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Psychologie Heute Compact 28 LESEPROBE

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Leseprobe von Psychologie Heute Compact 28

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Page 1: Psychologie Heute Compact 28 LESEPROBE
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4 PSYCHOLOGIE HEUTE compact

8 URSULA NUBER

Wie soll ich mich entscheiden?

14 CHRIS ROETHELI

Sich entscheiden – nach allen Regeln der Kunst

22 LUKAS NIEDERBERGER

„Ich weiß nicht, was ich eigentlich will!“

28 KAI-JÜRGEN LIETZ

Dem Handeln eine Richtung geben

34 HUGO M. KEHR

Man muss auch wollen können

42 URSULA NUBER

„Mein Gefühl sagt mir…“

46 HEIKO ERNST

Intuition – die plötzliche Erkenntnis

52 „Nachdenken führt nicht immer zu besseren Ergebnissen“EIN GESPRÄCH MIT CLEMENS KRONEBERG

56 PATRICK SPÄT

Diktiert das Gehirn unsere Entscheidungen?

60

Was will ich

Gefühl, Verstand, Hirnchemie:

Wer entscheidet hier eigentlich?

6 40

Inhalt HEFT 28

N E W S compact

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70 KATRIN BRENNER

Selbstkontrolle: Das Geheimnis guter Entscheidungen

74 Vergessene KatastrophenEIN GESPRÄCH MIT ELKE WEBER

78 „Sobald wir eine Entscheidung getroffen haben, sind wir nicht mehr objektiv“EIN GESPRÄCH MIT

VERONIKA BRANDSTÄTTER-MORAWIETZ

82 NEAL ROESE

Falsche Entscheidungen: Wie wir uns mit ihnen aussöhnen können

86 ANNETTE SCHÄFER

Wie Ärzte entscheiden

92 URSULA NUBER

Der Zwang zur perfekten Entscheidung

5

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CHEFREDAKTEURHeiko Ernst

REDAKTIONUrsula Nuber (stellvertr. Chefredakteurin)Redaktionsassistenz: Olive Müller, Doris Müller

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BILDQUELLEN

Titel: Harald Eisenberger. S. 3: Monika Werneke. S. 4, 5,6, 7, 8, 10, 13, 14, 15, 16, 18, 22, 24, 26, 28, 29, 30, 34,35, 36, 38, 40, 41, 42, 44, 46, 48, 50, 52, 53, 56, 57, 58,60, 61, 62, 63, 64, 65, 66, 67, 68, 69, 70, 71, 72, 74, 75,76, 78, 79, 80, 82, 84, 86, 87, 88, 92, 94: Getty Images. S. 98: Peter Thulke

I M P R E S S U M

INTERNETwww.psychologie-heute.de

PSYCHOLOGIEHEUTE compact

Best.-Nr.: 47215

ISBN 978-3-407-47215-1

3 EDITORIAL

5 IMPRESSUM

96 MARKT

98 CARTOON

Gute Entscheidungen –

schlechte Entscheidungen

68

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6 PSYCHOLOGIE HEUTE compact

Waswillich

„Wie komme ich auf den richtigen Weg?“, fragt Alice den Hasen. „Es kommt darauf an,

wo du hin willst“, antwortet dieser. „Ich weiß es nicht“,antwortet Alice. „Ja dann“, sagt der Hase,

„ist es ganz einfach. Du kannst den einen oder den anderen Weg wählen. Wenn du das Ziel nicht kennst,

ist die Wahl des Weges unwichtig.“ (Alice im Wunderland)

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8 PSYCHOLOGIE HEUTE compact

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Ursula Nuber

Wie soll ich mich entscheiden? In der heutigen Zeit mit ihren zahlreichen Wahlmöglichkeiten erscheinen uns

viele Entscheidungen unendlich kompliziert. Mit Nachdenken allein kommen wir oft

nicht weiter. Aber können wir unserem Gefühl vertrauen? Und gibt es sie überhaupt –

die richtige Entscheidung?

Nun entscheide dich doch endlich!“ Diese Auffor-derung hören wir, gesprochen von einer unge-duldigen inneren Stimme, häufig in Situationen,

in denen wir unschlüssig und untätig an einer Stelle ver-harren. Die Stimme traktiert uns bei unwichtigen Dingen(Handyvertrag oder Prepaidkarte? Keks oder Schokolade?),und sie quält uns ganz besonders hartnäckig, wenn es wirk-lich um etwas geht: um den nächsten Urlaub, den Mannoder die Frau unseres Lebens, einen Job, eine Wohnung,eine Geldanlage und vieles mehr.Wie es scheint,meldet sichdiese Stimme heute viel intensiver und häufiger, als es nochvor Generationen der Fall war: Entschlusslosigkeit ist zueinem Zeitphänomen geworden, von dem immer mehrMenschen betroffen sind.

Entscheidungsschwierigkeiten sind natürlich nichts Neu-es. Schon der Philosoph Søren Kierkegaard klagte: „Es istnicht zu glauben, wie schlau und erfinderisch die Menschensind, um Entscheidungen aus dem Weg zu gehen.“ Dochdas Problem besitzt heute eine neue Qualität: Viele Un-entschlossene würden liebend gerne eine Wahl treffen, siemöchten ihr gar nicht ausweichen – aber sie sind nicht inder Lage zu entscheiden. Ihr Handeln ist blockiert.

Das liegt sicherlich vor allem daran, dass die Optionenso zahlreich geworden sind. Frühere Generationen muss-ten oft vorgezeichnete, von anderen vorgegebene Wege ge-hen, sie brauchten nicht zu überlegen, welche Lebensformund welche Lebensinhalte für sie die richtigen waren. Vie-les, was sie entschieden, war gar keine wirkliche Wahl. Sietaten dieses oder jenes, weil es so üblich war, oder auch, weil

sie aufgrund ihres Standes, ihres Geschlechts oder ihrer Bil-dungschancen schlicht gar keine anderen Möglichkeitenhatten. Sicherlich beeinflussen auch in unserem gegenwär-tigen Leben die Gesellschaft, die Familie, das Schicksal oderder Zufall, welchen Weg wir einschlagen. Aber sehr vielhäufiger als früher können und müssen wir selbst ent-scheiden, welche Richtung wir in dieser schnelllebigen Weltmit ihren zahlreichen Weggabelungen einschlagen.

Das ist nicht einfach, ganz im Gegenteil: Sich entschei-den ist zur großen Herausforderung unserer Zeit gewor-den. So mancher kapituliert denn auch vor ihr, trifft lieberkeine Entscheidung und muss dann erleben, dass andereüber ihn bestimmen. Oder tritt auf der Stelle, aus Angst,die falsche Entscheidung zu treffen. Oder entscheidet et-was, nur damit entschieden ist – und bereut später seinenSchritt. Vielen Menschen scheint abhanden gekommen zusein, was eigentlich zu unserem evolutionären Erbe gehört:die Fähigkeit, sich klug zu entscheiden. Hätten unsere Vor-fahren diese Fähigkeit nicht besessen, wäre die Menschheitlängst ausgestorben. Denn für die Menschen früherer Zei-ten hing ihr Überleben von der richtigen Entscheidung ab:Sind die Beeren giftig oder genießbar? Ist der Schlafplatzsicher, oder könnten wilde Tiere angreifen? Schenkt dieserPartner mir gesunden Nachwuchs oder eher jener? Hättensich unsere Vorfahren zu oft falsch entschieden, wäre es umdie Menschheit heute schlecht bestellt.

Grundsätzlich also können wir uns entscheiden, die Fä-higkeit dazu besitzen wir. Allerdings sind die Situationen,in denen wir vor einer Wahl stehen, nicht nur zahlreicher

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Lukas Niederberger

„Ich weiß nicht,was ich eigentlich will!“Richtige und stimmige Entscheidungen sind weniger eine Frage

der perfekten Technik als vielmehr der persönlichen Konfrontation

mit den eigenen Zielen und Werten sowie den mehr oder

weniger bewussten Treibern und Hemmern

22 PSYCHOLOGIE HEUTE compact

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Wenn ich bei Kursen und Vorträgen zum ThemaEntscheidungsfindung die Anwesenden frage,was das Entscheiden so schwierig mache, ergibt

sich jeweils eine breite Palette von Antworten:– Wir trauen der eigenen inneren Stimme wenig bis gar

nicht.– Wir haben Angst, falsch zu entscheiden, weil wir und das

Umfeld keine Fehlerkultur kennen oder tolerieren.– Wir fürchten, gegen unsere Lebenskonzepte und innere

Haltung handeln zu müssen.– Wir müssen uns mit der Entscheidung „outen“ und Pro-

fil zeigen.– Wir wollen es allen recht machen und von allen geliebt

werden.– Wir sind unsicher oder fürchten mögliche Konsequen-

zen für uns und Mitbetroffene.– Wir müssen andere wertvolle Wahloptionen loslassen

und Verzicht üben.All diese Faktoren sind richtig, wichtig und darum auchernst zu nehmen. Je bewusster uns die Schwierigkeiten inEntscheidungsprozessen sind, umso eher können wir unsvon ihnen distanzieren und die anstehende Wahl mit einermöglichst großen inneren Freiheit zu treffen versuchen. In-teressant ist, dass bei den Aufzählungen von Entschei-dungsproblemen jene Faktoren selten genannt werden, dieich für sehr zentral halte:– Fragestellung und Entscheidungsebene sind diffus.– Ziele und Werte sind unklar.– Manche Treiber und Hemmer sind uns unbekannt.– Pro und Kontra spielen ewig Pingpong.

Die Fragestellung und Entscheidungsebene sind diffus

Wir Menschen sind in Bezug auf Veränderungsprozesse undfolglich auch bezüglich Entscheidungen ambivalent. EineSeite in uns sehnt sich nach Sicherheit, Stabilität und Tra-dition, eine andere Seite nach Veränderung und Reformen.Veränderungen lösen oftmals bewusste oder diffuse Ängs-te und Widerstände aus. Darum ringen sich viele Indivi-duen (und Institutionen) erst dann zu einer Entscheidungdurch, wenn das Leiden am Status quo größer wird als dieAngst vor dem Neuen und Unbekannten. Oder wenn eineganz bestimmte Anziehungskraft und ein inneres Feuer dieÄngste überwiegen. Das Leiden am Status quo kann sichauf vielfältige Weise zeigen. Nicht wenige Menschen undOrganisationen sind Meister im Nichtwahrnehmen oderVerdrängen der eigenen Unzufriedenheit und Frustration,

von Demotivation, Druck und anderen Leidensformen. DieGefahr ist groß, dass wir uns auf der falschen Ebene für Ver-änderungen und scheinbare Lösungen von Leiden ent-scheiden. Die regelmäßige ehrliche Konfrontation mit dereigenen Situation bildet darum die unverzichtbare Basisvon stimmigen Entscheidungen.

Der erste Schritt besteht immer in der Klärung aller Bau-stellen. Im persönlichen Bereich heißen die Baustellen inder Regel Herkunftsfamilie, Partnerschaft, Gemeinschaft,Familie, Kinder, Beruf, Aus- und Weiterbildung, Finanzen,Wohnsituation, Lebensstil, Körper und Gesundheit, Frei-zeit und Hobbys, gesellschaftliches Engagement sowie ei-gener spiritueller Weg mit Raum und Zeit für sich selbst.

Vor einiger Zeit reflektierte ein befreundetes Paar langedarüber, ob sie in die Wohnung von ihm oder er in ihreziehen solle. Nachdem sie die unzähligen Für und Wider x-mal durchgehechelt hatten und keinen Schritt weiterge-kommen waren, mussten sie sich schließlich die erlösendeund gleichzeitig schmerzhafte Frage stellen, ob sie überhauptzusammenleben möchten und füreinander geschaffen seien.Kurze Zeit danach trennten sie sich. Manche Frauen wer-den gerade dann schwanger, wenn Klärungen und Verän-derungen innerhalb der Partnerschaft nötig gewesen wären.Und nicht wenige Männer finden just in dem Zeitpunkt ei-ne Geliebte, wo Veränderungsprozesse in der Ehe überfälliggewesen wären. Ein Freund warf letzthin von einem Mo-ment auf den anderen seinen Job hin, weil er meinte, dasssich dadurch seine innere Abgestumpftheit und Sinnkriselösen würde. Manche müssen zuerst mehrmals die ganzeWelt bereist haben, ehe sie endlich ihre längste Reise – nachinnen – antreten. Und manche, die ihr Leid und Unglückals Folge der schlechten Luft, der Nachbarn, der Wasser-adern, des Elektrosmogs, der Medien, der Ausländer, des Bil-dungs-, Sozial- und Gesundheitssystems beklagen, erweisensich als immun gegen notwendige innere Veränderungen.

Auch Unternehmen und politische Gremien setzen ih-re Entscheidungsprozesse oft auf der Ebene der Symptomean statt an deren Wurzeln. Lieber befassen sie sich mit sach-lichen Themen, Strategien und technischen Maßnahmenals mit den eigenen Machtstrukturen oder mit fehlendengemeinsamen Zielen und Visionen. Sowohl individuelle alsauch kollektive Entscheidungsprozesse gründen letztlichauf einer ehrlichen Selbstbegegnung.

Wenn Menschen auf mehreren Ebenen des Lebens un-glücklich sind und Leiden wahrnehmen, liegt der erste Lö-sungsschritt in der Klärung, welche Entscheidungsebene als

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Hugo M. Kehr

Man muss auch wollen könnenMotivation gilt seit Jahrzehnten als Schlüsselbegriff für erfolgreiches Handeln,

Arbeiten, Lernen und Entscheiden. Doch etwas ist noch wichtiger: der Wille.

Was macht Willenskraft aus – und wie können wir sie trainieren,

um bessere Entscheidungen zu treffen?

34 PSYCHOLOGIE HEUTE compact

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Wille“ ist ein schillernder Begriff. Seit dem Al-tertum philosophiert der Mensch darüber, obes so etwas wie Willen überhaupt gibt,was man

sich darunter vorzustellen hat und welche Funktionen ergegebenenfalls ausübt. Hierauf gibt es natürlich viele Ant-worten, die häufig nur geringe Ähnlichkeiten erkennen las-sen und die sich zum Teil auch widersprechen. MancheMenschen verwenden den Begriff „Wille“ sehr weit, an-dere dagegen eher eng.Die geläufige Formulierung „Ich willetwas essen!“ entspricht zum Beispiel einem sehr weitenWillensverständnis. Sämtliche Ziele und Bedürfnisse sind

dann als Wille zu verstehen. Hier besteht die Gefahr, dass der Willensbegriff

verwässert wird. Außerdem gibt es imGrunde bereits einen Begriff, der das Ge-

meinte besser trifft: Motivation. Zwar sagtman normalerweise nicht: „Ich bin motiviert,

etwas zu essen!“, jedoch würde es den Kern desGemeinten treffen. Man muss sich also fragen, was

das Besondere eines derart weit verstandenen Willens-begriffes ist.

Ein engeres Begriffsverständnis von „Wille“ geht davonaus, dass die Funktion des Willens in der Überwindungvon Schwierigkeiten liegt. Nicht immer, wenn es um dieRealisierung von Zielen oder um die Befriedigung von Be-dürfnissen geht, sondern nur bei auftretenden Schwierig-keiten wird dieser Auffassung zufolge Wille benötigt. Das

Problem liegt bei dieser Begriffsauffassung allerdings da-rin,was genau unter „Schwierigkeiten“ verstanden wird.Er-fordert nicht jede auch noch so leichte Handlung die Über-windung von Schwierigkeiten – auch wenn diese vielleichtklein sein mögen und nicht immer ins Bewusstsein treten?Zum Beispiel die Überwindung der Gravitationskraft unddes Luftwiderstandes sowie die Berechnung von Wurfpa-rabeln und Ein- und Ausfallwinkeln beim Tennisspiel? Jeweiter die Auffassung von „Schwierigkeiten“ ist,desto mehrnähert man sich also dem oben verworfenen, weiten Wil-lensverständnis an.

Als Auflösung bietet sich die Unterscheidung von inne-ren und äußeren Handlungsbarrieren an: Äußere Hand-lungsbarrieren können in der Situation begründet sein oderihre Ursachen in der fehlenden sozialen Unterstützung ha-ben. Innere Schwierigkeiten dagegen liegen in einem selbst.Man hat vielleicht keine Lust, ist abgelenkt oder hat vorirgendetwas Angst.

Innere und äußere Schwierigkeiten können sich aller-dings auch überlagern und sind dann nicht immer scharfvoneinander zu trennen. Das ist zum Beispiel dann der Fall,wenn die Situation derart ungünstig ist (äußere Schwierig-keit), dass einem die Lust vergeht (innere Schwierigkeit),oder wenn man aus Unlust so unkonzentriert ist, dass maneine entstehende Gefahr übersieht. Dennoch lassen sich in-nere und äußere Ursachen für Handlungsbarrieren in denmeisten Fällen recht gut unterscheiden. Die Unterschei-

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Ursula Nuber

„Mein Gefühl sagt mir…“Sind Entscheidungen, die wir „aus dem Bauch heraus“ treffen, die besten?

Sollen wir mehr auf unsere Gefühle hören statt auf den Verstand? Das wäre falsch.

Aber Gefühle unterstützen den Verstand bei seiner Entscheidungsarbeit

und sind deshalb unverzichtbar

Was ziehe ich heute an? Willich Tee oder Kaffee zumFrühstück? Fahre ich mit

dem Zug oder nehme ich das Auto?Wäscht Persil wirklich weißer als Ariel?Jeden Tag müssen wir eine Fülle anmehr oder weniger belanglosen Ent-scheidungen treffen. Manchmal nervtdas, ein größeres Problem sehen wirdarin normalerweise nicht: Entwederdiktiert die Gewohnheit, wie wir ent-scheiden, oder die Wahl ist nicht sowichtig, als dass wir lange über die Al-ternativen nachdenken müssten. Na-turgemäß weniger entspannt begegnenwir folgenschweren Entscheidungssi-tuationen: Soll ich einen sicheren, aberlangweiligen Arbeitsplatz aufgeben? Istes klug, aus einer festgefahrenen Be-ziehung auszubrechen? Wie soll ich rea-gieren, wenn ich entdecke, dass meinSohn Drogen nimmt? Mit Situationenwie diesen sind wir meist auf uns al-lein gestellt. Niemand kann uns beigrundlegenden Fragen die Entschei-dung abnehmen. Auch die traditionel-len Ratgeber früherer Zeiten – erfah-rene Familienmitglieder, Werte undNormen, kirchliche Traditionen – ha-ben längst ihre wegweisende Funktionverloren.Natürlich können wir uns mitanderen austauschen,aber entscheidenmüssen wir allein. So mancher möch-te angesichts dieser Bürde am liebsteneine Münze werfen und das Schicksalbestimmen lassen. Andere sitzen Ent-scheidungen aus, bis sich die Sache von

selbst erledigt oder bis jemand andersdie Initiative ergreift. So oder so – kei-ne gute Entscheidung.

Wie aber können wir heute ange-sichts der Fülle an kognitiven Heraus-forderungen lebenskluge Entscheidun-gen treffen, wie in einer immer un-übersichtlicher und komplexer wer-denden Zeit den für uns richtigen Wegfinden? „Es gibt mindestens zwei unter-schiedliche Möglichkeiten“, antwortetder amerikanische Neurologe AntonioR. Damasio. „Die erste leitet sich voneinem traditionellen ‚höheren Ver-nunftbegriff‘ der Entscheidungsfindungher, die zweite von der ‚Hypothese dersomatischen Marker‘.“

Die erste Möglichkeit dürfte wohlallen bekannt sein. Haben wir dochschon früh gelernt, dass man wichtigeEntscheidungen mit kühlem Kopf undklarem Verstand treffen sollte. Der küh-le Kopf analysiert die Situation unddenkt wie ein exzellenter Schachspielerimmer ein paar Züge voraus.

Nach der Entscheidungstheorie der„höheren Vernunft“ sammelt der Ver-stand so viele Informationen, wie er nur bekommen kann, und weiß dannirgendwann, was richtig und was falschist.Doch da beginnt das Problem:Wannhaben wir ausreichend Informationenzur Verfügung? Gibt es einen Zeitpunkt,an dem wir guten Gewissens die Sucheeinstellen können? Können wir jemalsgenügend Informationen bekommen?Wohl kaum, meint Damasio. „Im bes-

ten Fall wird Ihre Entscheidung unge-bührlich viel Zeit in Anspruch nehmen,weit mehr Zeit, als vertretbar ist, wennSie sich an diesem Tag noch irgendet-was anderes vorgenommen haben. Imschlimmsten Falle kommen Sie mit derEntscheidung überhaupt nicht zuran-de, weil Sie sich in den VerästelungenIhrer Berechnung verlieren.“

Auch die Lebenserfahrung sagt uns,dass die „höhere Vernunft“ nicht derEntscheidungsweisheit letzter Schlusssein kann. „Wenn wir wirklich wartenwürden, bis wir alle Fakten gesammelthaben, dann würden wir wahrschein-lich niemals eine Entscheidung treffen“,bestätigt der amerikanische Autor Mil-ton Fisher. „Tatsächlich ist das rationa-le Abwägen von Pro und Kontra nur inder Theorie richtig. In der Praxis fällenwir Entscheidungen auf wenigen Fak-ten, weil wir gar nicht alle bekommenkönnen.“

Die Tatsache, dass wir diese Ent-scheidungen oft in Sekundenschnelletreffen können, ist für Antonio R. Da-masio Hinweis darauf, dass das Gehirn„sich offenbar nicht nur an die reineVernunft hält“.Woraus folgt: Wir „brau-chen eine alternative Auffassung“. Die-se alternative Auffassung fand der Neu-rologe in seinen Studien mit hirnver-letzten Patienten, wie zum Beispiel je-nem, den er in seinem Buch Descartes’Irrtum Elliot nennt. Diesem Mann warein gutartiger Hirntumor im vorderenGroßhirn entfernt worden. Mit Erfolg:

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Heiko Ernst

Intuition – die plötzlicheErkenntnisDie Intuition spielt eine viel größere Rolle in unserem Leben, als wir gemeinhin

annehmen. Sie ist die Summe unserer Erfahrungen. Weshalb wir uns in Entscheidungs-

situationen ruhig auf unser Bauchgefühl verlassen sollten – allerdings mit Vorsicht.

Denn Stimmungen, Vorurteile und äußere Einflüsse können die Intuitionen

verfälschen

Um die Intuition ranken sich viele Mythen undHalbwahrheiten. Sie wird häufig für eine nichtergründbare, geheimnisvolle innere Kraft gehal-

ten, für eine Spezialbegabung von besonders „sensitiven“oder esoterisch veranlagten Menschen. Aber Intuition istnichts Esoterisches, Geheimnisvolles – sie ist, so paradoxes klingen mag, durch rationale Forschung erklärbar undsogar verbesserbar. Die mythische Überhöhung der Intui-tion hat blind gemacht für ihre ganz alltägliche wichtigeRolle in unserem Leben.

Was also ist Intuition? Die sparsamste Definition: Intu-ition ist schnelles, unmittelbares Wissen. Daniel Kahneman,Nobelpreisträger für Wirtschaftswissenschaften 2002 undKoryphäe auf dem Gebiet der Kognitionswissenschaften,charakterisiert das intuitive Denken als „wahrnehmungs-ähnlich, schnell und mühelos“ – im Gegensatz zum logi-schen Denken, das meist anstrengend, aufwendig und lang-sam ist.

Auch wenn Computeranalogien der menschlichen Psy-che nicht gerecht werden – in einigen Aspekten gleicht dasmenschliche Gehirn doch einem PC. So wie bei diesemhinter der Benutzeroberfläche zahllose unsichtbare Re-chenvorgänge ablaufen, so sind auch in unserem Gehirn„unterhalb“ des Bewusstseins eine Menge kognitiver Me-chanismen aktiv, die unser Denken und Verhalten steuernund uns „den Kopf“ freihalten für die wichtigen Dinge: Wirsteuern zum Beispiel unseren Wagen durch den dichtenFeierabendverkehr und können uns dabei unterhalten, Ra-

dio hören oder nachdenken. Unser innerer Autopilot über-nimmt das Anfahren, Beschleunigen, Bremsen, Einfädeln.Die Finger, die diesen Text tippen, finden das l, das b unddas o auf der Tastatur erstaunlich schnell und mühelos.

Auch die „selbstverständliche“ Fähigkeit, ein Gesicht zuerkennen, ist ein hochkomplexer Vorgang, dessen einzelneSchritte unterschwellig, unbewusst und extrem schnellablaufen: Form, Farbe, Tiefe und viele andere Merkmalewerden von unterschiedlichen Hirnregionen erfasst, mitgespeicherten Informationen abgeglichen – und in Sekun-denbruchteilen zusammengesetzt: Wir erkennen ein Ge-sicht, das wir vielleicht fünf Jahre nicht mehr gesehen haben,sofort wieder – ein intuitiver Akt par excellence.

Wir besitzen offenbar zwei weitgehend voneinander un-abhängig operierende Systeme des Wahrnehmens und Den-kens, die in unserem Kopf auch unterschiedlich repräsen-tiert sind: Das „Chefsystem“ namens Bewusstsein operiertvor allem in der linken Gehirnhälfte. Es analysiert, schreibt,spricht, rechnet und versteht die Umwelt mithilfe von Lo-gik. Die Arbeitsweise des linken Gehirns erschließt sich unssofort, weil sie die bevorzugte Methode unseres Problem-lösens ist, es ist der Modus Operandi des aufmerksamen,konzentrierten Denkens.

Die Arbeitsweise der rechten Gehirnhälfte ist wenigerleicht zu beschreiben. Sie wirkt eher „im Hintergrund“ undfunktioniert komplex, integrativ, ganzheitlich, gefühlsbe-zogen und assoziativ. Anders ausgedrückt: Sie ist intuitiv.Mit dem rechten Gehirn filtern wir ständig Wichtiges aus

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„Nachdenken führt nicht immerzu besseren Ergebnissen“Ob es um Wahlen geht, um Hilfeleistung oder die weiterführende Schule für

unser Kind – wir müssen uns entscheiden. Von was lassen wir uns dabei stärker leiten?

Von unserem Verstand oder von unserem Bauchgefühl? Der Mannheimer Wissen-

schaftler Clemens Kroneberg hat sich mit dieser Frage in seiner Doktorarbeit beschäf-

tigt und ein Erklärungsmodell entwickelt – das sogenannte Modell

der Frame-Selektion

Das Modell der Frame-Selektion analysiert und er-klärt die Art und Weise menschlichen Handelns.Die jeweilige Situation und ihre Interpretation

(Frame) durch eine Person spielen dabei eine zentrale Rol-le. Es werden zwei Modi des Handelns unterschieden: zumeinen der rc-Modus, in dem das Handeln erst nach sorgfäl-tigem Reflektieren und Abwägen von Anreizen,Kosten undNutzen erfolgt, zum anderen der as-Modus, bei dem Han-deln unhinterfragt, spontan oder auf Basis starker Über-zeugungen gezeigt wird und bei dem Emotionen, Konven-tionen und Werte handlungsleitend sind. Darüber hinausbestimmen vier Determinanten, welcher Modus im Vor-dergrund steht: Motivation, Gelegenheiten, Aufwand undAktivierung.

Der rc-Modus verlangt Reflexion und ist daher immermit einem höheren Aufwand verbunden. Dieser Aufwandwird jedoch in Kauf genommen, und die Motivation zurReflexion ist hoch, wenn es um viel geht. Außerdem müs-sen genügend Gelegenheiten zum Nachdenken vorhandensein. Sind diese nicht gegeben und herrscht zum BeispielZeitdruck, dann wird eher im as-Modus gehandelt. Darü-ber hinaus ist die spontane Aktivierung von Verhaltens-dispositionen beziehungsweise Handlungsprogrammen be-deutsam. Handlungsprogramme sind mental verankerte,tägliche Routinen, emotionale Reaktionsweisen und Nor-men. Werden diese in einer Situation stark aktiviert undähnelt diese Situation anderen, bereits bekannten Situatio-nen, dann erfolgt das Handeln eher im as-Modus, ansons-ten eher im rc-Modus. Dem Modell zufolge ist menschli-ches Handeln weder rein rational noch beruht es aus-schließlich auf Gewohnheiten oder Emotionen. Es ist viel-mehr durch eine „variable Rationalität“ gekennzeichnet.

PSYCHOLOGIE HEUTE In der Hirnforschung geht mandavon aus, dass Entscheidungen sehr schnell und unbe-wusst im emotionalen Zentrum des Gehirns, also vorwie-gend in der Amygdala getroffen werden. Anschließend ge-langen sie in den rationalen Teil des Gehirns, beispielsweisein den präfrontalen Kortex, dem die Aufgabe zukommt, dieEntscheidung zu begründen und zu rechtfertigen. Wie las-sen sich solche Erkenntnisse aus der Hirnforschung mitdem Modell der Frame-Selektion vereinbaren?CLEMENS KRONEBERG Auch das Modell der Frame-Se-lektion geht davon aus, dass viele unserer Entscheidungenvorbewusst erfolgen, gerade wenn die spontane Aktivierungvon Verhaltensdispositionen stark ist. Auf dieser Basis er-folgt Handeln ohne Abwägung von weiteren Anreizen. DerImpuls, spontan zu handeln, kann jedoch auch gehemmtwerden, und es kann ein Reflexionsprozess einsetzen, etwawenn es Hinweise darauf gibt, dass viel auf dem Spiel steht.Wenn man zum Beispiel überlegt, auf welche Schule mansein Kind schicken soll, dann gibt es zwar häufig eine spon-tane Tendenz für eine bestimmte Schule. Dennoch dauertes oft Monate, bis man eine Entscheidung getroffen hat, indenen man seine Meinung mitunter wiederholt revidiert,wenn neue Informationen hinzukommen. Dies sind realeEntscheidungsprozesse und nicht bloß nachträgliche Recht-fertigungen für unbewusst bereits getroffene Festlegungen.Auch wenn ein Großteil des Alltagshandelns unreflektierterfolgt, trifft dies nicht auf jede Art menschlichen Handelnsund Entscheidens zu.PH In welchen Bereichen wird das Modell der Frame-Se-lektion eingesetzt?KRONEBERG Es existiert mittlerweile eine große Band-breite empirischer Anwendungen. Beispielsweise wurde es

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Patrick Spät

Diktiert das Gehirn unsere Entscheidungen?Die Hirnforschung hält uns für Sklaven unserer Neuronen und behauptet:

Wir haben keinen freien Willen, unsere Entscheidungen und unsere Handlungen

werden von elektrisch-chemischen Signalen im Gehirn ausgelöst.

Haben wir also gar keine freie Wahl?

Alle paar Wochen meldet sich ein Hirnforscher zuWort und verkündet feierlich-dramatisch die Ent-zauberung des Menschen. All unsere Gedanken,

Träume und Wünsche seien elektrisch-chemische Signaleim Gehirn – angeblich sind sie so materiell und mechanischwie unser Auto oder der Computer.Vertreter dieser Ansichtnennen sich meist Materialisten oder Naturalisten. Einervon ihnen, der Biologe und Nobelpreisträger Sir FrancisCrick, behauptete sogar, das Leib-Seele-Problem endgül-tig gelöst zu haben: „Sie, Ihre Freuden und Leiden, Ihre Er-innerungen, Ihre Ziele, Ihr Sinn für Ihre eigene Identitätund Willensfreiheit – bei alledem handelt es sich in Wirk-lichkeit nur um das Verhalten einer riesigen Ansammlungvon Nervenzellen und dazugehörigen Molekülen. Sie sindnichts weiter als ein Haufen Neurone.“

Das Leib-Seele-Problem beschäftigt Philosophen undNaturforscher seit jeher: Wie kann aus unserer grauen Ge-hirnmasse unsere bunte Erlebniswelt samt unserer Gedan-ken und Gefühle hervorgehen? Die Menschheit ist fähig,zum Mond fliegen und Atome spalten, doch ganz alltäg-liche Empfindungen wie zum Beispiel Schmerzen sind im-mer noch eine höchst rätselhafte Angelegenheit. Materia-listen wie Crick vermessen zwar das Gehirn, doch unserestechenden, brennenden und wummernden Schmerzenkönnen sie nicht im Gehirn entdecken: Wären wir in derLage, das vergrößerte Gehirn eines Menschen zu betreten,der gerade starke Zahnschmerzen hat, so würden wir le-diglich Abermillionen von Neuronen und Synapsen sehen,die chemische und elektrische Signale austauschen – aberdas pochende Wesen des Schmerzes würden wir nirgend-wo entdecken. Der menschliche Geist hat also Eigenschaf-ten, die sich mit dem Fischernetz der Naturwissenschaften

nicht einfangen lassen. Man kann Schmerzen nicht einfachunter dem Mikroskop „sehen“, man muss sie selbst fühlenund erleben.

Natürlich werden uns die Hirnforscher auch in Zukunftmit immer neuen Erkenntnissen verblüffen. Aber deshalbwird sich noch lange nicht unser Menschenbild ändern. Bli-cken wir kurz auf ein Thema, das in regelmäßigen Abstän-den die Medien beherrscht: die Willensfreiheit. Niemandkann mit Sicherheit sagen, wie unser Wille den Verlauf derWelt bestimmen kann. Denn einerseits haben wir die Weltder Materie, die nach strikten naturgesetzlichen Regeln undMechanismen funktioniert.Andererseits haben wir die Weltunseres Geistes, der sich nach freien Stücken für oder ge-gen eine Handlung entscheiden kann. Wie passt das zu-sammen? „Gar nicht“, sagen hartgesottene Materialistenund (v)erklären uns zu Biomaschinen ohne freien Willen.Natürlich tappen nicht alle Neurowissenschaftler in dieseFalle. Forscher wie der berühmte amerikanische Physiolo-ge Benjamin Libet sind clever genug, über den Tellerrandder Statistiken und bildgebenden Verfahren zu blicken. Li-bet betonte unentwegt, dass die Wissenschaft unserem Ge-fühl der Freiheit Tribut zollen muss. Aber schon jetzt for-dern Hirnforscher wie Wolf Singer, dass wir unseren Rechts-staat auf links drehen sollen: Wie können wir Straftäterschuldig sprechen, wenn doch nicht ihr freier Wille, son-dern ihr Gehirn sie zu ihren Verbrechen getrieben hat? Sit-zen bald Hirnforscher statt Juristen in unseren Gerichts-sälen? Nein. Kein Hirnforscher der Welt kann die Machtdes Geistes zu einer Ohnmacht erklären. Eine Studie desamerikanischen Moralpsychologen Eddy Nahmias zeigt aufanschauliche Weise, dass die Diktatur des Hirns – wenn essie denn überhaupt gibt – unserem Menschenbild recht we-

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N E W S compact

Jeden Tag werden wir mit einer Vielzahl von Wahlmög-lichkeiten konfrontiert – und sollen dann immer die besteund möglichst richtige Entscheidung treffen. So schön dievielen Möglichkeiten auch sein mögen, sie haben ihren Preis– wir büßen einen erheblichen Teil unserer geistigen Leis -tungsfähigkeit ein, wie das Team um die Psychologin Kath-leen Vohs herausgefunden hat.

Zuerst testeten die Forscher ihre These unter Laborbe-dingungen an Studenten. Diese bekamen eine Vielzahl vonProdukten vorgelegt, von bunten Stiften über T-Shirts bishin zu Zeitschriften. Während die Kontrollgruppe lediglichangeben sollte, wie oft sie diese Produkte in der Vergan-genheit benutzt hatte, mussten sich die Teilnehmer der an-deren Gruppe jedesmal zwischen zwei Dingen entscheiden.Wollten sie lieber den roten Kuli oder doch den blauen, dasT-Shirt mit Aufdruck oder das ohne? Abschließend kreuz-ten alle Teilnehmer an, wie müde sie sich nach dem Endeder Aufgaben fühlten. Nun kam der unangenehme Teil: Sie sollten einen übel schmeckenden Saft trinken, der gutfür sie sei – also eine unangenehme Aufgabe erfüllen. Wersich vorher mit endlosen Entscheidungen abgemüht hatte,fühlte sich müde und hatte mit diesem Teil der Aufgabemehr Probleme als die Studenten ohne vorherigen Ent-scheidungsdruck, die noch wacher waren.

In einem anderen Experiment bekamen die StudentenMathematikaufgaben vorgelegt, um sich auf einen baldi-gen Test vorzubereiten. Wer vor dem Lösen der Aufgabennoch eine Kurswahl treffen musste, konnte sich wesentlichschlechter auf die Aufgaben konzentrieren, las lieber einbisschen in Zeitungen oder spielte gar Computerspiele undmachte im abschließenden Test mehr Fehler als die Kolle-gen, die keine Kursentscheidung hatten treffen müssen.

Um ihre Laborergebnisse zu untermauern, schickten diePsychologen ihre Testpersonen in ein typisch amerikani-sches Einkaufszentrum. Hier wurden die Studenten sichselbst überlassen und durften einkaufen, was und so langesie wollten. Anschließend wurden sie wiederum zur Lösungvon Matheaufgaben einbestellt. Das Ergebnis war eindeu-tig: Je mehr Kaufentscheidungen gefällt worden waren undje länger der Einkaufsbummel gedauert hatte, umso schlech-ter lösten sie später mathematische Probleme.

Anscheinend schöpft der stete Entscheidungsdruck men-tale Quellen leer, die man braucht, um Probleme lösen zukönnen. Gleichgültig ob Entscheidungen freiwillig oder aufDrängen anderer getroffen werden müssen, ob sie als an-genehm oder unangenehm empfunden werden – zu vieleWahlmöglichkeiten schränken die geistige Fitness ein.

! Dagmar Knopf

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DIE QUAL DER WAHL MACHT MÜDE

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„HÄTTE ICH NUR…“

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Wir haben die Wahl – in großen wie in kleinen Dingen.Welchen Beruf wir ergreifen, ob wir eine Familie gründen,welchen Autotyp wir fahren oder wohin unser nächsterUrlaub geht: Wir müssen uns entscheiden. Je vielfältiger dieWahlmöglichkeiten, desto größer die Wahrscheinlichkeit,sich falsch zu entscheiden. So blickt wohl jeder Mensch aufeine Reihe von Entscheidungen zurück, die er bedauert.

Was das für Entscheidungen sind, was Menschen gerneanders gemacht hätten, das wollten die Wissenschaftler Tho-mas Gilovich und Victoria Husted Medvec von 60 Befrag-ten wissen. In einer Telefonaktion stellten sie die Frage:„Wenn Sie zurückblicken auf Ihr bisheriges Leben, was be-dauern Sie mehr: bestimmte Dinge getan zu haben (die sichdann als falsch herausstellten); oder bedauern Sie es mehr,

bestimmte Dinge nicht getan zu haben?“ 75 Prozent derBefragten waren sich einig: Am meisten bedauerten sie, etwas nicht getan zu haben. Ein Ergebnis, das sich auch ineiner weiteren Studie, diesmal in direkten Interviews, be-stätigte. Die Befragten bedauerten nicht, falsche Entschei-dungen getroffen zu haben, sie bedauerten, bestimmte Dinge unterlassen zu haben. Als Beispiele nannten sie: zuwenig Bildung erworben, gebotene Chancen nicht ergrif-fen, auf eine Liebesbeziehung verzichtet, anderen Menschennicht genügend Zeit gewidmet, Karrieremöglichkeiten nichtgenutzt…

Auch in einer dritten Studie bestätigte sich, dass nichtgetroffene Entscheidungen mehr Bedauern verursachen alsgetroffene Entscheidungen, die sich später als falsch he -rausstellen. 80 Versuchspersonen wurde die Geschichte derbeiden Freunde Dave und Jim erzählt: Beide studierten anderselben Universität, und beide erhielten die Möglichkeit,an eine bessere Universität zu wechseln. Dave schlug dasAngebot aus und blieb, Jim ging an die andere Universität.Doch keiner von beiden war mit seiner Entscheidung zu-frieden. Jim bedauerte, nicht geblieben zu sein, Dave trau-erte der verlorenen Chance nach. Frage: Wer bereut seineEntscheidung kurzfristig mehr als der andere? Und: Wel-cher Entschluss reut wohl langfristig am meisten?

Kurzfristig, so meinten 67 Prozent der Befragten, wirdwohl Jim seinen Weggang heftig bereuen, doch langfristigplagt sich nach Meinung von 62 Prozent der Befragten wohlDave am meisten mit seiner Passivität herum.

Die Psychologen schlussfolgern aus diesen Ergebnissen,dass eine falsche Entscheidung zwar kurzfristig Ärger undBedauern hervorruft, langfristig aber belasten uns verpass -te Gelegenheiten und Chancen mehr. Möglicherweise kanndieses Ergebnis auf die kulturellen Normen westlicher Ge-sellschaften zurückgeführt werden. Westliche Gesellschaf-ten schätzen Aktivität und sanktionieren Inaktivität. In ei-ner weniger handlungsorientierten Gesellschaft dürften dieAntworten auf die Frage, was Menschen bedauern, andersausfallen.

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