zu reflektieren, gleichzeitig aber auch unsere Kolleginnen und Kollegen, die uns umgebenden Menschen und Systeme, für das Thema zu

„sensibilisieren, bspws. im Rahmen von Gesprächen, Supervision und Coa-ching.“

Zweitens sollten wir bewusst oder vielmehr noch bewusster

„mit Sprache umgehen“,

was dann aber auch heißt, dass wir beispielsweise

„in Witzen verpackten Rassismus [auch offen] ansprechen [sollten]“.

Drittens sollten wir politisch aktiver werden, uns politisch gegen Rassismus einsetzen, uns sozialpolitisch stärker engagieren und uns intensiver mit Rassismus aber auch Zivilcourage in unserem (beruflichen) Alltag aber auch in der Ausbildung, im Studium, auf Fortbildungen und Fachtagen auseinandersetzen.

Kurz: Wir sind gefordert, uns einzumischen, wir sind gefordert, Aufklärung zu betreiben, wir sind gefordert, Solidarität und Öffentlichkeit zu schaffen, Rassismus sichtbar zu machen und uns vor allem auch gegen Rassismus bzw. rassistische Strukturen zu stellen, Rassismus bzw. rassistischen Strukturen entgegenzutreten, uns gleichermaßen aber selbst auch stän-dig aufs Neue zu reflektieren, zu hinterfragen, unser eigenes Tun und Handeln stets zu über-prüfen. Wir sind gefordert, Zivilcourage zu zeigen und Rassismus offen anzusprechen, bes-tenfalls natürlich unter Einbeziehung weiterer Personen, respektive Gruppen und demokrati-scher Kräfte.

„Courage heißt Ideen haben / verwirklichen.“

Hinweis: Die in kursiv geschriebenen Texte sind Aussagen der TeilnehmerInnen unserer Ar-beitsgruppe.

Autoren

Dipl. soz.päd. Ali Elis (Vorsitzender des ZIS)

Jörn Rabeneck, Diplom-Sozialarbeiter (FH), hauptberuflich tätig in der Jugendhilfe, nebenbe-ruflich tätig als Referent beim ZIS - Zentrum für Migranten und Interkulturelle Studien e.V.

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AG5: Unsichtbares sichtbar machen – Courage zeigen, aber wie?

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AG6: „Hier wird Deutsch gesprochen“ – Be-Deutungen von Sprache in rassistischen Strukturen

AG6: „Hier wird Deutsch gesprochen“ – Be-Deutungen von Sprache in rassistischen Strukturen

Ali Uysun und Friederike Lorenz

Sich (auch) mit Worten verständigen zu können ist von Bedeutung im Zusammenleben, denn es dient dem gegenseitigen Verstehen. Ebenso zweifellos sind Deutschkenntnisse beim all-täglichen Leben und Bewegen in der bundesdeutschen Gesellschaft hilfreich. Aber geht es bei der Aufforderung an Adressat_innen Sozialer Arbeit „Deutsch zu lernen bzw. Deutsch zu sprechen“ (Kalpaka 2009: 263) tatsächlich nur um das Anliegen, „einander verstehen zu wol-len“? Davon ausgehend, dass sowohl der Umgang mit Sprache als auch die durch Sprache transportierten Bilder und Begriffe ein Spiegel gesellschaftlicher Verhältnisse sind, stellt sich (immer wieder neu) die Frage nach den vielfältigen Bedeutungen, die Sprache in rassisti-schen Strukturen bekommt. Interessant ist das Thema im Kontext Sozialer Arbeit auch, weil der Umgang mit Sprache (beispielsweise durch zuhören, nachfragen, zusammenfassen, be-schreiben, erklären, besprechen, schreiben, lesen) einen wesentlichen Teil sozialarbeiteri-schen Alltagshandelns ausmacht.

1. Ausgangspunkte der Arbeitsgruppe…

Wenn wir also versuchen, durch eine rassismuskritische Brille zu blicken: Mit welchen Be-deutungen wird Sprache in der Sozialen Arbeit aufgeladen? Wie wirken (verinnerlichte) Machtverhältnisse in sprachlichen Kontexten Sozialer Arbeit, etwa in der alltäglichen Doku-mentation in der Wohngruppe, in Hausordnungen von Jugendeinrichtungen, in Formularen oder in der Kommunikation in Beratungsgesprächen? Wie wird mit Sprachkompetenzen von Adressat_innen, aber auch von Fachkräften umgegangen? Welche Bedeutungen werden dem „Deutsch sprechen“ oder „Deutsch lernen“ von welchen Akteur_innen gegeben? Diese und weitere Fragen, die aus unseren beruflichen Erfahrungen als Sozialarbeiter_in aber auch aus unseren unterschiedlichen Biographien resultieren, waren Ausgangspunkte der AG. Während unserer Vorbereitung erinnerten wir uns an zahlreiche Situationen aus der Praxis, in denen der Umgang mit Sprache auf Schieflagen deutete. Beispielhaft zu nennen ist hier eine Praxissituation, in der in einem sozialen Dienst die Beratung verweigert und die Hilfesuchende weggeschickt wurde, mit dem Hinweis, sie solle zunächst an ihren Deutsch-kenntnissen arbeiten und dann wieder in die Beratung kommen, denn sonst sei kein Ge-spräch möglich. Ein anderes Beispiel ist die Selbstverständlichkeit, mit der in vielen Einrich-tungen und Gruppenangeboten Sozialer Arbeit die Regel „Es wird deutsch gesprochen“ ge-setzt wird –unabhängig davon, wie viele weitere Sprachkompetenzen im Raum sind.

Eine wichtige Inspiration für die Arbeitsgruppe war auch der Aufsatz „Hier wird Deutsch ge-sprochen“ von Annita Kalpaka (2009). Darin zeichnet Kalpaka eine Praxisreflexion mit Stu-dierenden der Sozialen Arbeit nach und thematisiert dominierende Muster und unhinterfragte Selbstverständlichkeiten im Umgang mit Sprache(n). In ihren Überlegungen zu den Bedin-gungen einer Reflexionspraxis in der Sozialen Arbeit benennt Kalpaka unter anderem die Notwendigkeit, den Anspruch nach einem raschen Finden von „richtigen“ Antworten zurück zu stellen und stattdessen eine Bereitschaft für langfristigere Lern- und Verunsicherungspro-zesse zu entwickeln (vgl. ebd. 2009: 290f.). In diesem Sinne war das Anliegen der AG einen (mit eineinhalb Stunden sehr begrenzten) Raum zur gemeinsamen Auseinandersetzung rund

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AG6: „Hier wird Deutsch gesprochen“ – Be-Deutungen von Sprache in rassistischen Strukturen

um „Sprache und Rassismus“ aufzumachen, in dem die Beteiligten, einschließlich der AG-Anbieter_innen, Überlegungen zum Thema einbringen, diskutieren und danach weiterdenken können.

2. Worum ging es in der Arbeitsgruppe?

Der Einstieg in die Arbeitsgruppe war eine verkürzte Variante der Übung „Die Geschichte meines Namens“: Dabei wird eine Vorstellungsrunde mit dem Angebot verbunden, von Er-fahrungen zu erzählen, die mit dem eigenen Namen verknüpft sind. Sichtbar wird bei dieser Übung, dass im Umgang mit Namen zahlreiche Facetten der Bedeutungen von „Sprache in rassistischen Strukturen“ mitschwingen können. Das kann das Privileg sein, mit einem „deutsch“ klingenden Namen privat und beruflich „leicht durchzukommen“, da der eigene Name keine rassistischen Bilder oder Zuschreibungen auslöst und nicht weiter kommentiert wird. Das kann aber auch die Erfahrung sein, auf einen „nicht Deutsch klingenden Namen“ ständig angesprochen zu werden und immer damit rechnen zu müssen, auf die Namensnen-nung hin die eigene Anwesenheit an einem Ort erklären zu müssen – nämlich dann, wenn die Frage folgt „Wo kommt dein Name her?“ (in der die Frage mitschwingt: „Wo kommst du her?“). Dabei berichten Menschen auch von Umgangsweisen, die sie aufgrund solcher Re-aktionen auf ihren Namen entwickelt haben, wie sich vorbeugend mit „deutsch klingenden“ Abkürzungen vorzustellen - um in deutschsprachig dominierten Räumen Anderen die Aus-sprache zu erleichtern, aber auch um zu vermeiden, durch den Namen in rassistische Schubladen gesteckt werden.

Die Frage nach den Bedeutungen von Sprache in rassistischen Strukturen lässt sich von zahlreichen Blickwinkeln aus betrachten. In der AG wurden eingangs drei Bereiche des Themas angesprochen, die hier mithilfe von Annita Kalpakas Überlegungen und Beispielen zum Thema etwas ausgeführt werden:

Bereich 1: Zu Vorstellungen rund um „Deutsch lernen“

Das Bild des „Deutsch Lernens“ wird häufig als Schlüssel zur Teilhabe verwendet. Die Argu-mentationskette, dass viele „Migrant_innen“ kein Deutsch lernen würden, deshalb keine Ar-beit fänden und sich folglich nicht integrieren könnten, gilt als unhinterfragte Gewissheit (vgl. Kalpaka 2009: 286). Bei dieser „Schuldzuweisung an die Benachteiligten“ (Batts 2005:15) werden institutionell verankerte Diskriminierungsmechanismen die den Zugang zu Bildungs-abschlüssen und Arbeitsplätzen erschweren genauso ausgeblendet wie der Umstand, dass es gar nicht ausreichend Arbeitsplätze gibt, und dass die angebotenen Tätigkeiten häufig im Niedriglohnsektor liegen und kaum Sprachkenntnisse voraussetzen. Derzeit ist es aber, so Kalpaka, eine anerkannte Haltung, nicht die Strukturen zu thematisieren sondern stattdessen die Betroffenen für ihre Benachteiligung selbst verantwortlich zu machen. Möglicherweise auch, da „pädagogisches Herumbasteln“ an den einzelnen Menschen handhabbarer wirkt als der Blick auf die übermächtig erscheinenden Strukturen (vgl. ebd. 2009: 286).

Zu fragen ist hier auch, was eigentlich durchgesetzt werden soll mit der Festlegung „Hier wird Deutsch gesprochen“ und welche Vorstellungen von „Integration“ und Zusammenleben damit einhergehen. Kalpaka veranschaulicht, wie „Deutsch lernen“ zum Politikum gemacht wird, indem beispielsweise aufenthaltsrechtliche Sanktionen davon abhängig gemacht wer-den. Durch die Herstellung dieses Zusammenhangs wird die „Integration“ bestimmter Men-schen auf ihre erfolgreiche Teilnahme an Deutsch- und Integrationskursen reduziert.

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AG6: „Hier wird Deutsch gesprochen“ – Be-Deutungen von Sprache in rassistischen Strukturen

Kalpaka stellt im Anschluss an diese Beispiele die Frage, wo sich in diesen Diskursen die Soziale Arbeit positioniert: Übernimmt sie die angebotenen, herrschenden Deutungsmuster oder versucht sie, ihnen etwas entgegen zu setzen und sie im Sinne der von rassistischen Argumentationslogiken betroffenen Menschen umzudeuten? (vgl. Kalpaka 209: 286f.)

Bereich 2: Sprache als eine von vielen Differenzlinien in der Sozialen Ar-beit

Es gibt viele Differenz(ierung)en zwischen Menschen, die in der Sozialen Arbeit eine Rolle spielen können, wie zum Beispiel Geschlecht, Alter, Mehrsprachigkeit, Familiengeschichte, Familiengewohnheiten, körperliche Fähigkeiten oder individuelle Interessen. Kalpaka stellt die Frage, ob Sprache in der Sozialen Arbeit als eine nicht bewältigbare Differenz wahrge-nommen wird. Sie verdeutlicht diesen Gedankengang am Beispiel einer Einrichtung, in der den mehrsprachig aufgewachsenen Besucher_innen vorgeschrieben wird „Deutsch zu spre-chen“, unabhängig davon, mit wem sie kommunizieren und ob sie eine andere Erstsprache haben. Im Rahmen eines Festes der Einrichtung oder des Stadtteils werden die gleichen Be-sucher_innen jedoch dazu eingeladen, Musik oder Essensgerichte der ihnen zugeordneten „Herkunftskultur“ einzubringen, um die Vielfalt der Einrichtung zu zeigen. Kalpaka diskutiert an diesem Beispiel, dass Unterschiede wie Essen oder Musik möglicherweise bewältigbarer (weil einfügbarer und damit kontrollierbarer) erscheinen als die Differenzlinie der „Mehrspra-chigkeit“ oder des „in anderen Sprachen als Deutsch kommunizieren Wollens“. (vgl. Kalpaka 2009: 280).

Bereich 3: Sprache und Macht

Bei beiden genannten Bereichen stellt sich schließlich die Frage nach der Definitionsmacht: Wer darf eigentlich bestimmen, wann welche Sprachkompetenzen erwünscht sind?

Auch hier nehmen wir Bezug auf Kalpakas Aufsatz zum Thema, in dem an die „normal“ er-scheinende Regel „Kommunikationssprache ist Deutsch“ in einem Jugendhaus eine Reihe von Fragen gestellt werden. Zunächst entsteht hier die Frage, wer aus welcher Perspektive glaubt zu wissen, dass es „gut“ für die jugendlichen Besucher_innen sei, Deutsch zu spre-chen. Weiter kann gefragt werden, ob es zum professionellen Auftrag von Sozialarbeiter_in-nen in der außerschulischen Jugendarbeit gehört, zum Deutsch sprechen aufzufordern. Zu-dem ist nicht erwiesen, dass die Jugendlichen kein Deutsch lernen, wenn sie in der Einrich-tung in verschiedenen Sprachen kommunizieren. Darüber hinaus kann hinterfragt werden, ob eine befürchtete Abkapselung primär ein Problem der benutzten „anderen“ Sprache ist. Und schließlich lässt sich hinsichtlich eines Bestehens auf ein „Hier wird Deutsch gespro-chen“ auch fragen, wie es um die Wertschätzung und Gleichwertigkeit von verschiedenen Sprachen steht. (Kalpaka 2009: 284f.)

Kleingruppenaustausch und Diskussion

Im anschließenden Austausch in Kleingruppen beschäftigten sich die Teilnehmer_innen der AG mit ihren eigenen Praxiserfahrungen in der Sozialen Arbeit und diskutierten, welche Funktionen Sprache hier jeweils bekommt. Zentrale Überlegungen der Kleingruppen wurden dann wieder in die Abschlussdiskussion getragen:

• Es wurde benannt, dass Sprachkompetenzen bzw. Sprachdefizite in keinem Zusammen-hang mit „Intelligenz“ stehen – dieser Bedeutungszusammenhang würde aber häufig (im-plizit und explizit) hergestellt.

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AG6: „Hier wird Deutsch gesprochen“ – Be-Deutungen von Sprache in rassistischen Strukturen

• Thematisiert wurden die Erfahrungen von mehrsprachigen Fachkräften, auf einen „Migra-tionshintergrund“ reduziert werden, unabhängig davon, ob sie in Deutschland aufge-wachsen sind oder nicht und obwohl sie noch viel mehr an Qualifikationen und fachlichen Kompetenzen als ihre Mehrsprachigkeit mitbringen. So würde beispielsweise russisch-sprachigen Sozialarbeiter_innen häufig zugeschrieben, sie könnten besonders gut mit „den“ russischsprachigen Familien, so dass sie als Familienhelfer_innen bevorzugt in Fa-milien mit russischem Migrationshintergrund geschickt werden. Die Fragwürdigkeit dieser kulturalisierenden Annahme wird veranschaulicht durch die Umdrehung der Argumentati-on: Wie überzeugend wäre es zu behaupten, deutschsprachige Sozialarbeiter_innen könnten alle deutschsprachigen Familien besonders gut verstehen? Migrant_innen wer-den in der Zuweisung an gleichsprachige Adressat_innen als homogene Gruppen wahr-genommen, während Fachkräfte ohne Migrationshintergrund „allzuständig“ scheinen und die Möglichkeit haben, eigene fachliche Schwerpunkte zu setzen. Das Thema wurde in der Abschlussdiskussion kontrovers diskutiert: denn neben der berechtigten Kritik an die-sen Zuschreibungen wurde auch die Erfahrung benannt, dass Adressat_innen es als un-terstützend und Zugänge erleichternd erlebten, wenn die zuständige Fachkraft auch Mi-grationserfahrungen hat. Dieser Punkt ist also komplex zu betrachten - möglicherweise ist hier auch entscheidend, durch wen und wie die Annahme begründet wird und an wen sie von wem herangetragen wird.

• In den Kleingruppen wurde auch die Erfahrung beschrieben, dass in mehrsprachigen Teams von nur deutschsprachigen Fachkräften manchmal die Forderung kommt, dass sowohl die Kolleg_innen als auch die Adressat_innen in ihrer Anwesenheit durchgehend Deutsch sprechen sollen. Damit verbunden sein kann der Wunsch „Ich will alles verste-hen können!“ oder die verunsichernde Frage: “Reden meine Kollegin und die Klientin ge-rade über mich?“ Möglicherweise geht es hier auch um Ängste vor einem Kontrollverlust oder dem Gefühl des „Ausgeschlossen seins“ seitens der nur deutschsprachigen Kolleg_innen. Es geht aber auch um das Recht der mehrsprachigen Kolleg_innen, die ei-genen Sprachen anwenden zu können.

• Berichtet wurde auch von der Erfahrung, dass Menschen, wenn sie meinen bei Ge-sprächspartner_innen einen nicht-Deutschen Akzent wahrzunehmen, teilweise in einer Art „Kinder-Deutsch“ mit der Person weiter sprechen, indem sie einfache Worte benutzen und betont deutlich sprechen.

• Diskutiert wurde die Wahrnehmung, dass (auch in der Sozialen Arbeit) Sprachen nicht gleichwertig behandelt werden. Vielmehr würde eine implizite Unterscheidung in „uner-wünschte Sprachkenntnisse“ (z.B. polnische, türkische oder arabische Sprachkenntnisse, die ins Jugendhaus und in die Klassenzimmer getragen werden) und erwünschte Sprachkompetenzen (wie beispielsweise die aus dem Englischunterricht in der Schule) vorgenommen. In diesem Zusammenhang wurde auch bemerkt, dass es zwar bilinguale Kindertagesstätten gibt, in denen Deutsch-Englisch oder Deutsch-Spanisch kommuniziert wird, aber in Bremen noch keine Deutsch-Türkische oder Deutsch-Russische Kita. Das kann nicht an einem Mangel an türkischsprachigen oder russischsprachigen Erzieher_in-nen liegen, sondern möglicherweise auch an ungleichen dominanzgesellschaftlichen Wertungen von Sprachen.

• In diesem Kontext wurde auch darauf hingewiesen, dass mehrsprachig aufwachsende Kinder oft einen riesigen Wortschatz haben, der durch die Fokussierung auf das „Deutsch sprechen“ und die damit oft einhergehende Entwertung weiterer Sprachkompe-tenzen nicht gewürdigt wird.

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AG6: „Hier wird Deutsch gesprochen“ – Be-Deutungen von Sprache in rassistischen Strukturen

• Bemerkt wurde, dass es beim Thema „Sprache in der Sozialen Arbeit“ letzten Endes um „verstehen wollen“ geht, und damit auch um die Frage „Habe ich überhaupt Interesse et-was zu verstehen?“

• Benannt wurde der Wunsch, als nur deutschsprachige Sozialarbeiter_in zumindest Grundkenntnisse weiterer Sprachen lernen zu wollen.

• Schließlich wurde angesprochen, dass Sprache eng mit Macht verknüpft ist, und damit auch mit Machtmissbrauch: Wer macht was mit Sprache in der Sozialen Arbeit? Wie wird Sprache als Distinktionsmittel zwischen Gruppen eingesetzt? Sprache würde deswegen so mit Bedeutungen aufgeladen, weil es einfach ist, Menschen anhand ihrer Sprachkom-petenzen einzusortieren und auszusortieren. Sprache wird hier zum Instrument des Ras-sismus.

Ausblicke…

Für eine Reflexionspraxis zu diesem Thema benennt Kalpaka die Notwendigkeit, die eigene Positionierung und eigene Eingebundenheit in Machtverhältnissen kontinuierlich zu reflektie-ren. Hierfür bedarf es an Theorien, durch die Sozialarbeiter_innen darin unterstützt werden, den eigenen Standort und die je eigene Normalität, wahrzunehmen, zu überprüfen und zu re-flektieren (vgl. ebd. 2009: 293).

Aus der Runde der AG-Teilnehmer_innen wurde abschließend geäußert, dass ein großer Bedarf an Reflexionsräumen zum Thema „Rassismus in der Sozialen Arbeit“ besteht. Solche Räume einzufordern oder zu schaffen wird in den gegenwärtigen (Arbeits-)Bedingungen strukturell erschwert, kann aber als ein zentraler Schritt gesehen werden, um rassistischen Interaktionsformen und Strukturen in der Sozialen Arbeit entgegen zu wirken. Gerade in der Auseinandersetzung mit dem Umgang mit Sprache(n) in der Sozialen Arbeit wird sichtbar, dass es hierbei auch um Fragen nach der interkulturellen Öffnung von Einrichtungen, und damit nicht zuletzt um eine Professionalisierung von Sozialer Arbeit in der Migrationsgesell-schaft geht.

LiteraturBatts, Valerie (2005). Is Reconciliation Possible? Lessons From Combating “Modern Ra-cism”. VISIONS. URL:

www.visions-inc.org/Is%20Reconciliation%20Possible.pdf (22.05.2012)

Kalpaka, Annita 2009: „Hier wird Deutsch gesprochen“ – Unterschiede, die einen Unter-schied machen. In: Kalpaka, Anita/Elverich, Gabriele/Reindlmeier, Karin (Hg.): Spurensiche-rung durch Reflexion von Bildungsarbeit in der Einwanderungsgesellschaft, Münster: UN-RAST, S. 263-297.

AutorInnen

Ali Uysun, Sozialarbeiter. Studium der Sozialen Arbeit in Bremen, langjährige Berufstätigkei-ten als Sozialarbeiter in der Offenen Kinder- und Jugendarbeit, in der Familienhilfe sowie im Amt für Soziale Dienste. Seit 2011 tätig als Leitung des freien Trägers „Bremer Erziehungs-hilfe“. Arbeitsschwerpunkt: Soziale Arbeit unter dem Aspekt der Kulturverschmelzung.

Kontakt: [email protected]

Friederike Lorenz, Sozialarbeiterin BA und staatl. anerkannte Erzieherin

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Rassismus – Schlussbemerkungen einer Podiumsteilnehmerin

Rassismus – Schlussbemerkungen einer Podiumsteilneh-merin

Fatos Atali-Timmer

Rassismus ist ein Phänomen, mit dem Migrant_innen tagtäglich konfrontiert werden. Er ist nicht immer sofort zu erkennen. Um handeln zu können, muss man Rassismus erkennen. Um erkennen zu können, dass Rassismus Rassismus ist, muss das Bewusstsein dafür entstehen. Und zwar sowohl bei denen, die von Rassismus betroffen sind und auch bei denen, die rassis-tisch handeln. Rassismus hat meistens keinen Hitlerbart und ist weit weg, aber dennoch be-gegnet er uns oft im Alltag.

Viele rassistische Haltungen haben sich in den Köpfen der Menschen festgesetzt, die uns täg-lich begegnen. Dies kann in der Nachbarschaft oder Verwandtschaft sein. Aber auch die eige-nen Haltungen und Denkweisen müssen überdacht werden. Rassisten sind oft die anderen. Die eigenen Haltungen, die sich zu Vorurteilen verfestigt haben, werden schnell mit den “ei-genen Erfahrungen” gerechtfertigt. Eigentlich rassistische Äußerungen werden dann legiti-miert und gerechtfertigt (“Das wird man doch wohl sagen dürfen”).

Nur wenn eine Auseinandersetzung mit den rassistischen Denkstrukturen auch in den “eige-nen Köpfen” beginnt, kann Rassismus auch abgebaut werden.

Rassistische Denkstrukturen in den Köpfen werden zu Haltungen und Haltungen können zum Handeln animieren (Beispiel: Es wurde neulich ein rassistischer Anschlag auf eine Migranten-familie in Bremen ausgeübt. Das Haus, das sie mit acht Personen bewohnen, wurde angezün-det) und das ist die einzige Ebene des Rassismus, die als solche leicht erkennbar ist.

Rassistische Praktikten werden schnell als Normalität empfunden und nicht mehr hinterfragt, z.B. wenn Jugendliche, die “nicht-Deutsch aussehen” in Discos nicht reingelassen werden und an der Tür abgewiesen werden. Wenn die Türsteher selber "nicht-Deutsch aussehen", wird dies zur Rechtfertigung für eine “rassistsiche Auslese” an der Diskotür. Diejenigen die rein gelassen werden, freuen sich, dass sie selber rein gekommen sind. Würden sie sich solidarisch verhalten und auf den Besuch einer solchen Disko verzichten (sich umdrehen und weggehen), würden klare Signale gesetzt, wäre eine Änderung solcher Praktiken zu erwarten.

Auch die Gesetze und die Praktikten der Behörden fördern Rassismus und bauen ihn auf. So gibt es immer noch das “Ausländerrecht” als Sonderrecht für zahlreiche Migrantinnen und Migranten, die von einer gleichberechtigten Teilhabe am gesellschaftlichen Leben ausge-schlossen werden, denen durch Gesetze das Bildungssystem nicht gleichermaßen offen steht und die keinen freien Zugang zum Arbeitsmarkt haben, geringere Leistungen in Form eines “Asylbewerberleistungsgesetzes” erhalten etc.

Bei Diskriminierungen bei der Arbeit, bei der Vermietung von Wohnungen usw. fehlt es an Möglichkeiten, Hilfe und Unterstützung zu erhalten. So fehlt in Bremen eine Antidiskrimmi-nierungsstelle, an die sich Betroffene wenden können. Dass es diese Stelle noch nicht gibt, wirft die Frage auf, ob die Relevanz des Themas angekommen ist. Wer nämlich selbst nicht von Rassismus betroffen ist, aber entscheiden kann, ob Rassismus ein wichtiges Thema ist

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Rassismus – Schlussbemerkungen einer Podiumsteilnehmerin

(diejenigen, die z.B. politisch entscheiden können, sind meistens Nichtmigranten), wird mit dem Thema anders umgehen.

Fatos Atali-Timmer ist Diplom-Pädagogin und Diversity-Trainerin. Seit mehreren Jahren ist sie in der Erwachsenenbildung tätig und arbeitet mit Flüchtlingen und anderen Migrantinnen und Migranten.

Sie ist Mitglied im Bremer Rat für Integration und arbeitet in der Arbeitsgruppe „Antidiskrimi-nierung“ mit und leitet die Arbeitsgruppe „Flüchtlinge“. An der Ausarbeitung des Bremer Inte-grationskonzeptes 2011-2015 wirkte sie aktiv mit.

Kontaktdaten: Fatos Atali-Timmer, Bremer Rat für Integration, Am Markt 20, 28195 Bremen

Email: [email protected]

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