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Präsentation von Repräsentation
Künstlerische Untersuchung musealer Inszenierungsformen
Hausarbeit für das erste Staatsexamenim Fach Bildende Kunst
Prüfer: Prof. Michael LingnerZweitgutachterin: Prof. Silke Grossmann
vorgelegt vonInsa Grahlmann
Hamburg, 28. Juni 2007
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung ...................................................................................................................................... 1
2 Theoretische und historische Auseinandersetzung mit musealen Inszenierungsformen ..................................................................................... 5
2.1 Das Phänomen Museum .................................................................................................................... 5
2.2 Vorformen des Museums bis zur Renaissance .................................................................................. 7
2.3 Kunst- und Wunderkammern der Renaissance und des Barock ....................................................... 9
2.4 Das öffentliche Museum ................................................................................................................... 15
2.4.1 Naturkundemuseen seit Ende des 18. Jahrhunderts .................................................................... 17
2.4.2 Kunstmuseen seit Ende des 18. Jahrhunderts ............................................................................. 25
3 Künstlerische Untersuchung musealer Inszenierungsformen .................. 33
3.1 Endgültig vorläufig .................................................................................................................. 35
3.1.1 Sammeln von Zeitungsbildern als künstlerischer Prozess ............................................................ 36
3.1.2 Ordnen der Sammlung .................................................................................................................. 40
3.1.3 Forschen: Zum Finden von Bildkombinationen ............................................................................. 43
3.1.4 Präsentieren der Bildensembles ................................................................................................... 48
3.1.5 Reflektierende Betrachtung der künstlerischen Arbeit .................................................................. 52
3.2 Expeditionen ins Naturkundemuseum ............................................................................. 59
3.2.1 Museale Repräsentation und Inszenierung von Natur................................................................... 59
3.2.2 Fotografieren im Naturkundemuseum ........................................................................................... 61
3.2.3 Charakteristik der Fotografien ....................................................................................................... 62
3.2.4 Präsentieren der Bilder .................................................................................................................. 71
3.2.5 Reflektierende Betrachtung der künstlerischen Arbeit .................................................................. 74
4 Abschließende Überlegungen ........................................................................................ 82
5 Literaturverzeichnis .............................................................................................................. 86
1
1 Einleitung
Ich möchte verstehen lernen was wir sehen, wenn wir Museen untersuchen, die ein Bild von uns
entwerfen.1
In dieser Arbeit werde ich meine künstlerische Untersuchung des Museums in einem theoretischen,
historischen und künstlerischen Zusammenhang darstellen und reflektieren. Zunächst versuche ich
mich der Thematik über eine begriffliche Erörterung des Titels der Arbeit anzunähern. Um zu
verdeutlichen, in welcher Tradition das von mir bearbeitete Phänomen steht, werde ich im zweiten Teil
die Entwicklungsgeschichte musealer Inszenierungsformen im europäischen Raum nachzeichnen und
eine Übersicht von den frühesten Anfängen über die Kunst- und Wunderkammern der Renaissance und
des Barock bis hin zu den Naturkundemuseen und Kunstmuseen seit dem ausgehenden 18.
Jahrhundert geben. Im dritten Teil stelle ich meine künstlerische Untersuchung zu den Präsentations-
und Repräsentationsformen im Museum vor. Dabei werde ich meine Herangehensweise, die
Umsetzung und die Präsentation der entstandenen Arbeiten unter Zuhilfenahme theoretischer Ansätze
reflektieren und in Bezug zu Beispielen zeitgenössischer Kunst setzen. Abschließend wird die Arbeit
zusammengefasst und ein Ausblick auf eine mögliche Weiterentwicklung der künstlerischen Arbeit
gegeben.
Zunächst möchte ich eine Klärung der im Titel verwendeten Wörter vornehmen. Nicht bloß, um diese im
Voraus begrifflich zu fassen, sondern auch, um über die Erläuterung des Titels einen Einstieg in das
Thema der Arbeit zu geben.
Der Begriff Präsentation stammt ursprünglich aus dem lateinischen praesens (Zeitform der Gegenwart)
und wandelte sich von dieser Bedeutung des praesens (gegenwärtig, jetzig, offenbar) zu prae (da, bei
der Hand, vorhanden sein) und sens (seiend). Präsentieren heißt demnach “gegenwärtig machen,
vorzeigen, darbieten“.2 Präsentiert werden kann alles. Die Sache, welche ausgewählt und präsentiert
wird, erfährt durch diesen Vorgang eine Bedeutungsverschiebung, da sie aus dem normalen
Weltzusammenhang genommen wird und zu Zwecken der Anschauung einen besonderen Status erhält.
Der Begriff Repräsentation wurde im 16. Jahrhundert aus dem französischen représenter entlehnt,
welches sich wie Präsentation herleitet.3 Die Wörter Präsentation und Repräsentation haben demnach
eine gemeinsame Wurzel, im heutigen Gebrauch besteht jedoch ein feiner Unterschied: Zwar
bezeichnet auch Repräsentation das Gegenwärtigmachen und Zeigen, doch geht es dabei um eine
Vergegenwärtigung in der Vorstellung bzw. um die Darstellung von etwas, das im wörtlichen Sinne oder 1 Vgl. Fehr, Michael (Hrsg.). Open Box. Künstlerische und wissenschaftliche Reflexionen des Museumsbegriffs. WienlandVerlag, Köln, 1998. S. 412 Kluge, Friedrich. Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. 22. Auflage. Berlin, New York, 1989.3 Ebd.
2
tatsächlich nicht gegenwärtig ist. Eine Sache kann eine andere Sache repräsentieren, wenn sie das
Gemeinte als möglichst genaue Wiedergabe oder Darstellung vertreten kann. Das Präfix “Re” deutet
(wie beispielsweise auch bei “Reproduktion”) auf die Tatsache hin, dass hier nichts eigenes, originales
und einmaliges, sondern ein nachahmendes Abbild der gemeinten, nicht vorhandenen Sache
präsentiert wird. Eine weitere Komponente der besonderen Bedeutung von Repräsentation liegt in der
Verwendung des Begriffs repräsentativ. Einerseits kann damit eine einzelne Sache beschrieben
werden, die besonders typisch ist und damit für eine ganze Gruppe steht. Andererseits wird etwas als
repräsentativ bezeichnet, wenn es beeindruckend wirkt und zum Status des Besitzers beiträgt. Auch
dieser Aspekt spielt bei Repräsentationen im Museum eine Rolle.
Zur Begriffsklärung der Formulierung museale Inszenierung soll zunächst jedes Wort einzeln bestimmt
werden. Das Adjektiv museal 4 ist eine Ableitung des Wortes Museum. Das Museum wird heute
bezeichnet als “(...) eine gemeinnützige, ständige Einrichtung, die der Gesellschaft und ihrer
Entwicklung dient, der Öffentlichkeit zugänglich ist und materielle Zeugnisse des Menschen und seiner
Umwelt für Studien-, Bildungs-, und Unterhaltungszwecke sammelt, bewahrt, erforscht, vermittelt und
ausstellt.“5 Die Exponate werden so präsentiert, dass sie eindeutig als museal erkennbar sind. Der
polnische Museumswissenschaftler Chrisztof Pomian bezeichnet musealisierte Gegenstände, die nicht
länger eine alltäglich-praktische, sondern eine kulturelle Funktion haben, als Semiphoren.6 Die
wesentliche Eigenschaft von Semiphoren besteht für Pomian darin, dass sie Unsichtbares
repräsentieren, also Seiendes, das nicht wahrgenommen und nicht gespürt werden kann. Das
Unsichtbare, auf das die Museumsstücke verweisen, ist nicht verfügbar, weil es beispielsweise der
Vergangenheit angehört oder dem Jenseits zugeordnet wird.7 Exponate, welche im Museum als
Repräsentanten einer Idee gezeigt werden, müssen nicht zwangsläufig originale Exemplare sein. Sie
können auch als Surrogate speziell dafür hergestellt werden einen bestimmten Gedanken zu illustrieren
oder anschaulich zu machen. Die Exponate im Museum stehen demnach für etwas nicht greifbares
Anderes außerhalb des Museums und sollen dieses durch ihre materielle Anwesenheit repräsentieren.
Dies kann jedoch nur geschehen, wenn den Dingen im Museum ein Forum für ihren Auftritt geschaffen
wird und sie in Szene gesetzt werden.8 Würde man sie nicht auf einen Sockel stellen, sie nicht in
4 Der Brockhaus (1982) gibt folgende Definition des Begriffs museal:1. (attributiv und adverbial verwendetes Adjektiv) “zum Museum gehörig, es betreffend; eine - e Einrichtung, Sammlung“.2. (in einem besonderen Sinnzusammenhang oder überhaupt nur attributiv verwendetes Adjektiv) “als Relikt vergangenerZeiten, als Kostbarkeit, Rarität ins Museum gehörend; museale Kulturgüter“3. (bildungssprachlich) “veraltet, unzeitgemäß, aus der Mode gekommen“5 Diese Formulierung stammt aus dem Jahresbericht der ICOM (International Council of Museums) von 1999.Vgl. http//www.icom-deutschland.de6 Vgl. Pomian, Chrisztof. Der Ursprung des Museums. Berlin, 1988. S.49 ff.7 “Edelsteine repräsentieren Reichtum und Ewigkeit, Heiligenfiguren und Reliquien das Jenseits und das europäischeMittelalter, der Versuchstisch Otto Hahns die Entdeckung der Radioaktivität (...)“ Vgl. Klein, Alexander. Expositum. ZumVerhältnis von Ausstellung und Wirklichkeit. Bielefeld, 2004. S.418 Einige Theoretiker gehen sogar so weit zu behaupten, dass es ohne Inszenierung weder Künste noch Religionen gäbe.Ohne Kostüme und Masken und eine entsprechende Bühne, die streng von dem täglichen oder profanen Bereich abgetrennt
3
schützenden Glasvitrinen zur Schau stellen und nicht mit Hinweisschildchen auf sie verweisen, würde
man sie nicht mit Hilfe einer speziellen Beleuchtung hervorheben und sie nicht in einem begrenzten und
kodierten Raum wie einem Museum ausstellen, so würden viele Objekte wohl weder zum
Repräsentanten einer Idee noch zur Kunst werden. „Ohne fiktionale Verfremdung, wie sie im
Museumsbereich die Inszenierung schaffen kann, sind plastische Vorstellungen von zeitlich oder
räumlich entrückten Lebenszusammenhängen schwerlich zu gewinnen.“9
Die Bezeichnung Inszenierung stammt aus der Theaterwelt und bedeutet zunächst einmal, in
Anlehnung an das griechische Wort szaena (“die Bühne des Theaters“)10, ein Bühnenwerk zur
Aufführung zu bringen. Im Theater wird das gesprochene Wort durch Mittel der Inszenierung
interpretiert, verstärkt und ergänzt. Unterschiedliche Inszenierungen eines Stücks zeigen, dass es nicht
nur eine richtige Interpretation des Werkes gibt und dass sich eine Inszenierung nicht im bloßen
Bebildern von etwas ohnehin bereits Bestehendem erschöpft, sondern etwas völlig Neues schaffen
kann. Die Funktion der Inszenierung im Museum kann analog zu der im Theater gesehen werden, wenn
der zu interpretierende und verdeutlichende Text durch den Ausstellungsgegenstand ersetzt wird.11 Da
es sich im Museum um die Inszenierung von totem Material handelt, fällt die Darstellung einer Handlung
durch Akteure im Gegensatz zum Theater weg.12 Die potentielle Macht und das Ziel musealen
Inszenierens liegen darin, die ausgestellten Dinge zum Sprechen zu bringen. Aufgrund dieser Intention
ist sie diejenige Präsentationsform, welche am nachdrücklichsten von der Ansicht Abstand genommen
hat, ein Objekt könne sich selbst vermitteln.13 Kunz-Ott beschreibt museale Inszenierung wie folgt: „Mit
musealer Inszenierung sind solche Darstellungen gemeint, bei denen theatralische Hilfen wie Kulissen,
Figurinen usw. eingesetzt werden, um bewusst zu interpretieren.“14 Das In-Szene-Setzen von
Museumsexponaten umfasst ein breites Spektrum und reicht von Rekonstruktionen historischer oder
natürlicher Räumlichkeiten und Situationen bis zur schlichten Hervorhebung eines bestimmten
ist, würde den Theatercharakteren kein Leben eingehaucht werden können. „Die Schauspieler könnten sich nicht für dieDauer der Theatervorstellung in Helden verwandeln. Dies ist gleichermaßen auf Objekte anwendbar, wenn sie nichtentsprechend dargestellt werden.“ Azara, Pedro und Harth, Carlos Guri. Bühnen- und Ausstellungsarchitektur. Stuttgart,2000. S.269 Herles, Diethard. Das Museum um die Dinge. Wissenschaft, Präsentation, Pädagogik. Frankfurt a.M., 1996. S.11710 Kluge, Friedrich. Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. 22. Auflage. Berlin, New York, 1989.11 Die im Theater diskutierte Frage nach der Texttreue einer Inszenierung stellt sich im Museum um so mehr, da imGegensatz zum Theater, (wo die Tatsache einer Inszenierung dem Zuschauer bewusst ist,) ein Besucher im Museum dortnormalerweise keine künstlerischen Interpretationen sondern eine auf wissenschaftlichen Erkenntnissen beruhendePräsentation kultureller Exponate erwartet.12 Das könnte ein Grund dafür sein, dass die Inszenierung im Museum oft in einem Konkurrenzverhältnis mit den“Hauptdarstellern“ gesehen wird, weil diese – die Exponate – auch statisch und nicht lebendig sind.13 „Ausstellungen zu inszenieren heißt, bewusst die Notwendigkeit der Interpretationen anzuerkennen.“ Paatsch, Ulrich.Konzept Inszenierung. Inszenierte Ausstellungen – ein neuer Zugang für Bildung im Museum? Heidelberg, 1990. S.6814 Kunz-Ott, Hannelore. “Möglichkeiten der Vermittlung. Aufgaben, Ziele und Grenzen musealer Präsentation.“ In:Museumspädagogisches Zentrum (Hrsg.) Methoden, Praxis, Ziele. München, 1989. S.22 ff. Hier findet sich auch derbisweilen pejorativen Beigeschmack, welchen der Begriff “Inszenierung“ in der Alltagssprache besitzt, wieder. In derBemerkung “jemand habe etwas geschickt inszeniert“ können sowohl Anerkennung eines gelungenen “Tricks“ als auch dieVerstimmung über die Tatsache der “Unechtheit“ einer Situation mitschwingen. Die künstlich herbeigeführteErlebnishaftigkeit kann mit dem Makel der bloßen Effekthascherei behaftet sein.
4
Exponats durch Beleuchtung oder besondere Umgebung. Der Grad der Künstlichkeit steigert sich vom
Stillegen und Belassen eines Objektes über seine Konservierung, Restaurierung und
Rekontextualisierung. Streng genommen beginnt die Inszenierung bereits mit dem Herausholen eines
Gegenstandes aus dem Magazin und der Entscheidung über Ort und Stelle der Präsentation in der
Ausstellung. Folgt man der Argumentation des französischen Philosophen und Soziologen Jean
Baudrillard, so verdrängt die interpretative Wirklichkeit der Musealisierung mehr und mehr die
tatsächliche Wirklichkeit der Gegenwart. Zentral für Baudrillards These ist dabei die Idee des
“Simulacrum“, der „(...)Substituierung eines Realen durch Zeichen des Realen“.15
Ich gehe davon aus, dass sich im Laufe der Zeit bestimmte Konventionen musealer Inszenierung
entwickelt haben, die immer wieder modifiziert und den jeweiligen Anforderungen der konkreten
Ausstellungen angepasst wurden und werden. Diese spezifischen Wahrnehmungsformen und
Darstellungsmöglichkeiten im Museum möchte ich erforschen, wobei mein Interesse besonders jenen
Aspekten des musealen Ausstellens gilt, welche häufig verschwiegen werden. Die Erkenntnisse dieser
Forschung sollen in den künstlerischen Arbeiten sichtbar werden. Der Titel der Examensarbeit lässt sich
demnach wie folgt verstehen: In den künstlerischen Arbeiten präsentiere ich meine
Untersuchungsergebnisse über museale Repräsentationen und ihre Inszenierungsformen.
15 Baudrillard zitiert nach Sturm, Eva. Konservierte Welt – Museum und Musealisierung. Berlin, 1991. S.69
5
2 Theoretische und historische Auseinandersetzung mit musealen
Inszenierungsformen
2.1 Das Phänomen Museum
Museen sind Orte, wo Dinge bewahrt, ihnen Bedeutungen zugeschrieben und diese weiter gegeben
werden. Dazu trägt das Museum Millionen von Objekten zusammen und fungiert als eine Art Zeitkapsel,
die Gegenwärtiges und Vergangenes vor der Zerstörung bewahrt, für die Zukunft erhält und in eine
scheinbar objektive Ordnung einreiht. Natürlich können im Museum lediglich Ausschnitte der Realität
gelagert und gezeigt werden, so dass nur bestimmte Gegenstände in das Museum gelangen. Diese
Auswahl beruht nicht auf einem demokratischen Verfahren, sondern liegt in den Händen Einzelner, die
(bewusst oder unbewusst) immer auch persönlichen Vorlieben folgen. Mit ihrer Auswahl entscheiden sie
wie eine Art “Zeitsieb“ darüber, welche durch das Museum vermittelten Bilder sich die Zukunft von ihrer
Vergangenheit macht. Dinge, die weder besonders typisch noch besonders untypisch für eine
bestimmte Zeit sind – also all die alltäglichen und mittelmäßigen Gegenstände, die uns permanent
umgeben – werden selten ins Museum geholt und gehen mit der Zeit verloren.16
Diejenigen Objekte jedoch, die einen Platz im Museum bekommen, werden dadurch aus ihrem “Leben“
in der Wirklichkeit gerissen und in der Sammlung bewahrt und konserviert. Durch den Wandel zu
Museumsobjekten werden die Dinge sowohl aus ihrer Zeit als auch aus ihrer ursprünglichen
lebensweltlichen Funktion genommen.17 Auf einer qualitativen Ebene und ohne eine sichtbare
Veränderung verlieren sie eben jene Eigenschaften, aufgrund derer sie zuvor möglicherweise vom
Museum ausgewählt wurden. Was vorher eins von vielen war, wird ein Unikat. Was funktional war, wird
nutzlos. Was privat war, wird öffentlich. Die Objekte führen im Museum ein verändertes Leben nach
ihrem “Tod“ in der Realität. Dabei besteht die Gefahr, dass das Museum nicht zu einem Ort der
Erinnerung, sondern zu einem Ort des Vergessens wird. Erinnerung ist von geistiger, nicht von
materieller Natur und ist deshalb nicht notwendigerweise an die körperliche Präsenz der zu erinnernden
Objekte gebunden. Der Akt des musealen Aufbewahrens, Sammelns und Lagerns allein rettet die
16 Deshalb gibt es bereits die Forderung nach zukunftsantizipierendem Sammeln. Das zeitgleiche Dokumentieren vonAlltagskultur wird mit dem Argument begründet, wir hätten die Verpflichtung, für zukünftige Generationen ein vollständigeresBild unseres Lebens zu hinterlassen, als unsere Vorfahren es für uns taten.Vgl. Weschenfelder, Klaus. “Sammeln für ein Museum von morgen.“ In: Museumskunde. Band 51, Heft 1, 1986. S.19Dieser Versuch ist meiner Meinung nach absurd, denn der kommenden Zukunft könnte ihre Vergangenheit, also unsereGegenwart, in dieser Ausführlichkeit auch gleichgültig sein. Möglicherweise haben sie andere Probleme und Interessen, alssich über uns zu informieren und sehen ein solches Bemühen gegen die eigene Vergänglichkeit eher als amüsante oderbefremdliche Wichtigtuerei an.17 Im Bezug auf die Zeit lässt sich sagen, dass musealisierte Objekte zeitlich nicht synchron oder diachron, sondernanachron strukturiert sind. Durch den Akt des Musealisierens importieren sie eine gewesene in eine gegenwärtige Zeit. “Diefür diese Struktur charakteristische Zeitverschachtelung ist nicht physikalischer, sondern kultureller Art und kann daher nichtals das simple vorwärts oder rückwärts eines Zeitpfeils beschrieben werden. Der Zeitpfeil der Musealisierung zeigt nachrückwärts, beschreibt eine Kurve und kehrt sozusagen zur Gegenwart des Betrachters zurück.“ Vgl. Klein, Alexander.Expositum. Zum Verhältnis von Ausstellung und Wirklichkeit. Bielefeld, 2004. S.38
6
Objekte noch nicht vor dem Vergessen. Es kann sogar argumentiert werden, dass Museen als
“Erinnerungsorgane“ den Anschein des Nicht-Vergessens wahren, dadurch ein aktives Gedenken
scheinbar überflüssig machen und dieses damit endgültig begraben.18
Doch obgleich es stimmen mag, dass das Museum die Objekte der realen Welt entzieht, um sie für die
museale Welt zu erhalten, so ist es doch ebenso richtig, dass die Dinge in inszenierten Ausstellungen
wieder auferstehen können. An exponierter Stelle im Museum wachsen die Gegenstände über sich
hinaus und werden etwa als Zeitzeugnis, als Symbol, als Trophäe, als Objekt ästhetischer Anschauung
oder als prestigeträchtige Kostbarkeit neu funktionalisiert. Die neue Zweckbestimmung kann auch
einfach nur darin bestehen, Reflexionsanlass zu sein.19 Wenn durch Musealisierung auch zunächst
Sinnzusammenhänge zerstört werden „(...) macht es doch gerade diese Entfremdung erst möglich,
anhand der Dinge zu Einsichten zu gelangen, die sie im ursprünglichen Kontext nicht vermitteln.“20
Damit liegen sowohl die Stärke als auch die Schwäche des Museums in der ihm eigenen Praxis der De-
und gleichzeitigen Rekontextualisierung von Dingen.21 Einerseits erleben die Objekte im Zuge der
Musealisierung eine Isolierung aus ihrem ursprünglichen Zusammenhang und den Verlust ihres
ursprünglichen Gebrauchswertes, andererseits gewinnen sie eine neue Funktion hinzu; die Funktion
eines aussage- und beweiskräftigen Anschauungsobjektes, welches stellvertretend für eine ganze
Reihe gleicher oder ähnlicher Erscheinungen stehen soll. Um diese neue Funktion zu aktivieren und an
die Besucher zu vermitteln, müssen Kommunikationsräume geschaffen werden in denen die
Gegenstände ausgestellt und vorgeführt werden können.22 Um sich das potentielle Wissen der
gesammelten Museumsobjekte anzueignen, bedürfen diese einer kontinuierlichen Inszenierung. Dabei
wird nicht nur das äußere Erscheinungsbild der musealen Objekte verändert, sondern auch deren
inhaltliche Aussage. Die Art der Präsentation beeinflusst den Betrachter, da sie bestimmte Einsichten
nahe legt, andere aber auch erschweren oder sogar verhindern kann.23 Inszenierung stellt damit nicht
lediglich eine Methode dar, Ausstellungsstücke in einer bestimmten Art und Weise zu kommunizieren.
Inszenierung ist selbst und in sich bereits Kommunikation. Sie ist ein Vehikel, das die inhaltliche
Botschaft, die wir aus den Dingen lesen, beeinflusst. Gleichzeitig ist sie wie Sprache und trägt in der je
spezifischen Art und Weise des Ausdrucks auch selbst eine Botschaft. Und so kommt neben dem 18 Vgl. Sturm, Eva. Konservierte Welt – Museum und Musealisierung. Berlin, 1991. S.4619 Für die meisten musealisierten Gebrauchsgegenstände ist die Funktion tatsächlich neu, da sich diese potentielle Qualitäterst durch die im Museum hergestellte Distanz zum alltäglichen Leben und dadurch verwirklicht, dass die Dinge in keinenanderen Gebrauchszusammenhang mehr eingebunden sind.20 Herles, Diethard. Das Museum und die Dinge. Wissenschaft, Präsentation, Pädagogik. Frankfurt a.M., 1996. S.5921„The strength and weakness of the museum derives from its fundamental practice of decontextualizing objects and placingthem in a new aesthetic and conceptual context.“ www.victorianweb.org/history/leisure1.html22 Dies ist kein additiver, sondern ein simultan-vernetzter, dialektischer Prozess, der sich im Dialog zwischen verbal-begrifflicher und visuell-gegenständlicher Rhetorik entwickelt. Vgl. Schwarz, Ulrich und Teufel, Philip. Museographie undAusstellungsgestaltung. Ludwigsburg, 2001. S.5723 „Die Präsentation der Werke legt dem Publikum bestimmte Reaktionen nahe, seien sie nun aktiv oder passiv, huldigend,kritisch, oder schlicht neugierig, stets soll die Kunstausstellung etwas bewirken.“ Klüser, Bernd und Hegewisch, Katharina(Hrsg.). Die Kunst der Ausstellung. Eine Dokumentation dreißig exemplarischer Kunstausstellungen dieses Jahrhunderts.Frankfurt am Main, Leipzig, 1991. S.10
7
Sammeln und Musealisieren von Gegenständen auch dem Ordnen und Forschen, dem zugänglich
Machen, dem Vermitteln und der Ausstellungsgestaltung in Museen zentrale Bedeutung zu.
Abstrakta wie beispielsweise “Kunst“ oder “Natur“ müssen sich immer wieder in konkreten Objekten,
beispielsweise als museale Repräsentationen, Existenz verschaffen. Und obwohl Museen oft das
Gefühl des Stillstands von Zeit vermitteln, haben sie ihrerseits im Laufe von Jahrhunderten eine
wechselvolle Evolution durchlaufen. Um der Frage nachzugehen, ob die Wandlungen musealer
Präsentationen lediglich als Reaktion auf gesellschaftliche Neuorientierungen auftreten, oder ob sie
diese auch gleichsam mit hervorbringen, ist es notwendig, konkrete Prozesse der musealen
Bedeutungsproduktion zu verfolgen und dabei zu überprüfen, wodurch sie gesteuert und beeinflusst
werden.
2.2 Vorformen des Museums bis zur Renaissance
Die Entwicklungsgeschichte des Museums ist heute umfangreich dokumentiert. Ebenso wurde in
zahlreichen Studien versucht, die Motivation des Sammelns als Grundvoraussetzung für den Bestand
von Museen zu ergründen. Befasst man sich mit der Genealogie der heutigen Museumsinstitutionen
und folgt Krzysztof Pomian zu den frühesten Ursprüngen der Museen, gelangt man in Bereiche der
Menschheitsentwicklung, die weit vor jeglicher Form einer modernen Zivilisation liegen. Für Pomian ist
der Ursprung des Museums im Grabkult zu finden.24 Für Bestattungsrituale und um den Toten etwas
ins Jenseits mitzugeben, wurden wertvolle Dinge gesammelt und zu den Gräbern gebracht – dorthin,
wo sich die irdische und die überirdische Welt trafen. Dieser Dingkult gründete, laut Pomian, in einem
metaphysischen Bedürfnis des Menschen nach einer Welt, die außerhalb seiner irdischen Existenz
angesiedelt ist und sich abseits des alltäglichen, praktischen Lebenszusammenhanges befindet. Auf
dieser Grundlage entstanden lange vor der abendländischen Geschichtsschreibung Orte von kultischer
Bedeutung, die ihren Sonderstatus dadurch erhielten, dass man dort außergewöhnliche und wertvolle
Gegenstände ansammelte.25
Im hellenistischen Griechenland stößt man auf das Museion, ein Musenheiligtum, in welchem die
Göttinnen der Inspiration, die Schutzheiligen der Dichter und Gelehrten verehrt wurden.26 Ihnen
geweihte Schriften wurden in den Museia aufbewahrt, die als Vorläufer der Bibliotheken gelten
können.27 !Auch in den griechischen Tempeln wurden wertvolle Kultgegenstände aufbewahrt, die ihre
24 Vgl. Pomian, Krzysztof. Der Ursprung des Museums. Berlin, 1988. S.3825 Vgl. Wall, Tobias. Das unmögliche Museum. Zum Verhältnis von Kunst und Kunstmuseen der Gegenwart. Bielefeld, 2004.S.30 (ab hier: Tobias Wall, 2004.)26 Vgl. Busch, Renate von. “Die Entwicklung des Museumsbegriffes“ Phil. Diss. in: Studien zu deutschenAntikensammlungen des 16. Jahrhunderts. Tübingen, 1973. S.6727 !D!a!s! !b!e!r!ü!h!m!t!e!s!t!e! !B!e!i!s!p!i!e!l! !i!s!t! !d!a!s! !a!l!e!x!a!n!d!r!i!n!i!s!c!h!e! !M!!u!s!e!io!n! !m!i!t! !s!e!i!n!e!r!! !w!e!r!t!v!o!l!l!e!n! !B!i!b!l!i!o!t!h!e!k!, wo !s!i!c!h! !d!i!e! !G!e!l!e!h!r!t!e!n! !a!l!l!e!r!!D!i!s!z!i!p!l!i!n!e!n! !v!e!r!e!i!n!i!g!t! !d!e!n! !P!r!o!b!l!e!m!e!n! !d!e!r! !W!e!l!t! ! !s!t!e!l!l!t!e!n!,! !a!n! !d!e!n!e!n! !g!e!f!o!r!s!c!h!t!,! !d!i!s!k!u!t!i!e!r!t! !u!n!d! !g!e!a!r!b!e!i!t!e!t! !w!u!r!d!e!.! !D!i!e!s!e!r!!M!u!s!e!u!m!s!t!y!p! ! !d!e!s! !a!k!t!i!v!e!n! !M!!u!s!e!io!n! !a!l!s! !i!n!t!e!r!d!i!s!z!i!p!l!i!n!ä!!r!e! !F!o!r!s!c!h!u!n!g!s!s!t!ä!!t!t!e! !b!i!l!d!e!t! !e!i!n!e!n! !T!o!p!o!s!,!! !d!e!r! !i!n! !d!e!r! !M!u!s!e!u!m!s!g!e!s!c!h!i!c!h!t!e!
8
Bedeutung aus dem religiösen Ritus erhielten. Die ersten Kunstsammlungen im eigentlichen Sinne
konnten erst entstehen, als die Kultgegenstände aus ihrem religiösen Kontext herausgenommen und an
einen Ort außerhalb des Kultes gebracht wurden. Eine solche Entwurzelung der Kultgegenstände und
ihre Transformation in Sammlungsstücke geschah während des Römischen Reichs oftmals im Zuge
kriegerischer Beutezüge und Plünderungen. Die Motivation der räuberischen “Sammler“ war wohl vor
allem kriegspsychologischer Natur. In glänzenden Triumphzügen wurde das Beutegut der römischen
Feldherren zur Schau getragen. „Dadurch, dass die bedeutungsvollen Kultgegenstände eines Volkes
geraubt und zerstört oder für eigene Zwecke vereinnahmt wurden, wurde es mitsamt seiner Kultur
erniedrigt und gleichzeitig die Kultur des Siegers vor allen anderen ausgezeichnet.“28
Nach dem Untergang des Römischen Imperiums, setzten die christlichen Reliquienschätze
mittelalterlicher Kirchen ab etwa 400 n. Chr. andere Schwerpunkte des Ausstellens. Zunächst verehrte
man nur Objekte, die direkt mit Christus und seinen Jüngern verknüpft waren, etwa Teile des Kreuzes
oder Fragmente von Apostelknochen. Bald aber wurde den Skeletten von Heiligen ähnliche Verehrung
zuteil, da man ihnen regenerierende Kräfte nachsagte.29 Mit der Zeit kamen immer bizarrere
Überbleibsel hinzu, etwa ein Gefäß mit Milch von der Jungfrau Maria oder der Stab des Moses.30 In den
Kirchen wurden nicht nur Reliquien ausgestellt, sondern auch andere wertvolle Gegenstände wie
Kandelaber oder Messgewänder und nach den Kreuzzügen zunehmend auch Objekte und Raritäten
des Orients. Zu gegebenen Anlässen wurden sie in einem minutiös und genauestens komponierten
Zeremoniell für religiöse Kulthandlungen genutzt. Eine solche Schau meinte in diesem Zusammenhang
eine innere Schau göttlicher Macht, nicht das ästhetische Vergnügen sinnlicher Reize an Kunstwerken.
Mit dem Übergang vom Mittelalter zur Frühen Neuzeit erwachte ein neuartiges Interesse an den
materiellen Zeugnissen der Welt. Diese wurden zum Anlass für Entdeckung, Eroberung und
Erforschung. Etwas von der Aura des Übernatürlichen, welche die Reliquiensammlungen umfangen
hatte, übertrug sich auch auf die entstehenden privaten Kunst- und Wunderkammern. Diese Kammern
hatten eine ganz besondere Atmosphäre und “(...) entfalteten ihre geheimnisvollen Kräfte in der
Verlagerung von der religiösen zur weltlichen Sphäre, von den öffentlichen, wenn auch nur begrenzt
zugänglichen kirchlichen zu den privaten und gut gehüteten fürstlichen Schätzen.“31 Auch wenn die
!s!e!i!t! !d!e!r! !A!u!f!k!l!är!u!n!g! !b!i!s! !i!n! !d!i!e! !G!e!g!e!n!w!a!r!t! ein !G!e!g!e!n!m!o!d!e!l!l! !z!u!m! !passiven M!u!s!e!u!m! !a!l!s! !k!o!n!t!e!m!p!l!a!t!i!v!e!m! !K!u!n!s!t!t!e!m!p!e!l !d!a!rstellt!.Vgl.Tobias Wall, 2004. S.3228 Ebd. S.3529 Die Exhumierung und Zerstückelung von Märtyrern mit anschließender Verteilung der Leichenteile unter mehreren Kirchenwar gängige Praxis und unterhielt einen regen Handel. Gelegentlich war die Gier nach Reliquien so groß, dass man Heiligeumbringen wollte, um zu garantieren, dass ihre Gebeine am Ort des Andenkens blieben. Vgl. Klein, Alexander. Expositum.Zum Verhältnis von Ausstellung und Wirklichkeit. Bielefeld, 2004. S.12930 Vgl. Mauries, Patrick. Das Kuriositätenkabinett. Köln, 2003. S.12 (ab hier: Patrick Mauries, 2003.)31 Die moderne “Wiederentdeckung“ der Wunderkammern ist Julius von Schlosser zu verdanken, der in seiner Schrift zumThema, die 1908 erschien, Parallelen zwischen diesen Kabinetten und jenen, welche die heiligen Schätze griechischerTempel und später christlicher Kirchen beherbergten, zieht. Vgl. Schlosser, Julius. Die Kunst- und Wunderkammern derSpätrenaissance. Ein Beitrag zur Geschichte des Sammelwesens. 2., durchgesehene und vermehrte Aufl. Braunschweig,1978.
9
Kunst- und Wunderkammern der Renaissance und des Barock für die Öffentlichkeit nicht verfügbar
waren, so kann man doch sagen, dass sie am Wendepunkt der Entwicklung vom mythisch-christlichen
Denken des Mittelalters hin zu einer wissenschaftlich-säkularisierten Weltsicht standen und damit am
Beginn der Institution Museum, wie wir sie heute kennen.
2.3 Kunst- und Wunderkammern der Renaissance und des Barock
Die neue Bedeutung des Sammelns und Ausstellens
Die ersten Wunderkammern, die so genannten Studioli, entstanden in norditalienischen
Herrscherhäusern im späten 15. Jahrhundert. Äußerliche Kennzeichen dieser Studierzimmer waren ihre
bescheidenen Ausmaße – selten überschritten sie eine Länge von sechs Metern –, ihre abgeschiedene,
intime und teilweise versteckte Lage innerhalb der Residenzen, die aufwendige Dekoration und die
duale Charakteristik der in ihnen enthaltenen Objekte. Einerseits solche, „(...)die einen intellektuellen,
wissenschaftlich geprägten Anspruch verkörperten (...)“ und andererseits „(...)Kunstwerke und
Kuriositäten.“32 Diese verschwiegenen Räume waren für ein zurückgezogenes Vergnügen geschaffen,
nämlich für die private Erbauung und Erleuchtung des Herrschers und seines engsten Freundeskreises.
Die Schränke und Vitrinen waren verschlossen, bis der Besitzer eine Schublade öffnete und den Blick
auf eine Kostbarkeit freigab. Die Nutzung der Studioli lag hauptsächlich im Sammeln, Bestimmen und
Klassifizieren. Dies machte sie damit zunächst zu Orten für Studien- und Forschungszwecke und nicht
primär zu Orten des Zeigens und Ausstellens.
Mit dem Aufschwung einer neuen Generation von fürstlichen Kunst- und Wunderkammern im 17.
Jahrhundert zeichnete sich eine Bedeutungsverschiebung ab. Diese Kunst- und Wunderkammern
unterschieden sich von den Studioli nicht nur in der Größe, sondern auch in Funktion und Bestand. Die
Studienfunktion trat in den Hintergrund, die Schaufunktion in den Vordergrund. Im Laufe der
Renaissance war es in ganz Mitteleuropa zum standesgemäßen Muss geworden, Herr über eine solche
Raritätenkammer zu sein. Ein Fürst legte seine Sammlung nicht nur an, um Geschmack zu beweisen
oder einen Ort gelehrter Unterhaltung vorweisen zu können. Ein ebenso wichtiger Grund bestand darin,
dass eine Kunstkammer mit ihren Exponaten aus allen Bereichen der Natur und Kultur ein Abbild der
Welt im Kleinen darstellte, in dessen Zentrum sich der sammelnde Herrscher positionierte. Die
Wunderkammer war das Symbol für die Welt, der Fürst damit im symbolischen Sinne Herr der Welt.33
Die Sammlung diente vor Allem dem Ruhm des Fürsten, und ihre Besichtigung war eine Form der
Huldigung. Als Statussymbol wurde der Zugang zu diesem symbolischen Herzstück feudalen
Selbstverständnisses nur einer begrenzten Besucherzahl gewährt. Eine Öffnung der Sammlung für die
Allgemeinheit wäre im Rahmen dieses Rituals feudaler Selbstbestätigung unmöglich gewesen, denn sie
32 Patrick Mauries, 2003. S.5433 Vgl.Tobias Wall, 2004. S.38
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hätte das gesellschaftliche Spiel verdorben. Kunstkammern mussten zur Festigung und Bestätigung
des gehobenen Status ihres Besitzers und zur Abgrenzung gegenüber den niederen Ständen die Orte
einiger weniger bleiben.
Abb.1: Das Museum des Fernando Cospiano. Frontispiz in: Lorenzo Legati. Museo Cospiano, 1677.
Inhalt der Sammlungen
Das Sammlungsinteresse in den Kunst- und Wunderkammern umfasste ein breites Spektrum. Es gab
naturkundliche Objekte, also Fossilien und botanische bzw. zoologische Exponate, außerdem kostbares
Kunsthandwerk aus Gold, Silber und anderem Metall, Arbeiten aus Keramik, Leder und Textilien,
Gemälde, Skulpturen, Waffen, Münzen, sowie wissenschaftliche Instrumente, Automaten und
völkerkundliche Objekte.34 So heterogen diese Aufzählung erscheinen mag, den Gegenständen ist doch
ein Aspekt gemein, der bereits durch Begriffspaarungen wie Kunst- und Wunderkammer oder
Naturalien- und Artificialiensammlung deutlich wird, nämlich das gleichwertige Nebeneinander von
Gegenständen aus der Natur – den Naturalia und künstlich bzw. künstlerisch hergestellten Objekten
– den Artificialia. Die Neugier, welche im Mittelalter noch als Sünde gegolten hatte, wurde zum
wichtigsten Antrieb von Wissenschaftlern und Sammlern und zeigte sich besonders deutlich in den
Curiosa, welche neben der Vorliebe für die ”Wunder der Schöpfung” auch den Wunsch verdeutlichen,
sich durch Spektakuläres und Rätselhaftes animieren und unterhalten zu lassen. Das Kuriose meint hier
34 “Die großen Sammlungen enthielten alles und jedes, Artefakte, Naturwunder, Gemälde, Skulpturen, Mischungen undVereinigungen von Kunst und Natur, Mißbildungen oder Abbildungen davon, Schönes und Grausiges, Nützliches und Dinge,die aus Spieltrieb oder Lust an Komplikationen entstanden zu seien scheinen, eben Kunststücke, die zweckfrei und völligunverwendbar, ganz sich selbst und nichts anderes sind.” Holländer, Hans. “Denkwürdigkeiten der Welt oder sogenannteRelationes Curiosae”. In: Sprengel Museum (Hrsg.) Die Erfindung der Natur. Hannover, 1994. S.35 (ab hier: Hans Holländer.Die Erfindung der Natur. 1994.)
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nicht etwas Lächerliches in unserem heutigen Verständnis, sondern etwas Merkwürdiges,
Sensationelles und Spektakuläres, das die Wissbegier und die Lust auf Neues zu wecken vermag.35
Das Streben nach Seltenem hatte zur Folge, dass die Objekte – um die Besucher zu beeindrucken –
immer noch einzigartiger sein mussten, so dass schließlich das Einmalige in den Abweichungen von der
Norm in Gestalt von Missbildungen bei Menschen, Tieren, Pflanzen und Steinen gefunden wurde. Auch
der durch die beginnenden Entdeckungsreisen wachsende Zustrom exotischer und bizarrer
Gegenstände aus der “Neuen Welt“ schürte die Lust auf immer Neues.36 Neben Naturalia, Artificialia
und Curiosa wurden unter dem Begriff Scientifica wissenschaftliche Instrumente wie Uhren, Erd- und
Himmelsgloben, astronomische Geräte und Automaten gesammelt. Diese Objekte zeugten von der
Auffassung, dass der Schöpfung ein mathematisch geordneter Plan, eine Weltformel zugrunde liege,
die man durch Beobachtung und Messung erkennen könne. Ein weiterer Grund für die Faszination an
den Automaten lässt sich wohl auf ihren Status als hybride Erscheinungen zurückführen. Sie
entstammen einer Welt, die haarscharf an die Realität grenzt, und können durch die Kunst der Illusion
den Anschein von Leben erwecken. Indem sie im Leblosen Leben vortäuschten, schienen die
Automaten dem Tod zu trotzen und sich der Zuordnung zum einen oder anderen Bereich zu entziehen.
Der Sammler als Herr über diese geheimen Impulse im privaten Theater seiner Wunderkammer
bewegte sich stets nah an der Nekromantie37, befasste er sich doch damit, Totes wieder zum Leben zu
erwecken oder Lebendes dem Tod zu übergeben. Auffällig viele Objekte, die im Kuriositätenkult eine
Rolle spielen – mumifizierte Körper, Totenschädel, Knochen, ausgestopfte Tiere, Muscheln und
Korallenäste – erwecken offensichtliche Assoziationen von Tod und Sterben.38 Am beliebtesten waren
die hybriden, im Grenzbereich zwischen Kunst und Natur, Tod und Leben angesiedelten Gegenstände,
da diese in sich besonders gut das System der Entsprechungen widerspiegelten, welches in der Kunst-
und Wunderkammer die Ordnung der Sammlung bestimmte. Hinter dem Wechselspiel der Analogien
zwischen natürlichen und künstlichen Formen stand nämlich übergeordnet das Thema eines
universellen Systems der Vergleichbarkeiten, in dem alle Dinge verbunden waren und in dem jedes
einzelne Element in einem anderen sein Echo fand. „Sammler waren getrieben von dem Bemühen, eine
Kontinuität zwischen Kunst und Natur, Mikro- und Makrokosmos, hoch oder niedrig Stehendem,
35 Vgl. Holländer, Hans. “Kunst- und Wunderkammern: Konturen eines unvollendeten Projektes.“ In: Kunst- undAusstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland (Hrsg.) Wunderkammer des Abendlandes. Museum und Sammlung imSpiegel der Zeit. Bonn, 1994. S.138 (ab hier: Hans Holländer. Wunderkammer des Abendlandes 1994.)36 Die letzten Generationen, mit denen das Sammlerwesen jener Zeit seine Blüte und seinen Niedergang erlebte, gaben sichimmer freimütiger dem Kult des Bizarren um seiner selbst willen hin und spiegelten damit auch die Werte des Barock wider.37 Nekromantie bezeichnet einen Zauber, dessen Ziel es ist, Kontakt zu Toten aufzunehmen, oder diese wiederzubelebenund so zu Untoten zu machen. Das Wort Nekromantie leitet sich ab vom altgriech. nekros (Leiche) und von mantis(Weissager). Vgl. Kluge, Friedrich. Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. 22. Auflage. Berlin, New York, 1989.38 Dies ist allerdings nur ein recht oberflächlicher Abdruck des Themas, da sich das Verhältnis von Leben und Tod auch aufeiner grundsätzlicheren Ebene der in allen Sammlungen bestehenden Dialektik von “Verschwinden“ und “Fortbestand“spiegelt.
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Beseeltem und Unbeseeltem, Lebendigem und Totem auszumachen und so die Existenz eines
übergeordneten, alles einenden Prinzips nachzuweisen.“39
Ordnung und Präsentation der Sammlung
Diese Suche war durch ein Analogie- und Gleichheitsdenken motiviert und geprägt. Es sollten sowohl
Übereinstimmungen zwischen den Dingen untereinander als auch zwischen der Sammlung von Dingen
in der Wunderkammer (Mikrokosmos) und der Welt als Ganzer (Makrokosmos) aufgezeigt werden. „Die
Kunst- und Wunderkammern waren lehrreiche Repräsentationen der Welt, so wie die Welt selbst als
Kunst- und Wunderkammer Gottes aufgefasst wurde.“40 Man glaubte die Ordnung des ganzen
Universums in den einzelnen Dingen wieder finden zu können, wenn man alles heranzog, was man
über diese Dinge sehen und wissen konnte.41 Es herrschte eine völlig andere, für uns heute schwer
nachvollziehbare Ordnung in diesen Mikrokosmen,42 die sich selbst durch ihren universalen und
enzyklopädischen Anspruch als Miniaturabbild der umgebenden Welt – als Theatrum Mundi –
verstanden.
Dass die ganze Welt in einem einzigen Raum enthalten sein konnte, erklärt sich damit, dass kein
natürliches Objekt ohne Bedeutung war, sondern vielmehr alles als die Manifestation eines Planes oder
einer versteckten Aussage angesehen wurde. Alles, so stellte der Rhetoriker Emanuele Tesauro fest,
war eine Metapher, “(...) und wenn die Natur durch diese Metaphern zu uns spricht, folgt daraus, dass
eine enzyklopädische Sammlung als Summe aller möglichen Metaphern logischerweise zur
allumfassenden Metapher für die Welt werden muss.“43 Aufgrund dieser Weltsicht ging es in den Kunst-
und Wunderkammern eben nicht ausschließlich darum, seltene und kostbare Dinge anzuhäufen,
sondern die Objekte zugleich in eine bestimmte, ordnende Umgebung einzubetten. Um die
bedeutungsvollen Beziehungen zwischen den Dingen sichtbar zu machen, wurde eine offenere
Präsentation als in den Studioli bevorzugt, bei der mehrere Dinge gleichzeitig zu sehen waren. “Die
Anordnung der Exponate, der Symbolgehalt der Dekoration, die Ästhetik der Vitrinen und Regale – all
diese Bestandteile wurden von Sammlern genutzt, um die Affinitäten zwischen den Dingen
hervorzuheben und die Grund legende Einheit hinter dieser immensen Vielfalt zu enthüllen.“44 In diesem
System gab es keine Hierarchien, sondern vielmehr ein gleichwertiges Nebeneinander von heute
getrennten Disziplinen. Regale, Schaukästen und Schubladen hatten nicht nur die Aufgabe, die
gesammelten Gegenstände zu erhalten und zu verbergen. In ihnen wirkte auch der Impuls, jedes Stück
39 Patrick Mauries, 2003. S.4340 Bredekamp, Horst. Antikensehnsucht und Maschinenglauben. Die Geschichte der Kunstkammer und die Zukunft derKunstgeschichte. Berlin, 1993. S.7041 Das Wissen über Steine bestand beispielsweise darin, aufzuzählen, welchen anderen Formen sie entsprechen konnten.42 Nach Foucault steht der Begriff Mikrokosmos als Denkkategorie für eben dieses Analogiedenken, da er das “Spiel derreduplizierten Ähnlichkeiten” anwendet und bezeugt, “(...) daß jedes Ding in einer größeren Stufenleiter sein Spiegelbild undseine makroskopische Versicherung findet.” Foucault, Michel. Die Ordnung der Dinge. Frankfurt a.M., 1971. S.6243 Emanuele Tesauro zitiert nach: Patrick Mauries, 2003. S.9144 Ebd.S.34
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an seinen Platz innerhalb eines umfassenden Geflechts von Bedeutungen und Entsprechungen
einzufügen.45 Die symmetrische Aufstellung der Schränke war dabei von entscheidender Bedeutung als
Mittel, um Unterschiede und geheime Verbindungen aufzuzeigen und hervorzuheben und dem
Betrachter a priori ein Verständnis dessen zu vermitteln, was ihm gezeigt wurde. Man könnte sogar
behaupten, die Wunderkammer sei letztendlich nichts anderes als eine Reihe von ineinander
geschachtelten Behältnissen.46 Sammlungsobjekte ruhten in Schachteln, die in den Schubladen von
Schränken lagen, und die Schränke waren wiederum symmetrisch innerhalb des kastenförmigen
Raumes selbst arrangiert. „Einem Teleskop vergleichbar, entfalteten sich diese ineinander
geschachtelten Räume um die einzigartige Aura dieses oder jenes Objekts und setzten sie in Bezug
zum Betrachter.“47 In den Wunderkammern wurde jedes Element – vom zentralen Tisch über die
Schranktüren, die Fenstereinfassungen und die Deckengestaltung – dem Bemühen um Interpretation
und Ästhetik untergeordnet.
Neben dem Analogiedenken existierte ein recht unübersichtliches Gespinst aus Entsprechungen,
Mehrdeutigkeiten und Metamorphosen. Manche Gegenstände konnten nicht eindeutig klassifiziert
werden, sondern wanderten zwischen den Systemen. Die Verbindung kunstvoll geformter Naturgebilde,
wie Muscheln oder Schneckengehäusen, mit kunsthandwerklicher Arbeit machte eine exakte
Zuordnung schwierig. So gehörte beispielsweise ein Nautiluspokal mit silbernem Fuß sowohl zu den
Naturalia als auch zu den Artificialia. Durch seine perfekte logarithmische Spirale als Verweis auf die
Mathematik war er aber ebenso Teil der Scientifica.48 Dies zeigt, ”(...)daß es sich keinesfalls um
chaotische Ansammlungen und unfertige Zeugnisse einer mißgeleiteten und über die Ufer getretenen
Sammelwut handelte, daß der Eindruck des Chaotischen-Irregulären nicht auf Unfähigkeit zur Ordnung
verweist, sondern auf einen Überschuß an konkurrierenden Ordnungssystemen, die gleichzeitig am
Werk waren.”49
Das Ende der Kunst- und Wunderkammern
!Ungeachtet der teils konkurrierenden Ordnungssysteme und über die Grenzen der Klassifikationen
hinaus stand letztendlich alles mit allem in Zusammenhang. Man wollte in dieser gleichwertigen
Zusammenschau einen universalen mit Sinn erfüllten Gesamtplan der Schöpfung an exemplarischen
Objekten zeigen und durch vielfältige symbolische Bezüge veranschaulichen. Zur Krise kam es, als es
durch häufigere Reisen, Entdeckungen und systematischere Formen des wissenschaftlichen
45 Vgl. Ebd. S.3446 In den Wunderkammern, die als Mikrokosmos der Welt angelegt waren, wurden wiederum Miniaturen mit verblüffendenMaßstabsveränderungen gesammelt. Sie spielten mit den Effekten extremer Verkleinerung oder starker Vergrößerung undbrachten damit die gängigen Vorstellungen von der Größe der Dinge und dem, was die vertraute Welt des Betrachtersausmachte, in Wanken. Damit eröffneten die Miniaturobjekte aber nicht nur eine ungewohnte Perspektive auf die sichtbareWelt, sondern trugen auch in sich das Grundprinzip der Abgrenzung und Verkapselung, das den Wunderkammern zugrundelag. Ebd. S.11447 Ebd. S.3548 Vgl. Hans Holländer. Wunderkammer des Abendlandes. 1994. S.3649 Ebd. S.35
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Austauschs immer schwieriger wurde, eine Ordnung für die Fülle des Materials zu behaupten. Aufgrund
des Widerspruchs zwischen dem Drang, jeden Aspekt der realen Welt innerhalb eines begrenzten
Raumes erschöpfend behandeln zu wollen, und der sich immer klarer abzeichnenden Unmöglichkeit
eines solchen Unterfangens, konnte die Kunst- und Wunderkammer ihren Status als ”Welt in der Stube”
nicht mehr halten.50 Sie musste den enzyklopädischen Anspruch aufgeben, innerhalb ihrer Ordnung die
reale Welt in all ihren Facetten wiederzugeben, und durfte sich letztendlich nur noch rühmen, einige
Überbleibsel von der Welt vorweisen zu können.
Auch die Freude an Bizarrem und Staunenswertem, am ungewohnten Nebeneinander wich mehr und
mehr der Vernunft und Verwissenschaftlichung.51 Dabei ging etwas aus diesen Kunst- und
Wunderkammersammlungen für immer verloren, da es die Überzeugung, dass man nun in der Lage sei,
die Welt zu verstehen und zu erklären, störte: die Kuriositäten, die nicht erklärbaren, wunderlichen oder
magiebehafteten Dinge und Gegenstände.52 Aufgrund ihrer Fähigkeit, den Blick des Betrachters auf
sich zu ziehen und gängige Wahrheiten in Frage zu stellen, hatten die Wunder zuvor eine zentrale Rolle
gespielt und waren als Anreiz begriffen worden, “(...) die Realität bis in ihre letzten Hintergründe, die
Beziehung zwischen Kunst und Natur und die geistigen Grundlagen der menschlichen Erkenntnis ganz
allgemein zu erforschen.“53 Ein neuer Begriff von Wahrheit ließ keinen Platz für das Unerklärbare und
Bizarre und so wurden gerade die Ausnahmen der Natur, die vormals das größte Interesse auf sich
gezogen hatten, nun ignoriert, aussortiert oder vernichtet.54 Den Wundern wurde mit Herablassung
begegnet und das Staunen war nicht länger von ängstlicher Ehrfurcht geprägt, sondern wurde
zunehmend als aufgeblasene Form des Vergnügens gesehen und zu schierer Sensationslust
degradiert!. „So verlagerte sich der Kult der Kuriositäten aus dem Bereich “hoher“ Kultur und
wissenschaftlicher Forschung in niedere Gefilde und fand fortan beispielsweise noch auf Jahrmärkten
eine Bühne.“55
Die eintretende Spezialisierung ging zwangsläufig Hand in Hand mit dem Verlust des Glaubens an eine
mit Sinn erfüllte Einheit des Weltganzen. Durch die Zersplitterung des ehemals einheitlich gedachten
Plans der Schöpfung in immer kleinere Wissensgebiete waren diese als Gesamtbild bald nicht mehr
50 “Die Menge des Wissenswerten nahm schneller zu als die Menge der zur Verfügung stehenden Definitionen und Begriffe.“Ebd. S.3951 Interessant dabei ist, dass Teile der Sammlung selbst die Kunst- und Wunderkammern in Frage stellten. !Du!r!c!h! !d!i!e! !!E!r!f!i!n!d!u!n!g! !v!o!n! !i!n!s!t!r!u!m!e!n!t!e!l!l!e!n! !E!r!k!e!n!n!t!n!i!s!m!i!t!t!e!l!n! !a!u!s! !d!e!m! !B!e!r!e!i!c!h! !d!e!r! !s!c!i!e!n!t!i!f!i!c!a !,! !w!i!e! ! !F!e!r!n!r!o!h!r! !o!d!e!r! !M!i!k!r!o!s!k!o!p!,! !k!a!m!e!n!!p!l!ö!!t!z!l!i!c!h! !Z!w!e!i!f!e!l! !a!n! !d!e!r! !G!e!w!iss!h!e!i!t! !v!o!n! !o!p!t!i!s!c!h!e!n! ! !E!r!k!e!n!n!t!n!i!s!m!e!t!h!o!d!e!n! !a!u!f!.! !O!p!t!i!s!c!h!e! !T!ä!!u!s!c!h!u!n!g!e!n! !i!n! !F!o!r!m! !v!o!n! !!A!n!a!m!o!r!p!h!o!s!e!n!,! !T!r!o!m!p!e!-!lóe!i!l! !G!e!m!ä!!l!d!e!n! !u!n!d! !p!e!r!s!p!e!k!t!i!v!i!s!c!h!e!n! !G!u!c!k!k!äs!t!e!n! !h!i!n!t!e!r!f!r!a!g!t!e!n! !d!i!e! ! !R!i!c!h!t!i!g!k!e!i!t! !v!o!n! !W!a!h!r!n!e!h!m!u!n!g!!a!l!s! !E!r!k!e!n!n!t!n!i!s!p!r!i!n!z!i!p! und m!a!n! !h!e!g!t!e! !d!e!n! !V!e!r!d!a!c!h!t!,! !s!t!ä!!n!d!i!g!e!n! !Täu!s!c!h!u!n!g!e!n! !z!u! !u!n!t!e!r!l!i!e!g!e!n!!.! !52 Dinge wie Alraunen, Beozare (Magensteine), das Horn des Einhorns, Paradiesvögel, versteinertes Holz und Korallenästewaren zuvor in beinahe jeder Sammlung zu finden gewesen.53 Patrick Mauries, 2003. S.12654 !Entweder waren sie !m!i!t! !z!u!n!e!h!m!e!n!d!e!r! !E!r!k!e!n!n!t!n!i!s! “e!n!t!z!a!u!b!e!r!t“!! und damit !u!n!i!n!t!e!r!e!s!s!a!n!t! !g!e!w!o!r!d!e!n!, !o!d!e!r! sie entzogen !s!i!c!h!!n!o!c!h! !i!m!m!e!r! !j!e!d!e!r! !v!e!r!n!u!n!f!t!m!!äßi!g!e!n! !D!e!u!t!u!n!g!. A!l!s! !u!n!e!r!k!l!är!b!a!r!e! ! !R!ät!s!e!l! e!r!s!c!h!üt!t!e!r!t!e!n sie !d!e!n! !f!e!s!t!e!n! !G!l!a!u!b!e!n! !a!n! !d!i!e!!a!n!g!e!s!t!r!e!b!t!e! !E!r!k!l!är!b!a!r!k!e!i!t! !d!e!r! !W!e!l!t! !u!n!d! !B!e!h!e!r!r!s!c!h!u!n!g! !d!e!r! ! !N!a!t!u!r! !d!u!r!c!h! !d!e!n! !M!e!n!s!c!h!e!n,! !l!i!eß!e!n! !s!i!c!h! !w!i!s!s!e!n!s!c!h!a!f!t!l!i!c!h! !n!i!c!h!t!!e!i!n!o!r!d!n!e!n! !u!n!d! ! !mussten verschwinden!.!55 Patrick Mauries, 2003. S.194
15
überschaubar. S!o wurden !d!i!e! !K!u!n!s!t!-! !u!n!d! ! !W!u!n!d!e!r!k!a!m!me!r!n! !nach und nach !a!u!f!g!e!lös!t! !u!n!d! !i!h!r! !I!n!h!a!l!t!
separat in zoologische, botanische, ethnologische, historische und physikalisch-technologische
!S!p!e!z!i!a!l!s!a!m!m!l!u!n!g!e!n! a!u!f!g!e!t!e!i!l!t!.!56 Die Naturalia gingen in die naturhistorischen Sammlungen und die
Artificialia und Scientifica in die Kunstgalerien und technischen Sammlungen. D!ie!s! !!b!e!d!e!u!t!e!t!e! !d!a!s! !E!n!d!e!
!d!e!r! !u!n!i!v!e!r!s!a!l!e!n! !Z!u!s!a!m!m!e!n!s!c!h!a!u! !u!n!d! !d!e!n! !B!e!g!i!n!n! !d!e!s! !n!e!u!z!e!i!t!l!i!c!h!e!n! ! !M!u!s!e!u!m!s!.!
2.4 Das öffentliche Museum
Nach der beschriebenen Aufteilung der universalen Kunst- und Wunderkammern in Spezialmuseen
möchte ich mich im Folgenden lediglich auf die weitere Entwicklung der Kunst- und der
Naturkundemuseen beziehen, da ich mich künstlerisch hauptsächlich mit generellen Mechanismen des
Museums und den speziellen Präsentationsformen des Naturkundemuseums auseinandergesetzt habe,
wobei der Blick gleichzeitig immer auch auf die besondere Rolle und Funktion des Kunstmuseums
gerichtet war. Die bereits skizzierte Entwicklungsgeschichte des Museums ist deshalb relevant, weil
sowohl das Naturkundemuseum als auch das Kunstmuseum genau genommen nur zwei Teile eines
ursprünglich umfassenderen Museumstyps sind, der Kunst und Natur gleichwertig nebeneinander
sammelte und präsentierte. Heute gibt es nur noch wenige Museen, bei denen die Einheit des Kunst-
und Naturalienkabinetts noch gewahrt ist.57 Meist sind die Institutionen in separaten Häusern
untergebracht und können mit ihren hoch spezialisierten Sammlungen ebenso als Weiterentwicklung
wie als Zerfallsprodukt der Kunst- und Wunderkammern der Spätrenaissance und des Barock gelten.58
Doch durch das Wissen um die ehemalige Einheit dieser Institutionen bekommt das heutige Kunst- wie
auch das Naturverständnis im Museum eine ganz besondere Note, die aus ihrer gemeinsamen Wurzel
in der frühen Faszination am Fremden und Kuriosen, an Repräsentation und Schau entspringt.
Die Aufteilung der einheitlichen Kunst- und Wunderkammern in die verschiedenen
Gegenstandsbereiche war nicht nur ein Differenzierungsprozess, der sich aus der Überfülle des
Materials zwangsläufig ergab, sondern wurde auch von der Entwicklung einer neuen Weltanschauung
eingeleitet. Da nicht mehr an eine bestehende metaphysische Ordnung der Dinge geglaubt wurde,
musste diese Ordnung durch das Sammeln und Klassifizieren nun erst hergestellt werden. Das Wissen
um die Natur und Kultur sollte in Form von repräsentativen Manifestationen gesammelt, geordnet,
systematisiert, institutionalisiert und so verfügbar gemacht werden.59 Die Sammlungsobjekte wurden
56 Als großangelegter Versuch, eine Ordnung der Dinge durch Sammeln zu ermitteln, durch ihren Hang zum Kategorisieren,Systematisieren und Analysieren trugen die Kunst- und Wunderkammern vielleicht von Anfang an den Keim zurVereinzelung und Spezialisierung ihrer Objekte in sich.57 Das Hessische Landesmuseum in Darmstadt ist ein solches Beispiel.58 Vgl. Hans Holländer. Wunderkammer des Abendlandes. 1994. S.14459 Ihren Anfang nahm eine solche wissensgeleitete Archivierung nach den Regeln der Taxonomie zunächst nicht in denKunstmuseen, sondern in den naturkundlichen Sammlungen. Beat Wyss zeichnet in seinem Aufsatz die Entwicklung derOrdnungsprinzipien in den frühen Sammlungen der Naturwissenschaft vom Prinzip der Ähnlichkeiten in der Renaissanceüber das Prinzip der Begriffe bis zum Prinzip des Lebens und seiner Dynamik nach, betont dabei aber gleichzeitig, dass sich
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nicht mehr nach den in ihnen selbst schlummernden Analogien, sondern nach abstrakten Skalen,
Schemen und Kriterien gemessen, verglichen und geordnet. Damit begann Ende des 18. Jahrhunderts
auch wissenschaftsgeschichtlich eine neue Epoche. Der neue Ordnungswille war Ausdruck des
rationalistischen Dranges, der Welt habhaft zu werden, indem man sie gemäß allgemein verbindlicher
Regeln ordnete und gegenüberstellte.60 Dabei fällt nach der Auflösung der ehemals als Einheit
gedachten Welt vor allem ein Auseinandertreten der jeweiligen fachspezifischen Systematiken auf.
„Während nämlich das naturhistorische Museum nach Naturreichen, Stämmen, Gattungen, also Vögeln,
Fischen, Reptilien usw. eingeteilt wird, so wurde das kunsthistorische Museum nach zeitlichen Epochen
gegliedert.“61
Darüber hinaus geriet im 19. Jahrhundert angesichts von Industrialisierung und Urbanisierung auch
vieles bisher Vertraute außer Gebrauch und erschien dadurch auf einmal bewahrens- und
ausstellenswert.62 „Die Zerstörung von Vergangenem schärft die Erfahrung des Verlustes und treibt
Gegenmaßnahmen hervor.“63 Das Museum wurde immer mehr zu einem Ort der Rettung für das, was
durch den Fortschritt überrollt zu werden schien. Damit hörte es auf, Ort des Neuen, gerade erst
Entdeckten zu sein und wurde zu einem Ort des Bewahrens und Konservierens von alten
Gegenständen, die zu verschwinden drohten.
Ein entscheidender Auslöser für den Funktionswandel der privaten Schatzkammern zu bürgerlichen
Museen war darüber hinaus ohne Zweifel die Französische Revolution, welche die Institution Museum
endgültig zu einer Bildungseinrichtung der bürgerlichen Öffentlichkeit machte. Nach dem Sturm auf die
Bastille und der Abschaffung der Feudalordnung verfügte die Nationalversammlung mit dem Dekret von
1791 die Verstaatlichung der Kunstsammlungen des Königs von Frankreich.64 Ende des 18.
Jahrhunderts begann dann eine Welle von Museumsgründungen, da die fürstlichen Sammler nun auch
anderswo freiwillig dazu bereit waren, ihre Kunst- und Wunderkammern einer breiteren Öffentlichkeit
zugänglich zu machen. Bereits in den Gründerjahren galten diese nach wissenschaftlichen Sparten
getrennten Institutionen ihren Betreibern vom Anspruch her als Orte der Belehrung und Erbauung.
Kunstmuseen widmeten sich der ästhetischen Bildung ihres Publikums, historische Museen
begründeten ihre Präsentation von Zeugen der nationalen Geschichte in einer staatskundlichen
diese Prinzipienfolge nicht auf die Kunstsammlungen übertragen lässt, da hier das Prinzip der Ähnlichkeit für dieKlassifizierung bis in die Moderne gültig bleibt. Vgl. Wyss, Beat. “Das Museum. Oder die Rückverzauberung entzauberterDinge“. In: Museumskunde Band 63, Heft 2, 1998.60 Die konsequente Gestaltung des Museums als enzyklopädisches Archiv am Ende des 18. Jahrhunderts entwickelt sichnicht zufällig parallel zur Entstehung der ersten umfassenden Enzyklopädie Denis Diderots in Frankreich.61 Böhme, Gernot. “Kunst nach der Natur“. In: Bott, Gudrun und Broska, Magdalena (Hrsg.). Post Naturam – Nach der Natur.Bielefeld, 1998. S.1462 Vgl. Sturm, Eva. Konservierte Welt – Museum und Musealisierung. Berlin, 1991. S.30 ff.63 Fliedl, Gottfried. “Testamentkultur. Musealisierung und Kompensation“. In: Zacharias, Wolfgang (Hrsg.). ZeitphänomenMusealisierung. Das Verschwinden der Gegenwart und die Konstruktion der Erinnerung. Essen, 1990. S.16764 Ab 1793 wurden die enteigneten Kunstgüter von Adel und Kirche an acht Tagen kostenlos im Louvre gezeigt. Vgl.Kretschmann, Carsten. Räume öffnen sich. Naturhistorische Museen im Deutschland des 19. Jahrhunderts. Berlin, 2006.S.16 (ab hier: Carsten Kretschmann, 2006.)
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Erziehung der Bürger, ethnografische Museen verfolgten mit der Zurschaustellung von Beutestücken
fremder Kulturen die Heraushebung der eigenen Produkte und die Befriedigung exotischer Bedürfnisse.
Und das naturkundliche Wissen der Zeit schließlich offenbarte sich dem staunenden Publikum in den
naturhistorischen Museen.
So wie die Wunderkammern und fürstlichen Sammlungen dem Ruhm und der Stabilisierung des
einzelnen Fürsten gedient hatten, bestand die gesellschaftliche und kulturpolitische Funktion des
Museums nun in der Stärkung des neuen gesellschaftlichen Systems. Dabei wurde auch das
Geltungsbedürfnis auf nationale Staatsebene übertragen, was daran ersichtlich wird, dass die meisten
der fast sakral wirkenden Museumsbauten absolute Prunk- und Protzbauten sind.65 Das Museum
bekam unter anderem die Aufgabe, die abstrakte politische Kategorie der “Nation“ anschaulich mit Sinn
zu füllen und dem Volk unmittelbar erlebbar zu machen. Dieser Erziehungsauftrag ging von den sich
neu formierenden Nationalstaaten aus, die ihre Bürger an die Sinnstiftungen erinnern wollten, welche
die Gesellschaft in der Vergangenheit zusammengehalten hatten. Museen wurden dabei auch zu
politischen Lehrstätten zur Ausbildung staatsbürgerlicher Tugenden und zu “(...) Räumen der
Aufrechterhaltung von Sicherheit und Ordnung.“66 Da nun praktische und moralische Lektionen von
ihnen gelernt werden sollten, erfuhren die gesammelten und ausgestellten Objekte in diesem Prozess
eine didaktische Bedeutungsverschiebung. Die Belehrungsakte erfolgten in erster Linie über die
entsprechend inszenierten Ausstellungen, wobei die Museen, damit sie ihren Zweck erfüllen konnten,
auf Lesbarkeit für alle achten mussten. Ihre Rolle bestand darin, als Übersetzer die Erkenntnisse der
Spezialwissenschaften so aufzubereiten, dass deren Aussagen auch von einem größeren
“Laienpublikum“ verstanden und eingeordnet werden konnte.67 Durch ihren Vermittlungsauftrag wurden
die Museen schließlich Flächen deckend zu Bildungsanstalten für alle.
2.4.1 Naturkundemuseen seit Ende des 18. Jahrhunderts
Die Institution Naturkundemuseum hat neben den Kunst- und Wunderkammern der europäischen
Fürstenhäuser noch weitere historische Wurzeln. Auch die privaten Sammlungen von Gelehrten,
Professoren, Ärzten und Apothekern, welche in so genannten “Naturforschenden Gesellschaften“
organisiert waren, flossen in die modernen Naturkundemuseen ein. Die meisten dieser Sammlungen
gingen früher oder später im Naturkundemuseum auf, da der Anspruch, eine solche Sammlung auf 65 Es kann kritisiert werden, dass wir zwar das Museum dem aufstrebenden Bürgertum zu verdanken haben, dass diesesaber mittlerweile die Stellung und Funktion des Adels übernommen hat. Denn häufig besteht das so genannte öffentlicheMuseum zum Großteil aus Leihgaben und Stiftungen von Privatsammlungen, so dass es sich in vielen Fällen eher um eineöffentlich zugängliche Privatsammlung handelt. Vgl. Weibel, Peter. “Zur Zukunft des Kunstmuseums. Museumstypen undAusstellungen.“ In: Krämer, Harald und John, Hartmut (Hrsg.) Zum Bedeutungswandel der Kunstmuseen. Positionen undVisionen zu Inszenierung, Dokumentation, Vermittlung. Nürnberg, 1999. S.2266 Lepenies, Annette. Wissen vermitteln im Museum. Köln, 2003. S.4067 Die Leitlinien für die museale Arbeit entsprangen meist den Vorstellungen und Idealen der gesellschaftlichen undpolitischen Eliten, die damit den eigenen Anspruch auf soziale Vorherrschaft auch aus ihrem durch die Museen gestütztenKulturverständnis legitimierten
18
Dauer zu erhalten und die damit verbundenen Kosten für Konservierung und Aufbereitung häufig die
finanziellen und organisatorischen Möglichkeiten von Privatleuten überstiegen.68 Als weitere
institutionelle Wurzel ist die Schule hervorzuheben, deren zahlreiche Verbindungen zu
naturwissenschaftlichen Vereinen, Sammlungen und Museen einen bedeutenden Ursprung
naturkundlicher Wissensproduktion und -präsentation darstellen. Museumsdirektoren waren oft selbst
ehemalige Lehrer,69 und recht häufig entstanden Naturkundemuseen direkt aus Schulsammlungen
heraus.
Die Übergänge von einer naturkundlichen Sammlung zu einem Naturkundemuseum waren fließend.
Anfangs unterschied sich ein Museum von einer Sammlung zunächst dadurch, dass seine Exponate in
einer für die breite Öffentlichkeit geeigneten Ordnung aufbewahrt und professionell verwaltet wurden, es
feste Öffnungszeiten gab, ein eigenes Gebäude bereit stand und nicht zuletzt dadurch, dass es sich als
“Museum“ bezeichnete.70 Der Prozess der Institutionalisierung, Öffnung und Nutzbarmachung von
Sammlungen wurde dabei sowohl durch das allgemein verstärkte Interesse an exotischen Tieren
vorangetrieben71 als auch durch die Reformbestrebungen im naturwissenschaftlichen Schulunterricht,
die mehr und mehr auf Anschaulichkeit und Naturnähe zielten. Museen hatten nun nicht mehr bloß die
Aufgabe zu Sammeln und zu Forschen, sondern sie sollten darüber hinaus als Bildungsanstalt breite
Bevölkerungsschichten erreichen und besonders die Angehörigen der Arbeiterklasse belehren und
erziehen. Auch im Wandel der Gebäudekonzeptionen drückte sich die Transformation der
Naturkundemuseen von “(...) Kathedralen des Wissens zu säkularen Bildungsanstalten (...)“72 aus. Im
Zuge von Museumsneubauten wurden nun separate Schausammlungen hergerichtet, in denen
öffentlichkeitsrelevantes Wissen getrennt von forschungsrelevantem Wissen präsentiert wurde. Strikt
abgeschottet von den wissenschaftlichen Sammlungen und Arbeitsräumen der Naturforscher sollte
naturkundliches Wissen anhand repräsentativer Objekte leicht verständlich ausgestellt werden.73 Wie
die naturkundlichen Disziplinen umfassten auch die Schausammlungen mehrerer Teilbereiche der
beschreibenden Naturwissenschaften: Zoologie, Botanik, Geologie und Paläontologie. Der Schwerpunkt
wird im Folgenden vorrangig auf die zoologische Schausammlung gelegt und begründet sich darin,
dass meine künstlerische Arbeit zum Naturkundemuseum sich ausschließlich auf diesen Bereich
68 Das Museum der Senckenbergischen Naturforschenden Gesellschaft in Frankfurt a.M. und das HamburgerNaturhistorische Museum sind Beispiele für Vereinssammlungen.69 So kam ein Großteil der Führungselite und der Mitglieder des Hamburger Naturwissenschaftlichen Vereins und desNaturhistorischen Museums aus der Lehrerschaft des Realgymnasiums und der Gelehrtenschule Johanneum. Vgl. Scheele,Irmtraud. Von Lüben bis Schmeil. Die Entwicklung von der Schulnaturgeschichte bis zum Biologieunterricht zwischen 1830und 1933. Berlin, 1981. S.3770 Vgl. Köstering, Susanne. Natur zum Anschauen. Das Naturkundemuseum des deutschen Kaiserreichs 1871-1914. Köln,2003. S.30. (ab hier: Susanne Köstering, 2003.)71 Ein Großteil dieser Tiere wurde aus den Kolonien als Jagdtrophäen an die Museen vermittelt.72 Susanne Köstering. 2003, S.27573 Naturkundemuseen vollzogen den konzeptionellen Schritt einer räumlichen Trennung von wissenschaftlichenHauptsammlung und öffentlicher Schausammlung gut ein Jahrzehnt vor den Kunstmuseen und kulturhistorischen Museen,nämlich in den ausgehenden 1880 er Jahren. Vgl. Ebd. S.2
19
bezieht. Auch wurde Ende des 19. Jahrhunderts durch die weitgehend anerkannte Evolutionstheorie die
Frage nach dem Status des Menschen innerhalb des Tierreichs neu verhandelt, was dazu beitrug, dass
die zoologischen Sammlungen eine herausragende Rolle als bedeutungsträchtigstes naturkundliches
Repräsentationsfeld innehatten. Darstellungen von Tieren legen immer Vergleiche mit dem Menschen
nahe und sind wahrscheinlich unterschwellig aus diesem Grund auch für heutige Besucher attraktiver
als Darbietungen von Pflanzen oder Gestein.
Zunächst waren die zoologischen Präparate in den Schausammlungen nach der Lehre der Taxonomie
geordnet und wurden recht nüchtern präsentiert. Die Taxonomie befasst sich als biologische Systematik
mit der Beschreibung, Benennung und Klassifizierung von Organismen. Dementsprechend waren die
Tiere in gleichförmigen Vitrinen so aufgereiht, dass die Besucher ihre systematische Anordnung
erkennen konnten. Das wissenschaftliche System sollte in langen Reihen von Schränken Schritt für
Schritt nachvollzogen werden, wobei das schrittweise Vorgehen beim Lernen buchstäblich in Bewegung
umgesetzt und eine konsequente Lese-Anordnung befolgt wurde. Die Präsentation der Exponate griff in
ihrer festgelegten Reihenfolge der Besichtigung die Struktur von Büchern auf. So könnte man die
aufeinander folgenden Sammlungssäle als Kapitel des Buches sehen und die Schranksegmente mit
den einzelnen Buchseiten vergleichen. Und selbst die Anordnung der Objekte auf den Regalbrettern der
Schränke folgte dieser Leserichtung – zeilenweise von oben nach unten und innerhalb der Zeile von
links nach rechts. Eine solche Aufstellung verlieh der vorgestellten visuellen Wissensordnung
“(...)dieselbe Glaubwürdigkeit wie dem gedruckten Wort.“74 Alle Modelle und Präparate waren fest in
diese lineare systematische Abfolge integriert. Auf den ihnen zugewiesenen Plätzen in den Schränken
repräsentierten sie ihre jeweilige Position im zoologischen System und blieben darüber hinaus stumm.
Dennoch hatte auch diese Inszenierungsform ihre Reize. “Was die Massen ins Museum trieb, war wohl
auch das Erlebnis der dort ausgestellten Masse.“75 Die große Menge der Objekte machte es schwer,
sich ins Detail zu vertiefen, und für viele Besucher rückte das Erlebnis des Museumsbesuchs an die
Stelle des Wissenserwerbs. Dabei wurde allein der Anblick der Menge des ausgestellten Materials für
den Betrachter wertvoll und Gewinn bringend, da es als Auszug und Abbild der Welt eine Vorstellung
von deren Unendlichkeit vermittelte. Hier wie in den Kunst- und Wunderkammern wurde die Ordnung
der Dinge durch ihre Präsentation versinnbildlicht. Doch während in der Wunderkammer vielfältige
Assoziationen geweckt werden sollten und eine der lustvoll betriebenen Hauptbeschäftigungen darin
bestand, Analogien über die Grenzen der Kategorien hinaus zu finden, war die Inszenierung nach
taxonomischer Anordnung das genaue Abbild eines festgelegten Systems. Die wissenschaftlich-lineare
und fest umgrenzte Ordnung stand damit im krassen Gegensatz zur metaphorischen und
geheimnisvollen Ordnung der Ausstellungsobjekte in den Kunst- und Wunderkammern.
74 Ebd. S.18975 „Das Erleben des Museums, in dessen Fülle sich das Individuum beinahe verlor, war mit Sicherheit auch einGemeinschaft bildendes Element.“ Carsten Kretschmann, 2006. S.130
20
Doch im Zuge der Öffnung von Museen für Privatleute und ihre Nutzung als Freizeitvergnügen wurden
bald auch andere Strategien der Popularisierung versucht und neue Methoden und Medien der
musealen Präsentation entwickelt. Wollte das Museum auch das Publikum der wenig vorgebildeten
Schichten erreichen, musste es sich unweigerlich “(...) in Konkurrenz zu anderen Institutionen wie
Zoologischen Gärten und Völkerschauen, zu Industrieausstellungen und Panoramen (...)“76 begeben.
Die “neuen Medien“ dieser Institutionen, die das Anschauliche und Authentische bevorzugten,
entsprachen den Erwartungen und Sichtweisen des Publikums. Zeitgenossen beschrieben den als
Reaktion stattfindenden Umschwung der Präsentation im Naturkundemuseum als eine Wendung vom
System zum Leben.77 Das heißt vom System der biologischen Klassifikation zur Darstellung von
Lebensweisen, von Beziehungen der Lebewesen untereinander und zu ihren Umgebungen. Dieser
Paradigmenwechsel wird von Susanne Köstering als biologische Wende bezeichnet, wobei sie kritisch
anmerkt, dass die Wende von der Taxonomie zur Biologie nicht vollendet und nicht in letzter
Konsequenz durchgeführt wurde.78 Die zoologische Systematik blieb nämlich als Rahmen bestehen, in
den sich die neuen biologischen Darstellungen hinein und in den Vordergrund schoben. Statt einen
völlig neuen Systemansatz zu verfolgen, blieb das Naturkundemuseum wissenschaftlich und
symbolisch im bestehenden System verhaftet. Innerhalb dieses Systems kam jedoch Bewegung auf
und radikal neue visuelle Strategien wurden entwickelt. Die biologische Wende naturkundlicher
Schausammlungen beruhte demnach nicht auf einem Systemwechsel, sondern wesentlich auf einem
Wandel der “(...) visuellen Konzepte musealer Wissenspräsentation.“79 Diese lösten sich aus der
Darstellungsform von Büchern und eroberten sich neue bildliche und plastische Möglichkeiten der
Wissensdarbietung im Raum. Innerhalb von nur wenigen Jahrzehnten fand diese Entwicklung statt und
erschloss symbolische Räume, die durch wissenschaftliche Konzeptionen allein nicht hätten geschaffen
werden können. Die naturkundlichen Schausammlungen wurden zu einem Schauplatz für die
Transformation der beschreibenden Naturwissenschaften zur Evolutionsbiologie, welche
Naturbeobachtungen vom Tier und von seinen Beziehungen zur Welt in anschauliche Bilder übersetzen
und zeigen konnte.
Die neuen Inszenierungsformen im Raum boten mehr Spielraum für freie Assoziationen als die älteren
strikten Leseanordnungen und arbeiteten mit moderneren Techniken der Tierpräparation. Zwar hat das
Konservieren und Ausstopfen von Tierhäuten eine sehr lange Tradition und stümperhaft
zusammengeflickte, steife und dickbäuchige Krokodile schmückten bereits die Decken der Kunst- und
Wunderkammern, doch genau genommen kann man von “moderner“ Taxidermie 80 erst seit Ende des
76 Ebd. S.12777 Susanne Köstering, 2003. S.378 Ebd. S.379 Ebd. S.15280 Das Wort Taxidermie (griechisch taxis = Anordnung, Arrangement und derma = Haut) erscheint in französischenWörterbüchern erst um das Jahr 1804.
21
18. Jahrhunderts sprechen. Für den Aufschwung der neuen Situationsbilder und Szenen im
Naturkundemuseum des 19. Jahrhunderts ist dann die Entwicklung der Dermoplastik 81 von großer
Bedeutung. Die Befürworter dieser Präparationstechnik hatten schon länger argumentiert, die Tiere
seien Repräsentanten des Natürlichen und nicht etwa eines trockenen Systems. Doch erst mit der
Dermoplastik als neuer Technik des Präparierens setzte sich seit etwa 1870 eine bis dahin nicht
gekannte Maxime der Darstellung von “lebenswahren Bildern“82 durch. Zuvor waren die Tierbälger mit
Drahtgestellen aufgerichtet und mit Füllmaterial ausgestopft worden. An die Darstellung von Muskeln
wurde dabei noch nicht gedacht; große Präparate sahen dementsprechend unförmig aus und glichen
eher toten Hüllen als lebendigen Tieren. Bei der Dermoplastik verfuhr man andersherum und formte
zunächst über ein Gerüst einen künstlichen Tierkörper aus einer plastischen Masse (wie beispielsweise
Ton oder Gips) der dann mit dem entsprechenden Fell bezogen wurde. Die entscheidende
Veränderung bestand darin, dass „(...) die Dermoplastik auf die anatomisch-physiologische Konstruktion
des Tiers von innen heraus zielte, während bei der Taxidermie die Tierhaut die Form des Präparats
bestimmte.“83
Abb.2: Präparator Robert Rockwell formt den Körper
eines Braunbären,1940.
Dies ermöglichte es, den präparierten Tieren ein sehr lebendiges Aussehen zu geben und führte auch
zu einer Statuserhöhung des Präparatorenberufs.84 Aus ihrer Fähigkeit, das Leben nachzubilden,
Illusionen mit Anspruch auf Wirklichkeitstreue zu erzeugen und somit gewissermaßen eine eigene Welt
81 Das Wort Dermoplastik leitet sich her aus griechisch derma = Haut und plastikós = plastische, formbare Masse. Vgl.Kluge, Friedrich. Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. 22. Auflage. Berlin, New York, 1989.82 Martin, Ph.L. Die Praxis der Naturgeschichte. Teil 2: Dermoplastik und Museologie. 2. Auflage, Weimar 1880, S.1483 Susanne Köstering, 2003. S.16184 Bisher hatte das Los der Präparatoren darin bestanden, vergessen zu werden. Sie verrichten ihr Werk in denHinterräumen der Museen. Ihre Arbeit war nicht ungefährlich (das Risiko einer Arsenvergiftung war hoch), sie stankbestialisch, war hart, schmutzig und wurde als bloßes Handwerk gesehen.
22
zu erschaffen, speiste sich das neue Selbstbewusstsein, aus dem heraus sich immer mehr
Präparatoren als Künstler verstanden. Denn erst das Produkt ihrer Arbeit machte aus Fellen und Federn
jene Objekte, die als Repräsentanten des naturkundlichen Wissens galten. Ihr Ziel war es, eine
möglichst naturgetreue, präzise Rekonstruktion des lebenden Tiers in einer typischen Situation zu
erschaffen, so dass sie mit Hilfe der Dermoplastik die bewegten Tierkörper in einer spezifischen
charakteristischen Situation und Konstellation zueinander gleichsam einfroren.85 Dabei wurde auch die
Physiognomie der Tiere mit einbezogen und “charakteristische Merkmale“ waren nicht länger
taxonomische sondern taxidermische Ausprägungen – nämlich Stellungen und Haltungen, in denen
sich auch Leidenschaften wie Angst, Zorn und Liebe zeigen sollten.86
Systematiker wehrten sich zunächst gegen diese Art der Tierpräparation, da sie nicht mehr beliebig mit
solchen individualisierten Tieren rangieren konnten. Stereotyp präsentiert waren sie einfacher zu
handhaben. Hier kam der Denkstil der Wissenschaftler explizit in Berührung mit gesellschaftlichen
Ansprüchen, und im Ergebnis ließen Zoologen schließlich erstmals außerwissenschaftliche Motive als
Faktoren für die Art ihrer Wissenspräsentation zu. Sie erkannten nämlich die Entfremdung breiter
Bevölkerungsteile von der Natur als ausreichenden Grund dafür an, inszenierte Natur im Museum
zuzulassen. Die biologische Wende korrespondierte demzufolge auch mit einer sozialökologischen
Umbruchsituation. Der Höhepunkt der Industrialisierung bedeutete nämlich nicht nur “(...) Urbanisierung,
Mobilisierung, soziale Differenzierung, Geschlechter- und Klassenkonflikte (...)“ sondern auch die
“(...)Transformation vorindustrieller Kulturlandschaften in eine zum Teil von massiven
Umweltbelastungen geprägte Industrielandschaft.“87 In einer historischen Phase, in der die Natur
einschneidendem Wandel und Vernichtung ausgesetzt war, erschien die dauerhafte Konservierung der
Natur von hoher Dringlichkeit. Taxidermie war von Anfang an der praktische Ausdruck dieses
Vorhabens gewesen, da sie gegen Verfall und Tod anarbeitete. Doch mit der Entwicklung der
Dermoplastik konnte noch mehr geleistet werden, denn sie hielt “(...) dynamische soziale Strukturen in
Bildern dauerhaft fest und konservierte Vorstellungen von Sozialbeziehungen.“88
Neben der neuartigen Präparation der einzelnen Tiere veränderte sich auch die Umgebung, in der diese
gezeigt wurden. So wurden die Vitrinen künstlich beleuchtet, um die Wirkung der Tiergruppen zu
steigern. Das verweist auf eine neue Visualisierungsstrategie, bei der Stimmung erzeugt und Ehrfurcht
85 Interessant in dem Zusammenhang ist auch die Tatsache, dass es seit den späten 1880 er Jahren durch die Tierfotografiezu neuen Entwicklungen in der Tierpräparation kam. Foto-Bildbände lieferten wichtige Vorlagen für Modelle und künstlicheTierkörper. Das Momenthafte und Unwillkürliche sollte für Authentizität bürgen. Vgl. Susanne Köstering, 2003. S.17286 Vgl. Ebd. S.16287 Die industrielle Neustrukturierung von Landschaft und die in einem neuen Maßstab rationalisierte Verwertung von Tierenund Pflanzen riefen den Wunsch nach intakter Umgebung und Naturschutz wach und zugleich das Bedürfnis nach kulturellerNeudeutung der Natur. Vgl. Ebd. S.388 Ebd. S.173
23
hervorgerufen werden sollte. Auch die Anordnung der Exponate im Raum musste nun nicht mehr der
Veranschaulichung einer Systematik entsprechen, sondern sollte primär ästhetischen Kriterien folgen.89
Die größte Neuerung bei den Visualisierungskonzepten war die “Erfindung“ des Dioramas. Dieses
besteht aus drei Komponenten, wobei die ausgestopften Tiere als erster und wichtigster Bestandteil das
Diorama bestimmen. Zweitens ist die Gestaltung des Vordergrundes zu nennen, welche alle
dreidimensionalen Erscheinungen außer den Tieren umfasst, also die Nachbauten von Bäumen,
Gebüschen und Felsen. Das dritte Element eines Dioramas ist das gekrümmte Hintergrundgemälde,
welches für die generelle Illusion von Raum, Distanz und Umgebung von größter Bedeutung ist.90 Wenn
diese drei Elemente harmonieren und eine nahtlose Einheit bilden, findet eine unmerkliche
Verschmelzung der dreidimensionalen Vordergründe mit den gemalten, zweidimensionalen
Hintergründen statt, welche den Betrachter mit erstaunlicher Tiefenwirkung überzeugen. Der Aufwand
an Zeit, Energie und Geld, den das Museum betrieb, um die angestrebte Authentizität zu erreichen, war
erheblich. Mit akribischer Sorgfalt wurden jeweils vor Ort Daten gesammelt, um das Habitat der Tiere
gründlich zu dokumentieren.91 Die in den Dioramen übliche Präsentation des jeweils typischen Habitats
ist neben der ästhetischen und unterhaltenden Komponente sicherlich als Reaktion auf die Darwinsche
Evolutionstheorie zu sehen, welche die perfekte Anpassung an bestimmte Lebensverhältnisse und
Umweltbedingungen als zentralen Aspekt in der Entstehung der Arten sieht. Die Vorstellung vom
“Kampf ums Dasein“ wurde darüber hinaus in detailliert dargestellten Revierkämpfen, Jagd- und
Fressszenen verdeutlicht. Neben solchen aggressiven Bildern gab es aber von Anfang an auch die
beliebte Gruppe der “Tierfamilien“ – und zwar nicht im Sinne der taxonomischen Einheit, sondern als
soziales Gebilde.92 Das Diorama Unser Reh zur Sommerzeit im Altonaer Museum dient hier als
Beispiel. „Der starke Bock sichert, der junge Bock schlägt sein Geweih an Faulbaumruten (...) und
scharrt die Erde übermütig mit den Hufen. Die Ricke im Vordergrund wendet sich nach dem fiependen
Jungen um, während die übrigen Tiere ruhig weiteräsen – ein liebliches Bild.“93
89 „Da es die Aufgabe einer solchen Schausammlung ist, uns vor Allem das vorzuführen, was die Natur Mannigfaltiges undSchönes in der äußeren Erscheinung der Tierwelt geschaffen hat, und es uns so zu zeigen, dass wir mit Muße allesEinzelne daran bewundern können, so wird bei der Aufstellung zuerst darauf zu achten sein, dass jedes Objekt von seinemStandpunkt aus günstig auf den Beschauer wirken kann; zugleich muss darauf Bedacht genommen werden, dass dasGanze übersichtlich bleibt und einen harmonischen künstlerischen Eindruck macht.(...) Die Anordnung der Gruppen mussdem Ermessen des Konservators, der in erster Linie Künstler sein muss, anheim gestellt werden.“ Martin, Ph.L. Die Praxisder Naturgeschichte. Teil 2: Dermoplastik und Museologie, 2. Auflage, Weimar 1880, S.29290 Diese spezielle Form der Malerei bediente sich Perspektiv-Techniken der Renaissancekünstler und dem Übertragen vonBildern per Raster. Vgl. Quinn, Stephen Christopher. Windows on nature. New York, 2006. S.14191 „ Die Hintergründe müssen nicht nur korrekt sein,“ beschrieb Leigh die Zielsetzung des Teams bei der Gestaltung derHabitat-Dioramen, „sie müssen zugleich auch ebenso typisch für den Kontinent sein wie die vor ihnen platzierten wildenTiere. Wir müssen nicht nur im Bereich von Fauna und Flora, sondern auch im Bereich von Geologie und Geografie einen soumfassenden Eindruck vom Wesen Afrikas vermitteln, wie uns unsere Mittel erlauben. Unser Ziel muss lauten: vollendeteBilder, fehlerlose Geschichte, perfekte Wissenschaft.“ Ebd. S.14192 „ Wo Präparatoren von “Tierfamilien“ und “Tierkämpfen“ sprachen, sahen Naturforscher biologische Erscheinungen derAufzucht, des Nahrungserwerbs, der Sozialbeziehungen von Tieren.“ Susanne Köstering, 2003. S.17293 Lehmann, O. Festschrift zur Eröffnung des Altonaer Museums, zugleich ein Führer durch die Sammlungen. Altona, 1901.S.19
24
In solchen “lieblichen“ Bildern schufen Dioramen zunächst vor allem künstliche Welten und es ist wichtig
sich zu fragen, welche Symbolräume diese Art der Darstellung öffnete.94 Mit Susanne Köstering könnte
man argumentieren, dass die gezeigte Tierfamilie die bürgerliche Kleinfamilie repräsentiere, entsprach
sie doch meist exakt den Modell-Vorstellungen einer Kernfamilie aus Eltern und Kindern, der Trennung
von privater und beruflicher Sphäre und der Arbeitsteilung der Geschlechter.95 Die Familie wird hier zum
Inbegriff friedvoller sozialer Beziehungen und liefert ein eingängiges Identifikationsangebot. Oftmals
wurden die männlichen “Familienoberhäupter“ als sicherndes Element der Heimat in das harmonische
Familienbild integriert, um eine Synthese aus Familienidylle und Kampfdarstellung zu erreichen.96 So
erweckten die Dioramen einerseits Assoziationen von Heim und Heimat, von Harmonie, Frieden und
Geborgenheit, auf der anderen Seite zeigten sie aber auch Bilder von Konflikten, Feindlichkeiten und
Härte. Sie führen idealtypische Muster von Rivalität über freundliche oder feindliche Annäherung und
Schutz vor und visualisieren damit gesellschaftliche Modelle sozialer Beziehungen zwischen Männern
und Frauen, Eltern und Kindern, Geschwistern, befreundeten oder verfeindeten Gruppen. An diesem
Beispiel wird deutlich, dass Naturkundemuseen nicht nur Bilder von “der Natur“, sondern im gleichen
Moment immer auch Bilder von “der Gesellschaft“ erzeugen. Denn das, was im Museum gezeigt
werden kann, ist nicht die wie auch immer definierte Natur sondern vielmehr die jeweilige
gesellschaftliche Vorstellung von der Natur. So hätte auch das alte taxonomische System mit seinen
Ordnungs-Kategorien wie Klasse, Familie, Gattung und Art durchaus als Repräsentation der
menschlichen Gesellschaft aufgefasst werden können, nur stimmte es irgendwann nicht länger
uneingeschränkt mit den Vorstellungen über den Aufbau der Gesellschaft überein.97 Die biologische
Wende spiegelt demnach auch eine gesellschaftliche Veränderung wider, indem sie die
Aufmerksamkeit statt auf das “System“ auf die “Lebenswirklichkeit“ und das hieß implizit auch auf die
soziale Wirklichkeit, richtete. Die neuen Bilder korrespondierten mit den neuen Theorien
gesellschaftlicher Fragestellungen besser als die normierten “Geradeaus-Aufstellungen“ der
taxonomisch-systematischen Sammlungen. Biologische Gruppen und Dioramen funktionierten “(...) wie
Scharniere zwischen wissenschaftlicher Disziplin und visuellem Konzept, zwischen Konstruktion von
Natur und Kultur und nicht zuletzt zwischen Belehrung und Unterhaltung.“98
Die Erkenntnis, dass naturwissenschaftliches Wissen und die Präsentation dieses Wissens kulturell
geprägt sind und damit historischem Wandel unterliegen, ist das größte Potential des
Naturkundemuseums und auch einer künstlerischen Auseinandersetzung mit diesem. Doch während im
94 Denn „(...) visuelle Repräsentation generiert auch immer kulturelle Bedeutung.“ Susanne Köstering, 2003. S.15495 Die soziale Wirklichkeit der Familie war Ende des 19. Jahrhunderts im Umbruch begriffen und für einen Großteil derErwerbstätigen bildete sie nicht länger eine Produktionseinheit. Die Einführung der Sozialversicherungen brachte dasVerhältnis der Generationen auf eine abstraktere Ebene und die Familienbande lockerten sich, während die traditionelleVorstellung von Familie gleichzeitig als Ideal verklärt wurde. Vgl. Ebd. S.2796 Ebd. S.17097 Vgl. Susanne Köstering, 2003. S.27798 Ebd. S.276
25
Falle des Kunstmuseums bezüglich des Selbstverständnisses und der Präsentationsformen gewaltige
Veränderungen und Umbrüche im Laufe des 20. Jahrhunderts stattfanden, entwickelten die
Naturkundemuseen keine durchgreifenden Innovationen mehr, blieben im Großen und Ganzen den
beschriebenen Inszenierungsformen bis heute treu und zehren gegenwärtig immer noch weitestgehend
von Darstellungs- und Vermittlungsformen, die vor über hundert Jahren im ausgehenden 19. und
beginnenden 20. Jahrhundert im Kontext der Museumsreformbewegung erfunden wurden.
2.4.2 Kunstmuseen seit Ende des 18. Jahrhunderts
Die Komplexität des sich wandelnden Selbstverständnisses des Kunstmuseums seit dem 18.
Jahrhundert, die theoretischen Hintergründe der sich aufspaltenden und teilweise höchst disparaten
Ansätze und Ausprägungen im Bereich der musealen Präsentationsformen und die pure Menge und
Verschiedenheit an “Museumskunst“ machen es mir unmöglich, diesen großen Bereich auch nur
ansatzweise vollständig zu behandeln. Da die Zusammenstellung eines umfassenden Überblicks im
Rahmen dieser Arbeit nicht geleistet werden kann, werde ich durch eine subjektive Auswahl sehr knapp
die geschichtliche Entwicklung nachzeichnen und dabei einige der für meine künstlerische Arbeit
wichtigen Aspekte anreißen.
Durch die Überführung aus den Kunst- und Wunderkammern und Gemäldegalerien in öffentliche
Kunstmuseen veränderte sich der Umgang und der Blick auf die Kunstwerke gravierend. Bis zum Ende
des 18. Jahrhunderts waren weder die Kunst- und Wunderkammern noch die höfischen
Gemäldegalerien selbständige Institutionen, sondern architektonisch und konzeptionell fest in den
Herrscherhäusern verankert und Bestandteil im Raumprogramm jedes größeren Residenzschlosses.
Bilder waren bis zu diesem Zeitpunkt meist fest an einen Ort gebunden gewesen. Vor der “Erfindung"
des Tafelbildes als mobilem Objekt hatten Kunstwerke, beispielsweise bei der Höhlenmalerei und den
Fresken, zwangsläufig in einem speziellen räumlichen Kontext gestanden. Doch auch die Tafelbilder
und Skulpturen der Barockschlösser und Kirchen wurden nicht nach ihrer Wirkung als einzelne
Kunstwerke, sondern aufgrund ihrer Gesamtwirkung, der Fülle und der Repräsentationsfunktion für
spezifische Räume ausgewählt.
Erst durch die im Zuge der Französischen Revolution und der Aufklärung stattfindende Enteignung des
Kunstbesitzes von Kirchen, Klöstern und Schlössern wurden riesige Bildbestände beweglich gemacht.
Allerdings blieb die Charakteristik der anfänglichen Ausstattung des Kunstmuseums, in Übernahme der
aristokratischen Inszenierungspraxis, zunächst ähnlich repräsentativ und kostbar. Die Wände wurden
bis ins späte 19. Jahrhundert mit meist einheitlich “galerieroten“ Wandstoffen bespannt.99 Ergänzend
99 Bis vor etwa 100 Jahren wurde die Kunst in den Museen generell auf farbige Untergründe gehängt. Bezüglich des Leitersdes Frankfurter Städl um 1910 hieß es: „Altdeutsche Malerei und Niederländer hängte er auf Blau, Italiener auf leichtgemusterte, graue Tapete, französischen Impressionismus auf Braunrot und Expressionisten auf kräftige gelbe
26
konnten schwere Vorhänge und die Bilder betonende Draperien hinzukommen. Dabei waren die
Wandbespannungen oft kaum noch in ihrer Farbe und Ornamentik wahrnehmbar, da fast die gesamte
Hängefläche durch eine dichte Wand von Bildern verdeckt war.
Abb.3: David Teniers. Die Bildergalerie des Erzherzogs Abb. 4: Pietro Martini. Exposition au Salon du Louvre, 1787. Leopold Wilhelm von Österreich, ca. 1647.
Bis Ende des 19. Jahrhunderts wurde diese Hängepraxis auch in den Ausstellungen für
zeitgenössische Kunst angewandt. Potentiellen Käufern wurden etwa in den Salons riesige Mengen von
Gemälden gezeigt. Sogenannte “Decorateure“ bespielten die Wände in enger, mosaikartiger Hängung
mit Bildern, welche sie nach Themen und Formaten so anordneten, dass möglichst wenig Wandfläche
verschenkt wurde. Wer sich an einer solchen Wand zwischen unzähligen Bildern behaupten wollte,
musste versuchen, die anderen Akteure durch effektvolle, kalkulierte und verblüffende Elemente zu
übertrumpfen. Avantgarden wie Courbet, Manet und Gaugin verweigerten sich dieser Art von
Wettbewerb. Teilweise wurde ihnen der Zutritt zu den etablierten Ausstellungen verwehrt und selbst
wenn sie zugelassen wurden, so war die Präsentation für die Intention ihrer Arbeiten vollkommen
unangemessen. Sie schufen sich, um die eigene Position außerhalb des Museums mit größerem
Nachdruck präsentieren zu können, ihre Ausstellungsgelegenheiten selbst. Hierbei war vor allem die
Tatsache bemerkenswert, dass die Künstler zum ersten Mal die Präsentationsbedingungen für ihre
Bilder eigenhändig bestimmten. Ihre Hängungen selbst waren allerdings noch sehr der Tradition
verhaftet. So wurde beispielsweise der Rahmen als Grenze des Bildes nicht in Frage gestellt. Er war
neben der formalen Abgrenzung zur Wand gleichzeitig auch die natürliche Grenze der Bildkomposition,
die, nach den Regeln der Zentralperspektive konstruiert, ihr Zentrum in sich selber hatte. Gemälde
wurden als selbständige Einheiten gesehen, die zwar ideell, nicht aber räumlich über sich selbst
hinausweisen konnten. „Ausgehend von der Landschaftsmalerei, wo immer häufiger durchlaufende
Horizontlinien als dominierende Bildelemente auftauchten, kam es Ende des 19. Jahrhunderts zu neuen
Stoffbespannung.“ Joachimides, Alexis, Kuhrau, Sven, Vahrson, Viola und Bernau Nikolaus (Hrsg.).Museumsinszenierungen. Dresden, Basel, 1995. S.215
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Kompositionen, die einen optischen Druck auf den Rahmen ausübten und über diesen hinaus
drängten.“100 Dadurch entstand zwischen den Bildern eine Art “Abstoßung“, die ihre Trennung an der
Wand notwendig machte und den Rahmen als feste Größe in Frage stellte.101 Doch erst in dem
Moment, wo dem Auge innerhalb der Bildkomposition keine festen Haltepunkte mehr geboten wurden,
es also statt in die Tiefe zu den Rändern hin oder gar nicht mehr gelenkt wurde, verlor der Rahmen
seine Kraft. Dabei ging dem Bild mit dem Verlust der Autorität des Rahmens gleichzeitig auch das
“Bollwerk“ verloren, das es vor der Abstrahlung anderer in Nachbarschaft hängender Bilder geschützt
hatte. Da die Kunstwerke nun auf den sie umgebenden Raum als Resonanzboden angewiesen waren,
wurde auch die Hängung der Bilder für ihre Interpretation entscheidend und machte sie bis zu einem
gewissen Grad abhängig vom Verständnis derer, die sie zeigten. Ausstellungsmacher konnten durch
die Art der Präsentation plötzlich auf die Aussage und den Stellenwert des Kunstwerks Einfluss
nehmen, wobei immer auch die Gefahr bestand, dass die Vorstellungen des Vermittlers mit denen des
Künstlers in Konkurrenz treten konnte und die Inszenierungen mehr erdrückend und einengend wirken
als stützend und interpretierend.
Schließlich setzte sich international eine einheitliche Inszenierungsform in der musealen
Ausstellungspraxis durch. Es handelt sich dabei um eine puristische Ausstellungstechnik, die von Brian
O´Doherty 1976 in seinen programmatischen Texten als White Cube bezeichnet wird. Gemälde und
Skulpturen werden unabhängig von ihrer Herkunft oder dem Zeitraum ihrer Entstehung nach ein und
demselben Modell ausgestellt. Dieses Modell ist durch drei zentrale Merkmale gekennzeichnet: Erstens
eine strikte Beschränkung der Exponate im Verhältnis zur verfügbaren Ausstellungsfläche, wie sie sich
in der einreihigen Hängung von Gemälden und der aufgelockerten Gruppierung von Skulpturen äußert,
die durch weite Leerräume voneinander abgesetzt sind. Zweitens ein meist weißer oder hellfarbiger
Wandhintergrund, dessen vermeintliche Neutralität die Aufmerksamkeit des Betrachters auf die
Ausstellungsobjekte selbst konzentrieren soll. Drittens die Bevorzugung einer in ihrer Intensität
einheitlichen, diffusen Beleuchtung von oben, die durch lichtbrechende Techniken erzeugt wird welche
die natürlichen Schwankungen des Tageslichts ausgleichen.102 Diese Präsentationsform hat fast alle
älteren Stufen musealer Inszenierung so vollständig verdrängt, dass sie mittlerweile als die dem
Museum eigene Präsentationsform schlechthin gilt und ihre Ideologien beinahe unsichtbar geworden
sind.103 In seiner reduzierten Form steht der White Cube für die Vorstellung eines klaren, spurlosen,
100 O´Doherty, Brian. “Die weiße Zelle und ihre Vorgänger.“ In: Kemp, W. (Hrsg.). Inside the White Cube – In der weißenZelle. Berlin, 1996. S.16101 In einer 1960 im Museum of Modern Art in New York veranstalteten Monet-Ausstellung ließ der Kurator William C. Seitzdie Rahmung aller Bilder entfernen und machte durch deren direkte Hängung auf die Wand die enge Beziehung derGemälde zur Wand überraschend deutlich.102 Vgl. O´Doherty, Brian. “Die weiße Zelle und ihre Vorgänger.“ In: Kemp, W. (Hrsg.). Inside the White Cube – In der weißenZelle. Berlin, 1996.103 Zur Kritik der weißen Wand. Vgl. O´Doherty. Inside the White Cube. Notes on the Gallery Space. In: Artforum, März 1976,S. 24-30
28
gesichts- und geschichtslosen Raumes ohne eine vermittelnde oder ablenkende Erzählung. In jüngster
Zeit zeigen sich allerdings Trends in der Museumspraxis, welche dieses vorherrschende Modell durch
den Rückgriff auf ältere Phasen der Inszenierungsgeschichte und durch neue Experimente in Frage
stellen.
Abb. 5: Beispiel für die Präsentationsform im White Cube. Ausstellungsraum im Museum für neue Kunst Freiburg, 2007.
Mit der Gründung des öffentlichen Kunstmuseums veränderte sich jedoch nicht nur die Gestaltung des
umgebenden Museumsraums, sondern auch die inhaltlichen Beweggründe für bestimmte
Präsentationsweisen. Die Ablösung von den Gemäldegalerien der Fürstenhäuser und der Beginn des
Kunstmuseums als öffentliche Institution verwandelte deren Charakter von einer reinen
Repräsentationsstätte zu einer Bildungsstätte. Dabei hatte die Tatsache, dass ihnen zunehmend
gesellschaftliche und kulturpolitische Funktionen zugesprochen wurden, gravierende Auswirkungen für
die Präsentationsmodi der Museen. Die Kunstwerke wurden nun nicht mehr, wie bis dahin üblich, nach
rein dekorativen, repräsentativen oder Platz sparenden Kriterien angeordnet, sondern nach
kunstgeschichtlichen und wissenschaftlichen Aspekten untersucht, in Epochen, Stile und Schulen, die
sich aus der Manier der Meister ergaben, eingeteilt und in chronologischer Reihenfolge gehängt. Auf
diese Weise sollten durch die Hängung der Bilder Eigenarten der einzelnen Epochen aufgezeigt und die
Kunst in ihrer geschichtlichen Entwicklung für den Betrachter ablesbar werden. Erst in diesem Zuge
entwickelte sich auch die Kunstgeschichte als eigenständige Wissenschaft, die formale Eigenheiten von
Kunstwerken herausarbeitet und mittels einer neu entwickelten Terminologie allgemeingültig
beschreibbar macht. Somit waren die Kunstwerke auf einmal selbst Gegenstand einer systematischen
wissenschaftlichen Disziplin, welche jedoch bewusst nicht auf die in der Regel höchst komplexe
Sammlungs-Struktur der Museen einging. Wo immer möglich, wurde die Heterogenität der
Sammlungsbestände unterdrückt und versucht, das Material nach wissenschaftlich legitimierten
Kriterien zu ordnen und zu präsentieren. Denn nur auf diesem Wege erschien es möglich, die
Bedeutung des Gesammelten zu behaupten: indem es frei von Zufälligkeiten und persönlichen Bezügen
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als Beleg für einen mehr oder weniger abstrakten Kanon eingesetzt wurde.104 Die Objekte sollten
zusammen mit anderen eine geschlossene Oberfläche ausbilden und dem Besucher eine Gesamtschau
der Kunstgeschichte suggerieren. Raum für Entscheidungen bei Gestaltung und Präsentation boten
lediglich die Verteilung der Bilder auf die einzelnen Räume und ihre Anordnung an den Wänden. Dabei
war oft einfach nur ein harmonisches, symmetrisches Arrangement an der Wand Ausschlag gebend für
die Hängung der Bilder.105
Immer schon wurde die Fähigkeit von Museen und Ausstellungen auch dazu genutzt die Geschichte
und die Leistungen der eigenen Kultur möglichst positiv darzustellen und um politischen Meinung des
Betrachters eine bestimmte Richtung zu geben. Damit hatten beispielsweise die deutschen Museen
schon in der Kaiserzeit eine Rolle zu erfüllen, die ihnen 30 Jahre später unter der Herrschaft der
Nationalsozialisten in noch deutlicherer Form zufallen sollte. Als Volksbildungsstätten wurde ihre
Vermittlungsfunktion für reaktionäre deutschnationale Kulturpropaganda ausgenutzt, und sie leisteten
im Dienst der Politik an vielen Orten ihren Beitrag zur nationalstaatlichen Ideologisierung, indem sie
diesem eine kulturelle und historische Begründung und Identität gaben und propagandistisch nach
außen trugen.
Bereits seit dem Ende des 19. Jahrhunderts hatte es jedoch auch entgegen gesetzte Tendenzen im
Museumswesen gegeben, welche ausgehend von der Arbeit Alfred Lichtwarks für ein Museum
plädierten, das als umfassende Bildungsinstitution die Nationalpädagogik der Kaiserzeit hinter sich
lassen sollte. Die Kritik an den traditionellen Vermittlungsabsichten des Museums gipfelte in
Reformversuchen, welche ein autonomes Kunstmuseum für autonome Kunst forderten.106 Das
Museum sollte eine freie Institution werden, die den Betrachter und die Werke als solche ernst nimmt.
„Das Museum ist, allem voran, um seiner selbst willen da, es ist, wie alles Geistige, in erster Linie
zweckfrei, ja, seine beste Kraft liegt darin, dass es inmitten einer unnatürlich zweckvoll arbeitenden Welt
zweckfrei bleiben kann.“107
Nach dem Ende des zweiten Weltkriegs gelang es vielen Museen nicht, ihren Platz in einem
veränderten kulturellen, sozialen und politischen Umfeld selbständig und offensiv neu zu definieren. Die
Ursache der Identitätskrise lag auch darin, dass viele Kernideen, wie Nationalstaat, Imperialismus und
Fortschritt, die das Museum des 19. Jahrhunderts geprägt hatten, sich nun änderten oder
104 Im kunsthistorischen Museum hat sich bis heute an dieser historischen Praxis der Hängung nur wenig verändert. Es zeigtsich bei der Präsentation seiner Exponate recht einheitlich und festgelegt, indem es bei der Strukturierung derSchausammlung noch immer dem gegebenem Prinzip, nämlich der Hängung nach Epochen und Schulen folgt und dabeiinhaltliche Gesichtspunkte und Merkmale der einzelnen Exponate meist unbeachtet lässt.105 „Entscheidungskriterium für die Anordnung der Werke ist dann häufig auch deren Abmessung, d.h. deren Verhältnis vonHöhe zu Breite.“ Herles, Diethard. Das Museum und die Dinge. Wissenschaft, Präsentation, Pädagogik. Frankfurt a.M.,1996. S.130106 Das ästhetische Erlebnis des reinen Kunstwerks und die Vorstellung, dass Kunst einen eigenen Bereich menschlichenHandelns darstelle, lässt sich auf Kant und seinen Begriff des “interesselosen Wohlgefallens“ zurückführen. Diesen Begriffhatte der Philosoph Ende des 18. Jahrhunderts geprägt, um das ästhetische Urteil als eine eigenständige Kategoriemenschlichen Denkens zu umreißen. Interesselosigkeit bedeutet hier die Unabhängigkeit von jedem praktischen Bedürfnis.107 Scheffler, Karl. Der Berliner Museumskrieg. Berlin, 1921. S.108
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verschwanden. Als geschützte und immobile Hüter eines elitär-bürgerlichen Bildungs- und
Kulturbegriffes gerieten die Kunstmuseen zunehmend unter Beschuss. Das Museum wurde als
antiquiert, spießig und besucherfeindlich bezeichnet und als “Museumstempel“ beschimpft, der dem
gewünschten und geforderten Museum als “Lernort“ gegenüber stand. Aus dieser Kontroverse
entwickelten sich im Museum zahlreiche Diskurse und Diskussionen über das Ausstellungswesen. Das
Museum sollte sich künftig nicht mehr als ein elitärer Ort der Hochkultur sehen, sondern als ein Ort im
Gesamtsystem eines demokratischen Kultur- und Bildungswesens. Deshalb trat neben die klassischen
musealen Tätigkeiten des Sammelns, Bewahrens, Erforschens und Ausstellens nun auch der Begriff
des Vermittelns hinzu, und viele Museen gründeten in den siebziger und achtziger Jahren des 20.
Jahrhunderts museumspädagogische Abteilungen. Grund dieser Veränderung war auch die vermehrte
Beschäftigung mit der im Kunstsystem bis dahin oft vernachlässigten Kategorie des Publikums.108
Diese neue Untersuchungsperspektive wurde zuerst in der Literaturwissenschaft als
“Rezeptionstheorie”109 theoretisch formuliert. Übertragen auf das Kunstmuseum verlagerte sie den
Gesichtspunkt weg von der traditionellen Sammlungsgeschichte mit ihrem Versuch, überzeitliche
ästhetische Werturteile festzulegen, und forderte die Berücksichtigung der historischen Bedingtheit des
Geschmacks. Dies bedeutete beispielsweise, dass die Präferenzen einzelner musealer Sammler nun
als Ausdruck ihrer ästhetischen und politischen Intentionen verstanden werden konnten. Und erst unter
dem Gesichtspunkt der Kunstrezeption durch ein Publikum wurde es möglich, auch die Bildprogramme
der Ausstellungen und die Gestaltungsweisen der Museumsgebäude als Ausdruck solcher
ideologischer Interessenlagen zu verstehen. Neben die Geschichte des Geschmacks trat damit auch
der Wahrnehmungsrahmen, in dem Kunst präsentiert werden kann, verstärkt ins Blickfeld der
Untersuchung.
Heute befindet sich das Museum wieder an einem Wendepunkt. Wirft man einen Blick auf die neuere
Literatur zum Kunstmuseum zu Anfang des 21.Jahrhunderts zeigt es sich, dass die
Auseinandersetzung mit den Rahmenbedingungen und Methoden der Museumsarbeit eine prominente
Stellung einnimmt. Dabei lassen sich unterschiedliche Themenschwerpunkte wie “Museum und Neue
Medien“110, “Museumsarchitektur“ und besonders “Museum und Kommerz“ bzw. “Eventisierung des
Museums“ feststellen. Der Abbau von Schwellenängsten wurde vorangetrieben durch eine offene,
transparente Architektur und die Platzierung von Cafes an strategisch wichtigen Punkten, pädagogische
Angebote und Kinderfreundlichkeit. Auch mit solchen Maßnahmen ist es dem Kunstmuseum gelungen,
immer mehr Besucher anzulocken und ein steigendes Publikumsinteresse zu erlangen. Der Druck 108 Die Bedingungen, unter denen Kunst wahrgenommen wird, wurden von Vertreter der künstlerischen Avantgarde schonAnfang des 20.Jahunderts hinterfragt. Marcel Duchamp stellte beispielsweise die These auf, dass ein Werk von denjenigengemacht wird, die es betrachten und die es durch ihre Zustimmung oder Verwerfung überdauern lassen können.109 Vgl. Simon, Tina. Rezeptionstheorie: Einführungs- und Arbeitsbuch. Frankfurt am Main, 2003.110 Die künstlerischen Entwicklungen der Computer- und Medienkunst sind bei dieser Abhandlung ganz bewusstausgeklammert, obwohl deren Verhältnis zum Museum besonders brisant ist. Das Problemfeld, das hier jedoch aufgeworfenwürde, ist zu umfassend, als dass es im Rahmen dieser Untersuchung angemessen aufgearbeitet werden könnte.
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durch die wirtschaftlichen Gegebenheiten eines Kultur- und Freizeitmarktes hat dazu geführt, dass der
Begriff der Kundenorientierung sich auch in der Museumsszene etablieren konnte. Oft wird in diesem
Zusammenhang kritisch angemerkt, dass der Besucher im Umfeld der “Erlebnismuseologie“ mehr und
mehr als Konsument instrumentalisiert würde. Dadurch habe das Museum seinen früheren Charakter
als Ort des Verweilens und Studierens, der Kontemplation und Stille, der Ehrfurcht und Bewunderung
eingebüßt und wirke nun wie ein “Freizeitangebot” unter anderen.111
Dies wirkt sich natürlich auf die Präsentationsweise aus, wobei sich neuerdings interessanterweise eine
Verschiebung vom musealen Sammeln zum Zeigen ausmachen lässt. Die in den Museen theoretisch
begründete und praktisch umgesetzte Zweiteilung von Sammeln und Ausstellen scheint sich
aufzulösen, denn die beiden Bereiche nähern sich zunehmend an. Immer mehr Sammlungen werden
für Besucher geöffnet und mutieren so zu Ausstellungen, Schaudepots entstehen und
Sonderausstellungen und Erlebnismuseen haben so gut wie nie eine permanente Sammlung als
Basis.112 Ihr Erfolg lässt sich deshalb meist mehr auf die Inszenierung zurückführen, als auf die dort
gezeigten, originalen Objekte.113 Die Inszenierung einer Ausstellung wird heute mittlerweile auch von
den Besuchern sehr bewusst wahrgenommen und als Kriterium für eine gelungene Ausstellung
herangezogen. „Aus Ausstellungen sind häufig Schaustellungen geworden, die als Inszenierungen
unsere Ereigniskultur prägen.“114 Das Museum als Ort der Sammlung, die den Gang der
Universalgeschichte visualisieren soll, wird immer mehr von einem Museum als Ort für
Wechselausstellungen verdrängt, die wie Theaterstücke nur während einer gewissen Zeit aufgeführt
und dann abgebaut und aufgelöst werden. Solche Ausstellungen werden meist von Kuratoren
organisiert, die nicht mehr als besorgte Dienstleister agieren, sondern als eigenständige künstlerische
Leiter, welche – vergleichbar mit Intendanten oder Regisseuren – als Institution mit (Marken -) Namen
auftreten.115 Und jede größere, ambitionierte Ausstellung erhebt heute den Anspruch, einen alternativen
kunstgeschichtlichen Kontext zu schaffen. Somit werden diese Ausstellungen zu Museen auf Zeit, die
eine neue Präsentation der bekannten Bilder ermöglichen und diese durch einen anderen Kontext neu
sichtbar machen. Das gleiche könnte man auch für die vielen künstlerischen Installationen behaupten,
bei denen Künstler als Kuratoren fungieren, indem sie einzelne Objekte und Zeichen nach einer
111 Vgl. Weibel, Peter. “Zur Zukunft des Kunstmuseums. Museumstypen und Ausstellungen.“ In: Krämer, Harald und John,Hartmut (Hrsg.) Zum Bedeutungswandel der Kunstmuseen. Positionen und Visionen zu Inszenierung, Dokumentation,Vermittlung. Nürnberg, 1999.112 Die Vorstellung, dass Sammlungen permanent sein könnten, war eine Illusion des 19. Jahrhunderts, die auch mit demGlauben an Dauerhaftigkeit und Allmacht der Nationalstaaten gebunden war. “Obwohl die musealen Sammlungen dazukonzipiert sind, die Zeit zu überdauern ist das museale Sammeln dennoch ein Ereignis in der Zeit.“ Groys, Boris. Logik derSammlung. München, Wien, 1981. S.59113 Gleichwohl – oder gerade deshalb – wird die Inszenierung kritisch betrachtet.114 Ebd. S.23115 Beispielsweise Ausstellungsmacher wie Udo Kittelmann, Hans-Ulrich Obrist, Harald Szeemann und viele andere.
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subjektiven Logik ordnen.116 Diese Künstler und Kuratoren ziehen von einem Ort zum Anderen, um
ihren individuellen Umgang mit den Dingen zu demonstrieren. Ein Zusammentreffen von heterogenen
Gegenständen zur gleichen Zeit und am gleichen Ort kann zu Kunst werden und ist notwendigerweise
zeitlich begrenzt.117 „Der Akt der Präsentation wird zu einem Ereignis, das die ästhetischen Objekte erst
hervorbringt und die Bedeutung der Dinge erst im Dialog zwischen Zeigendem, Betrachter und
Gezeigtem erschließt.“118 Das Kunstwerk ist hierbei nicht mehr das Ding, das in beliebige Beziehungen
zu anderen Dingen gesetzt werden kann, sondern vielmehr das Ereignis des In-Beziehung-Setzens
selbst.119
116 Beispiele hierfür sind unter anderem Mark Dion, Fred Wilson, Karsten Bott und das Künstlermuseum im MuseumKunstpalast Düsseldorf von Bogomir Ecker und Thomas Huber.117 Wenn die Ausstellungen oder Installationen abgebaut werden, bleibt oft nur ein Katalog oder eine Videoaufzeichnungübrig. Die materiellen Ergebnisse oder auch Reste der Aktionen sind nicht das Ziel des künstlerischen Werkes sondernlediglich die materiale Spur des eigentlichen künstlerischen Prozesses.118 Bianchi, Paolo “Das neue Ausstellen“. In: Bianchi, Paolo (Hrsg.). Kunstforum International. Band 186, 2007. S.42119 „Die Fiktion vom schöpferischen Subjekt weicht der offenen Beschlagnahme, dem Zitat, dem Exzerpt, der Akkumulationund der Wiederholung schon vorhandener Bilder. Begriffe wie Originalität, Authentizität und Präsenz, die dem geordnetenDiskurs des Museums eigen sind, werden unterminiert.“ Crimp, Douglas. Über die Ruinen des Museums. Dresden, Basel,1996. S.80
33
3 Künstlerische Untersuchung musealer Inszenierungsformen
Es gibt verschiedene Gründe für mein Interesse an einer künstlerischen Auseinandersetzung mit
Repräsentations- und Inszenierungsformen im Museum. Zunächst einmal ist man als Kunststudent
immer auch Sammler der eigenen Arbeiten. Den Großteil meiner künstlerischen Produkte seit der
Schulzeit habe ich in Folien oder Mappen verpackt, in Schränken verstaut und bis heute aufbewahrt.
Richtig bewusst wurde mir dieser Umgang mit den eigenen Arbeiten jedoch erst während des
Kunststudiums, als ich mit meinen Bildern in fertigen und unfertigen Zuständen an die Öffentlichkeit von
Klassenbesprechungen und Ausstellungen treten musste. Hier war ich nicht mehr nur für die
Aufbewahrung und Ordnung, sondern auch für die Präsentation verantwortlich. Je nachdem, wem und
vor welchem Hintergrund ich die Arbeiten vorzeigte, habe ich die Struktur der Sammlung verändert.
Manchmal habe ich meine Arbeiten chronologisch geordnet, um die Entwicklung und Vorgeschichte
eines Projektes zu veranschaulichen, dann wieder Aufteilungen nach verschiedenen inhaltlichen
Strängen oder nach qualitativen Unterschieden vorgenommen.120 Als unumgängliche Vorraussetzung
jeder Präsentation musste ich eine Auswahl treffen und je nachdem, was ich zeigen wollte, erschienen
verschiedene Ordnungs- und Präsentationsmöglichkeiten adäquat.
Durch die Auseinandersetzung mit der Ordnung und Präsentation der eigenen Arbeiten wurde ich auch
für diese Vorgänge im Museum sensibilisiert. Zuvor hatte ich die Art der Darbietung bei meinen
Ausstellungsbesuchen meist einfach hingenommen ohne sie zu hinterfragen. Diese gedankenlose
Einstellung fiel mir auf, als ich ein und dasselbe Gemälde im Abstand von drei Jahren in zwei
unterschiedlichen Ausstellungen sah und bemerkte, wie anders es auf mich wirkte. Ich fragte mich, wie
sehr mein Eindruck dieses Bildes von ihm selbst bestimmt war und wie stark einige Aspekte erst durch
die Art der Präsentation hervorgehoben wurden. Ich begann, mich nicht mehr ausschließlich für den
Inhalt des Museums – die ausgestellten Bilder und Objekte – sondern auch für die Institution an sich zu
interessieren. Ich versuchte, ästhetische und konzeptuelle Aussagen zu finden, welche den
Ausstellungsprinzipien zugrunde liegen könnten. Ich fing an, über das Gebäude und die
Ausstellungsräume nachzudenken und darüber, dass oftmals bereits durch die Aufteilung in Hauptsäle,
Nebensäle und Kabinette, durch ihre Platzierung an Stirnseiten und Sichtachsen eine bewusste
Wertungsordnung der Ausstellungsgegenstände geschaffen wird. Dass die Zusammenstellung der
Objekte, ihre räumlichen Nachbarschaften, die Wandfarbe, die Art der Beleuchtung und der
Beschriftung, all diese zunächst nebensächlich erscheinenden Details eine Wirkung auf die inhaltliche
Interpretation haben. Und dass die jeweils gewählte Inszenierung damit vor jeder sprachlichen
Informationsübermittlung bereits die Wahrnehmung auf visueller Ebene strukturiert und den Betrachter
in seinem Rezeptionsverhalten beeinflusst. Mir wurde klar, dass die Inszenierung im Museum
alternativlos ist, weil es genau genommen keine “Nicht-Inszenierung“, sondern nur unterschiedliche 120 So gab es beispielsweise eine reduzierte Vorzeige-Mappe mit einem “best-of“ mehrerer Jahre.
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Arten von Inszenierung gibt. Auch die nüchternste Präsentation hat schließlich einen bestimmten
Präsentationsstil, nämlich Nüchternheit. Wirklich neutrale Präsentationen sind nicht vorstellbar, da auch
Sachlichkeit einer Werthaltung und Entscheidung entspringt.121 Somit konstruieren Museen immer
Perspektiven und Ordnung und verändern durch die Art der Präsentation nicht nur das
Erscheinungsbild, sondern auch die Aussage der Exponate.
Meiner Auffassung nach wohnt dem Umgang mit Bildern und Dingen allgemein eine Bedeutung
bildende Funktion inne, die in der museologischen Praxis besonders deutlich zutage tritt und sich in
deren evokativem Potential zeigt. Im heutigen Kunstdiskurs wird diese Tatsache von vielen Künstlern
aufgegriffen. Kunst wird heute immer häufiger mit dem Ziel produziert, gesammelt zu werden und wird
oft von Anfang an für öffentliche oder private Kollektionen geschaffen – möglicherweise sogar für einen
bestimmten Ausstellungsraum. Der Einbezug von Raum und Kontext, die Ortsbezogenheit von
Kunstwerken und die Betonung des Konzeptuellen und Prozesshaften in der Kunst sind kreative
Reaktionen auf konventionelle Inszenierungsformen und haben das Ausstellen in den letzten
Jahrzehnten stark verändert. Das Interesse an der Institution Museum, seinen Ordnungsmustern und
seinen Auswahlkriterien entspringt einem kritischen Umdenken, wobei sich zeitgenössische Kunst oft
selbstreflexiv im eigenen Kosmos der Verweise und Rückbezüge bewegt. Kunstwerke finden ihren Platz
als Reaktion auf andere Positionen und im Spiel mit den Grenzen des Kunstbegriffs. Daher wird die
Frage danach, was Kunst heute ist, nicht nur durch die zeitgenössische künstlerische Produktion selbst,
sondern auch durch die Praktiken des Kunstbetriebs und die immer noch vorhandene Definitionsmacht
des Museums als selektierende und inszenierende Institution gestellt. Die Wechselwirkungen sind
komplex. Museale Präsentationsformen haben Anstoß zu neuen künstlerischen Strategien gegeben
und ihrerseits auf Entwicklungen in der Kunst reagiert. Auch deshalb erscheint mir die künstlerische
Beschäftigung mit den Rahmenbedingungen unter denen Gegenstände zu Trophäen, Repräsentanten
einer Idee oder Kunst werden können als besonders spannendes Forschungs- und Betätigungsfeld. Im
Folgenden werde ich zwei der künstlerischen Arbeiten vorstellen, die im Zuge meiner Untersuchung von
Museen entstanden sind.
121 Für Welsch ist Sachlichkeit deshalb ebenfalls Manipulation – nur eben “(...) im Gewand der Objektivität.“ Welsch,Wolfgang. “Zur Aktualität ästhetischen Denkens.“ In: Rötzer, Florian (Hrsg.).Kunstforum International, Band 100, 1989. S.14
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3.1 Endgültig Vorläufig
Eigentlich habe ich schon immer gesammelt, geordnet und meine Schätze in den Regalen des Kinderzimmers
immer wieder neu arrangiert. Als etwa 10-jährige betrieb ich für einige Tage ein “Museum für Archäologische
Funde“, in welchem ich verrostete Metallstücke, Feuersteine und Tierknochen, die ich beim Spielen im Wald
gefunden hatte, auf mit schwarzem Stoff verkleideten Platten präsentierte. Das Nachahmen der
Präsentationsmethoden, die ich aus dem Museum kannte, ging so weit, dass ich die Exponate mit kleinen
Informationsschildchen versah. An der Zimmertür gab es eine Kasse, wo jeder Besucher eine Eintrittskarte
erstehen musste, bevor er den Raum betreten durfte. Und einige der Stücke waren in Kisten gelagert, mit Preisen
versehen und konnten käuflich erworben werden.
Im Zusammenleben mit Dingen und dem Aufheben und Wegwerfen von Stücken der Erinnerung
betreibt fast jeder eine Art persönliches Musealisieren. Mehr oder weniger bewusst wird überall
gesammelt, bewahrt, präsentiert und inszeniert. In meinem Fall sammelten sich in einer Kiste Bilder aus
Zeitungen an. Bei der Lektüre waren sie mir aufgefallen und ich wollte sie nicht mit dem Rest der
Zeitung dem Altpapier übergeben, sondern sie ausschneiden und aufbewahren. Dies war wohl auch ein
Versuch, mit der Flut an Bildern und Informationen fertig zu werden, die täglich an mir vorbeirauschen.
Das Ausschneiden und Aufheben der Zeitungsfotos, die ich immer wieder betrachten und zeigen
möchte, ermöglicht einen befriedigenden Umgang mit dem mich ansonsten überfordernden Produkt
Zeitung. Dabei war die Sammeltätigkeit erst einmal weder auf ein konkretes Ziel ausgerichtet noch im
Hinblick auf eine künstlerische Arbeit angelegt. Nach etwa einem Jahr nahm ich die ausgeschnittenen
Zeitungsfotos zum ersten Mal als Sammlung wahr und führte diese dann bewusst weiter. Man könnte
demnach von einem nachträglichen Anfang sprechen, denn das erste Stück meiner Sammlung war
nicht das erste Stück, das ich aktiv gesammelt habe. Im Laufe von mehr als fünf Jahren entstand eine
Sammlung, die mittlerweile etwa 700 Einzelbilder umfasst. Aus diesem Pool von Bildern habe ich
Bildkompositionen zusammengestellt und diese in unterschiedlichen Hängungen an der Wand als
Ausstellungen präsentiert.
Im Sammeln, Ordnen, Erforschen und Zeigen von Bildern habe ich dabei exemplarisch grundsätzliche
Tätigkeiten eines Museums nachgespielt. Bei der Suche nach einem besseren Verständnis der
Strukturen des Museums war es für mich hilfreich, genau jene Techniken einzusetzen, die auch von der
Institution selbst verwendet werden. Durch die Bündelung der Aktivitäten des Museums in meiner
Person konnten sich bestimmte Fragestellungen formen und zuspitzen.
Im Zusammenhang mit dem ersten Schritt – dem Prozess des Sammelns – müssen im Folgenden
sowohl die Implikationen der formalen Entscheidung für den Zeitungsausschnitt als Sammelobjekt, als
auch die Frage nach der inhaltlichen Entscheidung für die Aufnahme bestimmter Bilder in meine
Sammlung geklärt werden. Nach der Wahl des formalen und inhaltlichen Sammlungsgegenstands
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betrifft der zweite wichtige Schritt die Ordnung des gesammelten Materials. Denn eine Sammlung ist
nichts weiter als eine Anhäufung, solange sie nicht in irgendeiner Form gesichtet und sortiert wird. Die
Festlegung der Kriterien für die Ordnung ist wiederum von großer Bedeutung für den Umgang mit und
die Präsentation von den Sammlungsgegenständen. Der dritte Schritt betrifft die Erforschung der
einzelnen Bilder, welche deren unterschiedlichen Eigenschaften beleuchten, sie nach möglichen
verborgenen Bildaussagen abklopfen und damit bei der Suche nach Verbindungen zwischen den
einzelnen Bildern helfen soll. Schließlich entsteht durch die Zusammenstellung der Fotos ein
Bildensemble, welches als Ausstellung präsentiert wird. Neben der Auswahl, welche Bilder gezeigt
werden, muss auch eine Auseinandersetzung damit stattfinden, wie die Exponate ausgestellt werden.
3.1.1 Sammeln von Zeitungsbildern als künstlerischer Prozess
Die älteste Form des Sammelns ist das akkumulierende Sammeln aus ökonomischen Gründen, das
heute beispielsweise noch Pilzsammler umtreibt.122 Von dieser Art des Sammelns ist das Sammeln aus
ästhetischen Gründen zu unterscheiden. Das ökonomische Sammeln fasst das Eingesammelte
lediglich als etwas auf, das verkauft oder verzehrt werden soll. Dagegen bezweckt das ästhetische und
museale Sammeln die dauerhafte Anwesenheit und Verfügbarkeit des Gesammelten für den Blick des
Sammlers. Während das Interesse des ökonomisch-akkumulierend motivierten Sammlers speziell auf
die Ähnlichkeit gerichtet ist, achtet der ästhetisch oder museal Sammelnde auf die Abweichungen der
gesammelten Stücke von der Norm. Der Pilzsammler passt auf, dass alles Eingesammelte der
Kategorie “Pfifferling“ entspricht, während der Sammler von Nilpferdfiguren auf die Einzigartigkeit der
Sammlungsstücke Wert legt und Dopplungen möglichst vermeidet. Der eine will das Typische, der
andere die Variante. Ein weiteres wichtiges Merkmal ästhetischer Sammlungen ist, dass sie aus “(...)
unnützen Gegenständen, nämlich Kunstwerken oder alten Objekten, die im alltäglichen Leben keine
Funktion mehr erfüllen(...)“123 bestehen. Sie werden dem Verschleiß entzogen, aufgehoben und vor
Veränderung geschützt, damit sie als Andenken die Erinnerung an bestimmte Ereignisse, mit denen sie
verknüpft waren, wach halten oder heraufbeschwören können.
Auch Künstler haben zu allen Zeiten gesammelt. So waren die Sammlungen in den Wunderkammern
der Renaissance- und Barockfürsten, in ähnlicher Form auch in den Ateliers der Künstler zu finden. Sie
dienten sowohl als Inspirationsquelle wie auch als Vorratslager, in welchem Vorlagen gesammelt und
bei Bedarf entnommen werden konnten. Die Geschichte des künstlerischen Sammelns zeigt, dass es
sich im 20. Jahrhundert aus seiner der Kunstproduktion dienenden Rolle zu einer eigenen
Produktionsform entwickelte und zu einer selbständigen Gattung der Kunst wurde.124 Collagen,
122 Vgl. Sommer, Manfred. Sammeln. Ein philosophischer Versuch. Frankfurt a.M., 1999. S.49123 Klein, Alexander. Expositum. Zum Verhältnis von Ausstellung und Wirklichkeit. Bielefeld, 2004. S. 66124 Vgl. Grasskamp, Walter. “Künstler und andere Sammler“. In: Grasskamp, Walter (Hrsg.). Kunstforum International, Band32, 1979, S.35
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Assemblagen, Environments oder raumgreifende Installationen sind ohne vorhergehende
Sammeltätigkeit nicht möglich. Doch nicht allein die expandierende künstlerische Sammellust ist ein
Grund für die Entstehung so genannter Künstlermuseen. Tatsächlich wurde durch das künstlerische
Sammeln auch mit festgelegten Regeln gebrochen und die Museumsinstitution in Frage gestellt, welche
diese Traditionen als Maßstab im öffentlichen Bewusstsein verankert.125 Boris Groys zufolge galt der
Protest der Avantgarde nicht nur der Institution Museum als solcher, sondern auch dem exklusiven
Recht der Kuratoren, die Kunstgegenstände auszuwählen, zu sammeln und zu präsentieren.126 Seiner
Meinung nach wollten die Künstler der Avantgarde nicht bloß gesammelt werden, sie wollten selber
sammeln. Insofern findet zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein Wechsel statt: vom künstlerischen Objekt
als Sammlungsgegenstand zur Sammlung des Künstlers als Kunstwerk.127 Das Kunstwerk, vorher
Gegenstand von Sammlungen, war jetzt selbst eine Sammlung von Gegenständen. Der Künstler war
sowohl Sammler als auch Kurator, indem er Gegenstände wie ”objets trouvés” oder “ready-mades“
sammelte, sie zur Kunst erklärte und damit zu einer Expansion des musealen Systems beitrug.
Sammeln – der formale Aspekt
Auch wenn es eigenartig erscheinen mag, so hat der Zeitungsausschnitt eine eigene Geschichte und ist
ein relativ junges Objekt. Seine offizielle Geburt findet in Paris statt, wo 1879 das erste
Zeitungsausschnittsbüro L´argus de la Presse gegründet wurde, dem nach und nach zahlreiche
Dienstleister in aller Welt folgten.128 Dort wurden Zeitungen zum ersten Mal organisiert bearbeitet und
ihre einzelnen Artikel nach Stichworten für zahlende Kunden durchgesehen und ausgeschnitten.129
Zeitungen berichteten über Neuigkeiten aus aller Welt und waren “(...) Realitätssurrogate und
Kulminationspunkte, in denen die gleichzeitig stattfindende Wirklichkeit zusammenlief: politische
Ereignisse, neueste Erkenntnisse der Physik, Aktienkurse, Ausstellungsberichte, Anzeigen,
Rezensionen und Theaterkritiken.“130 Doch so wertvoll diese vielen Informationen auf den ersten Blick
erschienen, ihr auf den Tag hin ausgerichteter Aktualitätswert machte die Informationen der Zeitung des
Vortages am kommenden Morgen beinahe überflüssig. Diesem Bedeutungsverlust setzte das
Zerschneiden der Zeitung einen Verwertungsprozess entgegen. Aus der Zeitung von gestern – einem
an sich wertlosen Produkt – sollte Kapital geschlagen werden. Dabei wurde die Lektüre der Zeitung zu
einem arbeitsteiligen Prozess, in dem Stichworte verfolgt wurden und das ausgeschnittene und
organisierte Material zu einem neuen Textkörper zusammengefügt wurde. Mit Hilfe von Suchbegriffen
konnten Themenkomplexe gebildet werden, die es zwar nicht in der einzelnen Zeitung gab, die jedoch
125 In diesem Zuge lässt sich seit den 80er Jahren auch ein neues Interesse an den Kunst- und Wunderkammern feststellen.126 Vgl. Groys, Boris. Logik der Sammlung. München, Wien, 1997. S.55127 Marcel Duchamp schuf mit La bôite en valise (Die Schachtel im Koffer, 1935-41) sowohl ein Kunstwerk als auch einetragbare Sammlung, die Reproduktionen der “anderen“ Kunstwerke des Künstlers beinhaltet.128 Heesen, Anke te und Lutz, Petra (Hrsg). Dingwelten. Das Museum als Erkenntnisort. Köln, 2005. S.56129 Einer der Gründe für diese Entwicklung bestand darin, dass die Zeitung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zumMassenartikel wurde.130 Ebd. S.57
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in verschiedenen Ausgaben, Zeitungen, Regionen und Ländern verteilt existierten: „Alle Informationen
der letzten drei Jahre über Gummi und seine Herstellung, alles über den Fabrikanten Krupp, alles über
die Ermordung des serbischen Thronfolgers oder über Albert Einstein.“131
Im Gegensatz zu den Zeitungsausschnittsbüros des vorletzten Jahrhunderts suche ich aber keine
Artikel zu bestimmten Themen, sondern Bilder zu einem unbestimmten Thema. So kann ich wie ein
Flaneur die Zeitungen durchstreifen und werde, obwohl ich nicht gezielt danach suche, ganz von selbst
täglich mit neuen Bildern versorgt. Diese fallen mir eher zufällig in die Hände und fordern einen Umgang
mit ihrer gedruckten Existenz. Der erste Schritt ist es dann, das Bild aus der Zeitung
herauszuschneiden. Dabei fällt es aus dem vorgesehenen Ablauf heraus. Denn das ausgeschnittene
Bild stellt etwas im Fluss befindliches, sich täglich Erneuerndes fest, nimmt Bewegung und
Geschwindigkeit der Zeitung heraus und wird in eine objekthafte Stabilität überführt. Gleichzeitig findet
eine De-Anonymisierung statt, wobei die neue Autorenschaft in meiner Auswahl liegt und bereits der Akt
des Ausschneidens Teil des Herstellungsprozesses ist. Dadurch werden das Medium Zeitung und ich
als Benutzerin gleichermaßen transformiert. Aus dem Zeitungsfluss wird ein Objekt und aus der Leserin
eine Herstellerin. Der Zeitungsausschnitt trägt einen subversiven Charakter, da er die typischen
Zeitungs-Charakteristika von Fülle und Geschwindigkeit unterläuft. So betrachtet könnte man das
Ausschneiden aus der Zeitung als eine der “listenreichen Techniken“ des besonderen Konsums
bezeichnen, die Michel de Certeau in der Kunst des Handelns beschreibt: „Das Gegenstück zur
rationalisierten, expansiven, aber auch zentralisierten, lautstarken und spektakulären Produktion ist eine
andere Produktion, die als “Konsum“ bezeichnet wird. Diese ist listenreich und verstreut, aber sie breitet
sich überall aus, lautlos und fast unsichtbar, denn sie äußert sich nicht in eigenen Produkten, sondern in
der Umgangsweise mit den Produkten, die von einer herrschenden ökonomischen Ordnung
aufgezwungen werden.“132 So oft mein Ausschneiden auch in die Leere läuft und das Ausgeschnittene
nach einiger Zeit kommentarlos im Abfall versinkt – mit der Zeit entsteht doch eine Sammlung, in der
sich diese Kulturtechnik manifestiert.
Sammeln – der inhaltliche Aspekt
Bei der Auswahl der Fotos habe ich – außer der Entscheidung, ausschließlich Farbfotos zu sammeln –
keinen Vorsatz, wonach ich suche. Ob ein Bild ausgeschnitten und aufbewahrt wird, entscheidet sich im
jeweiligen Moment recht spontan, und es gibt eine große Anzahl an Bildern, die erst einmal
ausgeschnitten werden, dann aber nie den Sprung in die Sammlung oder in eine Ausstellung schaffen.
Im Gegensatz zu anderen ästhetischen Sammlungen (wie beispielsweise einer
Nilpferdfigurensammlung) verändert sich die Setzung, was ich interessant finde und somit sammle,
ständig. Es geht mir nicht um die Ausschöpfung eines Themenkreises oder darum, möglicht viele
131 Ebd. S.57132 Certeau, Michel de. Die Kunst des Handelns. Berlin, 1988. S.13
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Variationen von ein und derselben Sache anzuhäufen. Ich stelle auch keinen Anspruch auf
Vollständigkeit, die es bei einem nicht klar definierten und sich schwerpunktmäßig immer wieder
verlagernden Sammelgebiet auch gar nicht geben kann. Oft weiß ich beim Ausschneiden noch gar
nicht, was ich an einem Bild interessant finde – nur dass da irgendetwas ist. Ein Bild, das ich für
sammlungswürdig erkläre, ist nicht nur einfach da, sondern es repräsentiert etwas, steht für etwas,
weist auf etwas hin. Grundlage und Ausgangspunkt für mein Sammeln ist somit ein subjektiver
Sammlungswert, welcher nicht durch die Materialität oder einen monetären Wert der Bilder bestimmt ist,
sondern einzig und allein durch deren Eigenschaft, Träger von Bedeutungen zu sein. Letztendlich
geht es um die schwer in Worte zu fassende Energie und von mir gefühlte Intensität eines Bildes, wobei
oft gerade diejenigen Bilder, deren Wirkung auf mich ich anfangs nicht erklären und benennen kann,
über die erste Überraschung hinaus faszinierend und interessant bleiben. Bei diesen Bildern habe ich
oft das Gefühl, als ob das Bild mir von sich aus ins Auge springt und ausgeschnitten werden will.
Vielleicht ist es deshalb hilfreich, zu überlegen, wie sich ein Bild überhaupt bemerkbar macht und sich
mir aufdrängt. Nach dem Philosophen Manfred Sommer könnte dies folgendermaßen beschrieben
werden: Ein besonderes Bild kann ich nur als solches erkennen, wenn es sich im Verhältnis zu
seinesgleichen als wunderlich, sonderbar und kurios hervortut. Dies sind aber keine Eigenschaften, die
dem Bild an sich zukommen – sie erscheinen erst durch meinen Blick darauf so. „Wunderlich ist,
worüber ich mich wundere, sonderbar, was ich von anderem zu sondern weiß, kurios, was meine
Neugier weckt, seltsam, was mir selten begegnet.“133 Trotzdem muss natürlich beides
zusammenkommen. Die speziellen Eigenschaften eines Bildes auf der einen und meine
Empfänglichkeit dafür auf der anderen Seite. Nur ein Bild, das bereits an sich anders ist als die
anderen, kann auch von mir als auffällig, wunderlich oder sonderbar wahrgenommen werden. Doch
nicht alles Ungleiche ist so prägnant, dass es sich abhebt, dass es auffällt und hervorsticht. “Wie stark
es sich von den übrigen Mitgliedern seiner Gruppe unterscheiden, wie sehr es von ihnen abweichen
muss, um uns deshalb aufzufallen, hängt wiederum ab von unserer subjektiven Disposition. Wann und
mit welcher Intensität wir auf welche Unterschiede ansprechen, ist sicherlich auch historisch, kulturell
und individuell variabel.“134 Betrachter sind für objektive Unterschiede verschieden empfindlich und es
gibt sicherlich eine breite Zone des Übergangs, in welcher das, was dem einen als sonderbar,
ungewöhnlich und aufregend gilt, von einem anderen noch für das Normale, Übliche und Langweilige
gehalten wird.
Ich habe die Erfahrung gemacht, dass durch das Sammeln eine Sensibilisierung stattfindet. Mein Fokus
auf die Welt wird in eine bestimmte Richtung gelenkt und mir fallen mit der Zeit immer mehr Bilder auf.
Die Menge an potentiell “sammelnswertem“ Material, an Bildern, die auf irgendwelchen Ebenen mit
133 Sommer, Manfred. Sammeln. Ein philosophischer Versuch. Frankfurt a.M. 1999. S.55134 Ebd. S.55
40
bereits gesammelten in Beziehung stehen, wird immer größer und irgendwann fast etwas unheimlich.
Ständig tun sich neue Gebiete auf, welche mit den vorherigen Themen verknüpft werden könnten. Um
in dieser Situation einen produktiven Umgang mit der unübersichtlichen Bildermasse zu entwickeln, war
die Beschäftigung mit Ordnungssystemen eine logische Konsequenz.
3.1.2 Ordnen der Sammlung
Man muss sich bewusst sein, dass die Ordnungskriterien und Klassifikationen immer auch das Wissen
und die Erkenntnis, die man aus Sammlungen gewinnen kann, beeinflussen und bestimmen.135 Dass
Ordnung und Rezeption einer Sammlung zu einem nicht geringen Teil voneinander abhängig sind,
wurde bereits an den Inszenierungsformen der Kunst- und Wunderkammern und der
Museumsinstitutionen seit dem 19. Jahrhundert gezeigt. Als weiteres Beispiel können öffentliche
Bibliotheken genannt werden, die ihre Literatur nach such-relevanten Kriterien wie Thema, Titel, Genre
oder Autor ordnen. Eine Bibliothek muss entsprechend dieser Fragen oder Anforderungen des Nutzers
aufgebaut sein. Es wäre sinnlos, die Bücher beispielsweise nach der Farbe ihres Umschlages zu
ordnen. Das Prinzip der Kategorisierung muss also mögliche Abrufkriterien antizipieren, um die
Sammlung zugänglich zu machen. Im Gegensatz zu solchen wissenschaftlichen zweck- und
themengebundenen Sammlungen, die nach vorgeschriebenen Gesetzen angelegt werden, kann ich bei
meiner Sammlung selbst bestimmen, welche Kriterien Ausschlag gebend für die Gruppierungen sein
sollen und diese, wenn nötig, auch wieder ändern. Doch auch wenn bei meiner Sammlung einzig meine
persönlichen Anforderungen an eine Ordnungsstruktur als relevant zu beachten sind, so geht es auch
hier um Such- und Findekriterien. Denn um mir das gesammelte Material anzueignen, mit ihm
umgehen, arbeiten und spielen zu können, muss ich die Sammlung in irgendeiner Form verwalten.
Deshalb sind Prinzipien, nach denen öffentliche Archive wie etwa Bibliotheken funktionieren,
interessante Referenzen und die Auseinandersetzung mit gängigen Ordnungs- und
Kategorisierungskriterien ein wichtiger Schritt für die Nutzbarmachung meiner eigenen Sammlung. Die
Schwierigkeit besteht darin, unter den verschiedenen Ordnungsmöglichkeiten die passende
auszuwählen.
Meine anfänglichen Versuche, die Bilder in Kategorien mit Untergruppen einzuteilen, waren im
Rückblick von Anfang an zum Scheitern verurteilt. Das Problem bestand darin, dass der Großteil der
Bilder auch bei den von mir selbst bestimmten Kriterien nicht eindeutig einer einzigen Kategorie
zugeordnet werden konnten. Einige Bilder lagen in einer Grauzone des Übergangs, da sie nicht
135 Die gewonnenen Erkenntnisse formen dann wiederum gesellschaftliche Maßstäbe, Werte und Moralvorstellungen,welche meist schwieriger zu revidieren sind als die Ordnung, auf deren Basis sich dieses Wertesystem entwickelte.Möglichkeiten, Maßstäbe zu ändern, mit Traditionen zu brechen und allzu gesicherte Festschreibungen zu lockern, bestehenalso folglich sowohl in der Neuordnung der Dinge innerhalb einer Sammlung, die dieses Wertesystem bestimmen, als auchin der Auswahl und Präsentation von solchen Objekten, die bis dahin als nicht “erkenntnisableitend” galten.
41
aufgrund des gegenständlich abgebildeten Referenten, sondern beispielsweise aufgrund der
Atmosphäre oder eines bestimmten Farbtons im Bild aufgenommen wurden und es für diese Qualität
keine eigene Kategorie gab. Darüber hinaus waren manche Bilder auch nur im Zusammenhang mit
anderen Bildern von Bedeutung und konnten somit keiner Kategorie, sondern nur einem einzelnen
anderen Bild zugeordnet werden. Dann gab es wiederum den Fall, dass Bilder unterschiedlichen
Gruppen gleichzeitig zugeordnet werden konnten.136 Dasselbe Bild kann – aus verschiedenen
Fragestellungen und Perspektiven heraus betrachtet – ganz unterschiedlichen Gruppen angehören.
Und genau jene Bilder, die sich auch nach langer Such- und Sortierarbeit der Zuordnung zu einer
Kategorie verweigerten und ungeklärt blieben, waren meistens diejenigen Einzelbilder, die mich auf
Dauer am meisten interessierten. Dass Bilder sich keiner oder gleich mehreren Kategorien zuordnen
lassen, ist ein typisches Archivarsproblem und war solange, wie ich mit den “Original-Ausschnitten“
arbeitete, für mich beinahe unlösbar. Als Konsequenz hätte ich solche Bilder eigentlich kopieren und an
unterschiedlichen Orten ablegen müssen.
Dies war der Anlass, nach etwas über drei Jahren Sammeltätigkeit meine Bilder zu sichten, eine
Auswahl einzuscannen und digital zu speichern. In diesem Zuge löste ich auch die gescheiterte
Gruppierung nach Kriterien auf. Stattdessen versah ich alle eingescannten Bilder mit einem Titel und
ordnete sie alphabetisch an. Dabei verzichtete ich bewusst auf eine übergeordnete Kategorisierung, da
mich die Einordnung der Bilder in getrennte Gruppen möglicherweise davon abgehalten hätte,
Parallelen in Bildern unterschiedlichen inhaltlichen Themas zu entdecken. Die Titel der Bilder sind eine
Mischung aus dem, was sie abbilden, und meinen Assoziationen zum Bild. So ergeben sich Bildtitel, die
von “Aquafitness für Hunde“ über “Bild vorm Kopf “ bis zu “Idyllische Atomkraft“, “Mordopfermasken“
und “Neandertaler zum Verlieben“ reichen. Dieses System funktioniert bei einer übersichtlichen
Sammlung von bisher nicht mehr als 700 Bildern recht gut, und ich bin in der Lage, alle Bilder
gedanklich ihren Titeln zuzuordnen und somit gezielt danach suchen zu können. Durch die
alphabetische Ordnung bleibt die Zusammenstellung der Objekte neutral und unverbindlich.137 Die
Gleichwertigkeit der gesammelten Bilder, unabhängig davon, was sie in der Zeitung einmal illustrieren
sollten, macht bis dahin gewohnte Wertzuschreibungen fragwürdig und die Grenze zwischen
bedeutsam und trivial, kostbar und wertlos fließend.
Die von mir gesammelten Zeitungsbilder sind Fotos, welche als industrielle Massenware in
tausendfacher Reproduktion gedruckt und unter die Leute gebracht werden. Unter diesem Aspekt
betrachtet, stellt sich die Frage nach dem Begriff des Originals.138 Dieser geriet durch die Erfindung
136 So kam es beispielsweise vor, dass ein Bild sowohl der Kategorie T 5 (T für Tiere und 5 für Zootiere) zugeordnet war undgleichzeitig in die Kategorie I 3 (I für Inszenierungen und 3 für Bühnenbilder) gehörte.137 In manchen Fällen brachte das unübliche Nebeneinander durch zufällige Nachbarschaften sogar neue Bildkombinationenhervor, die höchst assoziativ waren und neue Erkenntnisse, Schlussfolgerungen und Empfindungen evozierten.138 Der Begriff Original wurde im vorindustriellen Zeitalter als handwerklicher, technischer Begriff definiert. Dieserbezeichnete ein Werk, welches nur einmal existiert und nur einmal von einem einzigen Hersteller produziert wurde. (Doch
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des Fotoapparats, der Bilder relativ selbständig und darüber hinaus in unendlich vielen Exemplaren
herstellen konnte, ins Wanken. „Die Krise des Originalbegriffs war zunächst eine Krise des
handwerklichen Originalbegriffs des Objekts und damit verbunden die Transformation des
Schöpferbegriffs von einem handwerklichen Hersteller zu einem geistigen Urheber.“139 Mit der
Fotografie wurde ein Medium geschaffen, das nicht nur Variation und Vervielfältigung ermöglicht,
sondern im Grund genommen gar kein Original kennt.140 Ein Foto konnte zwar noch ästhetisch
einzigartig sein, aber nicht mehr technisch. Durch das Ausschneiden wird das Serienprodukt
Zeitungsbild zunächst in einen objekthaften Zeitungsausschnitt verwandelt. Aus einem Warenprozess
stammend und doch nicht seinen Gesetzen unterliegend, steht das ausgeschnittene Zeitungsbild
zwischen Medium und Objekt, Reproduktion und Einmaligkeit, zwischen Ware, Abfall und Kunst. Durch
das Scannen werden die objekthaften Zeitungsausschnitte dann jedoch wieder in reine Abbilder
zurückverwandelt. Dabei ist es mir trotz der Digitalisierung wichtig, dass auf den eingescannten und
wieder ausgedruckten Fotos immer noch deutlich deren Herkunft aus der Zeitung zu sehen ist.
Teilweise bleiben die Bilder deshalb stark gerastert, grobkörnig, fast unscharf und Knicke im Papier
sowie die durchscheinende Schrift der Rückseite werden absichtlich nicht retuschiert.
Dennoch verändern sich durch die Digitalisierung die Präsentationsmöglichkeiten gravierend. Viele
Zeitungsausschnitte hätten in der Originalgröße für Ausstellungen einfach nicht verwendet werden
können, da sie zu klein gewesen wären, um eine hinreichende Präsenz im Raum zu entwickeln. Durch
die “Befreiung vom Originalzeitungsausschnitt“ eröffnet sich mir ein größerer Handlungsspielraum im
Umgang mit den Bildern. Es ergibt sich die Möglichkeit, Ausschnitte zu verwenden, Bilder zu vergrößern
oder zu verkleinern und zu spiegeln. So können die Bilder besser aufeinander abgestimmt und flexibler
miteinander kombiniert werden. Durch die Überführung in ein anderes Medium wird darüber hinaus
noch eine weitere Beweglichkeit erreicht, denn die Digitalisierung erlaubt es, die Verkettungen im
symbolischen Raum des Computers auszuprobieren, bevor diese dann im realen Raum materialisert
werden. Am Computer kann ich die Fotos auf dem Bildschirm probeweise zu Gruppen
zusammenstellen, die Ausschnitte und Größen verändern und unterschiedliche Verkettungen und
Verbindungen austesten.141
So habe ich mir durch die Digitalisierung der Bildersammlung ein fiktives Museum aufgebaut.142 Dies
ist durch die Möglichkeiten des medialen Sammelns mit seinen technischen Methoden der Speicherung,
denkt man beispielsweise an die kollektiven Produktionen in den Malerwerkstätten wurde die Frage nach der Autorenschaftauch damals schon recht milde beurteilt).139 Weibel, Peter. “Digitale Doubles“. In: Iglhaut, Stefan, Rötzer, Florian und Schweeger, Elisabeth (Hrsg.). Illusion undSimulation – Begegnung mit der Realität. Ostfildern, 1995. S.193140 Denn schließlich gibt es nur ein Negativ als Original, von dem für die Präsentation positive Abzüge in unterschiedlichenGrößen und Variationen gemacht werden können. Die Zahl der Fotos kann zwar willkürlich durch eine limitierte Auflagebegrenzt werden, aber letztendlich ist das Negativ zwar nicht das Werk selber, aber immerhin der Ursprung des Werks.141 Siehe Bildensemble auf S.49142Schon André Malreaux erschuf 1947 in seinem Buch Das imaginäre Museum eine hypothetische Situation in der sich derphysische Körper des Museums auflösen und durch vervielfältigte Fotografien ersetzt würde. Die Kunstbilder in diesem
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Vervielfältigung und Übertragung von Bildern möglich geworden. Im Computer können die Bilder Platz
sparend bewahrt, bequem erreicht und schnell verknüpft werden.143 Durch die Reproduktion kann die
Zusammenstellung experimentell gewechselt werden und Bilder, die im Realraum entfernt voneinander
sind, können einander gegenüber gestellt werden. Dennoch bleibt eine Ambivalenz bestehen, welche
deutlich wird, sobald man eine Gewinn- und Verlustrechnung aufmacht. Der Gewinn besteht in der
offenbaren Leistungssteigerung des Speichersystems, dessen Kapazität ständig gewachsen ist. Doch
dieser Vorteil geht mit einer zunehmenden Entsinnlichung des Inhaltes einher. Um bei steigender
Anzahl schnell zugänglich zu sein, müssen die Daten immer einfacher und abstrakter werden und die
Wahrnehmung muss an einen technischen Prozess gebunden werden. Dies bringt das museale System
der Wertschöpfung, das sich am künstlerischen Unikat ausgebildet hat, durcheinander und stellt
Bedeutung und Funktion tradierter Aufgabenbereiche des Kunstmuseums wie Dokumentation,
Inszenierung und Vermittlung in Frage. Obwohl ich nicht glaube, dass sich das museale Sammeln und
Ausstellen durch digitale Formen wird vollständig ersetzen lassen würde, so kann es doch mit diesen
Formen bespielt und besprochen werden.
3.1.3 Forschen: Zum Finden von Bildkombinationen
Susan Sontag schreibt, „Fotografieren bedeutet die Welt sammeln“144, und da wohl alles in der Welt
Existierende auf Fotografien in einem Archiv oder an unbestimmten Orten abgelegt ist, reizen Fotos
besonders dazu, sie vergleichend zu betrachten. Mehr als viele andere Medien werfen sie stets die
Frage nach ihrer Einordnung in den Gesamtzusammenhang auf. Es gibt kaum ein Motiv, das nicht als
Zitat einer Anzahl ähnlicher Bilder funktioniert und dabei das Allgemeine im Einzelbild und das
Individuelle im Vertrauten evoziert.
Erst wenn sich das Bildmaterial für eine Sonderausstellung in meiner Sammlung zu sättigen beginnt,
wenn ich also eine gewisse Anzahl von Bildern mit einem gefühlten Zusammenhalt gefunden habe,
konzentriere ich mich auf die Einzelteile eines solchen Komplexes. Meist finden sich in diesen
Ensembles vor allem Bilder, die mehrdeutige Aussagen in sich tragen oder Grenzbereiche streifen.
Bilder, die mich überraschen, mich stutzen und zweimal hinsehen lassen. Viele haben etwas
Humorvolles, Kurioses, Tragisches oder Erzählendes, sie haben eine seltsame Atmosphäre, wirken
imaginären Museum standen bereits am Übergang ins Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit, wie von WalterBenjamin in seinem berühmten Aufsatz formuliert. „Denn ein imaginäres Museum, wie es noch niemals da war, hat seinePforten aufgetan: es wird die Intellektualisierung, wie sie durch die unvollständige Gegenüberstellung der Kunstwerke in denwirklichen Museen begann, zum Äußersten treiben.“ Malreaux. André. Das imaginäre Museum. Frankfurt a.M., New York,1987, S.12143 Die Folgen für die Sicherung der kulturellen Kontinuität sind immens, obgleich sie noch nicht in ihrer ganzen Tragweitesichtbar sind. Die dafür nötigen Festplatten sind schon erfunden, aber das kulturelle Wissen muss erst digital gespeichertwerden. Irgendwann werden nicht nur Lexika, Wörterbücher und Expertensysteme, sondern ganze Bibliotheken indigitalisierter Form zur Verfügung stehen. Und Bilddatenbanken, wie etwa Corbis von Bill Gates, besitzen schon heute dieReproduktionsrechte für ganze Museumssammlungen.144 Sonntag, Susan. Über Fotografie. Frankfurt a. M., 2000. S.9
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merkwürdig konstruiert oder tragen einen inhärenten Bildwitz in sich. Dies kann in den Bildern selbst
bereits enthalten sein – in ihrer äußeren Form wie beispielsweise einem eigenartigen Bildaufbau, einer
seltsamen Farbigkeit oder natürlich auch in dem, was sie inhaltlich abbilden. Die Absurdität kann aber
auch aus dem Fehlen der erklärenden Bildunterschrift resultieren oder sich erst in der Kombination
zweier oder mehrerer Bilder ergeben.
Um diese Bildqualitäten heraus zu kristallisieren, schaue ich mir die Auswahl von Bildern immer wieder
an und versuche möglichst viele Nuancen in ihnen zu entdecken.145 Um den Prozess des
kennenlernens intensiv voran zu treiben, strapaziere ich meine Empfindsamkeit auf möglichst vielen
Ebenen: Ich bemühe mich, aus verschiedenen Blickwinkeln Bildbotschaften abzufragen und zu
erkennen, versuche in das Bild hineinzugehen, in alle möglichen Richtungen zu schauen und das Foto
in meinem Kopf mit anderen Bildern zu vergleichen. So erinnere ich mich beim Betrachten eines Bildes
beispielsweise daran, dass irgendwo ein ähnlich konfuses Übereinander von Linien abgebildet war,
dass ein weiteres Bild Unsicherheiten im Bezug auf die Authentizität und die Inszeniertheit des Fotos in
mir ausgelöst hat oder die dargestellte Situation keinem plausiblen Sinn zu folgen schien.
Ich versuche in der Menge der Bilder Ordnungen zu finden. Und wenn diese nicht offensichtlich zu
erkennen sind, finde ich unweigerlich in dem vermeintlich schwer Durchschaubaren plötzlich doch
wieder Strukturen, welche dann eben assoziativ “um mehrere Ecken gedacht“ sind. Erst wenn ich
solche Verbindungen gefunden habe, stellt sich bei der Betrachtung eine Befriedigung ein. Ich habe
dann das Gefühl einen Gedanken “berührt“ zu haben.
Meine Suche nach Mustern, verborgenen Hinweisen, nach auf den ersten Blick Unbekanntem, nach
Gemeinsamkeiten und Gegensätzen ist eine Form des interpretierenden Schauens und findet auf
verschiedenen Ebenen statt. Die zwei wichtigsten Aspekte bei der Untersuchung und Kombinatorik der
Bilder bestehen in der inhaltlichen Bedeutungsvielfalt und in formalen Ähnlichkeiten. Meine
Vorgehensweise beginnt bei der Überprüfung der inhaltlichen Ebene eines Bildes. Ich suche nach
Verbindungen, Weiterführungen, Gegenüberstellungen oder ironischen Kommentaren zu anderen
Bildern. Dies kann in Form eines direkten Zitats, einer Parodie oder einer versteckten Anspielung
geschehen. Inhaltliche Verbindungen können darin bestehen, dass die Motive der Bilder sich ähneln
(beispielsweise Menschen, die etwas zeigen) oder dass ein Bild auf ein anderes antwortet (wenn
beispielsweise auf einem Bild ein Jäger mit angelegter Flinte und auf einem benachbarten Bild ein totes
Tier zu sehen ist). Neben der inhaltlichen Komponente, welche allein die abgebildete Situation umfasst,
untersuche ich auch, welchen Eindruck ein Bild als Gesamtes macht. Ob es Interesse und Faszination
145 Ich betreibe das Sammeln und Erforschen der Zeitungsbilder neben anderen Projekten und lasse den Bildern Zeit, sich inmeinem Kopf zu setzen. Nach dem intensiven kennenlernen der Bilder ist es notwendig, sich wieder von ihnen zu lösen undeine gewisse Distanz zu gewinnen. Denn sonst besteht die Gefahr, dass ich durch mein Vorwissen und die “enge Bindung“zu den Bildern festgefahren bin und deshalb neue und andere Beziehungen nicht erkennen kann. Oder dass ichZusammenhänge erfinde, die für einen Betrachter, der die Bilder zum ersten Mal und für nur wenige Minuten sieht,vollkommen unverständlich sind.
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auslöst oder ich es eher als neutral oder sogar unangenehm empfinde. Dieser Eindruck beruht neben
der inhaltlichen Komponente auf meinem impliziten Vorwissen und auf – teilweise sehr subtilen –
visuellen Informationen. Dabei spielt es eine Rolle, ob das Foto konstruiert und inszeniert oder eher wie
ein flüchtiger Schnappschuss aussieht. Und auch bezüglich der strukturellen und formalen Ebene
achte ich auf Gemeinsamkeiten und Unterschiede in den Bildern. Ich frage mich beispielsweise, ob es
eine auffällige Farbigkeit gibt und ob sich diese kontrastierend oder analog zu der des benachbarten
Bildes verhält, ob warme oder kalte Farben überwiegen, ob das Bild eher hell oder eher düster wirkt.
Für eine gelingende Zusammenstellung ist es darüber hinaus auch wichtig, den Bildaufbau der
einzelnen Fotos zu untersuchen.146 Ich versuche mir über meine Wahrnehmung bewusst zu werden und
über die Erkenntnisvorgänge Rechenschaft abzulegen. Das spontane, unbewusste, automatische
Reagieren, welches mich ein Bild aus der Zeitung ausschneiden lässt, wird hier einen Schritt weiter
getrieben.
Meine Absichten, Vorstellungen, Wünsche und Hoffnungen werden bei der Zusammenstellung einer
Auswahl von Bildern für eine Sonderausstellung schärfer befragt und beeinflussen dann auch die
jeweilige Anordnung. Im Bildgewebe strebe ich eine Verknüpfung von Einheit und Vielfalt an, von
Angleichung und Opposition, von Wiederholung und Unterscheidung.147 Die verschiedenen
Bedeutungsebenen sind im Bild wie semiotische Schichten übereinander oder nebeneinander gelagert
und in jeder dieser Schichten besteht die Möglichkeit, Beziehungen zu anderen Bildern zu generieren.
Durch das Zusammenbringen und Anordnen von Zeichen und Energien werden einige der bereits in
den Bildern bestehenden Ähnlichkeiten in den Vordergrund gerückt, wobei andere Qualitäten eher in
den Hintergrund treten. Ich stelle mir die Bildkompositionen wie visuelle Metaphern vor, bei denen zwar
teilweise die eigentliche Bedeutung noch durchscheint, die Kombination mit einem anderen Bild aber
eine neue Sichtweise anregt. Möglicherweise sind die Analogien zwischen bestimmten Bildern vorher
gar nicht vorhanden oder zumindest nicht sichtbar und werden erst durch die benachbarte Position der
Bilder geschaffen. Die tatsächliche Hängung und Präsentation der Bilder im Ausstellungskontext
verfestigt deren gegenseitige Verbindungen, auch wenn die Bildkombinationen zunächst
unwahrscheinlich und überraschend erscheinen. Durch die Präsentation einer Gruppe von Bildern als
Ensemble wird von mir die Behauptung eines Zusammenhanges aufgestellt. Damit fügt sich jedes
Bildensemble letztendlich zu einem neuen Bild zusammen, das mehr beinhaltet als die Summe seiner
Teile.
Anhand eines konkreten Bildes werde ich im Folgenden versuchen, meine Entscheidung für bestimmte
Bildkombinationen exemplarisch aufzuzeigen: Ich habe das Zeitungsfoto vor etwa 2 Jahren gefunden 146 Ich schaue beispielsweise nach Bewegungsrichtungen und Formen im Bild, frage mich ob Ordnung oder Unordnungherrscht, ob es ruhig oder bewegt erscheint, sie das Verhältnis zwischen Farbe, Linie und Fläche wirkt und ob dabeiGrößenverhältnisse, Anordnung und Relation harmonisch zueinander stehen.147 Zwischen den einzelnen Bildern gibt es offenere und geschlossenere Verbindungen, offensichtliche und geheimnisvolle,alberne, kluge, kitschige, abstrakte, theoretische und sinnliche Gründe für die jeweilige Kombination.
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und es unter dem Titel Bild vorm Kopf gescannt und gespeichert. Das Bild ist in zwei Bereiche
unterteilt. Das untere Viertel wird von einem hellen Parkettboden eingenommen, die obere Fläche,
welche etwa drei Viertel des Bildes einnimmt, zeigt eine dunkelrote Wand. Davor stehen vier Personen,
die fast die gesamte Höhe und Breite des Bildes einnehmen. Jede der Personen hält ein gerahmtes Bild
vor sich, so dass die Köpfe und die Oberkörper der Zeigenden davon verdeckt sind. Nur die Hände der
Personen, welche die Bilder vor sich halten, sind an den Seiten der Rahmen zu sehen und unter den
Bildern ragen die Unterkörper hervor. Das Geschlecht der Personen kann anhand der Bekleidung – ein
Anzug mit Krawatte und drei Kostüm-Röcke – bestimmt werden. Die vorgezeigten Gemälde sind in
opulente goldene Rahmen gefasst. Die drei rechten Bilder zeigen Stadtlandschaften, das linke eine
einzelne Figur. Alle vier Gemälde sind sehr hell und weisen eine zurückgenommene Farbigkeit in
hellem braun, grau, beige und etwas schwarz auf.
Was mich dazu bewegte, dieses Foto aus der Zeitung zu schneiden, ist die Absurdität der dargestellten
Situation. Eine eindeutige Zuschreibung bezüglich der Intention des Fotografen lässt sich nicht auf
Anhieb ableiten. Es könnte sich genauso gut um ein dokumentarisches Foto wie um eine künstlerische
Fotografie handeln. Die Verwunderung über die Abbildung entsteht durch deren Ablösung von der
Belanglosigkeit des die A(u)ktion beschreibenden Zeitungsartikels. Dies löst eine gewisse Unsicherheit
darüber aus, was das Bild eigentlich repräsentiert. Und es stellen sich Fragen, die dem Zeitungsleser
beim flüchtigen Blättern im Wirtschafts- oder Feuilletonteil der Zeitung wohl erst gar nicht gekommen
wären. So seltsam die Handlung im Bild erscheinen mag – die Vermutung, dass sich die Präsentation
der Bilder im Zuge einer Verkaufsaktion bzw. Gemäldeversteigerung abspielt, liegt relativ nahe. Ein
Auktionshaus ist ein Ort, an dem Kunstwerke für kurze Zeit zusammenkommen, die nichts gemeinsam
haben, außer der Tatsache, dass sie verkäuflich sind. Weder Stilrichtung, Format, Technik,
kunsthistorische Bedeutung, Wert noch inhaltliche Aspekte stehen in einem Zusammenhang. Hier
beginnt die Arbeit des Auktionshauses, aus der “bunten Mischung“ eine Präsentation zu erarbeiten, die
wenigstens für die Zeit der Auktion ein annehmbares Bild vermittelt. Diese Tätigkeit ist derjenigen, die
ich mit meinen Sonderausstellungen der Zeitungsbilder verfolge, strukturell ähnlich, wobei ich darauf
achte, dass sich meine Bildpräsentationen nicht allein auf eine oberflächlich-visuelle Harmonie
reduzieren lassen.
Das beschriebene Foto Bild vorm Kopf wird in zwei unterschiedlichen Hängungen mit jeweils
unterschiedlichen Bildnachbarn vorgestellt. Im Rahmen der Kunstaltonale148 wurde das Bild 2005 in
einer Ausstellung im Oelsner Pavillon gezeigt. Dort hing es neben einem Foto, welches ein Fenster mit
Blick auf eine Landschaft zeigte. Dies betonte die Ähnlichkeit von Fensterrahmen und Bilderrahmen, da
sich sowohl die rechteckige Form als auch die Funktion im Bild, den Blick in eine Landschaft zu rahmen,
148 Die Kunstaltonale ist eine Veranstaltung, die einmal jährlich im Hamburger Stadtteil Altona stattfindet und ein großeskulturelles Programm bietet.
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glichen. Beide Ausblicke sind nur im Bild vorhanden, was die Unterscheidung zwischen gemalter
Landschaft auf den Gemälden und “echter“ Landschaft hinter dem Fenster hinterfragt. Die Kombination
von zwei Fotos mit Ausblicken auf Landschaften macht auf die seltsame Verschachtelung vom Bild im
Bild aufmerksam. Und zwar speziell auf eine Vorstellung von Bildern als Fenster. In der europäischen
Tradition der Landschaftsmalerei wird der Bilderrahmen einem Fensterrahmen gleichgesetzt. Der
Betrachter eines solchen Gemäldes blickt von einem festgelegten Betrachterstandpunkt aus wie durch
ein Fenster auf die vor ihm liegende gemalte Landschaft. Ein Betrachter der von mir präsentierten Bilder
schaut “in“ die Fotos hinein und in diesen Fotos kann er wiederum in Bilder einer gemalten Landschaft
bzw. durch ein Fenster in eine Landschaft blicken. Bei dieser Kombination wurde ein Detail aus dem
Bild herausgegriffen und meine Assoziation dazu in einem anderen Bild wieder gefunden, welches als
Antwort oder Weiterführung gesehen werden kann.
Abb. 6: Beispiele aus der Sammlung von Zeitungsbildern.
Für die Examenspräsentation wird das Foto Bild vorm Kopf in Kombination mit anderen Fotos als bei
der Altonale präsentiert. Es hängt neben einem Bild, das einen Mann inmitten von Schaufensterpuppen-
Unterleibern zeigt. Als formales verbindendes Element lässt sich zunächst der Bildaufbau nennen.
Beide der querformatigen Fotos zeigen Figuren vor einer Wand, wobei allerdings die Farbigkeit auf den
Bildern “umgedreht“ ist. Die dunkelroten Podeste, auf denen der Mann sitzt und die
Schaufensterpuppen-Unterleiber platziert sind, ähneln farblich der weinroten Wand, vor der die
Gemälde präsentiert werden. Durch die direkte Nachbarschaft der beiden Bilder nimmt die dargestellte
Situation im Foto “Bild vorm Kopf“ beinahe surreale Züge an. Die Gegenüberstellung mit den an der
Hüfte endenden Puppen-Unterkörpern hat mich dazu veranlasst, in meiner Vorstellung die Unterkörper
der Zeigenden auf Höhe der Bilderrahmen abzuschneiden und die präsentierten Gemälde als
Oberkörper und Köpfe der Zeigenden zu sehen. So als seien die Bilder lebendig und besäßen eigene
Körper, mit denen sie sich selbständig fortbewegen könnten. Man könnte sich auch vorstellen, dass sie
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den Bietenden anhand ihrer Beinstellungen geheime Zeichen geben. Und als Betrachter ist man
versucht, sich über die anonyme Kleidung und die Körperhaltung ein Bild von den Menschen zu
machen, welche hinter den Bildern verborgen sind. Dabei entbehrt die nüchterne Aufreihung und die
neutrale formale Bekleidung der Personen im Zusammenhang mit den uniformen Unterleibern der
Schaufensterpuppen nicht einer gewissen Komik.
Viele der 15 Fotos des Bildensembles haben auf die eine oder andere Weise mit dem Präsentieren
selbst zu tun. Indem der Status des Fotos Bild vorm Kopf als ausgestelltes Bild (unter anderen Bildern,
welche ihrerseits auf das Zeigen hinweisen) auch in dem enthalten ist, was das Foto selbst abbildet,
wird die Thematik der Präsentation selbstreflexiv aufgegriffen. Da der Akt des Zeigens der Gemälde auf
dem Foto sich in meinem Zeigen der gefundenen Zeitungsbilder an der Wand wiederholt, verweist
dieses Foto als Teil meiner Sonderausstellung bildinhärent auf den größeren Kontext, in dem es selbst
auftaucht. Mit diesem Bild präsentiere ich demnach eine Repräsentation, die ihrerseits das Präsentieren
thematisiert.
3.1.4 Präsentieren der Bildensembles
Wenn eine Bildgruppe gefunden ist, welche auf verschiedenen Ebenen interessante Verbindungen
aufweist, kann diese in einer Ausstellung präsentiert werden. Für eine solche Ausstellung werden die
Bilder gemäß den zuvor am Computer erstellten Entwürfen vergrößert und entwickelt. Die
ausgedruckten Papierbilder werden dann auf Karton gezogen und an der Wand angebracht. Anfangs
ordnete ich die Bilder in langen Reihen an, die wie lesbare Stränge funktionierten und oft kleine
Geschichten erzählten. Diese Reihungen waren streng linear angeordnet. Dann fing ich an, die
Bildkombinationen nicht mehr nur auf einzelne Stränge zu beziehen, sondern diese Stränge
miteinander zu verbinden und so Abzweigungen und Alternativen anzubieten. Man kann sich den
Aufbau dieser Geflechte wie ein Kreuzworträtsel vorstellen, mit waagerechten und senkrechten Linien,
die durch verbindende Motive in der Position der Schnittstellen zusammengehalten werden. Die Anzahl
der verbundenen Bilder wurde dabei immer größer und einzelne Geflechte umfassten irgendwann weit
mehr als 50 Bilder. Darin lag zwar der Reiz, einen großen Teil meiner Fundstücke auf einmal zeigen zu
können, doch nach einiger Zeit wurde diese Lösung für mich sowohl visuell als auch konzeptionell
unbefriedigend. Für meinen Geschmack traten die Einzelbilder zu sehr in den Hintergrund und konnten
ihre Qualitäten zwischen so vielen anderen Bildern gar nicht mehr richtig ausspielen. Sie blieben auch
in der Ausstellung und trotz Herauslösung aus der großen Sammlung vor allem Teil einer Bildermenge.
Dabei ging es mir doch gerade darum, das einzelne Bild im Zusammenhang mit anderen zum Sprechen
zu bringen und die in ihm enthaltenen Geschichten hervorzulocken. Auch wollte ich nicht länger
Leserichtung und Schnittstellen vorgeben und damit dem Betrachter meine Assoziationen zu den
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Bildern aufzwingen. Anstatt meine Geschichten in “geregelten Bahnen“ der Hängung nachvollziehen zu
müssen, sollte der Betrachter mehr Freiraum bekommen.
Lieber wollte ich mich darauf beschränken, eine streng befragte Auswahl von Bildern so zu
präsentieren, dass die möglichen Verbindungen zwar anklingen, aber nicht offensichtlich gezeigt
werden. Stattdessen können sie von jedem unterschiedlich wahrgenommen und entdeckt werden. Um
eine solche Balance zu erhalten, in der die Bilder einerseits für sich stehen und andererseits in einer Art
Schwebezustand in Verbindung mit anderen Bildern gesehen werden können, bin ich mittlerweile dazu
übergegangen, die Sonderausstellungen aus der Sammlung in Form von Bildensembles in lockeren
Kompositionen zu präsentieren. Der Begriff der Komposition ist hier gerechtfertigt, denn durch die
Verknüpfung und die Ordnung der einzelnen Teile sollen Beziehungen entstehen. Die Komposition ist
somit auch Bestandteil der Aussage insgesamt und bezieht sich nicht nur auf gestalterische
Komponenten. Die näheren und weiteren Abstände sind bewusst gesetzt. Eine größere Nähe zwischen
Bildern an der Wand lässt auch auf eine inhaltliche Nähe schließen, wobei starke und offensichtliche
Verbindungen zwischen Bildern auch weitere physische Distanzen überbrücken können. Mit dieser Art
der Präsentation möchte ich lediglich Geschichtenanfänge durch die oft irreführende Verweiskraft der
Bilder anstoßen. Denn um Geschichten erzählen zu können, braucht es zwar einen Anreiz für den
Betrachter, nicht aber die komplette Vorwegnahme der Handlung.
Abb. 7: Bildensemble, erstellt im Juni 2007.
So werden die Bilder zu Stationen einer Erzählung, welche aber nicht festgelegt ist und unterschiedliche
Wahrheiten nebeneinander existieren lässt. Ich präsentiere subjektive Interpretationen in Form eines
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Erzählangebotes, gegenüber dem sich der Betrachter frei verhalten und sich alternativ eine eigene
Erzählung schaffen kann, die auch aus Elementen seiner persönlichen Erfahrung besteht.
Ich sehe jedes Foto als Zeichen, das verstanden werden will, das über das Erinnerungsvermögen nach
Ähnlichem abgetastet, in Form, Farbe, Größe verglichen wird und assoziationsträchtig im Raum steht.
Erst Erklärungen, Bezeichnungen und Wertungen der Eindrücke zerren diese Assoziationen zu einer
Seite hin, geben ihnen Schwerkraft, machen sie scheinbar klar, zerstören aber auch zugunsten einer
Aussage mögliche andere Eindrücke und Erkenntnisse. Die Hängungen könnte man als Spiel mit
Bildern beschreiben, welche immer auch von ihrem fragmentarischen und metaphorischen Charakter
und damit von einem größeren Zusammenhang, der abhanden gekommen ist, sprechen. Die
Kombination soll zwischen Geheimnisfülle, besonderer Bedeutung und Absurdem oszillieren. Je länger
ich ein Foto in einem schwerelosen Zustand, im Unklaren halten kann, und ein zweites Foto und dazu
noch mehrere in ihrer Kombination, desto mehr können die Bilder wie verdichtete Zeichen erscheinen,
die sich letztendlich doch nicht lesen lassen.
Bezugnahme auf die künstlerische Arbeit von Peter Piller
Um dieses Projekt im Kontext der zeitgenössischen Kunstproduktion zu verorten, werde ich die Arbeit
des Künstlers Peter Piller kurz vorstellen. Im Vergleich mit seiner Art des Sammelns und Präsentierens
möchte ich die Besonderheit meines Ansatzes im Umgang mit den gesammelten Zeitungsbildern
herausarbeiten. Peter Piller kam durch seine Arbeit als Prüfer für Kleinanzeigen in Lokalzeitungen dazu,
Fotos aus der Zeitung auszuschneiden und zu sammeln. In mehr als zehn Jahren trug er so über 5 000
Zeitungsbilder zusammen, seit einiger Zeit verwendet er auch Postkarten und Bildmaterial aus dem
Internet oder aus Nachlässen. Die gesammelten Bilder teilt er in thematische Gruppen ein: Fotos, auf
denen (noch) gar nichts zu sehen ist, Gebäudeeinweihungen, Ehrungssituationen, Tatorte, erste
Spatenstiche, Schandflecken der Gemeinde, Fotos von Menschen mit vom Blitzlicht angestrahlter,
reflektierender Sicherheitskleidung und Menschen, die ihr Auto berühren. Die Fotos, welche Piller aus
den Zeitungen ausschneidet, sind im Grunde genommen überflüssige Bilder. Sie dienen lediglich zur
Illustration eines Textes, haben auf den ersten Blick keine ästhetischen Qualitäten und sind letztendlich
durch hunderte ähnlich klischeehafter Fotos austauschbar. Peter Piller fügt die unsortiert auftauchenden
Bilder unter ikonologischen Aspekten zu Fotoserien, die er als Bücherbände publiziert.
Trotz der formalen Ähnlichkeiten zwischen dem Vorgehen Peter Pillers und meinem Umgang mit den
gesammelten Zeitungsbildern, gibt es doch eine Reihe von Unterschieden. Während Peter Piller
ausschließlich mit schwarzweißen Bildern aus der Lokalpresse arbeitet, verwende ich Farbfotos aus
allen Printmedien, seien es regionale oder überregionale Tageszeitungen, wöchentlich oder monatlich
erscheinende Zeitschriften oder kostenlose Magazine. So habe ich ganz unterschiedliche Qualitäten
von Bildern in meiner Sammlung, welche durch die Farbigkeit eine weitere Ebene enthalten, die sowohl
Verbindungen schaffen als auch verhindern kann. Peter Piller sucht nach Fotos, die möglichst
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unprofessionell erscheinen, um dann durch ihre Reihung in Serie das Absurde der immer wiederholten
Gesten in den Aufnahmen zu entlarven. Ich hingegen suche nicht nach den langweiligsten,
nichtssagendsten Bildern, sondern lasse mich ohne vorgefertigtes Interessens- und Sammelgebiet
treiben und von den für mich verblüffendsten und interessantesten Zeitungsbildern ansprechen.
Auch ich habe ein Interesse an Zeitungsbildern, welche sonst häufig unbeachtet bleiben. Doch der
Umgang mit den gesammelten Bildern unterscheidet sich sowohl in der Ordnung der Sammlung als
auch in der Präsentation. Während Piller strikt mit wissenschaftlichen Techniken des Ordnens arbeitet
und diese auf seine Sammlung von seltsam nichtssagenden und unprofessionellen Zeitungsfotos
anwendet, führt er diese ad absurdum. Seine künstlerische Sammlung spielt mit der
pseudowissenschaftlichen Nachahmung eines festen Ordnungssystems. Dabei wird gleichzeitig auch
dessen Begrenztheit aufgezeigt und das wissenschaftlich-positivistische Gebaren als scheinobjektive
Leerformel entlarvt und parodiert.
Abb. 8: Archiv Peter Piller. Regionales Leuchten. Band 7, 2004.
Im Gegensatz zu einer solchen künstlerischen Strategie demonstriert meine Modifizierung der
Sammlungs-Ordnung eine andere Herangehensweise. Es widerstrebt mir, die unterschiedlichen Bilder
nach festgelegten Aspekten einzuteilen und von diesen Aspekten auf höhere Einheiten zu schließen.
Heterogene Elemente dürfen im Nebeneinander existieren, ohne über- oder untergeordnet zu werden.
Denn mit geht es nicht primär um eine Kritik am systematischen, formalen Aspekt des Sammelns,
Ordnens und Präsentierens – ich habe ein echtes Interesse an den einzelnen Fundstücken. Sie sollen
nicht als lückenfüllender Beweis für die Unsinnigkeit einer darüber liegenden fiktionalen Ordnung
benutzt, sondern selbst zum Sprechen gebracht werden. Während das Einzelbild bei Peter Piller keine
größere Rolle spielt und sein Wert einzig im Verweis auf die Gesamtheit ähnlicher Motive liegt, sind bei
mir so gut wie alle Bilder zunächst einmal Einzelbilder und sollten grundsätzlich auch ohne die
Unterstützung anderer Bilder funktionieren können. Und selbst wenn auch ich letztendlich
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Zusammenstellungen von Bild-Gruppen produziere, so können diese Bildkombinationen doch nicht
unter Oberbegriffen wie Peter Pillers Autos berühren oder Regionales Leuchten zusammengefasst
werden. Denn bei den von mir zusammengestellten Bildgruppen handelt es sich eben nicht
ausschließlich um ähnliche Bilder, die ein Thema in leichter Variation wiederholt darstellen, sondern
sowohl um ähnliche als auch um disparate Bilder, die über assoziative Vermittlung miteinander in
Zusammenhang gebracht werden.
3.1.5 Reflektierende Betrachtung der künstlerischen Arbeit
Im Sammeln, Konservieren, Erforschen und Präsentieren habe ich die Aufgaben eines Museums
übernommen und mir dessen Regelsystem, indem ich es nur in ausgewählten Bereichen kopiert habe,
angeeignet und gleichzeitig transparent gemacht. Im scheinbar affirmativen Nachahmen der Praktiken
und Mechanismen des Museums ist nämlich auch ein hinterfragendes Moment enthalten. Dabei geht es
mir nicht darum, eine bestimmte Inszenierungsform zu kritisieren, sondern eher darum zu zeigen, dass
unterschiedliche Präsentationsarten enormen Einfluss auf die Rezeption der Exponate haben.
Die Entscheidung, Zeitungsbilder museal zu sammeln, mag zunächst widersprüchlich erscheinen, da
die Bilder und Informationen der Zeitung auf den Tag ausgerichtet sind und später relativ selten weiter
konsultiert werden, während das Museum auf eine dauerhafte Speicherung mit bleibendem oder
steigendem Wert angelegt ist. Das Kunstmuseum sammelt, verwahrt und zeigt mit beträchtlichem
finanziellem Aufwand einzigartige Objekte, deren Zurschaustellung streng kontrolliert wird. Meine
“museale“ Sammlung hingegen ist gewissermaßen dem Gegenteil von einzigartigen Originalen
gewidmet – nämlich bereits tausendfach veröffentlichten Zeitungsbildern. Dies macht die
Sammeltätigkeit für mein “Museum“ relativ leicht, da ich meine Sammlungsobjekte ohne Umstände und
ohne Geld dafür bezahlen zu müssen akquirieren kann.149 Im Gegensatz zum echten Museum muss ich
mich weder um die Interessen Anderer kümmern, noch unterliege ich wie auch immer gearteten
Rechtfertigungszwängen für die Aufnahme von Bildern in meine Sammlung.150
Dennoch gibt es auch Gemeinsamkeiten zwischen Zeitung und Museum. Zunächst einmal gehören
beide zu den Massenmedien, wenn man von der Definition der Kommunikationswissenschaft ausgeht,
welche „(...) gesellschaftliche Institutionen, die der kontinuierlichen Verbreitung von Informationen
dienen (...)“151, als solche bezeichnet. Während sich diese Medien hinsichtlich ihrer
Kommunikationsform voneinander unterscheiden, sind sie in einem funktionalen Punkt gleich: Sie sind
Träger und Vermittler von Informationen, Belehrung und Unterhaltung. Sie entstehen nicht aus einem
149 Es liegt kein Copyright-Rechtsfall vor, weil die Bilder aus meiner Sammlung heraus nicht Gewinn bringend ausgestelltoder verkauft werden.150 Die Tatsache, dass meine Sammlung aus materiell wertlosen und für Jeden verfügbaren Bildern besteht und dennoch fürmich einen großen Wert darstellt, zeigt, dass sich durch den Umgang mit der Sammlung symbolischer Wert aufbaut.151 Flügel, Katharina. Einführung in die Museologie. Darmstadt, 2005, S.97
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Selbstzweck heraus, sondern sind für die Öffentlichkeit bestimmt.152 Massenmedien gehören zu den
Möglichkeiten, mit denen sich der Mensch seine Umwelt aneignen kann, und sie vermitteln uns einen
großen Teil unseres Wissens über die Welt. Und viele Besucher bringen den Bildern im Museum eine
ganz ähnliche Erwartungshaltung entgegen, wie allen anderen durch Massenmedien verbreiteten
Bildern auch. Für das mühsame sich Versenken, Entziffern oder den problematisierenden Diskurs
nehmen sich viele gar nicht mehr die Zeit. Und die Museen reagieren auf diese Entwicklung, indem sie
ihre Objekte in einer von den Massenmedien abgeschauten Weise präsentieren: Schöne Objekte
werden aneinander addiert, locken, zerstreuen, laden zum flüchtigen Verweilen, zum kurzen Staunen
ein153, verheißen Bildung, ohne ihr Versprechen zu halten.154
Zeitungen, Zeitschriften und die darin abgedruckten Fotos können, ähnlich wie Museen, als externe
Gedächtnisse gesehen werden. Im Gegensatz zur Zeitung ist das Museum ein relativ träges Medium,
wobei diese Trägheit keine Schwäche sein muss, wenn das Museum als kulturelle Institution
beispielsweise das vorschnelle ad-acta Legen von Wichtigem verhindert. Ähnlich wie ich aus der Flut
von Zeitungsbildern einige herausnehme und mich in der künstlerischen Arbeit mit diesen intensiv
beschäftige, sehe ich es auch als eine mögliche Stärke des “echten“ Museums, den immer hektischer
werdenden Strom notfalls zu bremsen.
Wissenschaftlich orientierte Sammlungen wie Museen gliedern ihre Gegenstände in eine Ordnung ein,
die das ihnen zugrunde liegende Sammeln deutlich als klassifikatorische Tätigkeit erkennbar werden
lässt. Die bestehenden Sammel- und Ordnungskriterien legen relevante Eigenschaften oder Merkmale
der Objekte fest und klammern dadurch andere Einordnungen und Betrachtungsweisen aus – häufig
ohne zu thematisieren, dass es sich dabei um eine Möglichkeit unter vielen handelt.155 Im Vergleich zu
meiner offenen Sammlung wird das feste und recht starre System des Museums deutlich. Denn ich
gebe zwar jedem Bild meiner Sammlung eine feste Zuschreibung durch einen eigenen Titel, lasse sie
aber ansonsten frei für sich stehen, um nicht durch Grüppchenbildung Zusammenhänge zwischen
Bildern zu verstellen. Während des Sammelns und Lagerns werden meine Zeitungsbilder gleichwertig
behandelt. Eine gesonderte Position erfahren sie nur temporär, wenn sie als Teil einer Ausstellung
gezeigt werden. Somit dient die Sammlung nur als Zwischenspeicher, der stets neu konfiguriert
werden kann. Die Sammlung selbst ist nicht das Kunstwerk und wird auch nicht ausgestellt. Sie ist eine
152 Trotz dieser Aufgabe sprechen Museen doch meist nur einen relativ kleinen Teil der Bevölkerung an.153 Die durchschnittliche Verweildauer vor einem Museumsexponat liegt bei etwa 8 Sekunden. Vgl. Klein, Rolf.“Besucherverhalten in Museen und Galerien“. In: Groppe, Hans Hermann und Jürgensen, Frank (Hrsg.). Gegenstände derFremdheit. Museale Grenzgänge. Dokumentation einer Fachtagung veranstaltet vom Museumspädagogischen Dienst derKulturbehörde Hamburg. Marburg, 1989.154 Vgl. Fliedl, Gottfried (Hrsg). Museum als soziales Gedächtnis? Kritische Beiträge zu Museumswissenschaft undMuseumspädagogik. Klagenfurt, 1988.S.35155 Dieses Vorgehen besitzt Analogie zur Begriffsbildung. „Um Objekte in Klassen einteilen zu können, bedarf es derAbstraktion, des Herausziehens von Merkmalen, unter denen eingeteilt werden soll. Das hat zur Folge, dass diese Merkmalerelevant werden, andere für die Begriffsbildung unbeachtet bleiben.“ Vgl. Herles, Diethard. Das Museum und die Dinge.Wissenschaft, Präsentation, Pädagogik. Frankfurt a.M., 1996. S.83
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Durchgangsstation, dient der persönlichen Verwendung und bleibt unsichtbar.156 Das Kunstprojekt
manifestiert sich demnach nicht darin, was ich sammle, sondern darin, was ich daraus mache. Dieses
Machen besteht in der Herauslösung aus dem Kontext, der Neukombination mit anderen Bildern, der
Tatsache, dass ich vergrößerte Ausdrucke verwende und diese teilweise gespiegelt oder beschnitten
werden und in der Art der Präsentation.
Die künstlerische Aussage liegt in der Auswahl und Präsentation der Bilder und kristallisiert sich in der
konkreten Ausstellung einer Bildauswahl. Alle Tätigkeiten laufen auf solche Ausstellungen hinaus
und nur in ihrer je spezifischen Kombination und Präsentation werden die ausgeschnittenen
Zeitungsbilder zum Teil des “Kunstwerks“.157 Insofern gleicht meine Sammlung dem großen Fundus
eines Museums, aus dem sehr verschiedene Ausstellungen komponiert werden können. So wie die
Museen früher versuchten, alles zu zeigen, was die Sammlung hergab, war es auch mir zu Beginn ein
Anliegen, möglichst viele meiner Schätze zu zeigen. Doch so wie auch im heutigen Museum der
weitaus größte Teil der Sammlung im Depot im Verborgenen bleibt und die Kunstwerke nur im
Zusammenhang einer vom Kurator gesetzten Rahmenhandlung öffentlich auftreten, zeige auch ich
mittlerweile in mehr oder weniger regelmäßigen Abständen nur noch eine je streng befragte Auswahl
aus dem Sammlungsbestand. Die Nähe zu den Tätigkeiten eines Kurators im Museum spiegelt sich
auch darin wider, dass ich im Sammeln, Ordnen, Forschen und Präsentieren mit schon vorhandenem
Bildmaterial im Gegensatz zu selbst erzeugten Bildern umgehe.158 Die Tatsache, dass ich mit den
Bildern nicht durch den Akt des Fotografierens verbunden bin, bringt ohne Zweifel eine – bei selbst
fotografierten Bildern nur schwer zu erreichende – Distanz mit sich. Und gerade diese Distanz ist
notwendig, um die Bilder mit einem fremden Blick betrachten zu können und die in ihnen enthaltenen,
versteckten und vom Fotografen wahrscheinlich nicht intendierten Aussagen zu entdecken. Gleicgwohl
stellt jede Darbietung einer Auswahl von Bildern (unabhängig davon, ob es sich um die eigenen oder
um fremde Bilder handelt) diese nicht nur vor, sondern dabei gleichzeitig etwas Neues her; nämlich ein
Arrangement, das so bisher nicht existierte. Die Zeitungsausschnitte werden durch meine Präsentation
zu Anschauungsstücken, die in dieser Funktion betrachtet werden sollen.159 Als Zeigende der Bilder –
156 Dennoch ist sie von größter Wichtigkeit, da sie die Realisation des künstlerischen Projekts erst möglich macht. DieSammlung dient als Speichermedium außerhalb meines Gedächtnisses und beherbergt mein “Arbeitsmaterial“ das ichimmer wieder durchsehe, um Verwandtschaften zwischen den Bildern zu entdecken und nach und nach eine präsentableGruppe zusammen zu stellen. Das Sammeln dieser Bilder ist kein Selbstzweck, denn es geht mir nicht darum, mit einer Bild-Menge zu beeindrucken und die Bildersammlung ist keine Anhäufung, denn ich gehe bewusst mit ihr um und erforsche dieQualitäten der einzelnen Bilder.157 Das Gespeicherte steht bereit zum Erzählen, bleibt jedoch solange stumm, bis es aus der Sammlung herausgenommenund gezeigt wird. Erst die Öffnung, die Übertragung in einen spezifischen Kontext, die tatsächliche Ausstellung mit denausgedruckten Bildern und der Prozess der Aneignung durch den Benutzer bringen die gesammelten Informationen zumLeben und zum Sprechen.158 Dies mag von Außen betrachtet insofern einfacher anmuten, als dass ich auf den ersten Blick nicht in vollem Ausmaß fürdie verwendeten Fotos verantwortlich erscheine.159 So muss ich auch mit der Enttäuschung rechnen, dass niemand daran interessiert ist, sich meine Bilder anzusehen. Oderdass trotz der Kenntnisnahme der Bilder an diesen von den Betrachtern gar nichts Besonderes gefunden wird, dass alsomeine Ver- und Bewunderung nicht geteilt wird.
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seien es nun eigene oder eine Auswahl von “fremden“ Fotos – bin ich tiefer engagiert, da ich nicht nur
wie die anderen Betrachter vor den Bildern stehe, sondern im übertragenen Sinne auch dahinter. Indem
ich nicht nur anschaue, sondern zugleich vorzeige, exponiere ich auch mich selbst und verbürge mich
indirekt für die Sehenswürdigkeit meiner Bilder. Ich muss den von mir ausgewählten Fotos vertrauen,
denn sie sollen halten, was ich versprochen habe. Ihr Erfolg ist letztendlich auch mein Erfolg.
Von den beschriebenen Aufgaben des Museums erscheint mir letztendlich der Aspekt der Präsentation
im Museum am interessantesten. Wie beschrieben, verlieren Dinge im Museum ihre ursprüngliche
Funktionalität und gewinnen eine neue dazu. Sie repräsentieren und stehen für etwas anderes. Für
etwas, das sie im Museum nicht oder nicht mehr sind. Die Loslösung aus ihren ursprünglichen Bezügen
ist sowohl für die Exponate im echten Museum als auch für meine Sammlung von Zeitungsbildern und
deren Präsentation konstitutiv. So wie Dinge durch den Übergang zu Museumsobjekten eine
Bedeutungsverschiebung erfahren, so werden auch die Zeitungsbilder durch das Herausschneiden und
durch die Kombination mit anderen Fotos zu etwas anderem.
Dabei ist die Tatsache, dass die von mir gesammelten und präsentierten Fotos aus Zeitungen
stammen, insofern bedeutsam, als dass solche Bilder – solange sie in der Zeitung betrachtet werden –
fest in ihren Herkunftskontext eingebettet sind. Dort werden sie meistens lediglich als Illustrationen
zum eigentlichen Inhalt der Zeitung – den geschriebenen Artikeln – gesehen und werden deshalb nicht
bewusst als eigenständige Bilder wahrgenommen, geschweige denn ausführlich und aufmerksam
betrachtet.160 In der Zeitung sind sie eher eine Randerscheinung, gedacht als auflockerndes und
dekoratives Element mit Unterhaltungswert, als Belegbild für die Richtigkeit des geschriebenen Wortes
oder als Veranschaulichung eines Gedankens. Fotos in der Zeitung sollen als Repräsentanten der
Realität von Authentizität zeugen. Zur Illustration oder Verifizierung eines Textes dienend, suggerieren
sie auch heute noch, Stellvertreter der Wirklichkeit sein zu können. Doch mittlerweile ist das Vertrauen
gegenüber dem Foto als Dokument erschüttert. Das Wissen um die digitale Manipulierbarkeit schürt
den Zweifel an ihrer Glaubwürdigkeit und die Fotos werden nicht mehr uneingeschränkt als objektive
Dokumente der Realität gesehen. Auch dies trägt dazu bei, dass ich mich nicht mehr an die intendierte
Bedeutung der Bilder gebunden fühle und es mir relativ leicht fällt, unbefangen mit dem
Verweischarakter der Zeitungsbilder zu spielen.
In diesem Zusammenhang ist die Angewohnheit vieler Menschen interessant, das Datum, Angaben
über die Zeitung, und häufig auch die dargestellte Situation auf einem Zeitungsausschnitt zu notieren,
bevor sie diesen zur weiteren Aufbewahrung ablegen. Derartige Informationen finden in meiner weiteren
Arbeit mit den Bildern keine Beachtung – sie können sogar eher hinderlich sein. Mir ist es daher wichtig,
dass das Zeitungsbild beim Ausschneiden von seinem Artikel, seiner Bildunterschrift und den anderen
160 Und obwohl es sich bei vielen Zeitungsbildern auch gar nicht lohnt, sich intensiver mit ihnen auseinander zu setzen, sogibt es doch auch immer wieder Schätze, die mit einem aufmerksamen Blick entdeckt werden können. Diese sonst häufigübersehenen Bilder sind es mir wert, sie in meiner persönlichen Bildersammlung aufzubewahren.
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Fotos auf der Seite getrennt wird. Denn erst wenn das Bild von der verbalen Instruktion der
Bildunterschrift gelöst wird, welche die an sich offene Bedeutung des Bildes auf eine intendierte
Bedeutung hin einschränkt, wird die Bedeutungszuschreibung wieder geöffnet. In einer pragmatischen
Kommunikationssituation wie dem Lesen einer Zeitung wird man nicht nach latenten und versteckten
Bedeutungen in den Bildern suchen. Der Zeichenaustausch ist auf Verständlichkeit angelegt. Erst wenn
nicht mehr auf nüchterne Verständigung abgezielt wird, können diese Bilder neu gelesen werden. Erst
jetzt stellt sich die Frage, was auf dem Bild eigentlich wirklich zu sehen ist, erst jetzt kann es einen
Eigenwert entwickeln. Befreit vom “Bedeutungskorsett“ des Kontexts und losgelöst von dessen
regulativen Faktoren kann ich das Bild ganz neu betrachten und Qualitäten entdecken, die im
Zusammenhang mit dem Thema, welches das Bild illustrieren sollte, möglicherweise gar nicht auffallen
würden. Und selbst bei den sonst meist wenig Überraschendes bietenden Bildern der
Nachrichtenagenturen kann es zu “produktiven Missverständnissen“ kommen, da es ohne die
Bildunterschrift meist kaum möglich ist, die Fotos im vorgesehenen Bezugsrahmen zu interpretieren.
Mit der Zusammenstellung von Bildensembles möchte ich keinen neuen eindeutigen Bezugsrahmen
schaffen, sondern vielmehr simultane Perspektiven eröffnen und die Möglichkeit ausschöpfen, das
Bild in immer unterschiedlichen Zusammenhängen zu zeigen. Jedes Bild kann potentiell mit jedem
anderen verbunden werden, wobei die Verbindung jeweils nur für die Dauer einer Ausstellung
besteht.161 Auswahl und Arrangement sind somit stets zeitlich begrenzt. Je nach Nachbarschaft
kommen bestimmte Bildeigenschaften besonders zum Vorschein und das Bild tritt in jeweils
unterschiedlichen Rollen auf.162 Es ist faszinierend, dass der Prozess der Verkettung und Verknüpfung
von Bildern nie abzuschließen ist und jedes Mal aus dem gleichen Material völlig unterschiedliche
Aussagen allein durch die Präsentation im Kontext getroffen werden können. Die immer neuen
Kombinationen zeigen die Unmöglichkeit, alle Aspekte gleichzeitig zu berücksichtigen und die
Möglichkeit alternativer, sich wechselseitig relativierender Begründungszusammenhänge. Letztendlich
verdeutlicht dieses Spiel mit den Bildern die fast banale Wahrheit, dass die jeweilige Situation
entscheidend dafür ist, wie ein Bild gelesen wird. Denn ein einzelnes Bild hat oft gar keine feste in sich
selbst enthaltene Aussage oder Wertung. Diese wird erst im Zusammenhang mit seiner Umgebung
konstruiert und variiert je nachdem, an welche anderen (hier visuellen) Informationen es angedockt
wird. Somit gibt es keine eindeutige Lesart und damit auch keine richtige oder falsche Deutung mehr.
Deshalb versuche ich mit der Präsentation der Fotos auch erst gar nicht, eine feste Aussage zu treffen.
161 Assoziationen zu möglichen Verwandtschaften zwischen den gezeigten Bildern stehen in einem neuen, frei erfundenenBedeutungszusammenhang. Und oft sind die besten “Paarungen“ von Bildern auch für mich überraschend. Sie entstehennicht etwa aus einer konzeptuellen Überlegung heraus, sondern eher zufällig und spontan beim Ausprobieren undHerumschieben der Bilder. Dann ergibt sich zwischen zwei oder mehr Bildern auf einmal eine Verbindung, die mir selbstnicht eingefallen wäre, wenn ich die Bilder einzeln betrachtet hätte.162 So kann es vorkommen, dass beispielsweise die Abbildung eines Hundes in der ersten Kombination als bedrohlichempfunden wird, wohingegen das Tier auf der gleichen Abbildung im Zusammenhang mit anderen Nachbarn plötzlich alsironische Übertreibung gesehen werden kann.
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Alle Assoziationen sind fiktiv und spekulativ, sollen in ihrer Rätselhaftigkeit in einem Schwebezustand
bleiben und sich eben gerade nicht definitiv benennen, erklären oder deuten lassen.163 Diese offene
Erzählweise kann dann zum zweiten Mal zu einem “Fehldeuten“ im positiven Sinne führen. Über die von
mir entwickelte Art der Hängung können Spekulationen der Betrachter sich nun zusätzlich mit den von
mir angebotenen Neu-Deutungen der Zeitungsbilder beschäftigen. Damit wird den Betrachtern bis zu
einem gewissen Grad (denn die Auswahl und Hängung der gezeigten Bilder obliegt ja mir) die
Möglichkeit gelassen, ein eigenes gedankliches Bezugssystem anzuwenden, damit zu spielen und
unterschiedliche mögliche Bezüge zu entdecken.164 Ich sehe im “Missverstehen“ auf Seiten des
Betrachters keine Gefahr, sondern ein Potential.
Meine interpretierende Tätigkeit scheint mir manchmal derjenigen eines Puzzlespielers zu gleichen,
der versucht, Schritt für Schritt eine sinnvolle Gestalt zu erzeugen. Oder sie kommt mir wie eine
Variante kriminalistischer Spurensicherung vor. Ich beschäftige mich mit meinen Bildern, so wie der
Detektiv sich mit seinem "Fall". Er befragt jedes Motiv, jedes Requisit, jede Äußerung und jedes noch so
kleine Detail so lange, bis der Zusammenhang der Indizien hervortritt. Dabei findet der Detektiv seinen
Anknüpfungspunkt meist in einem unregelmäßigen Detail, das sich dem gradlinigen Verständnis in den
Weg stellt. Gerade die widersprüchlichen Umstände, die den Fall zunächst zu verkomplizieren drohen,
erweisen sich am Ende für seine Auflösung oft als besonders förderlich. Wie ich als Interpret, so muss
auch der Detektiv bereit sein, Umwege zu gehen.165 Aber sowohl die Metapher vom Puzzlespiel wie
auch das Bild des Spuren sichernden Detektivs sind zur Veranschaulichung der interpretierenden
Verstehensoperation von Bildern letztendlich doch nicht besonders geeignet. Denn sie legen das
Missverständnis nahe, es gäbe eine endgültige Lösung. Im Prozess der Bilder-Interpretation wird ein
Sinn jedoch nicht nur ermittelt, oder, wie Ricoer sagt, "wieder eingesammelt"166, sondern gleichzeitig
auch produziert. Levi-Strauss hat die interpretierende Tätigkeit als eine "intellektuelle Form der
Bastelei"167 beschrieben. Dabei schafft der Interpret – wie ein Bastler – aus dem, was er vorfindet, einen
neuen Zusammenhang. Seine Tätigkeit ist nicht nur Sinn verstehend, sondern auch Sinn stiftend. Sie
163 Bei der Zusammenstellung mehrerer Bilder interessieren mich deshalb in erster Linie unmethodische, nichtsystematischeGestaltungen, die frei von übergeordneten Interessen wie Sozialkritik, Zeitkritik, Wirklichkeitskritik, Umweltschutzgedankenoder Ähnlichem geleitet sind.164 “Der Besucher einer Ausstellung ist Leser und Produzent zugleich. Verstehen ist dabei niemals reine Denotation, sondernimmer auch Konnotation, Assoziation und Überlagerung mit schon vorhandenem Wissen. Der reine Blick ist nichts als einMythos der unbefleckten Kommunikation, denn was das Auge sieht, empfängt es immer schon von einer innerenWahrnehmung verändert und präfiguriert.“ Heinisch, Severin. “Objekt und Struktur – über die Ausstellung als einen Ort derSprache“. In: Rüsen, Jörn, Ernst, Wolfgang und Grütter, Heinrich Theodor (Hrsg.). Geschichte sehen. Beiträge zur Ästhetikhistorischer Museen. Pfaffenweiler, 1988. S.83165 Das hat schon Sherlock Holmes gewusst. Er sammelte und sicherte mit einem untrüglichen Gespür auch noch dieunscheinbarsten und abgelegensten Spuren und verknüpfte sie dann durch geduldigen Vergleich, durch messerscharfeSchlussfolgerungen und überraschende Einfälle zu dem gesuchten Zusammenhang des jeweiligen Falles. Seine Methodeberuhte, wie er es einmal seinem Partner Watson gegenüber ausdrückte, „(...) auf der Berücksichtigung von Kleinigkeiten."Sebeok, Th. Und Umiker-Sebeok, J. V. “"Sie kennen ja meine Methode." Ein Vergleich von Charles S. Peirce und SherlockHolmes.“ In: Eco, Umberto und Sebeok, Thomas A.(Hrsg.). Der Zirkel oder im Zeichen der Drei. München, 1985. S.52166 Ricoer, Paul. Hermeneutik und Strukturalismus. München, 1973. S.81167 Levi-Strauss, Claude. Das wilde Denken. Frankfurt,1973. S.29
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bewegt sich von einem Sinn zu einem anderen Sinn und transformiert diesen dabei. Bedeutungen
stehen nicht still, sondern befinden sich, nach Lacan, in einem "unaufhörlichen Gleiten".168 Im
Unterschied zum Puzzle und Kriminalfall bleibt die Interpretation der Zeitungsbilder durch Inszenierung
eine unendliche Aufgabe.
Man könnte diese Art des Vorgehens vielleicht eher mit dem Prinzip des Rhizoms vergleichen.169 Bei
den französischen Philosophen Deleuze und Guattari steht das Rhizom für ein poststrukturalistisches
Modell der Wissensorganisation als Alternative zum binär codierten Baum des Wissens, der das
zentrale Modell für die hierarchische Organisation der Wissenschaften repräsentiert.170 Der Begriff des
Rhizoms stammt aus der Botanik und benennt einen Wurzeltyp bestimmter Pflanzen, der sowohl ober-
als auch unterirdisch wuchern kann und ohne erkennbare Ordnung Triebe ausbildet, welche sich auch
untereinander wieder kreuzen können. Ein solches Rhizom zeichnet sich dadurch aus, dass es ein
Geflecht ohne Anfang und Ende ist. Durch Assoziation können Sachzusammenhänge durchbrochen
werden. Elemente aus unterschiedlichsten Quellen, Kontexten und Niveaus können zusammenkommen
und eine heterogene Wirklichkeit schaffen. Nach dem Prinzip des “asignifikanten Bruchs“ kann ein
Rhizom anders als eine Baumstruktur überall abgebrochen und auseinander gerissen werden, weil es in
der Lage ist, an jeder Bruchstelle neu zu wuchern und sich an jedem Riss neu zu konstituieren. In
diesem Sinn ist es eins meiner Ziele, die Zahl der Beziehungen zwischen den Bildern zu vermehren,
statt sie durch Rückbezug auf größere Einheiten zu verringern. Widersprüche sollen differenziert und
nicht beseitigt oder simplifiziert werden. Deshalb kommt es darauf an, Aussagen in verschiedenen
Bezugssystemen und Bewertungsräumen zu konfrontieren und zu vergleichen. Jede Hängung ist immer
nur im Hinblick auf mögliche Korrekturen und Modifikationen möglich. Eine “endgültig vorläufige“
Hängung ist damit eine Reflexionsvorlage für weitere Bemühungen und offen für Ergänzungen,
Verbesserungen und Veränderungen. Die Entstehung und Modifikation der Bildkombinationen ist ein
permanentes Probieren, erstreckt sich oft über mehrere Monate und ist theoretisch nie abgeschlossen.
Das vorläufige Ende ist daher immer auch ein neuer Anfang.
168 Lacan, Jacques. Schriften 11. Olten und Freiburg, 1975. S.27169 Deleuze, Gille und Guattari, Felix. Rhizom. Berlin, 1977.170 Im Poststrukturalismus geht es nicht um Gewissheiten, sondern um deren Auflösung, nicht um Begründungen, sondernum deren Verschwinden. Der Übergang von Strukturalismus zum Poststrukturalismus könnte man als einen Wechsel voneinem endlichen zu einem unendlichen Analysekontext verstehen. Im Strukturalismus sollte dem Denken eineSinnbestimmung gegeben werden. Das Subjekt wurde in einem endlichen und damit prinzipiell übersichtlichen System mittaxonomischer Ordnung gesehen. Der Poststrukturalismus hingegen unterläuft dieses Vertrauen, Sinn und Bedeutung in derStruktur zu finden. Ein einheitlicher Konsens kann deshalb höchstens lokal und zeitlich beschränkt gültig sein. Auch imheutigen Museum ist der Einfluss der “Postmoderne“ zu spüren. Dies zeigt sich in der gestiegenen Wertschätzung desFragmentarischen und Assoziativen, eine Geisteshaltung, die mit großer Skepsis gegenüber wissenschaftlichen Dogmenund Wahrheitsansprüchen sowie systematischen Gliederungsprinzipien verbunden ist.
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3.2 Expeditionen ins Naturkundemuseum
Bevor ich zur Schule ging, wurde ich mindestens einmal in der Woche ins Münsteraner Naturkundemuseum
mitgenommen. Das Kindermädchen hatte eine Jahreskarte für das Museum und den benachbarten Zoo und so
verbrachte ich viele Stunden bei den lebenden und ausgestopften Tieren. Ich habe besonders starke
Erinnerungen an endlose verregnete Vormittage im Naturkundemuseum. Die im Winter immer viel zu hoch
aufgedrehte Heizung, der spezifische Geruch nach Teppich, Staub und Putzmitteln, die abgedunkelten Fenster
und die hell erleuchteten Vitrinen. Meist waren nur wenige Menschen im Museum und ich durfte auf eigene Faust
umherstreifen, um meinen besonderen Lieblingen unter den Ausstellungsstücken einen Besuch abzustatten. Ein
Rundgang lag komplett im Dunkeln und nur durch die Fenster zu den Dioramen heimischer Fauna drang
schwaches Licht auf den grauen Teppichboden. In diese Landschaften konnte ich eintauchen, mich stundenlang
hineinversenken – und jede hatte ihre ganz eigene Atmosphäre. Es gab eine Gruppe von Rehen in einer kargen,
Schnee bedeckten Ackerlandschaft, einen Steinmarder, der im blassen Mondlicht auf dem Dach eines
Schuppens balancierte und eine Bache mit ihren Frischlingen im jungen Grün eines Frühlingswaldes. Besonders
hatte es mir in der Afrika-Halle die blutige Darstellung zweier Hyänen angetan, die eine Antilope ausweideten.
Halb fasziniert, halb angeekelt starrte ich immer wieder auf die etwas zu grell rosa und violett bemalten Gedärme,
die aus dem Bauch der Antilope quollen. Ein einschneidendes Erlebnis war der Tod des Eisbären im Zoo. Dort
war er über Jahre hinweg der letzte Höhepunkt vor dem Ausgang gewesen. Wenige Wochen nach seinem
Verschwinden aus dem betonierten Zoogehege tauchte er plötzlich in der Polarlandschaft des
Naturkundemuseums auf. Sein Fell war viel weißer, als ich es in Erinnerung hatte, und er stand erwartungsvoll
vor dem Eisloch einer Robbe, um diese beim nächsten Luftholen mit einem Prankenhieb zu töten.
3.2.1 Museale Repräsentation und Inszenierung von Natur
Die Faszination für Naturkundemuseen ist mir geblieben und nach jeder Ankunft in einer neuen Stadt
besuche ich als Erstes das dort ansässige naturhistorische Museum. Ich lasse mich nach wie vor
verzaubern, kann mich immer noch in die musealen Repräsentationen von Natur versenken und mich in
den Bann dieser seltsam künstlichen Welten ziehen lassen. Für den Moment vergesse ich dann die
Absurdität, welche der fiktiven Auferstehung von toten Tieren auf einer künstlich gestalteten Bühne
innewohnt: Die Zeit ist angehalten, Wolken türmen sich am azurblauen Himmel, Vögel stehen
regungslos davor, Wölfe starren mit gleich bleibender Aufmerksamkeit in eine Richtung. Ihre Zungen
hängen hechelnd heraus, der Brustkorb scheint sich zu heben und zu senken, die glänzenden,
gemalten Lefzen und blitzenden Glasaugen wirken täuschend echt. Hinter der Glasscheibe sind all
diese Details eingefroren, damit sie in Ruhe betrachten werden können. Die aufwändigen, detailliert
angelegten Environments der Dioramen vereinen Guckkasten und Bühne, sie sind ein Zusammenspiel
von Malerei, Skulptur und Installation im konstruierten Raum. Mit Hilfe von Illusionstechniken werden
die Elemente so inszeniert, dass es scheint, als seien sie real. „Kulminationspunkte dieser fiktiven
60
Realitäten sind die Entdeckung der Zentralperspektive, aber auch das Theater in der Tradition der
Guckkastenbühne.“171 Der kulissenhafte Charakter und die bizarren Oberflächen dieser künstlichen
Wirklichkeiten sind höchst faszinierend, da sich die ausgestopften Tiere im Museum trotz der teilweise
gelingenden Illusion ja eigentlich in einer Umgebung befinden, die ganz offensichtlich nicht ihre
natürliche ist. Sie liegen in Vitrinen, hängen an den Wänden, stehen auf Podesten und sind in die
künstlichen Bühnen der Dioramen eingefügt. Sie werden von Erklärungstafeln beschrieben, von
Beleuchtungssystemen angestrahlt, von Befeuchtungs- und Belüftungsanlagen temperiert und sind von
Mobiliar und Dekor einer ihnen eigentlich nicht gemäßen Umgebung umstellt. Durch die Entfernung der
Tiere von ihrem lebensweltlichen Zusammenhang und durch das Arrangieren der präparierten Körper
zu “eingefrorenen“ Momentaufnahmen werden die musealen Exponate letztendlich zu
Repräsentationen ihrer selbst.
Obwohl die Dioramen in ihrer physischen Existenz real im Museumsraum präsent sind, so ist es doch
offensichtlich, dass es sich bei den erzeugten Bildern nicht um “die Realität“ sondern um vermittelte
Repräsentationen von Realität handelt. Und ich falle – bei aller Faszinationskraft, welche die
Dioramen auf mich haben – natürlich nicht wirklich auf die Kulissen herein. Es ist eher so, dass diese für
mich besonders durch die beflissenen (aber letztendlich vergeblichen) Versuche der Dioramenbauer,
perfekte Abbilder der Natur zu erzeugen, einen ganz eigenen Charme entwickeln. Ich muss zugeben,
dass ich eine persönliche Neigung zu Museen habe, die ich als “rührend“ empfinde. Damit meine ich
solche Orte, an denen die übliche Rhetorik der Präsentation hoffnungslos hinter der Idealnorm
zurückbleibt. Diese Museen zeigen die offiziellen Repräsentationsmodelle von Natur in einem
unabgeschlossenen Zustand und es fällt leichter, diese als Konstrukte zu verstehen und die
Willkürlichkeit solcher offiziellen Standards zu reflektieren. Die etablierten Muster der musealen
Darstellung von Natur, darunter Biologische Gruppe und Diorama, scheinen dort häufig wie
schablonenhafte Wiederholungen immer gleicher Tiermotive, und die Präsentationen angeblich
lebensnaher Bewegungsmomente wirken oft erstarrt.172 Genau in dieser so offensichtlichen
Künstlichkeit der Kulissen liegt ein starker Reiz. Aufgrund der Tatsache, dass die Inszenierungen im
Naturkundemuseum abstrahieren müssten, dabei aber konkret dinghaft bleiben, bieten sie eine große
Angriffsfläche. Sie bewegen sich immer am Rande des Fantastischen und Kuriosen und zeigen oft
Widersprüche. An dieser Stelle möchte ich mit meiner künstlerischen Arbeit ansetzen und empfinde die
Tatsache, dass die Widersprüche möglicherweise durch meine künstlerische Untersuchung und
Bearbeitung nicht aufzulösen sind, nicht als negativ, sondern im Gegenteil eher als spannend.
171 Krämer, Sybille. “Vom Trugbild zum Topos. Über fiktive Realitäten.“ In: Iglhaut, Stefan, Rötzer, Florian und Schweeger,Elisabeth (Hrsg.): Illusion und Simulation – Begegnung mit der Realität. Ostfildern, 1995. S.131172 Es gibt bereits erste Versuche, das klassische Diorama zu modernisieren, wobei die neueste Entwicklung darauf abzielt,das Hintergrundgemälde zu mobilisieren und als Filmprojektion aus seiner Erstarrung zu befreien.
61
Für den Ansatz meiner Untersuchung heißt das, dass ich mich den naturkundlichen Schausammlungen
als Repräsentationen nähere. Repräsentation meint hier die Darstellung und Vergegenwärtigung von
etwas Abwesendem, Unsichtbarem.173 Denn “Natur“ kann im Museum nicht anwesend sein, sie kann
dort nur repräsentiert werden. So geht es bei meiner künstlerischen Untersuchung des
Naturkundemuseums auch nicht um die Natur, sondern um eine Kultur, nämlich die Kultur der
Repräsentation von Natur, durch die sich der Mensch zur Natur in Beziehung setzt.174 Anders als die
Historikerin Ludmilla Jordanova, die sich ausführlich mit Museen beschäftigt hat, meine ich nicht, dass
Museen mit ihren Ausstellungen lediglich Fiktionen erschaffen würden. Naturkundemuseen zeigen zwar
keine Natur, aber auch keine Phantasien, sondern Repräsentationen von Natur. Damit geben sie nicht
nur über die Natur, sondern auch über die Gesellschaft Auskunft, aus der heraus solche
Repräsentationen entstehen.175 Und obwohl die Welt des Museums eine Konstruktion ist, so ist seine
Wirkung (und sei es die Wirkung von Künstlichkeit) auf den Museumsbesucher real. Ich versuche in den
Museumsexponaten die ihnen vorgeschaltete Form der Präsentation zu erkennen und zu befragen.
Eine solche Untersuchung der “Sprache des Museums“ kann mir als Schlüssel zur künstlerischen
Erforschung des gesellschaftlichen Konstrukts der “Natur“ dienen.
3.2.2 Fotografieren im Naturkundemuseum
Die Fotos sind über mehrere Jahre hinweg in deutschen und ausländischen Naturkundemuseen
aufgenommen worden. Neben Hamburg, Münster, Lübeck, Lüneburg, Hannover, Bremen, Berlin,
München und Frankfurt sind auch Bilder aus den Naturkundemuseen von London, Chicago, Tallin,
Dubai und Genf darunter. Durch diesen Querschnitt kann ich zwar keine generellen Schlussfolgerungen
über das Naturkundemuseum an sich treffen, dennoch zeigt die Zusammenschau von Bildern aus
mehreren Museen bestimmte Konventionen der Darstellung und strukturelle Ähnlichkeiten der
Institutionen im spezifischen Umgang mit ihrer Aufgabe, die Natur zu repräsentieren.176
Bei meinen Besuchen im Museum weiß ich vorher oft nicht genau, was ich dort eigentlich fotografieren
werde. Ich überlasse die Auswahl der Perspektive und den entscheidenden Moment des Fotografierens
meiner spontanen Reaktion auf die vorgefundenen Situationen und verfolge kein Konzept im Sinne
eines strengen Planes. Vielmehr lasse ich mich intuitiv leiten, versuche mich bewusst und mit Genuss in
den Bann der Museen ziehen zu lassen und bewege mich beinahe traumwandlerisch darin. Ich gehe
immer allein ins Naturkundemuseum und verbringe bei jedem Besuch viele Stunden dort. Ich lasse die 173 Vgl. Rheinberger, Hans-Jörg (Hrsg.) Räume des Wissens. Repräsentation, Codierung, Spur. Berlin, 1997. 265 ff.174 Um die Entwicklung des gesellschaftlichen Naturbegriffs, die Verschiebung der Vorstellung von der Natur zu erforschen,sind die Darbietungen des Naturkundemuseums wie geschaffen. Denn als didaktische Einrichtung, deren Auftrag es ist,einem breitem Publikum die Wissenschaft vom Leben zu erklären, sind darin ganz unterschiedliche Erzählungen undErzähltechniken der Präsentationen versammelt.175 Vgl. Jordanowa, Ludmilla. “Objects of Knowledge. A Historical perspective on Museums.“ in: Vergo, Peter (Hrsg.) Thenew Museology. London, 2000. S.22-40176 Wie bereits beschrieben, veränderten die Naturkundemuseen die Darstellungs- und Vermittlungsformen, welche sie vorüber hundert Jahren erfunden hatten, bis zum heutigen Tag nicht Grund legend.
62
Atmosphäre auf mich wirken, durchschreite die Gänge und Säle mal schnell, mal langsam, und verweile
minutenlang vor den einzelnen Dioramen. Bei der Motivsuche schaue ich sowohl nach dem Typischen
als auch nach dem Besonderen. Ich gehe für mich der Frage nach, weshalb die Inszenierungen nur in
einigen Fällen illusionistisch funktionieren, weshalb mich hier die technische Umsetzung begeistert, dort
der “Bildaufbau“ oder die Dramatik. Ich versuche, ungewöhnliche Standpunkte einzunehmen und so
neue Einblicke zu gewinnen. Ich gehe ganz nah ran, schaue genau hin, suche nach Tieren mit einem
seltsamen Gesichtsausdruck, nach zufälligen Blickkontakten zwischen den ausgestopften Präparaten
und ungewollter Komik in ihrer Zusammenstellung. Ich streife solange durch die Museumsräume, bis
sich plötzlich eine oder mehrere dieser Fragen an einem bestimmten Ort verdichtet vorfinden. Dort
mache ich dann eine ganze Reihe von Fotos und probiere dabei aus, wie durch die bewusste Setzung
von Perspektive und Ausschnitt zu den vorgefundenen Phänomenen beigetragen und deren Wirkung
affirmativ verstärkt oder ironisch gebrochen werden kann. Die dabei entstehenden Fotos sind keine
dokumentarischen Sachfotos, sondern persönliche Reaktionen auf die vorgefundenen Situationen im
Naturkundemuseum, bei denen ich bewusst meinen ganz eigenen Blick auf die Inszenierungen werfe
und versuche, sie mir dabei anzueignen.
3.2.3 Charakteristik der Fotografien
Es scheint mir so, als hätte ich durch meine jahrelange fotografische Erkundung des
Naturkundemuseums einen “Sensor“ für typische Situationen und seltsame Zufälle im Museum
entwickelt. Der Blick durch die Kamera bietet dabei für mich zwei ganz unterschiedliche sich sogar
widersprechende Vorteile. So bilde ich mir einerseits ein, mit dem Fotoapparat objektiver, analytischer
und dokumentarischer sehen zu können als ohne das technische Gerät. Andererseits ist es möglich,
durch die Wahl eines Ausschnitts mit der Kamera all diejenigen Elemente aus meinem Blickfeld zu
entfernen, welche die künstlichen Illusionen von Natur im Museum brechen und neutralisieren würden.
So kann ich mich durch das Fotografieren sowohl distanzieren als auch den künstlichen Landschaften
und Tieren näher kommen, indem ich ihrem Illusionscharakter besser erliegen und sie vor meinem
inneren Auge und auf der Fotografie reanimieren kann. Der gewünschte Rahmen, durch den ich das
Museum betrachten möchte, kann subjektiver oder objektiver gesetzt werden. Ich kann den Fokus auf
Details lenken, einiges scharf stellen und anderes im Unklaren lassen. Teilweise lassen sich die Fotos
ganz naiv auf die künstlichen Welten ein und behandeln sie so, als seien sie Realität. Teilweise wird die
Illusion aber durch die Veränderung des Ausschnitts oder der Perspektive bewusst gekippt. Der
Ausschnitt – und damit gleichzeitig der ausgeblendete Umraum – sind dabei, neben der speziellen
motivischen Auswahl, besonders wichtige Aspekte.
Das Ziel beim Fotografieren in den Ausstellungen ist es, das Naturkundemuseum zu analysieren ohne
es dabei zu entzaubern. Denn mein Verhältnis zum Naturkundemuseen im Ganzen und zu den darin
63
enthaltenen künstlichen Nachbildungen von Natur im Besonderen ist ebenso ambivalent. Es pendelt
zwischen ungebrochener Faszination und ironischer Hinterfragung. Deshalb bemühe ich mich, dem
Naturkundemuseum auf unterschiedliche Weisen zu begegnen. Mich einerseits von den Schaustücken
im Museum begeistern zu lassen und gleichzeitig die Präsentationsformen zu untersuchen. Da ich mit
den Wirklichkeitsebenen im Naturkundemuseum fotografisch auf zwei entgegen gesetzte
Herangehensweisen der realen und gebrochenen Fiktionen umgehe, werde ich die Bilder in Gruppen
dieser unterschiedlichen Haltungen einteilen. Auch wenn nicht alle Bilder ganz strikt in diese oder jene
Untergruppe eingeordnet werden können, wird dennoch deutlich, dass sie unterschiedlich auf die
musealen Präsentationen reagieren.
Reale Fiktionen
Die Dioramen im Museum bieten einen Ausschnitt aus einer Welt außerhalb des Museums, der
möglichst überzeugend repräsentiert werden soll. Die museal nachempfundene Landschaft, welche mit
konservierten und künstlichen Pflanzen sowie mit ausgestopften Tieren und gemalten Hintergründen
gestaltet wird, bietet einen fest umgrenzten Ausblick. Deshalb ist das Verhältnis von Gezeigtem und
Ausgeblendetem auch im Falle der Fotos von Dioramen so außerordentlich wichtig. Wird der Ausschnitt
beim Fotografieren so gewählt, dass keine Hinweise zu sehen sind, welche die Illusion der Dioramen-
Welt brechen könnten, bleibe ich also innerhalb des künstlich gesetzten Rahmens, so kann der im
Diorama gezeigte Ausblick auf dem Foto als reale Landschaft in Szene gesetzt werden. Dazu gehe ich
mindestens so dicht heran, dass der konstruierte Dioramenbau, der museale Kontext, Beschriftungen,
Besucher und der Ausstellungsraum ausgeblendet werden und die Bühne des Dioramas für einen
Augenblick als natürliche Wildnis erscheinen kann. Dazu muss angemerkt werden, dass dies auf dem
Foto weit besser als im Museum funktioniert, weil der teilweise vorgetäuschte dreidimensionale Raum,
der dem Diorama zu seiner Wirkung verhilft, in der zweidimensionalen Fotografie wieder auf eine Ebene
gebracht wird. Die Szenarien im Diorama ahmen selbst fotografische Gestaltungsweisen nach und
streben den trompe l´oeil - Effekt stereoskopischer Sehweise an. Deshalb gelingt die Rückübersetzung
in das Medium der Fotografie recht überzeugend. Durch das Wegschneiden der umgebenden Situation
und die Bannung auf das zweidimensionale Foto, wird der gebauten Fiktion eine irritierende Realität
verschafft.
Für die Fotoreihe Dioramenmalerei bin ich noch einen Schritt weiter gegangen und habe
Landschaftsbilder in Dioramen aufgenommen, bei denen ich bewusst nicht die Hauptakteure der
Dioramen – die ausgestopften Tieren – fotografiert habe. Diese tauchen höchstens angeschnitten und
manchmal fast nicht erkennbar irgendwo am Rand der Fotos auf. Da die Dioramen auf die Präsentation
der ausgestopften Tiere ausgerichtet sind und diese in den Vordergrund und Mittelpunkt stellen, war es
manchmal gar nicht so leicht, an ihnen vorbei zu fotografieren. Um Ausschnitte zu finden, bei denen die
Landschaftsmalerei des Hintergrundes mit den realen Versatzstücken der botanischen und
64
geologischen Gestaltung des Vordergrundes eine harmonische Komposition ergibt, habe ich teilweise
recht ungewöhnliche Positionen vor den Dioramen einnehmen müssen. Durch das Fehlen der Tiere,
denen ihr ausgestopfter und lebloser Charakter oft sehr schnell anzusehen ist, können diese
Landschaftsbilder die Unsicherheit über die “Realität“ der fotografierten Szenerie länger halten.
Abb. 9: Beispiele für Fotos aus der Reihe Dioramenmalerei, 2006.
Dennoch muss man selbst bei der oberflächlich realistisch erscheinenden Anmutung bei kurzem
Nachdenken den Kopf schütteln. Irgendetwas stimmt nicht, es kann nicht sein. Durch die klischeehafte
Komposition der Landschaftselemente fällt trotz der Ausblendung des umgebenden Museumsraums
auf, dass es sich um eine menschliche Vorstellung von Natur, um Abbilder von Konstruktionen handelt.
Und bei näherer Betrachtung der Fotografie wird deutlich, was man im Original allein durch die
Erwartungshaltung, mit der man ein Naturkundemuseum besucht, sofort gesehen hätte: Nämlich dass
es sich um Kulissenmaterialien, gemalte Hintergründe und ausgestopfte Tiere handelt. Auch wenn die
Fotos auf den ersten flüchtigen Blick eher als Abbildungen der realen Natur durchgehen als die
dreidimensionalen Dioramen im Museum, so werden die Inszenierungen durch die seltsam starre und
inszenierte Anmutung in den Bildern letztendlich doch in ihrer Künstlichkeit entlarvt.
Bezugnahme auf Hiroshi Sugimotos Dioramas
In diesem Zusammenhang möchte ich die 1976 begonnene Fotoserie Dioramas des japanischen
Künstlers Hiroshi Sugimoto vorstellen. Im Interview beschreibt Sugimoto, wie er zum Fotografieren der
naturkundlichen Dioramen kam. „Das erste, worauf ich in New York stieß, waren diese Dioramen im
Naturkundemuseum am Central Park West. Als ich sie sah, kam es mir vor, als hätte ich Drogen
genommen. Ich habe mich beispielsweise gefragt, ob der tote Bär, den ich da hinter Glas sah, vielleicht
eine Halluzination ist. Das war eine sehr tief gehende Erfahrung und vermittelte mir eine interessante
Vorstellung vom Leben. Tote Tiere können sehr lebendig wirken. (...) Als ich darüber nachdachte, kam
mir die Idee, zu beweisen, dass man das Ganze auch mit Hilfe einer photographischen Technik
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realisieren könnte. (...) Auf diese Weise habe ich mir die Dioramen angeeignet. Totes zum Leben zu
erwecken war schon fast eine religiöse Handlung.“177
Die Sujets dieser Serie sind allesamt Dioramen mit ausgestopften Tieren, welche in der Zeitlosigkeit
eingefroren und mumifiziert sind, um einen vergangenen Augenblick zu neuem Leben erstehen zu
lassen. Sugimoto macht diesen Aspekt dadurch offensichtlich, dass er den fiktiven Realismus der
Schaubilder im fotografischen Abbild Realität werden lässt. Er nutzt die halluzinatorische Wirkung, die
von den Dioramen der Naturkundemuseen ausgeht, und behandelt sie in seinen Fotos als Wirklichkeit.
Wie in meinen Landschaftsbildern, so bleibt auch bei Sugimoto der Kontext des Museums komplett
unsichtbar. Er eliminiert die Rahmen, Glasscheiben und Erklärungsschilder und fotografiert nur die Tiere
in der jeweiligen Kulisse. Doch während ich in meinen Fotografien einen weiteren Ausschnitt im
Diorama vornehme, hält Sugimoto jeweils die gesamte Frontfläche fest.
Abb. 10: Hiroshi Sugimoto. Bongo, 1994. Abb. 11: Hiroshi Sugimoto. Gorilla, 1994.
Seine Fotografien sind unheimlich präzise und detailreich, wobei “unheimlich“ in diesem
Zusammenhang durchaus wörtlich gemeint ist. Dies mag auch damit zu tun haben, dass die Steifigkeit,
Leblosigkeit und Künstlichkeit in den Schwarzweißbildern spürbar abgemildert wird und sie dadurch
realer erscheinen lässt. Seine Entscheidung, schwarzweiß zu Fotografieren trägt enorm dazu bei, dass
die Hinweise auf Machart und räumliche Unstimmigkeit der Schaubilder verwischt werden. Indem er auf
die Tiefe des Raums und auf dessen Farbigkeit verzichtet, wird „(...) die einst angestrebte Lebendigkeit
der toten Szenen neuerlich evoziert.“178 Sugimoto selbst sagt dazu: „Im Naturkundemuseum haben die
Dioramen oft eine sehr starke und künstlich wirkende Farbigkeit. Die Entscheidung schwarzweiß zu
Fotografieren lässt die Fotos wie Schnappschüsse aus der realen Natur aussehen.“179 Für ihn haben
die naturähnlichen Farben und die stallgroßen Schaukästen durch Zeitschriften, Film und Fernsehen
177 Kellein, Thomas. Hiroshi Sugimoto. Time Exposed. o.O. 1995. S.89178 „Das einzige, was in diesen von mir photographierten Museums-Arrangements fehlt, ist das Leben. Das ist die besteMethode, zu zeigen, was das Leben eigentlich ist, was es für uns selbst bedeutet.“ Kunsthalle Basel (Hrsg.). Das21.Jahrhundert/The 21st Century. Basel, 1993. S.76 f.179 Kellein, Thomas. Hiroshi Sugimoto. Time Exposed. o.O. 1995. S.89
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inzwischen an Glaubwürdigkeit eingebüßt. Ihm zufolge wirkten die toten Tiere und anderen Materialien
vor den Hintergrundgemälden in den Farben der Maler theatralisch und könnten als Bühnenbild leicht
entlarvt werden. Sähe man aber seine Schwarzweißfotos an, so aktiviere man die eigene
Vorstellungskraft und versetze sich selbst in den Glauben, dass dies eine Abbildung der realen Welt
sei.180 Über Sugimotos Fotografien schreibt Nancy Spector: „Die Serie ist kein Essay über
Ausstellungsmethoden und keine Kritik des Museums. Sugimotos Dioramas feiern die Realitätsnähe der
Darstellung, die auch das Grundelement der fotografischen Praxis ist.“181 In mir erwecken seine Fotos
darüber hinaus auch den Eindruck, als ob sie den Fotografien entsprechen könnten, nach denen der
Dioramenbauer seinerzeit die künstlichen Bühnen errichtete.
Für mich birgt gerade die seltsame Farbigkeit der Malereien im Diorama einen großen Reiz. In den von
mir fotografierten Bildern bleiben die Unterschiede und Charakteristika der einzelnen Dioramen stärker
vorhanden, anstatt sich durch die vereinheitlichende schwarzweiß-Fotografie ähnlicher zu werden.
Somit bleiben auch die von den Dioramenbauern verwendeten Methoden deutlicher sichtbar und meine
farbigen Fotos können beinahe wie Gemälde aussehen. Durch dieses Moment der Unsicherheit, ob es
sich um das Foto einer realen oder einer gemalten Landschaft handelt, wird noch ein weiterer Aspekt
der Dioramen beleuchtet.
Gebrochene Fiktionen
Neben den beschriebenen Fotos von “realen Fiktionen“, bei denen die Tatsache, dass die Bilder im
Museum aufgenommen wurden, zu einem gewissen Grad verschleiert werden soll, habe ich auch
solche Fotos aufgenommen, bei denen die Museumssituation nicht verschwiegen wird, sondern –
ganz im Gegenteil – im Vordergrund steht. Auf diesen Bildern ist es offensichtlich, wo wir uns befinden,
und wenn Dioramen darin auftauchen, so werden diese gut sichtbar als Illusionen im Museums-Rahmen
enttarnt. Dadurch, dass die virtuellen Dioramen-Welten im Kontext des Museums gezeigt werden, wird
ihre Künstlichkeit besonders betont. Ein solch abgeklärter Blick ist zwar manchmal etwas lakonisch,
zeigt sich dabei aber dennoch auch fasziniert von der optischen Vielschichtigkeit der Aufbauten und
Durchblicke und gibt einen interessanten Einblick in die Architektur, die Beleuchtung und die
Atmosphäre der Museumsräume. Bei diesen Bildern geht es mir um die Harmonien und Spannungen,
die bei der Repräsentation von Natur im Museumsumfeld entstehen.
Zunächst einmal gibt es bei der Inszenierung im Naturkundemuseum verschiedene Grade der
Abstufung zwischen der nüchtern-taxonomischen Aufreihung präparierter Tiere und dem
illusionistischen Diorama. Auch und besonders die Zwischenstufen interessieren mich. So gibt es
beispielsweise präparierte Tiere, die – vollkommen skurril – auf kleine “Inseln“ typischen
Bodenuntergrundes gestellt oder auf Äste montiert werden, welche aus der Museumswand
180 Ebd. S.90181 Spector, Nancy. Hiroshi Sugimoto. Portraits. New York, 2000. S.17
67
herauswachsen. Dann gibt es Tiergruppen, die frei im Museumsraum stehend gezeigt werden und
Dioramen, die zwar die Elemente “präpariertes Tier“ und “Vordergrund“ abdecken, jedoch keine
gewölbte Rückwand mit illusionistischer Malerei aufweisen, sondern stattdessen gerade und einfarbig
gestrichene Wände als Hintergrund benutzen. Solche Darstellungsweisen scheinen mir deshalb
besonders interessant, da sie bewusst nur einen halbherzigen Illusionsversuch unternehmen und sich
durch den Verzicht auf eine Rundum-Illusion bereits selbst enttarnen.
Auf einigen meiner Fotos werden im Aufbau befindliche Dioramen gezeigt. Dieser Blick hinter die
Kulissen zeigt die Bühnen, bei denen die Vollendung der illusionistischen Repräsentation von Natur
noch bevor steht. So stehen beispielsweise vor dem vollendeten Hintergrundgemälde und dem in
Plastikfolie eingewickelten Eisbären grob ausgeschnittene Styroporformen, die in der Kulisse des
Dioramas später einmal die Rolle von Eisschollen übernehmen sollen. Auf einem anderen Bild sieht
man einen Steinbock inmitten einer “Landschaft“ aus dem Handwerkszeug der Dioramenbauer. Obwohl
dieses fremd in den Museumsräumen wirkt, fügen sich Leitern und Folien auf eine seltsame Art in die
künstliche Welt der Dioramen-Kulisse ein. Dies führt zu interessanten und sehr merkwürdigen
Überschneidungen.
Abb. 12: Beispiele für Fotos von Museumssituationen aus der Projektion Expeditionen ins Naturkundemuseum, 2007.
Nimmt man sowohl die illusionistisch gemeinten Repräsentationen von Natur als auch die
Museumssituation ernst, ergibt sich ein verwirrendes Spiel mit den sich überlagernden Realitätsebenen
Diese ergibt sich aus der Verschränkung von verschiedenen Systemen, die zwar räumlich koexistieren,
nicht jedoch derselben Wertsphäre anzugehören scheinen. Und während sich Wölfe und Elche in der
einen Ecke des Raums einen Kampf auf Leben und Tod liefern, geht gleich daneben eine Gruppe von
Rehen völlig unbeteiligt ihren harmlosen Beschäftigungen nach. Die gegenseitige Ignoranz der Tiere,
trotz ihrer physischen Nähe im Museum, kann im Foto überraschend in Szene gesetzt werden.
Seltsame Verbindungen und Überschneidungen kommen auch dann zustande, wenn es im Museum
einen Blickkontakt zwischen Tieren gibt, die sich in freier Wildbahn entweder niemals begegnen
68
würden, oder der eine den anderen sofort auffressen würde. Auf einem gemeinsamen Foto bekommt
der furchtlose Hamster im Angesicht des Fuchses eine heldenhafte Note.
Mitunter bin ich mit der Kamera sehr dicht an die Tiere herangetreten und habe so etwas wie
Portraitfotos von ihnen gemacht. Bei einigen der konzentrierten oder völlig entrückten
Gesichtsausdrücke einzelner Tiere könnte man meinen, dass sie in ihre eigenen Gedanken versunken
seien und vielleicht sogar über ihre Situation im Museum nachdächten. Die Tiergesichter mit den
glänzenden Glasaugen scheinen ein geheimes persönliches Leben zu führen.
Abb. 13: Beispiele für “Portraitfotos“ aus der Projektion Expeditionen ins Naturkundemuseum, 2007.
Bei diesen Bildern wird der Betrachter direkt mit dem ausgestopften toten Gegenüber konfrontiert. Auch
hier trägt der zweidimensionale Verweischarakter der Fotografie eher dazu bei, die Tiere lebendig
erscheinen zu lassen und sie in einer komplett künstlichen Umgebung aus ihrer Starre zu erwecken. An
solchen individuellen “Tier-Persönlichkeiten“ wird mir immer sehr deutlich bewusst, dass die Tiere,
obwohl sie im Museum als Vertreter ihrer Art und Gattung stehen und damit Beispiel für all die anderen
Antilopen und Hyänen sind, doch einmal individuelle Lebewesen waren. Es scheint paradox – aber die
Tatsache, dass sie alle einmal lebendig waren, ist das grundsätzliche, verbindende Element. Dennoch
starrt mir beim Betrachten der Tiere trotz aller Täuschungsmanöver letztendlich vor allem die in ihnen
gespiegelte Leblosigkeit entgegen. Möglicherweise fällt das Tote dadurch besonders stark auf, dass es
von den Repräsentationen des Lebens und der Natur ausgeht. Im Museum soll die Eingebundenheit
der Tiere in ihren ursprünglichen Lebensraum simuliert werden. Dies ist natürlich immer nur als
Annäherung möglich, denn das Tier in seinem ursprünglichen Weltzusammenhang gibt es nicht mehr.
In der Rekonstruktion soll es als Wiederholung auftreten und permanent gezeigt werden, wobei gerade
das permanente Zeigen mit der Fixierung des Gegenstandes verbunden ist und im Fall von Tieren
zwangsläufig deren Vernichtung als Lebewesen bedeutet. So kann ein lebendiges Tier im
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ausgestopften Tier zwar wiederholt, nicht jedoch wiederhergestellt werden. “Ceci n´est pas une animal“
ist man geneigt, in Abwandlung eines Bildtitels von René Magritte zu sagen.182
Teilweise haben auch die Herausforderungen des spezifischen Ortes Museum direkt dazu
beigetragen, dass ich bestimmte Fotografien nicht machen konnte, während andere sich anboten.
Obwohl das Fotografieren in fast allen Naturkundemuseen nach der obligatorischen Unterschrift
(Verwendung der Bilder nur zu Privatzwecken) erlaubt ist, wird die Mitnahme eines Stativs nicht immer
gestattet. Ohne Stativ zu fotografieren, ist im Naturkundemuseum eine besondere Herausforderung, da
das Tageslicht meist ausgeblendet oder zumindest abgedunkelt wird. Gleichzeitig wird auf eine helle
künstliche Allgemeinbeleuchtung verzichtet, und die Räume werden nur durch indirektes und stark
abgedämpftes Licht erhellt. Abgesehen von den erleuchteten Vitrinen und Dioramen gibt es somit oft
keine weiteren Lichtquellen. Dies verleiht den Ausstellungsobjekten eine besondere Dramatik. Es wird
Stimmung erzeugt, Ehrfurcht hervorgerufen und ein theatralischer Effekt angestrebt.183 Doch durch das
schummerige Licht im Rest des Raums besteht die Gefahr, dass die Bilder verwackeln, wenn die
Kamera von Hand gehalten wird. Der Einsatz von Blitzlicht im Naturkundemuseum erweist sich als
besonders problematisch, da durch die Glaswände der Vitrinen und Dioramen störende Reflektionen
entstehen. Und die Beleuchtung der Dioramen ist ganz genau justiert, so dass die Illusion –
beispielsweise durch einen vom Blitzlicht erzeugten Schatten an der Übergangskante von gewölbter
Wand zu Decke – enttarnt werden würde. Die Reflektionen in den Scheiben sind auch ohne Blitz eine
Herausforderung. Man spiegelt sich selbst darin oder das gegenüberliegende, beleuchtete Diorama wirft
eine Reflektion auf die Glasscheibe. Das ist kaum vermeidbar und manchmal ärgerlich, bisweilen führt
es aber auch zu interessanten Überschneidungen und Verschränkungen von Bildebenen.
In vielen Naturkundemuseen drängen sich am Wochenende die Besucher und unter der Woche sind
oft Schulklassen unterwegs. Vor den Vitrinen und Dioramen scharen sich die Betrachter, so dass es
zuweilen beinahe unmöglich ist, einen Moment abzupassen, in dem der Blick auf das gewünschte Motiv
frei ist. Nachdem mir durch Zufall mehrmals Menschen ins Bild gelaufen waren, konnte ich diesem
Umstand beim Betrachten der Fotos mit den versehentlich aufgenommenen Besuchern auf einmal auch
etwas Positives abgewinnen. Die verschwommenen und verwischten Gestalten bilden einen starken
Kontrast zu den in einem spezifischen Moment erstarrten Tieren und machen die im Museum oftmals
vernachlässigte und dennoch vorhandene zeitliche Komponente deutlich. Indem sie Bewegung und
Leben ins Museum bringen, wirkt die Starre der präsentierten Präparate noch eindringlicher. Darüber
hinaus führt der Kontrast zwischen den toten Artefakten und den lebenden Museumsbesuchern den
Menschen in seiner selbst erdachten Rolle als Betrachter der Natur vor. Der Dialog zwischen dem 182 Durch seinen Bildtitel Ceci nést pas un pipe weist Magritte darauf hin, dass das gemalte Bild keine Pfeife, sondern dieAbbildung einer Pfeife zeigt.183 „Die Museumsbesucher blicken in die erleuchteten Vitrinen und Dioramen wie Theaterbesucher aus einem dunklenZuschauerraum auf eine Bühne.“ Susanne Köstering, 2003. S.219
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Museumsbesucher und dem Museumsdisplay ist natürlich implizit auch in den Bildern enthalten, welche
keine Besucher zeigen. Denn allein die Auswahl und die unterschiedlichen Blicke stehen bereits
exemplarisch dafür, wie die Museen wahrgenommen werden könnten. Doch die expliziten Aufnahmen
von Museumsbesuchern vor Exponaten zeigen konkret den Effekt der Inszenierung auf den Betrachter.
Damit wird (ein bisschen wie bei Caspar David Friedrichs “Wanderer im Nebelmeer“ oder den
Museumsbildern von Thomas Struth) eine weitere Reflexionsebene eingebaut. Der Betrachter meiner
Fotos sieht andere Menschen beim Betrachten der Exponate im Museum. Durch die Dopplung wird
gleichzeitig auch der eigene Status als Betrachtender hervorgehoben.
Für mich als Fotografin kommt darüber hinaus eine neue Spannung hinzu, da ich mich für diese Bilder
wie ein bewaffneter Flaneur verhalte. Ich befinde mich nicht mehr bloß auf der Pirsch nach den still
gestellten Tieren, sondern auch nach dem günstigen Augenblick, wenn eine bestimmte Gruppe von
Museumsbesuchern gerade an der richtigen Stelle vorbeiläuft. Teilweise bin ich, um das gewünschte
Foto zu schießen, den Rundgang ein Stück vorgelaufen, habe mich auf die Lauer gelegt und mit der
Kamera im Anschlag gewartet, bis die ausgewählte Besucher-Gruppe endlich an der ihr zugedachten
Position ankam.
Bezugnahme auf die Fotografien von Candida Höfer
Diesen Aspekt möchte ich zum Anlass nehmen, um meine Fotografien im Naturkundemuseum in
Beziehung zu denen der Fotografin Candida Höfer zu setzen. Während ich mich mitunter durch die
zufällig auftauchenden Situationen im Museum zu bestimmten Bildern verleiten lasse, sind die Fotos
von Candida Höfer keine Schnappschüsse, sondern sorgfältig geplant und arrangiert. Die
Menschenleere in ihren Aufnahmen eigentlich öffentlicher Räume unterstreicht diesen Effekt zeitloser
Präsenz. “Candida Höfer möchte die inszenierten Räume in ihrem heterogenen Nebeneinander selbst
zum Sprechen bringen und schließt deshalb Zufälligkeitsfaktoren aus, die mit der Abbildung von
Museumsbesuchern ins Spiel kämen.“184 Die Abwesenheit der Benutzer fällt besonders auf, weil sie
doch in der Realität gerade kennzeichnend für die Funktion der abgelichteten Räume sind. Stühle,
Tische und die bisweilen sonderbare Zusammenstellung der Dinge im Raum erscheinen mit einer
“Patina der Benutzung“185 als Stellvertreter für Menschen, die hier tätig oder anwesend waren. Laut
Michael Oppitz ist es die “Abwesende Anwesenheit“186, die den Bildbetrachter aktiviert, ihn die Spuren
des Menschlichen entdecken lässt und Erinnerungen wachruft. In meinen Fotos von Museumsräumen
sehe ich die Bewegung der Besucher im Kontrast zur stillgelegten Zeit in den Dioramen und Vitrinen
allerdings nicht als abmilderndes, sondern als zuspitzendes Element und als Anregung zur
Selbstreflexion. Candida Höfer bringt in ihren Bildern im Naturkundemuseum den Stand- und Blickpunkt
184 Nippa, Annegret und Herbstreuth, Peter. “Verzauberung – ein Kommentar.“ In: Höfer, Candida. In ethnographischenSammlungen. Köln, 2004.S.110185 Gohr, Siegfried. “Unähnliche Ähnlichkeit“. In: Pfleger, Susanne (Hrsg.) Candida Höfer: Photographie. Basel 1999.186 Oppitz, Michael. “Abwesende Anwesenheit“. In: Kunsthalle Basel (Hrsg.) Candida Höfer: Leseräume. Basel, 1999.
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häufig in eine dynamische Perspektive, indem sie in ihren Bildern diagonale Fluchtlinien betont und
Symmetrien, Bildzentrierung und Stillstellung vermeidet. Diese Bewegung im Bild war auch mir beim
Fotografieren im Museum wichtig. Dennoch wirken die Bilder Candida Höfers ganz anders, da sie einen
starken Eindruck von Dauer oder, wie Martina Dobbe es beschrieben hat, den Eindruck einer
“Stilllegung der Zeit“187 hervorrufen.
Abb.14: Candida Höfer. Museum A. Koenig, Bonn, 1985. Abb. 15: Candida Höfer. Zoologisches Museum, Genf, 1989.
Die von Höfer dokumentierten Räume zeigen, im Gegensatz zu meinen Fotos, keinen subjektiven
Zugang. Gerade dadurch erhalten sie eine ganz eigene Präsenz, die sich durch eine sehr nüchterne
Atmosphäre und einen zurückgenommenen Standpunkt beim Fotografieren auszeichnet. Ich habe den
Eindruck, dass Candida Höfer in ihren Fotos den Museen gegenüber neutral bleiben möchte, da auch
ihre Bildtitel nur den jeweiligen Ort der Aufnahme benennen und von sonstigen Kommentaren und
Erklärungen frei sind. Mit ihrem Weitwinkelobjektiv erfasst sie Boden, Wand, Decke, Türen und Fenster
und erreicht so einen distanziert wirkenden fotografischen Blick. Es wird deutlich, dass in diesen Bildern
ein stärkeres Gewicht auf die Räumlichkeit und weniger auf die Präsentationsgegenstände selbst gelegt
wird. In der Gleichartigkeit und Sachlichkeit der Fotos untersucht Candida Höfer fast taxonomisch-
wissenschaftlich die Topologie und Vergleichbarkeit von Ausstellungsräumen.
3.2.4 Präsentieren der Bilder
Meine Fotos zeigen unterschiedliche Sichtweisen auf die Inszenierungsformen im Naturkundemuseum.
Durch den krampfhaft angestrebten Realismus des eingefrorenen Lebens ergeben sich immer wieder
absurde Situationen. Diese unbeabsichtigten Nebenwirkungen der Inszenierung verweisen auf die
Brüchigkeit der Illusion, in welcher sich die fiktiven Versatzstücke von Natur im künstlichen Umraum des
Museums befinden. Hin- und hergerissen zwischen der Verblüffung, dem Staunen und der Freude
daran, getäuscht zu werden und dann wieder um einen eher analytischen Blick von Außen bemüht,
187 Dobbe, Martina: “Die Stillegung der Zeit“, in: Städtische Galerie Haus Sell (Hrsg.) Candida Höfer. Räume. Siegen,Düsseldorf. 1992. S.12
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pendeln die Fotos zwischen zwei Extremen. Ich habe diese beiden Blicke für die Präsentation
voneinander getrennt und zeige meine Fotos auf zwei unterschiedliche Weisen. Dadurch, dass sie in
einem Raum gezeigt werden, sind die Sichtweisen aber dennoch miteinander verbunden und werden
einander dabei gegenüber gestellt.
Projektion von Museumssituationen
Die Fotos, welche die Museumssituation offen darstellen, also ganze Museumsräume, aber auch
Ausschnitte und Portraits zeigen, werden als Projektion und nicht als Einzelbilder gezeigt. Durch den
Wechsel und die Bewegung in der Projektion simulieren sie einen Gang durch die Museen, welche
aufgrund der Durchmischung zu einem einzigen Naturkundemuseum zusammen zu schmelzen
scheinen. Bei der Suche nach einer schlüssigen Reihenfolge der Fotos in der Projektion habe ich nicht
auf die unterschiedlichen Aufnahmeorte geachtet, sondern versucht, die verschiedenartigen
Sichtweisen in spannungsreicher Weise aneinander zu reihen. Dabei muss – fast wie beim Filmschnitt –
sowohl auf die gesamte Dramaturgie eines Durchlaufes als auch auf die einzelnen Bildverknüpfungen
geachtet werden. Ähnlich wie beim Kombinieren der Zeitungsfotos habe ich dabei zwei hauptsächliche
Gründe für die Entscheidung, Bilder aufeinander folgen zu lassen. Einerseits achte ich auf die
inhaltliche Abfolge der Bilder, andererseits schaue ich auf formale Aspekte wie Bewegungsrichtungen
oder Farben im Bild. Dabei können bewusst starke Kontraste gesetzt werden, so dass durch einen
harten Schnitt zwei aufeinander folgende Bilder ohne direkte Verbindung einander gegenüber gestellt
werden. Jeder Übergang von einem Bild zum anderen kann als Zäsur mit einem Ortswechsel
einhergehen. Die Übergänge zwischen den Bildern können aber auch weicher sein und durch eine
gemeinsame Bewegungsrichtung, ähnliche Farben oder eine narrative Fortsetzung zu einer fast
filmischen Kontinuität führen. Zwischen Tierportraits, Räumen und Zwischenräumen kann es sachte
Übergänge und harte Brüche geben, wobei besonders die Übergänge zwischen Bildern verschiedener
Einstellungsgrößen wie Totale (gesamter Museumsraum), Halbnahe (Blick auf eine Vitrine oder ein
Diorama) und Großaufnahme (Tierportrait) für den Lauf der Projektion von Bedeutung sind. Innerhalb
der gesamten Fotoreihe lässt sich eine gewisse Abfolge der fotografierten Standpunkte feststellen, die
von Detailaufnahmen bis hin zu distanzierten Außenansichten der Museumsinszenierungen führen. Bei
der Bilderfolge jongliere ich mit Raumansichten und Nahtstellen und arbeite auch mit “typisch
filmischen“ Methoden wie Schuss und Gegenschuss. Dabei wird in der Bildabfolge der Projektion auch
auf die inhaltlichen Zusammenhänge der Bilder Wert gelegt. So wie bei den Zeitungsfotos an der Wand
Zusammenhänge über eine physische Nähe erschlossen werden, so wird hier auf zeitlicher Ebene
etwas Ähnliches angestrebt. Das vorhergehende Foto ist als Nachbild noch vorhanden, wenn das
nächste kommt und führt dazu, dass dieses in einem bestimmten Zusammenhang gelesen werden
kann. Verschiedene Ebenen der Realität vermischen sich, wenn die abgebildeten Räume, Dioramen
und Vitrinen ineinander geschachtelt und damit Innenraum und Außenraum zusammengebracht
73
werden. Durch das Nacheinandersetzen von Körperhaltungen und Blickrichtungen der fotografierten
Tiere versuche ich, Bewegung in die toten Körper zu bringen und diese in einen Zustand zwischen tot
und lebendig zu versetzen, miteinander in Beziehung zu bringen und absurde Kurz-Erzählungen
anklingen zu lassen. Zwischen den auf intellektueller oder emotionaler Ebene sinnvoll miteinander
verbundenen Bildern herrscht ein Spannungsfeld. Erst durch die dramaturgische Anordnung der Bilder
entsteht eine Dynamik, die durch Strukturierung und Rhythmisierung der Bilder wiederum großen
Einfluss auf Inhalt und Wirkung der gesamten Projektion hat. Jedes Bild wird gleichlang gezeigt, wobei
die Dauer bewusst recht lang ist, damit genügend Zeit bleibt, die teilweise komplexen
Verschachtelungen zu durchdringen, bevor das Bild verschwindet und das nächste kommt. Nachdem
die Bildabfolge der Projektion einmal ganz durchgelaufen ist, bleibt am Ende ein schwarzes Bild als
Pause stehen, bevor ein neuer Durchlauf beginnt. Die Projektion wird bewusst nicht als fortlaufender
Loop gezeigt, um zwischen Anfang und Ende einen Spannungsbogen aufbauen zu können.
Gerahmte Dioramenmalerei
Die Fotos, bei denen ich so dicht an die Dioramen gegangen bin, dass ihre Ränder und Bruchstellen
nicht mehr zu sehen sind, werden anders präsentiert. Sie werden als Fotoabzüge auf Papier gebracht,
gerahmt und gehängt. Eine solche Form der Präsentation ist für diese Bilder insofern geeignet, als dass
sie dem Betrachter Zeit gibt, die Bilder auf sich wirken zu lassen und dichter heran zu treten, um Details
genauer anzuschauen. Die Fotos brauchen eine gewisse Ruhe, und dadurch, dass man mehrere Bilder
gleichzeitig nebeneinander an der Wand betrachtet kann, werden die Gemeinsamkeiten und
Unterschiede im Vergleich deutlich. Die angeschnittenen Tiere bilden einen spannungsvollen Kontrast
zu der Abgeschlossenheit des Bilderrahmens. Während der Rahmen des Dioramas einen “vollständigen
Ausschnitt“ umfasst, bildet der Rahmen um meine Fotografie einen Ausschnitt vom Ausschnitt. Durch
die spezielle Dioramenmalerei sollte der Zuschauer das Gefühl haben, in der Landschaft zu stehen und
sich vorstellen, darin spazieren gehen zu können. Um die Landschaft atmosphärisch richtig erscheinen
zu lassen, werden typische Details herausgeholt und das weniger Typische weggelassen. Die
Landschaft wird verdichtet, ihre Atmosphäre kondensiert, das Natürliche idealisiert. Die Bilder in den
Dioramen sind der Inbegriff klischeehafter Natur- und Landschaftsdarstellungen und bedienen
überlieferte kulturelle Gewohnheiten bekannter Naturvorstellungen.188 Durch die Rahmung meiner Fotos
wird dieser Aspekt des Landschaftsbildes formal unterstrichen, was dazu beitragen kann, dass die
Bilder bei nur oberflächlicher Betrachtung Blicke in die freie Natur suggerieren oder umgekehrt wie
Landschaftsgemälde aussehen. Die Tatsache, dass es sich um Fotografien von Landschaftsgemälden
und dreidimensionalen Vordergründen handelt, liegt gewiss nicht unmittelbar auf der Hand.
188 Doch auch dies verlangt ein großes Geschick, gelingt nicht immer und Jedem, und kann durchaus als Kunstformangesehen werden. Und ebenso wie in der Malerei gibt es verschiedene Stilrichtungen, welche sich in der Wahl derLandschaft und Motive, der Farbkomposition und einer mehr oder weniger starken Abstraktion zeigen.
74
3.2.5 Reflektierende Betrachtung der künstlerischen Arbeit
Um noch einmal der Frage nachzugehen, wie die Naturkundemuseen versuchen, Repräsentationen von
Natur zu erschaffen und um zu reflektieren, wie ich damit künstlerisch umgehe, möchte ich mich noch
einmal – obwohl dies hier nur grob angerissen werden kann – der Fragestellung widmen, was Natur
war, ist oder sein soll beziehungsweise, wie sie sich zum Menschen verhält und er zu ihr. Hierzu finden
sich ganz unterschiedliche Antworten, die in Abhängigkeit von der jeweiligen Disziplin und ihrer
Zugangsweise bestimmt werden.189 Zunächst einmal kann festgestellt werden, dass der Mensch und
alle seine Produkte den physikalisch-chemischen Gesetzen der Natur unterliegen. Gleichzeitig formen
menschliche Umweltveränderungen die Wirklichkeit der Natur, in welcher der Mensch eben kein
Außenstehender, sondern integrierter Bestandteil ist. Es gibt zwar eine Grenze zwischen Mensch und
Umwelt, diese jedoch verläuft innerhalb der Natur, welche Ursprung, Vorraussetzung und Ergebnis
menschlicher Existenz ist. „Auch wenn der Mensch und alles, was er hervor gebracht hat, ohne die
Natur nicht wäre und nicht sein kann, so braucht doch die Natur den Menschen nicht.“190 Allerdings
muss hinzugefügt werden, dass auch die Natur ohne die durch den Menschen bewirkten
Veränderungen und ohne die Vorstellungen, die wir uns von ihr machen, weder in ihrer konkreten
Gestalt noch als mystisches Idealbild bestünde. Es ist „(...) nicht möglich, das, was wir Natur nennen,
zu kennen außer durch unsere eigenen Gedanken und Wahrnehmungen.“191 Und diese
Wahrnehmungen sind durch die Kultur geformt. Die Natur als Abbild setzt immer einen Betrachter
voraus, der in ihr das sieht, was er zu sehen gewohnt ist oder zu sehen wünscht.
Der Blick auf Natur, welcher beim Errichten der repräsentativen, künstlichen Scheinwelten im Museum
federführend war, scheint überwiegend durch ein historisch-romantisches Empfinden des Gegensatzes
zwischen Mensch und Natur und vom Widerspruch zwischen kulturellen Eingriffen und dem natürlichen
Idealzustand geprägt zu sein.192 Dies steht in der Tradition einer Kunst, welche über Jahrhunderte
vornehmlich einer außerzivilisatorischen erhabenen Natur gehuldigt hat.193 Dabei ist Schönheit als
Eigenschaft einer unberührten Natur mehr vom Betrachter geprägt als vom Gegenstand der
Betrachtung. Und die Klage über den Verlust der heilen und unberührten Natur hängt wohl weniger von
der Veränderung der Natur ab als vom Verharren in einer solchen historischen Vorstellung davon.
189 Beispielsweise lehnt der Philosoph Peter Janich die Vereinnahmung des Begriffs Natur als terminus technicus für dieNaturwissenschaften komplett ab. „Die Natur als Ganzes ist kein Gegenstand naturwissenschaftlicher Fachdisziplinen.“Janich, Peter. “Biologischer versus Physikalischer Naturbegriff.“ In: Bien, G. und. Wilke, Th. Gil, J. (Hrsg.). "Natur" imUmbruch? Zur Diskussion des Naturbegriffs in Philosophie, Naturwissenschaft und Kunsttheorie. Stuttgart, 1994. S.165190 Strehlow, Heike. Natural reality. Künstlerische Positionen zwischen Natur und Kultur. Stuttgart, 1999. S.19191 ebd. S.37192 Bereits zur Zeit der biologischen Wende zu Beginn des 19. Jahrhunderts waren tief greifende Veränderungen imVerhältnis zur Natur eingeleitet. Infolge ihrer wissenschaftlichen Erschließung und industriellen Ausnutzung wurde das Idealeiner ursprünglichen, unberührten Natur immer mehr von der menschlichen Kultur überformt.193 1968 stellte der land-art Künstler Robert Smithson die Vorstellung einer unberührten Natur in Frage, indem er behauptete,Natur sei nur eine weitere Fiktion des 18. und 19. Jahrhunderts. Er entlarvt in dieser Aussage den Begriff der unberührtenNatur als nicht einlösbar, da Natur, sobald sie durch den Menschen wahrgenommen und als solche bezeichnet wird, noch imselben Augenblick erschlossen ist, und somit jedes bekannte Stück Natur nicht mehr unberührt sein kann.
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Abgesehen von diesem historischen Blick auf Natur sind naturhistorische Museen bei genauerer
Betrachtung jedoch in vielen Aspekten überhaupt keine geschichtlichen Museen. Zwar hat man seit
Darwin versucht, evolutionstheoretisch nachzubessern, und in der Regel enthalten die Museen eine
paläontologische Abteilung und Schautafeln über erdgeschichtliche Abfolgen und
stammesgeschichtliche Zusammenhänge. Dennoch werden die Bestandsstücke im Museum als
unveränderliche, ewige Natur präsentiert. Dieses Bild einer konstanten Natur ließ sich bislang damit
rechtfertigen, dass die Veränderungen der Evolution zu langsam vor sich gehen, um für die
Museumsbesucher eine lebensgeschichtliche Relevanz zu haben. Heute aber zeigt sich deutlich, dass
die klassischen naturhistorischen Museen insofern ungeschichtlich sind, als dass sie die
Humangeschichte der Natur nicht berücksichtigen.194 Das heißt, dass der Mensch im naturhistorischen
Museum bestenfalls als ein Produkt der Natur vorkommt, nicht aber als ein aktiver Produzent von
Naturzuständen.195 Während sich die Dioramen seit ihrer Entstehung so gut wie überhaupt nicht
gewandelt haben, so hat sich die Umwelt, deren Repräsentanten sie sind, durch den Einfluss des
Menschen stark verändert. Dies führt dazu, dass von den in den Schaukästen durch ausgestopfte Tiere
repräsentierten Spezies heute bereits etwa zehn Prozent ausgestorben sind und dass viele der
gezeigten ökologischen Zusammenhänge mittlerweile gar nicht mehr existieren.196 Damit erhält das
Naturkundemuseum einen ganz eigentümlichen Charakter. Es wird zum Ort der Präsentation
gewesener Natur und gewesener Naturvorstellungen, die sich in den Präsentationsformen zeigen. So
wirkt das Naturkundemuseum heute selbst museal. Es wird zu einem Museum seiner selbst, zu einem
Museum vom Museum. Da – wie in der vorangegangenen Auseinandersetzung mit den Kunst- und
Wunderkammern und dem Naturkundemuseum gezeigt – die Präsentationsformen wichtige Hinweise
über die Einstellung zur Natur und über die Kultur der Naturbetrachtung enthalten, sind sie heute von
umso größerem Interesse. Denn solche veralteten Präsentationen des Naturkundemuseums können
uns die Differenz zu den heutigen Vorstellungen von Natur bewusst machen.197 Auf diese Qualität muss
aber hingewiesen werden, indem der besondere Charakter der Naturkundemuseen eingefangen und
sichtbar gemacht wird. Denn unvoreingenommene Besucher nehmen die Museen einfach als das wahr,
als was sie sich immer noch zeigen, nämlich als Repräsentationen wirklicher Natur. Eine künstlerische
Untersuchung, wie beispielsweise meine Fotos, könnte ein Gespür und eine Sensibilisierung dafür
194 Vgl. Böhme, Gernot. “Die Natur herstellen. Der Zustand unserer natürlichen Lebensbedingungen als unsergeschichtlicher Ort.“ In: Frankfurter Rundschau 05.08.1995.195 Eine bemerkenswerte Ausnahme ist das Museum Mensch und Natur (gegründet 1990) in München, in dem der kulturelleUmgang mit der Natur speziell thematisiert wird.196 Vgl. Böhme, Gernot. “Kunst nach der Natur“. In: Bott, Gudrun und Broska, Magdalena (Hrsg.). Post Naturam – Nach derNatur. Bielefeld, 1998. S.14197 Deshalb bin ich immer sehr bestürzt, wenn die veralteten Präsentationsformen dieser Museen Aktualisierungs- undRenovierungsmaßnahmen zum Opfer fallen. Das geschieht nicht nur aus Verlegenheit, sondern auch, weil man die Museenzu schulpädagogischen Zwecken braucht. Aber durch eine solche Aktualisierung wird ein Kulturgut vernichtet. Es wird einDenkmal einer vergangenen Naturbeziehung des Menschen und ein Dokument eines vergangenen Naturzustands zerstört.Das Naturkundemuseum der Zukunft sollte die alten Bilder von Natur und Kultur als historische Dokumente bewahren, abergleichzeitig auch nach neuen Bildern suchen.
76
einleiten, dass diese Museen einen ganz besonderen Status innehaben. Der Blick des
Museumsbesuchers könnte sich dadurch von einem aufnehmenden umherschweifenden Blick,
gewissermaßen zu einem Querblick wandeln, der dazu führt, dass die Präsentation der Natur als solche
wahrgenommen werden kann. Dies könnte auch heißen, dass der Blick zu einem rein ästhetischen
wird, zu einem Wahrnehmen von Bildern und einem Spüren von Anmutungen. Damit würde man die
Exponate in den Schaukästen nicht mehr als wirklich existierende Natur betrachten, sondern als das,
was sie eigentlich sind: komponierte, konstruierte Bilder.
Wirklichkeitsebenen
Obwohl wir mittlerweile längst von multimedialen Techniken und perfekten Computeranimationen
umgeben sind, haben die Dioramen als Hybride zwischen Kunst und Technik ihre Attraktivität nicht
eingebüßt, sondern werden – im Gegenteil – immer beliebter. Selbst im Zeitalter überwältigender
Multimedia-Shows locken die Habitat-Dioramen noch immer viele faszinierte Besucher an. Gut
gemachte Dioramen scheinen eine Kraft zu besitzen, die nicht durch technische Medien allein erreicht
werden kann. Ich vermute, dass die Faszinationskraft der Dioramen teilweise auf ihre Situation und
ihren Status im Museum zurück zu führen sind.
Vitrinen und Dioramen befinden sich als Behältnisse in einem Museumsbau, welcher wiederum einen
abgeschlossenen Raum in der Umgebung darstellt. Wie kleine Museen im Museum sind auch sie
geschlossene und codierte Räume und wiederholen im Kleinen grundsätzliche Verfahren des
Museums. Sie schützen und bewahren Objekte, die sie den Blicken aussetzen, sie zugleich aber durch
das trennende Glas vor dem Zugriff der Betrachter und der Zeit fernzuhalten suchen. Somit sind
Vitrinen und Dioramen als Museen im Kleinen ebenso sinnfällig, wie umgekehrt der ganze große
Museumsraum als Vitrine oder Diorama gesehen werden kann. Doch während der Besucher in das
Museum hineingehen und sich die dort gezeigten Schaukästen ansehen kann, bleibt er bei den Vitrinen
und Dioramen durch die Glasscheibe von dem zu Betrachtenden getrennt.198 Diese Bühnensituation
beinhaltet zugleich die wichtigste Prämisse der klassischen Rezeptionsästhetik: die Funktion des
Betrachters. In den Darbietungen der Dioramen ist der Museumsbesucher explizit vorgesehen. Sie sind
nur zum Zwecke der Betrachtung gebaut worden und erfüllen keine weiteren Aufgaben. Die Exponate
sind entrückt, der Zugriff ist verboten und selbst die Blickachse des Betrachters wird noch einschränkt,
um am Rande liegende Fluchtpunkte zu verdecken. Auf einen genauestens festgelegten
Betrachterstandpunkt hin ist die ganze Illusionskulisse ausgerichtet und nur aus dieser Perspektive
kann die Täuschung annähernd gelingen. Der hier deutlich werdende Widerspruch der Dioramen-Bilder,
scheinbar hineingehen zu können und doch außen vor bleiben zu müssen, lässt sich auch auf die im
198 Der Begriff Diorama geht auf das Griechische dia (durch) und horao (sehen) zurück und bedeutet “hindurchsehen“.Dieses Hindurchsehen bezieht sich darauf, dass die meisten Dioramen durch einen Fensterähnlichen oder einen an dieTheaterbühne erinnernden Rahmen angeschaut werden. Vgl. Kluge, Friedrich. Etymologisches Wörterbuch der deutschenSprache. 22. Auflage. Berlin, New York, 1989.
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gesamten Museum angestrebte Repräsentation der Wirklichkeit beziehen. Denn die aufgestellten und
arrangierten Gegenstände im Museum zeigen als Repräsentanten nur ein Bild der Natur. Genauso
enthalten die nachgestellten Szenen in den Dioramen Teile der realen Welt, die aus ihrem
ursprünglichen Lebenszusammenhang herausgerissen sind und als Zeichen auf die realen Objekte
außerhalb des Museums hinweisen. Museen und Dioramen sind bis ins Detail inszenierte künstliche
Realitäten, deren Verwendungszweck darin besteht, Hintergrund, Kulisse oder “Display“ für ebenso
künstlich inszenierte Exponate, Handlungen oder Bilddramaturgien zu sein. Im Museum besteht eine
Beziehung und Durchdringung mehrerer gleichzeitig neben- und miteinander existierender
Wirklichkeiten, die das Reale und Modellhafte, das Vorläufige und Endgültige, das Tote und Lebendige
zu verbinden suchen. Die durch die Dioramen vermittelte Welt ist eine andere als die, welche sie
vermitteln wollen. Aber beide Wirklichkeiten sind – tautologisch gesprochen – real. Dioramen im
Naturkundemuseum sind vielleicht deshalb so spannend, weil sie die virtuelle Welt eins zu eins und mit
echten Materialien im Raum rekonstruieren und dies recht leicht zu durchschauen ist. Das Museum, in
dem sie sich befinden, ist wiederum ein konstruierter Raum und selbst außerhalb des Museums finden
sich immer mehr solcher fiktiver Wirklichkeiten.199
Meine Fotos vom Naturkundemuseum sollen nicht das Vortäuschen falscher Tatsachen und die
Brüchigkeit billiger Illusionsarchitektur entlarven, sondern eher mit der Täuschung und Ent-täuschung
spielen und auf die dahinter liegende Sehnsucht, die Welt domestiziert und im Modell besser begreifen
zu können, aufmerksam machen. Gerade an den Rändern und Übergängen von Inszenierungen zeigen
sich ihr Charme und ihre teils absurde Lächerlichkeit besonders stark. Dort kristallisiert sich Skurriles
und Bizarres in einer ganz eigenen, teilweise tragisch anmutenden Komik. An den Nahtstellen werden
die irritierenden Durchdringungen und Deckungsgleichheiten, die Grenzen, die äußeren Kanten und
Rahmen dieser eben nur als Ausschnitt existierenden Scheinwelten besonders deutlich. Durch einen
Schritt zurück werden die Arrangements ent-täuscht und ihre synthetische Stimmigkeit entkleidet. So
wird eine als homogen gedachte Wirklichkeit im Naturkundemuseum auf die Probe gestellt. Vermittelt
durch die Fotos aus dem Naturkundemuseum kann im Kopf des Betrachters unwillkürlich das
Bewusstsein von einer Art Doppelrealität entstehen, eines ständigen aufeinander Treffens
verschiedener Wirklichkeitsebenen, mehrerer Wahrheiten, unterschiedlicher Zeiten, ja sogar
verschiedener ineinander gestaffelter Räume, von denen man nicht mehr genau sagen kann, welcher
der eigentliche, wahre und welcher der künstlich hergestellte oder bloß imaginierte ist.
199 Orte, an denen Realität und Modell dicht nebeneinander stehen, sich überlappen und gegenseitig durchdringen sind inzunehmendem Maße auch im Alltag vorhanden. Freizeitparks, Messe- und Servicezentren, besonders gestylte Restaurants,Kaufhäuser, Foyers, alle öffentlichen und halböffentlichen Bereiche, bei denen Atmosphäre, Beleuchtung, Musikberieselung,künstlich erzeugte Stimmungen einen starken Einfluss auf Besucher und Kunden ausüben sollen.
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Verwandtschaft von musealen Dioramen und Fotografie
Es kann kaum Zufall sein, dass Louis Daguerre als Erfinder der Daguerrotypie nicht nur einer der
Urväter der Fotografie, sondern auch der Urheber des Dioramas ist. Er prägte den Begriff, als er seine
ersten Dioramen 1822 in Paris patentieren ließ. Nach eigenen Plänen ließ er ein mit dem heutigen Kino
vergleichbares Gebäude mit einer Fassadenlänge von 27 Metern, einer Tiefe von 52 Metern und einer
Höhe von 16 Metern errichten.200 Mithilfe von minutiös gemalten Szenenbildern, kostümierten
Schaufensterpuppen, echten Requisiten, dramatischer Beleuchtung und Toneffekten kreierte er
überzeugende Illusionen. Als Reaktion hieß es in der Pariser Zeitung La Quotidienne: „Das Diorama ist
eine neue Errungenschaft, eine glückliche Anwendung der optischen Gesetze auf die Malerei. Die
Ergebnisse sind magisch und rechtfertigen den Ausruf eines Kindes, welches meinte, das Diorama sei
wahrer und schöner als die Natur.“201 Seine Erfahrungen mit der Daguerrotypie und dem Diorama
beschrieb Daguerre in seinem 1839 erschienenen Buch Das Daguerreotyp und das Diorama oder
genaue und authentische Beschreibung meines Verfahrens und meiner Apparate zu Fixierung der
Bilder der Camera obscura und der von mir bei den Dioramen angewendeten Art und Weise der Malerei
und der Beleuchtung.
Der Anspruch, in ihren Präsentationen Ausschnitte der Wirklichkeit zu zeigen, trifft auf die Fotografie
und Dioramen, Vitrinen und Museen gleichermaßen zu. Museum und Fotografie weisen somit eine
strukturelle Ähnlichkeit auf. Auch deshalb erschien es mir sinnvoll, das Naturkundemuseum mit dem
Medium der Fotografie zu untersuchen. Die Rekonstruktion von Natur im Diorama erfolgt ausschnitthaft
durch natürliche oder künstliche Surrogate. Dieser fragmentarische Charakter trägt dazu bei, dass das
Gezeigte zugleich auf einen ausgeblendeten, im Bild selbst unsichtbaren, Kontext verweist. Auch bei
der Fotografie bekommt man nie alles aufs Bild, allein schon deshalb, weil man nur in zwei
Dimensionen arbeitet. Es muss ein Stück Wirklichkeit herausgeschnitten werden, so dass auf Fotos
immer nur Bruchstücke der Wirklichkeit gezeigt werden können. Philippe Dubois hat in seiner
Untersuchung zur Frage von Raum und Zeit in der Fotografie gesagt: „Der fotografische Raum ist nicht
vorgegeben. Und wird auch nicht konstruiert. Er ist, ganz im Gegenteil, ein Raum den man nimmt (oder
auch nicht), den man entnimmt, eine Subtraktion, die als Ganzes erfolgt. Der Fotograf ist keinesfalls in
der Position desjenigen, der einen leeren und unbeschriebenen Rahmen schrittweise füllt. Seine Geste
besteht vielmehr darin, einen vollen, bereits ausgefüllten Raum mit einem Schlag aus einem Kontinuum
herauszureißen. Das Problem des Raums bedeutet für ihn nicht, dass er etwas hineintun muss,
sondern, dass er etwas als Ganzes herauslösen muss. Es geht um ein Entnehmen, ein Herauslösen
aus einer endlosen Kontinuität und zwar gleichgültig, wie die Szene im Voraus angeordnet wird oder
nach dem Schnitt arrangiert und manipuliert wird. Mit anderen Worten: Fotografieren heißt immer
200 Vgl. Verwiebe, Birgit. Lichtspiele. Vom Mondscheintransparent zum Diorama. Stuttgart, 1997. S.77201 La Quoditienne, Paris 4.8.1822 zit. nach Ebd. S.79
79
zunächst Schneiden, Ausschneiden, das Sichtbare durchtrennen.“202 Jede einzelne fotografische
Aufnahme trennt das Geschehen und markiert die Grenze zwischen dem fotografischen Vorher und
Nachher. Der Augenblick, in dem der Knopf gedrückt wird, verwandelt einerseits die Gegenwart in
Vergangenheit und gleichzeitig die Vergangenheit in Gegenwart. Die reale Situation, wie sie kurz vorher
noch bestand, geht in die Vergangenheit und kommt zugleich als Abbild wieder in die Gegenwart
zurück. Susan Sontag formulierte es so: "Der Fotograf ist wohl oder übel damit befasst, die Realität zu
antiquieren"203
Die stillgelegte Realität im Museum ist bereits antiquiert. Doch auch hier besteht der besondere Reiz
darin, dass museale Dioramen nicht nur einen räumlichen Ausschnitt, sondern auch eine Situation,
einen oftmals dramatischen Moment abbilden. Sie sind ein Stück gestellte Wirklichkeit, von dem man
annimmt, es sei einer echten, Vorbild gebenden Situation ähnlich. Es soll eine spezifische Situation an
einem spezifischen Ort wiedergegeben werden, welche in der Bewegung erstarrt, aus dem
umgebenden Kontext ausgeschnitten und in einen Kasten gepackt wird. In den Dioramen, genau wie
bei der Fotografie, werden die dargestellten Bewegungen in einem Moment eingefroren und verewigt.
Etwas von Natur aus Flüchtiges, sich selbst Vorantreibendes kann somit permanent beobachtet
werden. „Indem die Kontingenz des Lebensflusses dergestalt im Foto festgehalten wird, wird sie zur
Nature Morte mit fotografischen Mitteln (...)“204 und jede fotografische Aufnahme ist immer auch ein
Memento Mori. Fotografien zeigen eine Pseudo-Präsenz, da die abgelichtete Situation schon im
Moment des Fotografierens zeitlich im Verschwinden begriffen ist. In der Fotografie wird also gerade
das Ephemere des Lebendigen festhalten und dem Betrachter als Abbildung zu sehen geben. Damit
wird eine wesentliche Eigenschaft der Fotografie angesprochen, die auch schon Roland Barthes in
seinem Essay Die helle Kammer so beschrieben hat, dass die Fotografie imstande scheint, etwas
Gewesenes unveränderlich festhalten zu können.205 Um die Welt zu studieren, wird sie durch die
Fotografie angehalten, eingefroren und festgehalten. Das ist der gleiche Vorgang wie bei einem
Wissenschaftler, der ein Insekt studiert. Er muss es töten und sich dann hinsetzen, um es zu
untersuchen. Auch die Kamera erfüllt – ganz ähnlich wie die Taxidermie – das Bedürfnis nach
Mumifizierung. Klare, genaue, dauerhafte Darstellung – das waren in den Anfängen Hauptziele der
Fotografie und der Taxidermie.206 Beide wollten die Zeit anhalten oder zumindest Abbilder festhalten,
202 Dubois, Philippe. “Der fotografische Akt. Versuch über ein theoretisches Dispositiv.“ aus dem Franz. von Dieter Hornig, In:Wolf, Herta (Hrsg.). Schriftenreihe zur Geschichte und Theorie der Fotografie. Bd. 1, Amsterdam, Dresden, 1998. S.174f.203 Sontag, Susan. Über Fotografie. Frankfurt a. M. 2000. S.81204 Gernig, Kerstin. “Fatale Folgen der Fotografie. Zum Eigenleben von Präsentationen und Präsentierten.“in: Barchet, Michael. Ausstellen. Der Raum der Oberfläche. Weimar, 2003. S.124205 Barthes, Roland. Die Helle Kammer. Bemerkung zur Photographie. Frankfurt a.M., 1986. S.86f.206 Das neue Handwerk der Taxidermie erlebte ungefähr zur selben Zeit eine erste Blüte, als die fotografische Platteerfunden wurde. 1839 war die Daguerrotypie erfunden worden und 1842 eine präparierte Giraffe als erste große Vierbeinerund zugleich Auftakt zu modernen Verfahren der Taxidermie fertig gestellt. Vgl. Rheims, Bettina. Animal. München, 1994.
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welche die Lebewesen und Dinge so zeigten, wie sie waren – oder zu Lebzeiten gewesen waren.207 Die
meisten Dioramen wurden zu einer Zeit geschaffen, als die Fotografie gerade erfunden war, es aber
noch kein Fernsehen oder Internet gab und in der ein Durchschnittsbürger nicht in ferne Länder reiste,
um dort die Wildnis zu erleben. Sowohl den ausgestopften Tieren als auch den Fotografien wurde ein
Verweischarakter auf die Realität zugesprochen. Die neuen Fotos aus fremden Ländern ermöglichten
es dem Betrachter, sich in Gedanken zu diesen Orten zu begeben, und dank der Taxidermie konnten
den Menschen ausgestopfte, exotische Tiere gezeigt werden, wenn keine lebenden Exemplare zur
Verfügung standen.208 So wie bei den Dioramen auch, beruht ein Teil der Faszination beim Betrachten
von Fotografien darin, zum selbst nicht gesehenen Voyeur zu werden. Wie ein Taxidermist entscheidet
auch ein Fotograf über die Pose, die er sein Objekt einnehmen lässt, bevor er es verewigt. Das ist nicht
unproblematisch, denn er muss sich sein Modell gefügig machen, es zähmen und belauern wie ein Tier,
bis er endlich den richtigen Ausdruck oder ein flüchtiges Aufleuchten einfangen kann.
Im Diorama ist die Wirkung wichtiger als ihre Wahrheit, denn die “Realität“, die hier nachgeahmt wird, ist
immer schon mit einem guten Teil Fantasie angereichert. Die Dioramen, die im Namen der
Wissenschaft und Bildung entstanden, bestechen durch die Authentizität ihrer Fälschung.209 Während
im Diorama versucht wird, durch Antäuschung eines dreidimensionalen Bühnenraumes eine
Tiefenwirkung zu erzielen, so gehört zwar das Fotografierte der Tiefendimension des Raumes an, wird
jedoch durch die fotografische Vermittlung zur Oberfläche. Erst als eine dermaßen auf die Oberfläche
gebannte Realität lässt sich das Fotografierte dekontextualisieren, übertragen und kann so dem
Betrachter eine zeitliche und geografische Ferne nahe bringen. Damit wurden sowohl die
taxidermischen Präparate in den Dioramen als auch die Fotografien letztendlich als Trugbilder
angesehen, deren Überzeugungskraft darauf beruhte, wie gut sie täuschen konnten. Sie mussten
207 Eine zeitlang fungierte die Fotografie auch in der Nachfolge der Maskenbildnerei: statt einen Abguss zu machen,fotografierte man die Hand und das Gesicht eines verstorbenen Menschen. So entstanden im 19. Jahrhundert zahlreicheposthume Portraits.208 Wie bereits erwähnt, unterschied sich der Taxidermist vom einfachen Präparator dadurch, dass er sich nicht damitbegnügte, eine Leiche einigermaßen in ihrer ursprünglichen Beschaffenheit zu konservieren. Mit der neuen Entwicklung derDermoplastik, wollte er sie möglichst lebensecht zu gestalten. So schob er starke Drähte in die Beine, spreizte die Flügel wieim Flug, ließ das Maul aufreißen und setzte blickende Glasaugen ein. Bezeichnenderweise waren Stilleben undLandschaften die beliebtesten Sujets der frühen Fotografie. Experimente mit Lebewesen verliefen nämlich zunächstenttäuschend. So wie der Himmel auf den Bildern anfänglich immer wolkenlos zu sein schien und Wasserfälle eher einerstarren Nebelwand glichen, waren auf den fotografischen Portraits der Frühzeit wegen der fünfzehn- bis zwanzigminütigenBelichtungszeit stets verkrampfte, blutleere Gesichter mit geschlossenen Lidern zu sehen. Um zu gewährleisten, dass dieabzulichtende Person sich nicht bewegte, verwendete man Kopfstützen, Armlehnen und ein ganzes Sortiment vonGestängen und Halterungen, die den Stangen und Drähten ähnelten, welche der Taxidermist in präparierte Tiere einführte,damit sie eine bestimmte Haltung einnahmen.209 James Perry Wilson, ein Dioramenmaler des American Museum of Natural History in New York, beschrieb seine Arbeitals “ars celare artem“ als “Kunst um Kunst zu verbergen“. Dieser Ausspruch zeigt das angestrebte Ziel derDioramenkünstler: eine solch perfekte Imitation der Natur zu erreichen, dass ihre Rolle als Maler unsichtbar wird unddahinter verschwindet. Vgl. Quinn, Stephen Christopher. Windows on Nature. New York, 2006. S.12
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überzeugend echt wirken, und genau darauf verstanden sich sowohl die Fotografie als auch der
Dioramenbau. Beiden wohnt das Moment der Täuschung und des Unechten inne.210
Präsentation von Repräsentationen
Um meine künstlerischen Untersuchungen visueller Konzepte von naturkundlichen Schausammlungen
nachvollziehen zu können, ist es hilfreich, sich abschließend noch einmal den Status der Exponate
selbst ins Gedächtnis rufen. Eine naturkundliche Schausammlung setzt sich aus Ausstellungsstücken
zusammen, die zuvor nicht als solche vorhanden waren. Das ausgestellte Tier existiert nicht mehr, es
ist tot. Erst durch aufwändige Prozeduren wird es als Präparat sichtbar gemacht, und zwar in einer
speziell auf Präsentation zielenden Weise. Es handelt sich um Neukonstruktionen, die in der Regel
eigens für die Schausammlung hergestellt werden. Die ausgestopften Tiere hatten also nie einen
anderen Zweck zu erfüllen als präsentiert und betrachtet zu werden. Diese paradoxe Situation spiegelt
sich in der Präsentation der Objekte wider, welche in ihrer Sichtbarkeit gleichzeitig durch die
Glasscheiben völlig vom Betrachter abgeschirmt sind. Wie bereits beschrieben, fasziniert mich nicht so
sehr die Illusion, sondern viel mehr der offensichtliche vermittelnde Charakter, das Absurde und
Gebrochene dieser künstlichen Welt.
Museum und Fotografie zeigen beide nicht die reale Welt, sondern eine vermittelte Welt. Wenn ich mir
also als Sujet für meine Fotografien ein von einem Taxidermisten präpariertes Tier in einem Ausschnitt
künstlich nachgestellter Realität wähle, ist es ein bisschen so, als würde sich die Fotografie selbst
fotografieren. Die vor dem künstlichen Hintergrund posierenden Tierkörper wurden meist nach
Fotografien so arrangiert und sind damit in gewissem Sinne bereits fotografiert. Statt ihren eigentlichen
Auftrag zu erfüllen und ein Stück Leben zu rekonstruieren, simulieren meine Fotografien eine
Simulation, sind somit Spiegelungen einer Vorspiegelung, Trugbilder eines Trugbildes. Und
möglicherweise bemerkt es der Betrachter nicht gleich, sondern läuft zunächst ein drittes mal in eine
Falle, wenn er der vom Tierpräparator, Dioramenbauer und mir als Fotografin gemeinsam inszenierten
Täuschung aufsitzt.
Bei einer Ausstellung werden die Bilder der musealen Repräsentationen von Natur dann wiederum
selbst präsentiert und begeben sich damit formal in ein ähnliches Spannungsfeld, wie jenes, welches
sie inhaltlich selbst untersuchen. Indem ich etwas Ausgestelltes fotografiere und dann wiederum
ausstelle, verdoppele ich die bereits im Exponat selbst angelegte Struktur des Zeigens.
210 Die Welt des Scheins gibt sich nicht gern freiwillig als solche zu erkennen. So verschanzten sich die Taxidermie und dieFotografie von Anfang an hinter Alibis. Die Taxidermie stellte sich sogleich in den Dienst des naturgeschichtlichen Museumsund war sozusagen eine Erweiterung des Zoologischen Gartens, wollte zur Bildung der Jugend beitragen und demNaturforscher bei seinen Studien behilflich sein. Kunst und Wissenschaft, Schönheit und Wahrhaftigkeit waren die Attribute,mit denen man sie bedachte. Dieselben Begriffe wurden von den ersten Verfechtern der Fotografie benutzt, welche diese alsüberaus nützliche Gehilfin von Kunst und Wissenschaft beschrieben. Vgl. Rheims, Bettina. Animal. München, 1994.
82
4 Abschließende Überlegungen
Die künstlerische Untersuchung und Bearbeitung musealer Inszenierungsformen ist Ausdruck eines
selbst gesteuerten, entdeckenden Forschens aus eigenem Interesse heraus. Auch deshalb ist die
schriftliche Reflexion zweier der im Laufe der Jahre entstandenen künstlerischen Arbeiten zum
Abschluss des Studiums an der Kunsthochschule für mich sehr interessant und aufschlussreich
gewesen. Alltagssprachlich wird Forschung häufig synonym mit Wissenschaft gebraucht, wobei
wissenschaftliche Forschung meist von einer Forschungsfrage ausgeht, die im Rahmen eines
Forschungsprojekts falsifiziert oder verifiziert werden soll. Dieses Prinzip lässt sich nicht ohne weiteres
auf mein künstlerisches Vorgehen übertragen, da dieses oftmals explizit nicht wissenschaftlich ist und
das Ziel nicht darin liegt, eindeutige Antworten zu finden. Dennoch möchte ich im Folgenden
rückblickend die wichtigsten Untersuchungserkenntnisse zusammenfassen, darauf aufbauend Fragen
formulieren und einen Ausblick auf die mögliche Weiterentwicklung der künstlerischen Arbeit geben.
Nach Florian Dombois setzt eine forschende Kunst zunächst ein Erkenntnisinteresse voraus, von dem
der Forschende mehr wissen möchte und es zu verstehen sucht.211 Die begriffliche Eingrenzung der im
Titel verwendeten Wörter hat mir geholfen, diesen Interessensschwerpunkt zu formulieren und eine
klarere Vorstellung davon zu gewinnen, welche Aspekte in der Examensarbeit behandelt werden
sollten.
In der historischen Auseinandersetzung mit musealen Inszenierungsformen konnte deren lebhafte
Entwicklungsgeschichte beleuchtet werden. Dabei hat sich gezeigt, dass Museen – obwohl sie uns
glauben machen wollen, ein in alle Ewigkeit unbestritten wertvolles Kulturgut zu bewahren und
auszustellen – doch immer ein Spiegel des jeweiligen Zeitgeistes sind. Auch unsere heutige Sicht- und
Präsentationsweise kann nur im Vergleich mit früheren Positionen eingeschätzt und in ihren Stärken,
Schwächen und ihrer Relativität erkennbar werden. Der Wandel von Wertvorstellungen einerseits und
der Wunsch nach musealer Festschreibung andererseits haben dazu geführt, dass im Laufe der
Jahrhunderte sowohl die Sammlungsschwerpunkte verlagert und aufgegliedert, als auch die Ordnung
und Präsentation der Sammlungsgegenstände verändert wurden. Dies hat deutlich gezeigt, dass die
Inszenierung im Museum nicht bloß eine formale Notwendigkeit darstellt, sondern auch wesentlich zur
Bedeutungszuschreibung der musealisierten Objekte beiträgt.
Im vorgestellten Projekt Endgültig vorläufig habe ich durch das Sammeln, Ordnen, Erforschen und
Präsentieren von Zeitungsbildern Praktiken des Museums nachgespielt und untersucht.212 Die
pseudomuseale Arbeitsmethode war dabei von der individuellen Ausrichtung des Inhalts und dem
211 Hochschule der Künste Bern HKB (Hrsg.) Dombois, Florian. Kunst als Forschung. Bern, 2006. S.22212 Neben dem angesprochenen Künstler Peter Piller, lassen sich Bezüge zu weiteren zeitgenössischen künstlerischenArbeiten erkennen. Künstler, deren Arbeiten ich im Bezug zu meinem Projekt Endgültig Vorläufig sehe sind unter anderemHans-Peter Feldmanns Sammlung von Zeitschriften-Ausschnitten und bezüglich der Kombinatorik und Hängepraxis auch dieEnsembles von Anna Oppermann – obwohl diese mit ganz anderen Materialien arbeitet.
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bewussten Vermeiden einer Kategorisierung der Sammlung geprägt. Wie zu Anfang als einen
grundsätzlichen Aspekt des Phänomens Museum beschrieben, haben auch die Zeitungsbilder eine
Bedeutungsmetamorphose durchlaufen, da sie aus ihrem Ursprungskontext entfernt und in einen neuen
Kontext eingegliedert wurden. Dabei wurden die Zusammenhänge zwischen den Bildern teilweise erst
durch die gemeinsame Präsentation behauptet und damit generiert. Dies verweist einerseits auf die
Vielschichtigkeit und potentielle Mehrdeutigkeit von Bildern, andererseits aber auch auf die große Macht
der Präsentation. In den Bildgeflechten werden keine definitiven Aussagen gemacht, sondern eine
Vielzahl nebeneinander existierender Wahrheiten zugelassen und Widersprüche als produktiv
angesehen. Die assoziative Zusammenstellung lässt die Bilder in einem ungewöhnlichen Licht
erscheinen und ist darauf ausgerichtet, neue Zusammenhänge, neue Erkenntnisse und ein neues
Verständnis der Bilder hervorzurufen. Ein solches Vorgehen lässt sich mit dem Analogiedenken der
Kunst- und Wunderkammern vergleichen, deren Ordnung und Präsentation von der Überzeugung
genährt wurde, dass auf die eine oder andere Art alles mit allem verbunden ist.213 Gleichzeitig erinnert
die Art der Hängung auch an die überladenen Wände der ersten öffentlichen Museen, wobei der
damals fehlende inhaltliche Zusammenhang zwischen den Bildern bei mir den Kern der künstlerischen
Arbeit ausmacht. Letztendlich handelt es sich um ein Nachdenken über Bilder und ein Denken in und
mit Bildern. Als Fortführung des Projektes könnte ich mir vorstellen, in Zukunft bei der Bildersuche auch
auf Bilddatenbanken im Internet zurückzugreifen, da das Internet zunehmend die traditionelle Funktion
der Zeitung als “Sekundenanzeiger“ der modernen Welt übernimmt. Dabei müsste ich – anstatt mit
zufälligen Bildfunden in der Zeitung – mit Suchbegriffen arbeiten. Dies könnte unter Anderem zu einer
Auseinandersetzung mit begrifflichem und visuellem Denken, und dem Verhältnis von Bezeichnendem
und Bezeichnetem führen.
Bei dem Projekt Expeditionen ins Naturkundemuseum habe ich mithilfe des Fotografierens die
Praktiken der Inszenierung in Naturkundemuseen erforscht. Das historische Wissen um die längst
antiquierte Form der Inszenierung hat es mir ermöglicht, das Naturkundemuseum als Ort der
Präsentation vergangener Naturvorstellungen zu erkennen. Die zwei unterschiedlichen
Herangehensweisen beim Fotografieren spiegeln nicht allein mein ambivalentes Verhältnis zum
Naturkundemuseum wider, sie lassen sich auch auf allgemeinerer Ebene als Einstellungen gegenüber
dem Museum und seinen Inszenierungen lesen. In den Fotos von Dioramen, bei denen der umgebende
Museumsraum ausgeblendet ist, lasse ich mich bewusst auf die detailgetreuen und bühnenbildhaften
213 Auch hier war eines der auffälligsten Merkmale „(...) das Nebeneinander der verschiedenen Sammlungsbestände:Naturalien, Antiken, Maschinen und Kunstwerke stehen in einem stummen Dialog vielfältiger Assoziationen. Ein Objekt wirdjeweils durch die Konfiguration mit den jeweils benachbarten Ausstellungsstücken semantisch aufgeladen. Sie erklären siesich gegenseitig auf vielsagende, vieldeutige Weise.“ Wyss, Beat. “Das Museum oder die Rückverzauberung entzauberterDinge.“ In: Museumskunde. Band 63, Heft 2. S.77
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Nachbildungen von Natur ein.214 Realität und Fiktion nähern sich dabei durch das Medium der
Fotografie stark an. Hier wird auch die strukturelle Verwandtschaft zwischen der Institution Museum und
der Kulturtechnik Fotografie deutlich, da beide als Fusion von Kunst und Wissenschaft momenthafte
Ausschnitte der Realität festhalten und dabei eine faszinierende Verbindung von Naturalismus und
Repräsentation eingehen. Und obwohl bei genauer Betrachtung auffällt, dass die Posen der Akteure
unnatürlich und die Landschaft arrangiert wirken, fällt es auf den ersten Blick schwer zu sagen, ob die
Bilder der Natur “echt“ oder nur scheinhaft real sind. Dieses Spiel mit der Unsicherheit über den
Wahrheitsgehalt der abgebildeten künstlichen Welten lässt sich auf die immer vorhandene
Konstruiertheit im gesamten Museum übertragen. Bis zu einem gewissen Grad ist es notwendig, sich
auf das inszenierte Setting einzulassen, um ein genussvoller Museumsgänger zu sein.
In den projizierten Fotos habe ich eben diese räumlichen Situationen im Museum mit ihren verwirrenden
Verschachtelungen und Wirklichkeitsebenen erforscht. Mein umherschweifender Blick war dabei
speziell auf die Brüche, und das teilweise merkwürdig anmutende Zusammentreffen von Dingen und
Umständen gerichtet. Da die Zusammenstellung der Projektionsabfolge für mich einen besonders
interessanten Aspekt der Arbeit darstellt, könnte ich mir vorstellen, die Frage nach der Bewegung im
Museumsraum weiter zu untersuchen. Um eine Forschung in diesem Bereich anzutreiben und das
Oszillieren zwischen verschiedenen Einstellungen zu verdeutlichen, könnte sich Film als geeignetes
Medium herausstellen.
In der sprachlichen Auseinandersetzung mit meiner nicht-sprachlichen Forschung ist es manchmal
schwierig gewesen, geeignete Worte zu finden. Besonders die verbale Reflexion der visuellen Verweise
im spielerischen Umgang mit den Zeitungsbildern war eine Herausforderung. Dennoch ist es möglich
gewesen, die Hintergründe und Motivationen für konkrete Entscheidungen zu beschreiben und dadurch
einen tieferen Zugang zum Verständnis der eigenen künstlerischen Arbeiten zu gewinnen. Dies hat
dazu geführt, dass ich in der Rückschau sowohl die in den Projekten bereits vorhandenen Bezüge
gedanklich reflektieren als auch neue Fragen und Ansatzpunkte finden konnte. So ist mir bewusst
geworden, dass die künstlerische Forschung neben der kontinuierlichen Auseinandersetzung mit dem
Gegenstand des Interesses auch immer wieder Formulierungen in der Offenlegung der Erkenntnisse
braucht. Damit eröffnet sich eine weitere Fragestellung, welche durch das in den Projekten bearbeitete
Themengebiet besonders virulent wird. Im Mittelpunkt meiner Arbeiten stehen das Museum, sein
Selbstbild, seine Funktionsmechanismen und vor allem seine Inszenierungs- und
Repräsentationsstrategien. Einige dieser Aspekte konnte ich in meiner künstlerischen Arbeit aufgreifen
und die gefundenen Konventionen unter Anderem durch Wiederholung ironisch-affirmativ kritisieren.
214 Mein Interesse für eine künstlerische Untersuchung des Naturkundemuseums ist neben der Beschäftigung mit CandidaHöfer und Hiroshi Sugimoto auch mit meiner Begeisterung für die Arbeiten Mark Dions und Damien Hirsts zu erklären.
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Letztendlich stehe aber auch ich vor der Frage, wie diese Forschungsergebnisse zu Präsentation,
Repräsentation und Inszenierung im Museum denn selbst präsentiert werden können. Die
Auseinandersetzung mit möglichen Präsentationsformen für die Arbeiten hat mir gezeigt, dass es zwar
recht leicht ist, Schwachstellen musealer Inszenierungspraxis aufzudecken und diese ironisch in einer
künstlerischen Arbeit zu brechen, dass die von mir kritisierten Schwierigkeiten aber auch die
Präsentation meiner eigenen Arbeiten betreffen.215 Übertrage ich die gewonnenen Erkenntnisse auf
meine eigene Arbeit, muss ich der Tatsache Rechnung tragen, dass eine Präsentation mehr ist als nur
formale Rahmung. Die Präsentation darf sich nicht darin erschöpfen, die Arbeiten in nachträglicher
Zusammenstellung als Teil eines Dialogs auszustellen. Sie selbst muss Teil dieses Dialogs werden.
Das eigentliche Ergebnis läge dann erst in der Verbindung von Darstellungsinhalt und Darstellungsform.
Momentan könnte ich mir vorstellen, neben Bilderrahmen beispielsweise auch farbige Schauwände als
Anspielungen auf die Welt des Museums einzusetzen und damit die Exposition der künstlerischen
Arbeiten in Zusammenhang mit deren Inhalt zu bringen. Beziehe ich mich mit solchen Versatzstücken
auf Inszenierungsformen des Museums, so tue ich eigentlich genau das, was auch mit den
Ausstellungsstücken im Museum geschieht. Nur zeige ich nicht wie diese auf eine “reale“ Welt da
draußen, sondern eben auf die künstliche und konstruierte Welt des Museums. Ich verweise auf einen
Ort, der selbst wieder auf andere Orte und Zeiten verweist. Für meine Arbeiten könnte damit ein fiktiver
Raum im Raum konstruiert und so auf einer Metaebene die Präsentation selbst thematisiert werden. Die
Chance einer solchen Inszenierung liegt allerdings nicht in einer exakten Kopie der synthetischen Welt
des Museums, sondern in der Reduktion und im angedeuteten Zitat.
In meinen Arbeiten und deren Inszenierung versuche ich das Phänomen Museum so zu präsentieren,
dass seine Fiktionen als solche sichtbar und seine Repräsentations- und Inszenierungsstrategien als
Systeme zweiter Ordnung erkennbar werden. Gelingt mir dies, wird nicht bloß ein wiedererkennendes
Sehen, sondern ein strukturelles Sehen möglich. Dann können Betrachter zu Beobachtern werden und
über die Hintergründe reflektieren, welche diese konkrete Präsentationsform hervorgebracht haben.
215 Und zwar auch in dem Sinne, dass mein Suchen, Erforschen und Probehandeln ebenso blinde Flecken aufweist.
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