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Nicht Opfer, sondern Protagonisten der Globalisierung Das Christentum als „Motor“ der Moderne Markus Krienke (Lugano) 1. Was heißt das „Christentum als Motor der Moderne“? Der Broschürenreihe Das Christentum als Motor der Moderne der Konrad- Adenauer-Stiftung liegt die Auffassung zugrunde, dass sich Christentum und Moderne keinesfalls ausschließen, sondern im Gegenteil das christliche Menschenbild Ausgangspunkt und „Motor“ der Formation und Ausgestaltung der politisch-gesellschaftlich- sozialen Sphäre in der Moderne ist. In gewisser Weise kann man sagen, dass es erst in der Moderne gesellschaftsbildend und also politisch wird. Damit wird die Moderne zur „Stunde“ des Christentums und seiner Politikrelevanz. Sollte sich diese These plausibel bekräftigen lassen, dann ergibt sich daraus ein neuer Blick auf die zentralen Institutionen des modernen Staates, des Wirtschaftssystems und des gesellschaftlichen Lebens, gegenläufig zu den herkömmlichen Kategorisierungen der Moderne als Ergebnis antichristlicher Aufklärung. Gleichzeitig lassen sich dann ausgehend von dieser Analyse neue Perspektiven für die Zukunft gewinnen. Von der Überzeugung, dass es in der Moderne darum geht, die politische und wirtschaftliche Ordnung gemäß den Konsequenzen des christlichen Menschenbildes auszugestalten, waren katholische und evangelische Christen in ganz Europa stets beseelt. Auf deutscher Seite ließen sich als Pioniere einer modernen freiheitlichen 1

Protagonisten der Moderne

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Das Christentum als Motor der Moderne

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Nicht Opfer, sondern Protagonisten der GlobalisierungDas Christentum als „Motor“ der Moderne

Markus Krienke (Lugano)

1. Was heißt das „Christentum als Motor der Moderne“?Der Broschürenreihe Das Christentum als Motor der Moderne der Konrad-Adenauer-Stiftung liegt die Auffassung zugrunde, dass sich Christentum und Moderne keinesfalls ausschließen, sondern im Gegenteil das christliche Menschenbild Ausgangspunkt und „Motor“ der Formation und Ausgestaltung der politisch-gesellschaftlich-sozialen Sphäre in der Moderne ist. In gewisser Weise kann man sagen, dass es erst in der Moderne gesellschaftsbildend und also politisch wird. Damit wird die Moderne zur „Stunde“ des Christentums und seiner Politikrelevanz. Sollte sich diese These plausibel bekräftigen lassen, dann ergibt sich daraus ein neuer Blick auf die zentralen Institutionen des modernen Staates, des Wirtschaftssystems und des gesellschaftlichen Lebens, gegenläufig zu den herkömmlichen Kategorisierungen der Moderne als Ergebnis antichristlicher Aufklärung. Gleichzeitig lassen sich dann ausgehend von dieser Analyse neue Perspektiven für die Zukunft gewinnen.Von der Überzeugung, dass es in der Moderne darum geht, die politische und wirtschaftliche Ordnung gemäß den Konsequenzen des christlichen Menschenbildes auszugestalten, waren katholische und evangelische Christen in ganz Europa stets beseelt. Auf deutscher Seite ließen sich als Pioniere einer modernen freiheitlichen Ordnung auf der Grundlage der menschlichen Würde als christlichen Prinzips: Wilhelm Emanuel von Ketteler, Joseph Mausbach, Heinrich Rommen, Peter Tischleder, Godehard Ebers, Oswald von Nell-Breuning, Gustav Gundlach, Wilhelm Röpke, Ludwig Erhard, Konrad Adenauer, Joseph Höffner; auf italienischer Seite kann man an Luigi Taparelli D’Azeglio, Gioacchino Ventura, Raffaello Lambruschini, Vincenzo Gioberti, Antonio Rosmnini, Alessandro Manzoni, Giuseppe Toniolo, Luigi Einaudi, Lugi Sturzo, Alcide de Gasperi denken. In unterschiedlicher Weise ging es all diesen Denkern um eine konstruktive Fortschreibung der christlichen Staats- und

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Wirtschaftslehren Im Zentrum ihrer Ideen findet sich die Person und ihre Freiheit. Ihnen ging es darum, wie die gesellschaftlichen Institutionen beschaffen sein müssen, damit sie dieses Doppelprinzip – Personalität und Freiheitlichkeit – bestmöglich verwirklichen. Einig sind sie sich darin, dass sich in der modernen Ordnung das christliche Menschenbild in seiner Freiheitlichkeit konstitutionell verwirklicht hat; einig sind sie sich aber auch in der kritischen Bewertung der modernen Entwicklung, die sich von den moralischen Implikationen dieser Tatsache gelöst und demzufolge die Freiheitlichkeit der Ordnungen als moralische Bindungslosigkeit und Grenzenlosigkeit missversteht.In diesem Sinn erkannten die genannten christlichen – katholische wie evangelische – Denker ihre Aufgabe vor allem während der Phase der Konstitutionalisierung im 19. Jahrhundert, der Nationalstaatsbildung sowie in den Phasen der Neuordnung nach den Weltkriegen. Ebenso kommt ihnen für die Wende und die Europäische Einigung nach 1989 große Bedeutung zu. Stets stand dabei ihre Überzeugung im Vordergrund, dass politische und wirtschaftliche Freiheit Hand in Hand gehen, sich gegenseitig implizieren und der Verlust der einen zum Verlust der anderen führt. Damit wurde sie zu Vordenkern der Freiheit – einer bestimmten Freiheit jedoch, insofern es ihnen um die Freiheit des Menschen ging. Darin waren sie nicht nur in ihrer Zeit Motoren des gesellschaftlichen Fortschritts, sondern ihre Ideen können dies auch heute noch sein.Von ihren Inspirationen ist unsere Gesellschaft tief durchdrungen – doch weist sie gerade seit der Jahrtausendwende in fast allen Belangen charakteristische Krisenphänomene auf. Es ist die Krise jener Freiheit, die nach 1989 ihren definitiven Siegeszug anzutreten schien. Die damalige Euphorie ist jedoch dem Diktat der Beschränkungen, Zwänge und Unausweichlichkeiten gewichen. Diese sind dabei politischer, wirtschaftlicher, technischer, ökologischer oder auf sonst irgendeine Weise „globaler“ Art, der sich der Mensch gegenüber in einer lähmenden Passivität erfährt. Lethargie und Fatalismus machen sich demzufolge in unseren Gesellschaften breit und bedrohen damit jenes Aktivpotential, das einzig dazu in der Lage ist, aus der Krise zu führen: den Menschen. Nicht umsonst zeichnete Nietzsche die Situation unseres Jahrhunderts mit der Bezeichnung „Geist der Schwere“ voraus. Der

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anthropologische christliche Optimismus ist einem entpersönlichten automatistischen Pessimismus gewichen. Der Ausweg aus der Krise – die ist die Überzeugung einer christlich inspirierten Politik – erfolgt nur über eine Vergewisserung unseres Menschenbildes und unseres Verständnisses von „Freiheit“. In diesem Sinne gilt es, das Erbe der großen christlichen Philosophen und Juristen, Politiker und Ökonomen, Theologen und Staatsmänner der Neuzeit aufzunehmen und positiv weiterzuführen.Der Schlüssel dieser Vergewisserung und damit der Motor, um die Stockungen der Moderne wieder in Gang zu bringen, ist das „C“. Die Konrad-Adenauer-Stiftung ist der Überzeugung, dass die Reflexionen darüber kein intellektueller Selbstzweck und keine europäische Nabelschau sind, sondern der notwendige Ausgangspunkt, um gerade unter Beachtung der globalen Dimension der derzeitigen Probleme aus der Krise zu finden. Im christlichen Menschenbild ist systematisch der dazu indispensable Universalismus enthalten, der aber eben keinen entpersönlichten Universalismus darstellt – wie er in den materialistischen Menschenbildern des Marxismus oder der Naturwissenschaften, aber auch aller konstruktivistischen Positionen vorliegt. Gleichzeitig verflüchtigt sich dieser Universalismus nichts ins Ideelle, von der Realität Abgehobene, insofern er sich nur im Einzelnen und seiner Freiheit realisiert. An dieser Stelle erweist sich das christliche Menschenbild als realistisch und eben nicht idealistisch verkürzt. Erst diese spezifische Verschränkung ergibt, bei genauerem Hinsehen, die politisch-ökonomische Leistungsfähigkeit des modernen Begriffs der Menschenwürde. Denn diese Verschränkung besagt, dass das universale Prinzip der gesellschaftlich-institutionellen Konstitution nirgends anders zu finden ist als in der Realität der Person. Weder kommt der Realität der Materie Universalität zu noch der Idealität des Geistes Realität und Einzelnheit. Nur das christliche Menschenbild verbindet beide Dimensionen, indem es den Menschen als reales Individuum betrachtet, das jedoch gleichzeitig an einer universalen Bestimmung teilhat, da es nicht nur endliches Individuum, sondern hebräisch-christlich „Bild Gottes“, „Kind Gottes“ ist. Dieses Verständnis gilt es, im Folgenden in seinen sozialethischen Implikationen auszufalten und dabei einerseits herauszustellen, wie das Christentum als „Motor der Moderne“ bezeichnet werden kann, und andererseits die konstruktiv-optimistische Frage zu stellen, wie es diese Kraft

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für die Herausforderungen des neuen Jahrhunderts, welche die Herausforderungen der „Globalisierung“ sind, entfalten kann.Damit legt die Broschürenreihe Das Christentum als Motor der Moderne ein durchaus streitbares Konzept vor, denn diese These ist nichts geringeres als die Gegenthese zur historischen und philosophischen Schulmeinung, die in äußerst wirksamer Weise in das Gemeinbewusstsein eingesickert ist, wonach sich die Moderne als direkte Antireaktion auf das Christentum und die Kirche herausgebildet hat. Um es gleich vorwegzunehmen: Der hier vorgestellten These geht es nicht um die Widerlegung durchaus gesicherter historischer Zusammenhänge und philosophischer Konstellationen. Zweifelsohne setzten sich die modernen Ideen, erstens, nicht gerade auf friedlichem Weg durch, sondern mussten unter zahlreichen Opfern und gegen Widerstand, gerade auch seitens der Kirche, erkämpft werden. Zweitens beruhte die Philosophie der Aufklärung in der Tat auf dem Gedanken, dass das letztlich autoritär abgesicherte vormoderne Denken und Wissen durch ein allein vom Subjekt stammendes und daher jederzeit von diesem überprüfbares Denken und Wissen abgelöst werden müsse. In der Tat sollen diese historischen und institutionellen Probleme nicht relativiert oder geleugnet werden. Es ist dann auch in der Tat nicht die Intention der Reihe Das Christentum als Motor der Moderne, zu diesen Fragen Stellung zu nehmen, sondern aufzuzeigen, wie sich grade auf diesem Weg – also in einer gewissermaßen paradoxalen Struktur – die Intuitionen des christlichen Menschenbildes allererst gesellschaftsbildend und politikprägend durchgesetzt und institutionalisiert haben. Inwiefern diese Einsicht dann wiederum auf eine mögliche Korrektur der bisherigen Interpretation von Aufklärung und Moderne zurückwirkt, ist wiederum nicht mehr Teil unseres Beitrages und wird gewissermaßen an die Forschung zurückgegeben.Dass das Christentum – neben griechischem und römischem Denken, Humanismus und Aufklärung – eine der zentralen Quellen der Herausbildung unseres politischen, ökonomischen und sozialen Denkens darstellt, kann jenseits aller Einzelpositionen als gesicherter Grundkonsens gelten. In dieser Sichtweise wird das Christentum jedoch tendenziell in jenen historisch-kulturellen Untergrund eingeordnet, der zur produktiven Kraft für die Veränderung der politisch-gesellschaftlichen Verhältnisse erst durch jene

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Aufklärung wurde, die sich eben als antikirchlich, antiklerikal und letztlich antichristlich gestaltete. Die These vom Christentum als „Motor“ der Moderne stellt demgegenüber darauf ab, dass es die genuin christlichen Ideen zur politisch-gesellschaftlichen Gestaltung – Person und Freiheit – waren, die in der Moderne ihre spezifische Dynamik erlangt haben. Diese unterscheidet sich von der revolutionär-jakobinischen Dynamik darin, sich nicht eruptiv-umstürzlerisch zu entladen, sondern nachhaltig – und deswegen oft auf Umwegen – die Ideen der Menschenwürde und der freiheitlich-demokratischen Ordnung hervorzubringen.Ideen sind kein abstraktes Gedankenspiel, sondern verwirklichen sich durch das Engagement von konkreten Menschen. So waren es in der Moderne aktive Christen, welche – trotz vielfachen institutionellen Widerstands – diesen Ideen zu ihrer Verwirklichung verholfen haben. Dies bedeutet, dass es auch heute auf Christen in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft ankommt, denn sie vermitteln jene Perspektive auf den Menschen und seine Freiheit, die sich als Motor erweisen kann, um konstruktive Wege aus der aktuellen „Krise der Freiheit“ aufzuzeigen.

2. Die Globalisierung als „Zeichen der Zeit“Die jüngste Sozialenzyklika Caritas in veritate gibt für die politisch engagierten Christen die Aufforderung, «nicht Opfer der Globalisierung zu sein, sondern zu deren Protagonisten zu werden»: Damit wird die Haltung einer christlich orientierten Politik formuliert. Es ist die Grundtendenz des Christentums, sich nicht aus der Welt zurückzuziehen und deren Verlauf als unabwendbares Schicksal zu verstehen, sondern sich aktiv an deren Gestaltung zu beteiligen. So sei die Globalisierung nicht «a priori» als gut oder schlecht charakterisierbar, sondern den Menschen aufgegeben. Unter „Globalisierung“ versteht die Enzyklika also nicht einen spezifisch ökonomisch, politologisch usw. definierten Begriff, sondern die Bezeichnung der derzeitigen sozialen Situation – der Welt, Europas, aber auch Italiens oder Deutschlands. Diese verschiedenen politischen Ebenen – Welt, Kontinent, Nationalstaat – weisen zwar stets spezifische Unterschiede auf, doch erscheinen die sozialen Probleme immer stärker miteinander verknüpft, sodass diese „globalisierte“ Perspektive

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auf die politisch-soziale Ordnung bisweilen dazu tendiert, die Differenzen wegzuwischen. Insofern es aber gerade diese allgemeine „globalisierte“ Perspektive ist, welche mithin die Unterschiede zwischen den Kulturen und Ländern einzuebnen droht, werden die universalen Strukturen, mit denen sich der gesamte Beschleunigungsprozess auf die Welt ausgedehnt hat, selbst zum Problem, sie werden als Unfreiheit und Unterdrückung erlebt: Politisch generieren sie so Widerstand und Terror, wirtschaftlich ökonomisches Gefälle. Es gilt also, die Globalisierung als Phänomen zu akzeptieren, sie nicht aber als Schicksal hinzunehmen, sondern aktiv zu gestalten. Gerade hierzu kann das christliche Menschenbild mit seinen gesellschafts- und ordnungspolitischen Konsequenzen einen fundamentalen Beitrag leisten.Die Globalisierung trat in jene Beschleunigungsphase, in der sie sich heute trotz der Krise immer noch ungehindert befindet, als die Welt seit 1989 nicht mehr von dem ideologischen Ost-West-Gegensatz der beiden Lager des Liberalismus und des Kommunismus charakterisiert war. In der Tat bestand die Globalisierung als Phänomen und als Problem schon zuvor, zur entscheidenden und methodischen Herausforderung wurde sie allerdings erst mit der exponentiell wachsenden Geschwindigkeit ihrer extensiven und intensiven Entwicklung nach dem Fall der Mauer. Vor diesem Hintergrund der „Wende“ kann das Phänomen durchaus einmal und grundlegend als die Durchsetzung des „Prinzips Freiheit“ in der weltweiten internationalen Dynamik verstanden werden. In diesem Sinn wird uns in der Retroperspektive nochmals die Aufbruchsstimmung der Wendejahre bewusst, eine Euphorie der Freiheit, wie sie nicht zuletzt in der Jahrhundertenzyklika Centesimus annus ihren Ausdruck fand. Hier erklärte die Kirche, dass unter den Voraussetzungen der moralischen Anerkennung der Person Kapitalismus und Demokratie als die wirtschaftlichen und politischen Formen der Freiheit durchaus nicht im Gegensatz zum christlichen Menschenbild stehen, dem die Freiheit nicht nur ein religiöses und anthropologisches, sondern auch politisches und wirtschaftliches Grundanliegen ist. Im Gegenteil, sofern sie die gesellschaftlichen Voraussetzungen zu dessen Verwirklichung schaffen, seien sie ausdrücklich gutzuheißen, so die Enzyklika. Damit bringt sie jene Methode zum Ausdruck, die vom Projekt der Konrad-Adenauer-Stiftung zur gesellschaftlichen Relevanz des „C“ – als „Motor der Moderne“ – wieder aufgenommen wird: In der

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politisch-wirtschaftlichen Ordnung der Nachkriegszeit haben sich modern die grundlegenden politikrelevanten Intuitionen des christlichen Menschenbildes institutionalisiert. Die zentralen Adjektive dieser Ordnung sind „personalistisch“ und „freiheitlich“ und sie beruht auf der Trennung von Kirche und Staat (Religions- und Gewissensfreiheit). Damit sind Kapitalismus und Demokratie keine „christlichen“ Systeme, sondern haben sich auf dem Boden des Christentums, in der historischen Situation der Entwicklung eines bestimmten Begriffs von Person und Freiheit, herausgebildet. Wiewohl es sich dabei nicht um „Ableitungen“ aus dem christlichen Glauben handelt, wird deutlich, dass das Christentum möglicherweise eine wesentliche Quelle für deren Grundideen darstellte und dass gerade im kulturellen Raum des Christentums die Voraussetzungen dafür bereitgestellt waren, dass diese sich auch historisch entwickeln konnten. Dies macht jedoch weder sie zu exklusiv „christlichen“ Systemen noch das Christentum zur einzig legitimen Interpretationsinstanz derselben. Denn die Argumentationsbasis, auf welcher diese legitimiert sind, ist Vernunft und Freiheit, nicht der christliche Glaube. Wohl aber kann aufgezeigt werden, dass das Christentum der entscheidende „Motor“ – und nicht nur eine historische Quelle oder entfernte Ursache – ihrer Herausbildung in der Moderne war.Hat man diese Systematik präsent, dann ist auch klar, dass die Feststellung, inwiefern sich das „C“ in der modernen Ordnung realisiert, weder als die Rückgängigmachung der Religionsneutralität des Staates gelten darf noch als Hinweis darauf verstanden werden kann, dass sich diese Werte nur im Christentum ausbilden können. Denn das Christentum ist überzeugt, mit seinem Personbegriff die Realität des Menschen als solchen zum Ausdruck zu bringen, womit dessen sozialethisches Anliegen rational und universalistisch ist. Vieles deutet jedoch darauf hin, dass bestimmte Denkkategorien – wie die Synthese aus Universalismus und Individualität in der Menschenwürde, die reale, interpersonale Relation des Subjekts zu seinem welttranszendenten Schöpfer, sowie der Gedanke, dass sich aus diesen Elementen der moderne Person- und Freiheitsbegriff formt – sich nur unter der Einwirkung der christlichen Offenbarung ausbilden konnten. Dies ändert aber nichts an der festgestellten Systematik, derzufolge in den sozialethischen Überlegungen dieser Broschürensammlung eine politisch-wirtschaftlich-soziale Ordnung nicht

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exklusiv „nur für Christen“, sondern mit universalem Anspruch und damit als politiktauglich in einer säkularen und pluralistischen Gesellschaft vorgestellt wird.Auf der Grundlage dieser Einsicht soll die hier vorgeschlagene Perspektive des „C“ zum Ausdruck bringen, dass unter Voraussetzung der stichhaltigen Begründbarkeit der ihr zugrundeliegenden These das Christentum auch angesichts der Krise der modernen Institutionen, die marode und Unfreiheit produzierend erscheinen, zum Träger und Garanten des Freiheitsethos avancieren kann. Die entscheidende Aufmerksamkeit ist jedoch darauf zu richten, dass damit nicht einfach Freiheit im Sinne umfassender „Liberalisierung“ propagiert wird, sondern es um eine freiheitsethische Perspektive geht. Denn Erstere bezeichnet nichts weniger als die Krise der Globalisierung und führt uns gerade im europäischen Kontext vor Augen, dass dort, wo Freiheit gegeben ist, sie auch falsch verstanden werden kann, ja sich gegen ihre politisch-gesellschaftlichen Voraussetzungen richten und sie schrittweise unterwandern kann. Dies macht die Gesellschaft derzeit unsicher, denn sie spürt, dass ihr jener institutionelle Boden unter den Füßen weggezogen wird, auf dem sie sich doch erst, nach Jahrhunderten der spezifisch modernen Unsicherheiten, eingerichtet hat.Eben deshalb heißt Freiheit nicht einfach Abwesenheit von Prinzipien, von politischer Ordnung und von moralischer Bindung. Die Entwicklung der Freiheit richtet sich nur dann nicht gegen die Freiheit selbst, wenn sie ethisch – durch Prinzipien, politische Ordnung und moralische Bindung – und also personal vermittelt ist. Dann bedeutet „Ethik“ nämlich soviel wie „Personalisierung“: Welche Bedingungen und ethische Kriterien ergeben sich aus dem christlichen Menschenbild für die Bestimmung und konstitutionelle Absicherung von Freiheit? Diese Dimension wird auch als eine „starke“ Bestimmung des Freiheitsbegriffs bezeichnet – im Gegensatz zur „schwachen“ Freiheitsidee als ledigliche Abwesenheit von Einschränkungen. Vor allem Centesimus annus hat die Notwendigkeit eines solchen starken Freiheitsbegriffs nachdrücklich betont. In ihrem Hintergrund stehen Paulus, Augustinus, Kant und eben die christlichen Freiheitsdenker der Moderne. Die Enzyklika von 1991 nahm ihrerseits dabei den Enthusiasmus auf, der Europa in jenem Moment neu belebte, doch warnte

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sie auch vor den Risiken eines schwachen und oberflächlichen, weil nicht ethisch legitimierten Freiheitsverständnisses.Dieser Enthusiasmus der Freiheit verschaffte sich in utopischen Visionen Ausdruck, wenn etwa Francis Fukuyama das „Ende der Geschichte“ erklärte und den Sieg der Freiheit als Notwendigkeit beschrieb, mit der sich nach dem Zusammenbruch des kommunistischen Blocks die grundlegenden Institutionen des Liberalismus – Demokratie und Marktwirtschaft – durchsetzen würden. Dabei markieren jedoch bei genauerem Hinsehen bereits solche utopische Visionen eines zwangsläufigen Geschichtsverlaufs die Krise der Freiheit, denn Freiheit ist etwas grundsätzlich Anderes als Utopie. Utopie unterwirft den Menschen und sein Heute unter eine generelle Vision, unter eine Idee oder Notwendigkeit, nach der sich die Geschichte der jeweiligen Interpretation zufolge entwickeln werde. Solche sich an Hegels Geschichtsphilosophie inspirierenden Konzepte stehen dabei im Dienst an einer politischen Idee und entwerfen das ihr entsprechende Legitimationsmodell. Damit ist die Einzelperson in ihrer Freiheit und nicht-Festlegbarkeit aus ihrer Zentralstellung gerückt und dem dialektischen Mechanismus eines historischen Ablaufs unterworfen, der jedoch politisch demjenigen zur Macht verhilft, der über die Interpretationshoheit über dieses utopische Konzept verfügt. Damit verbindet sich mit einer utopischen Version zumindest ein politischer Despotismus, wenn nicht gar der Totalitarismus. Die Utopie ist damit keine politische Begründungsfigur für Freiheit und nicht aus Zufall dem christlichen Menschenbild fremd – wenn es auch immer wieder christliche Denker waren, die solche Konzepte vorschlugen (Joachim von Fiore, Hegel). Dagegen sind die politischen Ideen am Menschen auszurichten, nicht umgekehrt. Freiheit verwirklicht sich im Heute des Individuums, nicht im Morgen des Ideals: sie ist Geschichte und nicht ihr Ende. Ihr ethisches Kriterium ist nicht das Ideal, sondern die Menschenwürde.Solche Utopien bilden aber nicht die einzige Krisenerscheinung der Freiheit. Eine weitaus einschneidendere Krise der Freiheit stellt der Gedanke einer prinzipiell grenzenlosen Liberalisierung dar, im Sinne einer Entkoppelung des Freiheitsgedankens von politischer, sozialer oder moralischer Einbindung. Wird versucht, diesen abstrakten, relationslosen und prinzipiell unbegrenzten Freiheitsbegriff auf politisches oder ökonomisches Denken zu übertragen,

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kommt man zu radikal-liberalen Positionen, die im politischen Bereich Staatskonzeptionen wie den „Nachtwächterstaat“ oder den „Minimalstaat“ hervorbringen und im ökonomischen Bereich Manchester-Liberalismus genannt werden. Den Positionen der meisten liberalen Denker und erst recht der christlich-liberalen Denker stellen solche Positionen gravierende Missverständnisse des liberalen Grundgedankens dar, der solche soziale, moralische, politische Bezüglichkeit keinesfalls ausschließt. Zudem wird die Frage gestellt, ob solche radikal-liberalen Position wirklich durchhaltbar sind und ob es mithin wirklich kohärente Vertreter dieser Positionen gibt. In diesem Zusammenhang betont Centesimus annus: «Die Wirtschaft, insbesondere die Marktwirtschaft, kann sich nicht in einem institutionellen, rechtlichen und politischen Leerraum abspielen». Und weiter: «Eine wahre Demokratie ist nur in einem Rechtsstaat und auf der Grundlage einer richtigen Auffassung vom Menschen möglich». Dies scheint aber als machbar vorausgesetzt zu werden, denn die Begriffe Kapitalismus und freier Markt einerseits bzw. Demokratie und Freiheit andererseits werden im Rahmen der personal-ethischen Spezifizierung und unter klarer Herausstellung der notwendigen Differenzen positiv verwendet. Damit ist die Position der kirchlichen Soziallehre als kompatibel zu einem moderaten Liberalismus beschrieben. Diese Aussage kann heute nur diejenigen verwundern, der die bereits genannte lange Reihe von liberalkatholischen Denkern in der Moderne übersieht und damit verkennt, dass die christlichen Grundideen selbst zur Forderung nach einer auf die Menschenwürde begründeten politischen, wirtschaftlichen und sozialen Ordnung führen.Die aktuelle Enzyklika Caritas in veritate verwendet interessanterweise die in Centesimus annus analysierten Begriffe „Kapitalismus“ und „freier Markt“ nicht mehr – nicht einmal mehr innerhalb jener ethischen Präzisierungen, welche die Vorgängerenzyklika einforderte – und die „Individualrechte“ werden skeptisch betrachtet. Dies sagt viel über den Wandel der gesellschaftlichen Situation in den letzten beiden Jahrzehnten bzw. ihrer – zumindest christlichen – Perzeption aus. Die Begriffe selbst sind offenkundig missverständlich geworden: Heute versteht man unter „Kapitalismus“, „freiem Markt“ und „Individualrechten“ weithin keine neutrale, in ihrer Freiheitsdimension bestimmungsfähige und -bedürftige Größen mehr, sondern die Vorentscheidung zugunsten eines

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bestimmten Freiheitsverständnisses – und zwar jenes des auf der Welle der Globalisierung sich verbreitenden radikalen Liberalismus, oder wie er in diesem Zusammenhang öfter – in seiner Begrifflichkeit durchaus aber nicht eindeutig – bezeichnet wird: „Neoliberalismus“.Gemäß ihrer methodologischen Vorgabe, die Globalisierung weder negativ noch als schicksalhaftes Ereignis zu verstehen, interpretiert die Enzyklika Caritas in veritate diese nicht per sé als radikalliberal, sondern stellt sie vielmehr als die Herausforderung dar, welche sie an unsere, im Ausgang der Moderne erstmals recht stabil etablierten Institutionen Marktwirtschaft und Demokratie stellen. Dass dies de facto einerseits liberale Herausforderungen in geringer Analogie zur sozialen Frage des 19. Jahrhunderts, andererseits neoliberale Konzeptionen einer die politische Sphäre verschlingenden Kapitalismus sind, bedeutet nicht, dass sich die Globalisierung mit dieser Tendenz identifizieren müsste. Aber gerade in diesem Sinne benutzen viele Gruppierungen, von links und rechts, „Globalisierung“ bereits positiv oder negativ als einen Wertungsbegriff. Doch die Enzyklika plädiert dagegen für einen neutralen, geradezu Weberschen, Gebrauch desselben: als ein Phänomen, das es erst überhaupt ethisch zu interpretieren gilt. Globalisierung, so die kirchliche Soziallehre, bringe vor allem die Menschen näher und schaffe damit viele ungeahnte Möglichkeiten und Gelegenheiten, Solidarität und zwischenmenschliche Werte zu verwirklichen. Dieses Phänomen des globalen Näheraneinanderrückens erhält seine ethische Relevanz nun aber erst aus der Betrachtung, welche Folgen dies für das Verständnis des Menschen und seiner gesellschaftlichen Relationalität hat: So betont die Enzyklika, dass die globale Annäherung der Menschen noch nicht bedeutet, dass aus den «Nachbarn» auch «Geschwister» werden.Im Zentrum der Globalisierungskategorie stehen damit die ethischen Implikationen des zugrundeliegenden Freiheitsbegriffs im allgemeinen (weltweit) wie auch im speziellen (für Europa, und die Nationalstaaten): Globalisierung wird dort falsch verstanden, wo sie als „Neoliberalismus“ bzw. als die tendenziell umfassende Aufhebung der politischen, wirtschaftlichen und moralischen Schranken der Freiheit aufgefasst wird. Dies passiert, wenn „Liberalismus“ und „Freiheit“ als eindimensionale Begriffe verstanden werden. Dann identifiziert sich das Verständnis von „Freiheit“ nämlich mit dem

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weitestmöglichen Ausschluss der Anerkennung der anderen – und auch: des Anderen –, d. h. mit Relationslosigkeit und Individualismus. Ein Liberalismus, der sich seines Fundaments im Menschen bewusst ist und sich mittels ordnungspolitscher Regelungen verwirklicht, ist dagegen ein konsistenter, „starker“ Freiheitsbegriff. Dieser ergibt sich aus dem christlichen Menschenbild, das deswegen eine stabile Grundlage unserer politisch-wirtschaftlich-sozialen Ordnung bereitstellt. In diesem Verständnis erwiest sich das Christentum als der Motor der Moderne.

3. Die freiheitlich-christliche Grundlage in der MenschenwürdeDas christliche Menschenbild vermittelt sich als politisches Konzept im Verhältnis Individuum–Gemeinschaft, das auf der Anerkennung der Personwürde gegründet ist. Diese Anerkennung wird nicht individuellen Überzeugungen überlassen, von spezifischen Leistungen des Einzelnen abhängig gemacht oder als Ergebnis politischer Dezision verstanden, sondern ist grundlegendes, d. h. apriorisches, Moment allen gesellschaftlichen Zusammenlebens. In diesem Sinn kann zuspitzend gesagt werden, dass der Person nicht einfach Rechte zukommen oder zugesprochen werden, sondern dass die Person selbst Recht ist: die Person ist das «real existierende menschliche Recht» (Antonio Rosmini). Alle Handlungen, die sich moralisch als die Entfaltung der Person ergeben, müssen daher öffentlich geschützt werden: dies ist die Freiheit der Person. Damit sind mithin nicht Willkürhandlungen oder in ihrer Intentionalität egoistische Handlungen gemeint, da sich diese nicht als „Entfaltung der Person“ in ihrem moralischen Gehalt begreifen lassen. Unter dieser Voraussetzung werden dann Recht und personale Freiheit zu Synonymen. Die staatliche Ordnung wird ihrerseits zum Freiheitsgarant, indem sie die Handlungsfreiheit der Person schützt. Schützenswert sind aber nur jene Handlungen, die dem moralischen Prinzip der Achtung des anderen entsprechen. Nur so gewährt das Recht die Freiheit der Person in ihrer interpersonalen, gesellschaftlichen Verschränkung. Dadurch, dass diese Achtung die Grenze der eigenen Freiheit an derjenigen des anderen besagt (Kant), eröffnet das Recht die ethisch legitimierte Sphäre des Handelns. Es ist also nicht in erster Linie Sanktions-, sondern Ermöglichungsordnung. Das Recht

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ermöglicht das Menschsein, da die Person in ihrer Freiheit das ursprüngliche Recht ist.Daraus ergibt sich unmittelbar das Subsidiaritätsprinzip, welches Freiheit zum Rechts- und also zum Ermöglichungsprinzip macht. Dieses wird also in seinem ethischen Gehalt nicht von der Assistenzfunktion des Staates, sondern von der Ursprünglichkeit des Rechts der Person her gedacht. Als der gesellschaftlichen Ordnung zugrundeliegendes rechtsethisches Prinzip besagt es, dass der Staat sich nicht in jene Freiheit der Person einmischen darf, welche die ursprüngliche Würde der Person verwirklicht, die also bereits vor dem Staat ist und sich nicht dessen Zuschreibung verdankt (man bedenke, dass sich „Einmischung des Staates“ immer – wenn auch legitimerweise – als Akt der Macht vollzieht, da der Staat institutionell als Machtinstitution handelt und auch gar nicht anders handeln kann). Oder in anderen Worten: Gesellschaftliche Autorität hat ursprünglich die Person, nicht der Staat. Gesellschaft denkt sich von der Person her. Rosmini brachte diese fundamentale Verhältnisbestimmung einmal – bezeichnenderweise in seinem Saggio sul comunismo e sul socialismo – in die Formel: «Es kann kein Wunder sein, dass das Individuum nichts mehr ist, wenn die Regierung [der Staat] alles ist». Und Luigi Sturzo fügte im Jahr 1951 hinzu: «Die wahre Demokratie ist nicht staatszentriert. Die wahre Freiheit negiert den Pantheismus bzw. die Selbstgenügsamkeit des Staates. Die christliche Demokratie beruht auf der menschlichen Person in ihrem integralen, individuellen und sozialen Wert».Dieser moralisch-anthropologischen Grundbestimmung zufolge ist die Person „Zweck“ der politischen Ordnung bzw. staatlichen Handelns. Oder in den Worten Kants: Nur der Person kommt Würde zu, während die gesellschaftliche Sphäre als „Mittel“ auf die Person hingerichtet ist: «Im Reich der Zwecke hat alles entweder einen Preis oder eine Würde. Was einen Preis hat, an dessen Stelle kann auch etwas anderes, als Äquivalent, gesetzt werden; was dagegen über allen Preis erhaben ist, mithin kein Äquivalent verstattet, das hat eine Würde». Dem Staat kommt diesbezüglich die Aufgabe zu, die gesellschaftlichen Freiheitssphären gemäß des Prinzips der menschlichen Würde zu regeln. Ist die Person selbst das «real existierende menschliche Recht», dann wird in dieser Formulierung Rosminis deutlich, dass es dem Staat im eigentlichen Sinn nicht zukommt, das Recht in seiner Substanz zu regeln, sondern nur seiner

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«Modalität» nach: Er „schafft“ nicht das Recht – denn dieses ist in der menschlichen Person bereits vor dem Staat gegeben –, sondern er „regelt“ lediglich die jeweilige Ausgestaltung der Rechtsordnung als Ermöglichungsraum des Menschseins. Damit partizipiert die politische Ordnung rechtsethisch an der Personwürde: Jede staatliche Rechtssetzung ist nicht „Schaffung“ von Recht, sondern nur akzidentelle Regelung dessen, was als substantielles Recht – als Person – dem Staat vorausliegt. Dies vermindert rein material die staatlichen Kompetenzen keinesfalls – denn die Aufgabe, die „Modalität“ des Rechts zu regeln, ist in ihrer gesellschaftlichen Ausdehnung umfassend. Die Grenze dieser Regelbarkeit ist nur die Menschenwürde selbst: Greift der Staat in diese ein, verliert er seine ethische Rechtfertigung (er kann in diesem Moment durchaus noch rein formal-demokratisch legitimiert sein).Dieses Grundprinzip moderner Staatlichkeit ist in nichts anderem grundgelegt als in der christlichen Anthropologie, welche ihre politische Applikation in den synoptischen Evangelien findet: Caesaris Caesari, Dei Deo (Mc 12,17 par.). Der Christ erkennt den Staat an, er gibt ihm, was ihm gebührt, aber – wie Paulus ergänzend hinzufügt – nicht aus Obrigkeitsgründen, sondern aus seinem Gewissen heraus, in dem er die Legitimität der staatlichen Autorität im transzendenten Ausgang aller weltlichen Autorität aus der göttlichen erkennt (Röm 13,1-7). Diese vermittelt sich in die Welt hinein aber nicht durch eine direkte göttliche Bestimmung des Regierenden, sondern durch die menschliche Person, denn nur sie ist in der Schöpfungsordnung geschaffen, und nur sie ist durch Christus erlöst: sie ist Bild Gottes und Kind Gottes. Der Staat ist eine sekundäre Bildung des Menschen und partizipiert an der göttlichen Autorität also nur insofern als der Mensch mit Autorität ausgezeichnet ist. Damit generiert sich Autorität im christlichen Verständnis nicht aus dem Regierenden, nicht Staat, ja nicht einmal aus einem ursprünglichen Vertrag – mit einem Wort: nicht aus menschlicher Gestaltung –, sondern aus der menschlichen Würde: Nur in letzterem Fall bleibt die Autorität als Legitimation politischer Macht dem Menschen im letzten unverfügbar und ist mit einem ethischen Vorbehalt ausgestattet, der es verhindert, dass die Autorität in die Hände des Menschen fällt und dort monopolisierbar, organisierbar oder bürokratisierbar wird. Dieses Risiko wohnt schließlich dem Autoritätsverständnis in den kontratualistischen Staatsbegründungsmodellen ein.

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Dagegen kommt sie nach christlicher Auffassung in erster Linie Gott und dann dem Menschen als seinem Ebenbild zu. Damit ist der Staat relativiert; er ist „Mittel“ in Bezug auf das „Ziel“, das für die Christen Gott und damit auch der Mensch ist. In der weltlichen Ordnung kommt mithin die Würde des „Ziels“ nur dem Menschen zu, was bereits Augustinus in die Systematik brachte, dass allein der Mensch dazu in der Lage ist, «einer Sache um ihrer selbst willen in Liebe anzuhangen» (frui), während die material zu gebrauchenden Dinge nach ihrer Utilität als Mittel gebraucht werden (uti). Wie deutlich wird, fällt die Grundsystematik des liberalen Staatsdenkens, wie sie bei Kant ausformuliert wurde, nicht aus den Implikationen heraus, die sich jesuanisch-paulinisch für das christliche Menschenbild und damit – auf lange Sicht – auch für die Gestaltung der politischen Ordnung ergeben haben.Seine metaphysische Spezifizierung hat das christliche Personverständnis dabei durch Thomas von Aquin erfahren, der sich im Vorwort zum zweiten Buch seiner Summa theologiae fragt, was es konkret für die Anthropologie – und damit auch für die christliche Auffassung von politischer Gemeinschaft – bedeute, der Mensch sei «Bild Gottes». Dies konkretisiere sich darin, so Thomas, dass der Mensch mit Vernunft und Wille begabt und daher dazu fähig sei, «für sich und die anderen vorzusehen». Es ist also die Vernunft- und Willensbegabung, in welcher der Mensch mehr ist als lediglich Naturnotwendigkeit: In diesen Vermögen ist die Freiheit des Menschen und damit seine Würde fundiert. Ferner ist er gerade durch seinen Willen nicht zu einem passiven Freiheitsgebrauch bestimmt, sondern dazu, diese aktiv zu verwirklichen. Dies kommt darin zum Ausdruck, dass seine Freiheit darin besteht, „Vorsehung“ für sich und die anderen zu sein – oder mit anderen Worten: an der göttlichen Vorsehung aktiv teilzuhaben. Hier wird deutlich, dass das christliche Würdeverständnis niemals als theoretisch, abstrakt und statisch angesehen wurde – diese Eigenschaften wirft man der mittelalterlichen Metaphysik häufig übrigens zu Unrecht vor –, sondern als dynamischer Vollzug. Besser als das „Haben“ der Würde spricht man also im mittelalterlichen Sinn von der Verwirklichung, von der Realitätsgerichtetheit der Würde. Der Mensch ist also „ausgestreckt“, so könnte man sagen, auf ein Ziel hin finalisiert, welches letztlich das «wahre menschliche Gut» darstellt. Dieses ist jedoch innerweltlich nicht verfügbar. Die menschliche Strebeerfahrung erschließt

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damit die Kontingenz und Endlichkeit der Welt und erfährt, dass der Mensch strukturell immer schon über diese hinaus ist. Dieser existentielle Überhang, der im intellektuellen und willentlichen Streben zum Ausdruck kommt, findet erst im göttlichen Absoluten die Erfüllung des „Genießens“ (frui), wie Augustinus herausstellte.Diese anthropologische Dimension ist sozialethisch von höchster Bedeutsamkeit, denn sie definiert den spezifisch christlichen Begriff von Menschenwürde genauer und weist dessen Bedeutung für die gegenwärtige Diskussion auf. Die Menschenwürde ist keine formale Grundlage des Menschlichen, sie ist kein Allgemeinbegriff, den man aus einer konkreten Betrachtung abstrahieren könnte, sie ist kein Grenzbegriff oder eine lediglich regulative Funktion: Abseits der Tatsache, dass man sich begrifflich der Menschenwürde überhaupt nur annähern und sie niemals fassen kann, wird sie in ihrem christlichen „Begriff“ als Streben, als Synthese von Substanz und grundlegender Relationalität gedacht. Während auf ihre substantielle Dimension bereits eingegangen wurde – die Person als «subsistierendes menschliches Recht» – kommt gerade in ihrem Streben über die natürlichen Grenzen hinaus eine grundlegende, ontologisch-personalistische Relation zum Ausdruck, auf der der Mensch grundlegend beruht: die transzendente Relation zu seinem Schöpfer. Diese Relation ist ontologisch, insofern das Element im Menschen, welches ihn über seine Natur hinaus finalisiert, in seinem Intellekt intuiert wird. Der Mensch erkennt aus der Analyse dieser seiner Natur, dass er auf ein Absolutum bezogen ist, das nicht im Bereich der Endlichkeit vorhanden ist. Somit zeichnet ihn eine Relationalität aus, welche die grundlegende Relationalität seiner Existenz ist und ihn zur Person macht: Der Mensch versteht sich konstitutiv, seinem Wesen zufolge, aus seinem Bezug zum Absoluten, auch wenn diese Relationalität nicht immer zu einer auch religiösen Beziehung im Glauben führt. Doch ist dies die Instanz, in welcher sich die Freiheit des Menschen jenseits der natürlichen und staatlichen Ordnung, aber auch seine grundlegende Relationalität begründet. Der Mensch ist nicht ein geschlossenes Individuum, sondern Relationalität gehört ursprünglich zu seiner Individualität hinzu.Diese fundamentale Relationalität, aus der sich menschliche Existenz heraus versteht, wird von Benjamin Constant als das religiöse Band beschrieben:

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«L’époque où le sentiment religieux disparaît de l’âme des homes est toujours voisine de celle de leur asservissement. Des peuples religieux ont pu être enclave, aucun peuple irréligieux n‘est demeuré libre… Aussi quand le despotisme se rencontre avec l’absence du sentiment religieux, l’espèce humaine se prosterne dans la poudre partout où la force se déploie. Les hommes qui se disent éclairés cherchent dans leur dédain pout tout ce qui tient aux idées religieuses un misérable dédommagement de leur esclavage». Und Tocqueville brachte dies folgendermaßen zum Ausdruck: «Pour moi, je doute que l’homme puisse jamais supporter à la fois une complète in dépendance religieuse et une entière liberté politique; et je porté à penser que s’il n’a pas de foi, il faut qu’il serve, et s’il est libre, qu’il croie».Auch die jüngste Sozialenzyklika kommt auf diesen Zusammenhang als Grundlage christlicher Anthropologie zu sprechen: «Nach dem Plan Gottes ist jeder Mensch gerufen, sich zu entwickeln; denn das ganze Leben ist Berufung». Diese Entwicklung vollzieht sich damit, wie deutlich wurde, nicht auf das Ziel „Staat“ hin, sondern der Zweck ist die Verwirklichung und Erfüllung der Person. Wiederum kommt damit zum Ausdruck, dass «der Zweck der bürgerlichen Gesellschaft (und des Staates) letztlich allein die Erfüllung und Zufriedenheit der Seele der Menschen ist, die die Gesellschaft bilden» (Rosmini). Oder in anderen Worten: Die Gesellschaft besitzt kein ethisch eigenständiges Ziel, das von demjenigen der Person unterschieden wäre.In dieser Strebedynamik seiner Würde ist der Mensch darauf ausgerichtet und dazu «berufen», sich zunehmend anhand der „Richtschnur“ seines „wahren menschlichen Guts“ zu entwickeln bzw. zu „bilden“. Insofern der Mensch aber in diesem Leben niemals zur völligen Ruhe und Zufriedenheit in seinen Gütern findet, insofern über den Bereich der endlichen Güter hinaus strebt, hat dies für das politische Denken eine entscheidende Konsequenz: Nämlich diejenige, dass die letzte und endgültige, jene „ideale“ Perfektion im menschlichen Leben nicht erreichbar ist. Stets ist die Praxis auch vom Scheitern und vom Bösen – von der Schuld – gekennzeichnet. In dieser Dimension nimmt das christliche Menschenbild die Endlichkeit des Menschen ernst. Die Endlichkeit ist nicht selbst ein Übel, sondern eine Tatsache, die allerdings in ihrem Möglichkeitsraum auch die Möglichkeit der Sünde kennt. Insofern, wie eingangs herausgestellt wurde, die utopischen politischen Entwürfe aber eben solch ein

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perfektes Gesellschafts- und Staatssystem konzipieren, welche diese Tatsache politisch zu eliminieren sucht, realisieren sie einen grundlegenden anthropologischen Denkfehler, der nur von einem idealistisch-ideologischen Menschenbild, nicht aber von dessen Realität ausgeht. Hier wird der systematische Wert der christlichen Formel deutlich, die Person sei «subsistierendes menschliches Recht», wobei die Kennzeichnung «subsistierend» die reale Verwirklichung des Menschseins bezeichnet. Christliches Staatsdenken zeichnet sich deswegen durch die exakt entgegengesetzte Argumentationsstruktur zu dieser utopischen Argumentation aus. Rosmini und Sturzo nennen sie «Antiperfektismus» (antiperfettismo). «Der Perfektismus, also jenes System, das die Perfektion in den menschlichen Dingen für möglich hält und die gegenwärtigen Güter der vorgestellten zukünftigen Perfektion opfert, ist ein Ergebnis der Ignoranz. Er besteht in einem kühnen Vorurteil, durch das man die menschliche Natur zu vorteilhaft beurteilt […]. An entsprechender Stelle sprach ich von dem großen Prinzip der Begrenzung der Dinge und zeigte dort, dass es Güter gibt, deren Existenz ohne die Existenz gewisser Übel nicht möglich wäre».Damit entwickeln die liberalkatholischen Denker eine realistische Konzeption politischer Philosophie: Der Politik steht es nicht an, das Übel aus der Welt zu eliminieren – denn dies ist eine Frage nach der Vervollkommnung der menschlichen Natur, welche nicht in der politischen, sondern nur in der transzendenten Sphäre gelöst wird. Die politisch-rechtliche Ordnung sowie die Politik hat zum Ziel, die menschliche Würde und Freiheit zu sichern. Die Strategie lautet aber nicht, eine absolute Moral durchzusetzen, eine „Tyrannei der Werte“: Auch die Durchsetzung von Werten kann mithin zu einem perfektistischen Utopismus werden. Denn bezeichnenderweise finden sich die ethischen Kriterien der Menschenwürde und individuellen Freiheit nicht unter diesen. Der Liberalismus gesteht demgegenüber die Freiheit des Menschen zu, diese auch zu missbrauchen, um eben das ungleich größere Gut – Person und Freiheit – gesellschaftlich-rechtlich zu sichern.Der Perfektismus realisiert das in gewisser Weise entgegengesetzte Konzept, das nicht auf Würde und Freiheit, sondern auf einen ganz bestimmten materialen Begriff vom Menschen abhebt, der politisch durchgesetzt und realisiert sein soll. Insofern diese Strategie die Freiheit aufhebt, um das Gute –

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oder das von der politisch führenden Klasse für gut Gehaltene – zu realisieren, kann es Rosmini in seiner Logik daher als «unmittelbaren Eschatologismus» (d. h. als „vorgezogenes Jenseits“) bezeichnen: es wird eine konkret-moralische Vollkommenheit angestrebt, ein Konzept, das das Christentum erst im Jenseits verankert. Wieder einmal wird die bedeutende Funktion der grundlegenden ontologischen Relation des Menschen zum Absoluten deutlich: in dieser religiösen Dimension entdeckt er den Weg seiner Perfektion, der nicht über natürliche oder staatlich-organisatorische Parameter, sondern nur durch moralische Erziehung und Bildung verläuft.Andererseits bringt die Übergehung der christlichen Relativierung der staatlichen Sphäre die politischen Utopien hervor, die sich im 20. Jahrhundert als Totalitarismen entladen. Kennzeichen dieses Konzepts ist es, dass der Staat auf jene Existentialität der Person direkt zugreift, in der sie jedoch, dem christlichen Menschenbild zufolge, nicht die Kreatur des Staates, sondern ihres Schöpfers ist. An dieser Stelle wird deutlich, was die Politikrelevanz der jesuanisch-paulinische Unterscheidung von Staat und Religion besagt: Die politische Struktur wird in ihrer Allzuständigkeitsdynamik „unterbrochen“, ihr Konzept lässt sich nicht zu einem immanent-logischen System schließen, das alle Bereiche menschlichen Lebens politisieren könnte: Laut Johann Baptist Metz ist die kürzeste Definition von „Religion“ eben «Unterbrechung». „Unterbrochen“ wird durch die Religion also die Logik eines politischen Perfetkismus, der letztlich Unfreiheit generiert und menschenverachtend ist.Die Unmöglichkeit einer vollkommenen politischen Ordnung beruht damit auf der Unmöglichkeit, das Übel aus der menschlichen Wirklichkeit ein für alle Mal zu verbannen. Denn die menschliche Wirklichkeit ist durch Freiheit und damit durch Fehlbarkeit gekennzeichnet. Daran wird deutlich, dass Kriterium und Maßstab der Ordnung der Mensch ist. Dies bedeutet nicht, dass dadurch die Existenz einer absoluten Perfektibilität und einer absoluten Wahrheit geleugnet wird. Eine christlich-freiheitliche Position negiert keinesfalls die Existenz einer absoluten Wahrheit und die Fähigkeit des Menschen zur Wahrheitserkenntnis. Sie ist kein Skeptizismus und kein moralischer Libertinismus. Doch bleibt der Mensch bei der Erkenntnis dieser Wahrheit und vor allem bei der Umsetzung in konkrete politische Folgen fehlbar: Damit wird die Fehlbarkeit zur existentiellen

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Bestimmung des Menschen und daher das zentrale Kriterium zur Bewertung politisch-wirtschaftlicher Systeme.In dieser Fehlbarkeit ist der Mensch jedoch Würde. Gesellschaftlich gilt nicht das „Recht der Wahrheit“, sondern das „Recht der Person“. Die Person ist das unverkürzbare Kriterium des staatlichen Gemeinwesens. Die Freiheit des Menschen ist in seiner individuellen Existenz verankert und nicht staatlich hergestellt oder garantiert: Sie ist personal, transzendent, und kann durch die staatliche Ordnung nur ermöglicht oder geschützt werden. Keine Ordnung an sich ist als absolut anzusehen. Soziale Marktwirtschaft und Demokratie beziehen ihre Autorität daher aus der Autorität des Einzelnen, welche sich aus der Beziehung seiner Freiheit zur absoluten Wahrheit ergibt.Nur wenn die menschliche Würde nicht als ein Abstraktum ist, in dem der Einzelne in seine Individualität verschlossen ist, sondern Relation und Beziehung, werden die materialistischen und auch die idealistischen Missverständnisse des Menschenwürdebegriffs vermieden und die Person in ihrer Freiheit als ethisches Kriterium jeder gesellschaftlichen Ebene und Institution angesehen. Dies ist der starke Ausgangspunkt liberalchristlichen Denkens, welchen vor allem Rosmini, Tocqueville, Sturzo und Röpke in der Moderne herausgebildet haben. Während der Mensch als verschlossenes, einzelnes und abstraktes Individuum der Organisationslogik des Staates ausgesetzt ist, entzieht sich nur ein Individuum, das sich in seiner Existenz in einer Beziehung zum Absoluten verankert weiß, dieses Zugriffs und ist damit freies Individuum. So betonte Friedrich August von Hayek die Wichtigkeit von Religion für die Verwirklichung individueller Freiheit, indem sie die rational-konstruktivistische Logik durchbricht, mittels derer der Mensch der Illusion unterliegt, politisch alles selbst organisieren zu können. Damit lehnt er einen Liberismus ab, der genau jene grundlegende Dimension des Liberalismus, derer dieser bedarf, abschneidet: «Questo liberalismo intollerante ed aggressivo è il principale responsabile dell’abisso che, particolarmente in Europa, ha portato molto spesso le persone religiose ad allontanarsi dal movimento liberale […]. Sono convinto che, se non si riesce ad abbattere questo muro che divide il liberalismo dalla religione, sia impossibile sperare in una rinascita delle forze liberali. Molti segnali, molti indizi lasciano pensare che in Europa una simile riconciliazione sia oggi più vicina rispetto al passato, e che

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molti vedano in essa l’unica speranza di sopravvivenza degli ideali della civiltà europea. È per questo motivo che mi sembrava così importante riservare ai rapporti tra liberalismo e cristianesimo una sessione specifica dei lavori del nostro incontro». Analoge Gedanken finden sich auch bei anderen liberalen Denkern wie den bereits zitierten Tocqueville, Rosmini, Constant, Sturzo und Röpke, aber auch bei Laboulaye, Höffner usw.Insofern es die Individualität und Freiheitlichkeit des religiösen Bandes ist, das mithin im Einzelnen die Dimension seiner Freiheit und Würde begründet, bildet die Religionsfreiheit den Eckpunkt der freiheitlich-demokratischen Ordnung und ist die Grundlage aller anderen Grundfreiheiten. Dabei wird aber auch gleichzeitig deutlich, wie diese ursprüngliche Freiheit nicht individual-negativ missverstanden werden darf: Religionsfreiheit bedeutet nicht Privatisierung oder Individualisierung der Religion, sondern Freiheit der Wahl und positiven Ausübung der Religion als individuales Grundrecht. Daraus resultiert aber auch, dass sich der Staat nicht in religiöse Angelegenheiten und mithin die Grundfragen bezüglich der menschlichen Existenz und seines Bezuges zur absoluten Wahrheit einmischt, sofern diese sich nicht widersprüchlich zu den anderen Grundwerten der Verfassung verhalten. Die Trennung von Kirche und Staat, ausgedrückt in ebendieser Religionsfreiheit, ergibt sich also aus dem christlichen Menschenbild heraus.

4. Zur Entdeckungsgeschichte der MenschenwürdeDamit liegt die Öffentlichkeits- und Politikrelevanz des Christentums darin, die anthropologische Ausgangsbasis für die politische Konstitution der Gesellschaft, modern: für den Staat, bereitzustellen. Diese besteht nicht in einem Staat-Kirche-Verhältnis, wie es in der Form des Bündnisses von Thron und Altar bis ins 19. Jahrhundert fortdauerte, sondern ist anthropologisch vermittelt. Dies bedeutet, dass das Christentum nicht mehr die direkte politische Legitimation des Staates darstellt, sondern dass diese Legitimation ethisch durch die Menschenwürde realisiert wird. Würde man, rein hypothetisch, den modernen Staat, wie er sich in Europa herausgebildet hat, vom Christentum abstrahieren (das etsi Deus non daretur des Hugo Grotius), dann verlöre dieser nicht seine direkte politische Legitimation, aber es träte

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der nicht weniger folgenreiche Prozess der Erosion des Legitimationsfundaments selbst ein: die Verständnisbasis der Menschenwürde ginge verloren. Die Menschenwürde verdankt sich nämlich in ihrem Entdeckungszusammenhang nicht politischer Logik, sondern der religiösen Logik der „Unterbrechung“ politischer Rationalität. Der Staat ist darauf angewiesen, dass dieses Verständnis in der Gesellschaft wach bleibt.Die Enzyklika Caritas in veritate macht dagegen den Vorschlag, dass «Gott auch im öffentlichen Bereich mit spezifischem Bezug auf die kulturellen, sozialen, wirtschaftlichen und insbesondere politischen Aspekte Platz finden» soll, womit nicht gemeint ist, die moderne Staatsbegründung rückgängig zu machen und das Christentum als Staatsreligion einzuführen. Doch wird damit die Unterbrechungsfunktion des transzendenten Gottesbegriffs ausgedrückt, die sich in die Rechtsordnung über den Begriff der Menschenwürde vermittelt und damit auch in der Ordnung des freiheitlich-weltanschauungsneutralen Staates von fundamentaler Bedeutung ist: Die Menschenwürde ist einerseits transzendent fundiert, aber andererseits auch das grundlegende Rechtsprinzip. Der Gottesbezug der Verfassungspräambel und die Menschenwürde, die sich in den Grund- und Menschenrechten konkretisiert, verweisen damit gegenseitig aufeinander und bilden die rechtsethische Fundierung der staatlichen Ordnung. Im deutschen Grundgesetz kommt dies an der Scharnierfunktion dieser rechtsethischen Grundlegung zwischen Präambel und erstem Artikel des Grundgesetzes zum Ausdruck.Der methodologische Vorschlag der Enzyklika, in Umkehrung der Grotianischen Formel im politisch-gesellschaftlichen Leben nach dem Kriterium des etsi Deus daretur vorzugehen, ist also kein religiöses, sondern ein institutionelles Anliegen und als Teil der rechtsethischen Fundierung unserer Gesellschaft zu verstehen. Die transzendente Begründung der Menschenwürde – das etsi Deus daretur – ist damit kein religiöses Bekenntnis, sondern bringt die Unterbrechung der rational-konstruktivistischen Logik zum Ausdruck, ohne die man nicht zum Verständnis der Menschenwürde und der freiheitlich-demokratischen Grundordnung, wie sie in der Verfassung konkretisiert ist, vorstößt. An diesem Punkt stellt sich natürlich die Frage nach dem genaueren systematisch-ethischen Zusammenhang dieser Begründungsfunktion der Menschenwürde für die gesellschaftliche Ordnung: Dadurch wird nichts weniger

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denn die Grundlegung der Gerechtigkeitsdimension der öffentlichen Ordnung geleistet. Oder: Sie ist gerecht, wenn sie die Menschenwürde anerkennt und in ihren Institutionen verwirklicht. Die Konstitution des II. Vatikanischen Konzils, Gaudium et spes, bringt dies mit dem Grundsatz zum Ausdruck, dass «Wurzelgrund, Träger und Ziel aller gesellschaftlichen Institutionen die menschliche Person ist und auch sein muss». Stellt die moderne Staatstheorie mit dem Axiom des Grotius die Notwendigkeit dar, dass sich das politische Gemeinwesen nicht von einer bestimmten Religion oder Konfession her legitimiert, so bringt die Enzyklika zum Ausdruck, dass ohne das Verständnis des religiösen Grundes des Menschen und ohne die öffentliche Relevanz von Religion das Fundament des neuzeitlich-säkularen Staates nicht gesichert werden kann: die Menschenwürde. Auch damit bringt die Enzyklika zum Ausdruck, was bereits etwa bei Tocqueville, Rosmini, Sturzo oder Röpke ausgedrückt war.Dabei ist die Beobachtung interessant, dass der heute vielfach plakativ gebrauchte und damit in seiner eigentlichen Dimension vollkommen verwischte Begriff der „sozialen Gerechtigkeit“ erst in der Moderne aufkommt. Aristoteles bestimmte die Gerechtigkeit als individuelle Tugend, und zwar in ihren Aspekten der kommunitativen Gerechtigkeit (der proportionalen Tauschgerechtigkeit), der distributiven Gerechtigkeit (der arithmetischen Verdienstgerechtigkeit) und der Legalgerechtigkeit (die verwirklicht wird, wenn sich der Mensch konform zur gesetzlichen Ordnung verhält). Alle drei Gerechtigkeitsformen blieben individuell ausgerichtet, insofern es auf die „Gerechtigkeit des Menschen“ ankam: Wie lässt sich die Tugend der Gerechtigkeit verwirklichen und damit zu einem „glücklichen“ im Sinne von „glückendem“ Leben gelangen? Gerecht ist demzufolge derjenige Bürger, der den äquivalenten Preis entrichtet, der die seiner Tat entsprechende Strafe erhält oder der einen verursachten Schaden wiedergutmacht. Gerecht ist der Regierende, der jedem Bürger nach dem zuteilt, was einem jeden aufgrund seiner Verdienste zusteht. Und gerecht ist schließlich derjenige Bürger, der nach den Gesetzen handelt.In der modernen „sozialen Gerechtigkeit“ geht es aber um eine Gerechtigkeit, welche diese tugendhafte Gerechtigkeit übersteigt, da sie nach der „Gerechtigkeit der öffentlichen Ordnung“ fragt. Diese wurde in der

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vormodernen Welt nicht unter dem kritischen Kriterium der Gerechtigkeit betrachtet. Sie war gegeben, nicht aufgegeben; religiös legitimiert und deswegen als unwandelbar erlebt. Erst in der Neuzeit erkennt der Mensch, dass er nicht nur eine Verantwortungfunktion innerhalb der Ordnung hat („Gehorsamsverantwortung“), sondern auch für die Ordnung selbst und ihre Institutionen („Gestaltungsverantwortung“). Auf die Frage, nach welchem Kriterium diese öffentliche Ordnung gerechtigkeitstheoretisch betrachtet werden soll, findet erst die moderne Reflexion zum Prinzip der Menschenwürde. Wilhelm Korff und Alois Baumgartner, die diesen Entdeckungszusammenhang systematisch nachzeichnen, betonen dabei die Einsicht, dass die Menschenwürde von der Gerechtigkeitssystematik nicht „entdeckt“, sondern von der politischen Vernunft nur entgegengenommen und dann in der zu gestaltenden Ordnung verwirklicht werden kann.Warum diese „Unterbrechung“, welche das moderne Denken im Hinblick auf die antik-mittelalterliche Gerechtigkeitssystematik verwirklichte, dem Prinzip Menschenwürde geschuldet ist und inwiefern gerade hier das Christentum seinen spezifischen Einfluss erst in der Moderne ausgeübt hat, erweist sich anhand der Reflexion Korffs und Baumgartners, denen zufolge es nicht die Gerechtigkeit ist, welche die Menschenwürde entdeckt – dann hätten diese schon die Griechen ausfindig gemacht –, sondern ein Prinzip, das erst mit dem Christentum geschichtswirksam geworden ist: das der Liebe Gottes (Caritas).Die Gerechtigkeit, in der antiken Systematik des Aristoteles, verwirklicht sich, wenn der Einzelne seine individuellen Interessen zurückstellt und den anderen gegenüber so handelt, wie es ihnen objektiv zukommt. Gerechtigkeit verwirklicht man nicht für sich selbst, sondern sie ist eine soziale Tugend, die sich in der dreifachen Aufgabe beschreiben lässt, ehrenhaft zu leben (honeste vivere), niemandem zu schaden (naeminem laedere) und jedem das zuzuteilen, was ihm zukommt (suum cuique tribuere). Bereits Cicero, aber vor allem der berühmte römische Jurist Ulpian haben den sozialethisch relevanten Aspekt an letzterem Element festgemacht: suum cuique. Die Gerechtigkeit definiert das dem anderen Geschuldete, hinter das meine persönlichen Interessen zurücktreten müssen. Indem sich durch das Christentum die Perspektive der fundamentalen Gleichheit aller Menschen durchsetzt, da ihnen ihr Menschsein nicht aufgrund eines Verdienstes, sondern durch Schöpfung und Geburt

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zukommt, kann Thomas von Aquin im Mittelalter die aristotelische Systematik aufnehmen und dahingehend präzisieren, dass es in der Gerechtigkeit darum ginge, die universale Gleichheit der menschlichen Gottebenbildlichkeit zu verwirklichen. Realisiert sich hierdurch anfanghaft das, was heute als „soziale Gerechtigkeit“ bezeichnet wird, so betont doch Thomas, dass die Gerechtigkeit nicht ausreicht, um das menschliche Zusammenleben auf eine solide Basis zu stellen. Aus der christlichen Tradition ist ihm aber eine Tugend bekannt, welche die Gerechtigkeit übertrifft: Dies ist die Barmherzigkeit bzw. die Liebe (Caritas). Die Liebe begnügt sich nicht damit, dem anderen zu geben, was ihm zusteht oder geschuldet ist, sondern sie ist Überreichtum und übertrifft jedwedes Kriterium, das versuchte, sie zu begrenzen oder in objektive Maßstäbe zurückzuführen. In der Liebe vergisst sich das Subjekt mitsamt seinen Interessen, was im Hohelied der Liebe des Paulus in 1 Kor 13 deutlich zum Ausdruck kommt. Und der gute Samariter handelt nicht lediglich, wie es von ihm „erwartbar“ oder „einforderbar“ wäre, sondern er überschreitet diese Grenzen der „Gerechtigkeit“ und ihrer Logik. Er folgt dem Appell der Caritas: Diese ist nicht einfach, wie die Gerechtigkeit, auf den generalisierten anderen ausgerichtet, sondern hat ein Antlitz vor sich. Sie lässt sich von diesem Antlitz in die Pflicht nehmen, denn dieses ist unverfügbar. Sie bedient sich nicht moralischer oder juridischer Sanktionen, sondern übt ihre Autorität zwangsfrei aus. Die Caritas Liebe und Barmherzigkeit steht der Gerechtigkeit zwar in ihrer Organisierbarkeit nach, doch übertrifft sie diese, was ihre innere Verpflichtungsweise betrifft. So ist sie für Thomas die größere der beiden Tugenden und vervollkommnet die Gerechtigkeit.Doch ist deren Beziehung nicht einfach dasjenige der Aufhebung der Gerechtigkeit in Liebe. Auch wenn die Caritas die perfektere Tugend ist, so ersetzt sie nicht die Gerechtigkeit. «Ohne die Gerechtigkeit wäre die Barmherzigkeit keine Tugend». Die Gerechtigkeit muss also der Schlüssel für die öffentliche Ordnung bleiben, da sie universal eingefordert werden kann. Wie die Gerechtigkeit in die Liebe integriert werden muss, um nicht zur Grausamkeit zu werden, so bedarf auch die Liebe stets der ordnenden und einfordernden Kraft der Gerechtigkeit, um sich durchzusetzen. Thomas bringt dies in die bezeichnende Formel: «Wie die Gerechtigkeit ohne die

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Barmherzigkeit zur Grausamkeit wird, so ist die Barmherzigkeit ohne die Gerechtigkeit der Ursprung der Auflösung».Auf die Frage nun, welches der beiden Konzepte unsere moderne Vorstellung von „sozialer Gerechtigkeit“ geprägt und diesen Begriff in seinem heutigen Verständnis gezeichnet hat, wird man die Lösung genau in dieser von Thomas angedeuteten Verschränkung finden: Zur Idee der „sozialen Gerechtigkeit“ gelangt man nämlich nicht einfach von Aristoteles her. Es bedarf des entscheidenden Einflusses des christlichen Caritas-Verständnisses. Die Caritas, die Liebe Gottes, hat die antike Idee von Gerechtigkeit revolutioniert. Denn das Problem der antiken Gerechtigkeit bestand ja genau darin zu ermitteln, worin jenes „Seine“ besteht, das jedem zusteht und das eingefordert werden kann: Solange diese Bestimmung in den Händen der jeweils regierenden politischen Macht steht, wird die politische Ordnung stets Machtordnung bleiben und öffnet sich nicht dem Prinzip der Gerechtigkeit. In die Hände der politischen Bestimmung gelegt, kann das suum cuique dann aber auch zur Begründung der größten Gräueltaten herangezogen werden: So konnte es auch auf dem Tor des Konzentrationslagers Buchenwald stehen. Aber auch abseits seines politischen Missbrauchs bleibt die Formel, wird sie nicht auf die personale Menschenwürde bezogen, vage und unbestimmt: Das „Seine“ war in der Antike etwa das Prinzip der moralisch-politischen Meritokratie, und bei Kant wird dieses Konzept nahe an das Konzept des materialen Eigentums herangerückt. Das Privatrecht, das die Eigentumsverhältnisse regelt, wird damit zum unmittelbaren konkreten Ausdruck der gesellschaftlich-rechtlichen Vermittlung der ursprünglichen Freiheit.Was ist also dieses suum, was ist das ursprünglich „Seine“ des Menschen, das er gesellschaftlich einfordern kann, worauf sich politisch-wirtschaftliche Ordnung in ihren innersten ethischen Implikationen also fundiert? Erst wenn die gesellschaftliche Ordnung eine Antwort auf diese Frage darstellt, kann man sagen, dass sie „soziale Gerechtigkeit“ verwirklicht.Es sind jedoch nicht die Augen menschlicher Gerechtigkeit, die im Menschen jenes ursprüngliche Prinzip der Menschenwürde entdecken, das jedem menschlichen Parameter zur Definition des einander „Erwartbaren“ entzogen wäre. Es ist erst die Liebe, die im Menschen jenen entzogenen Kern entdeckt. Die Liebe, so formuliert es Korff, ist immer schon dort, wo die Gerechtigkeit

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hinstrebt, ohne dieses Ziel jemals zu erreichen. Sie erfasst die menschliche Würde, die nicht ein reflexiv-diskursives Konzept ist. Im Gegenteil, keine menschliche Reflexion über dieses Prinzip kommt wirklich an dessen Grund. Denn es handelt sich nur um ein intuitiv erfassbares Prinzip: Eben deswegen erschließt es sich der Liebe. Genau diese Systematik und Einsicht steht dann auch am Ausgangspunkt der augustinischen und kantischen Systematik der Würdehaftigkeit des Menschen im Gegensatz zur Instrumentalität des Infrahumanen. Oder: Die Caritas entdeckt den Menschen als Person, mit Würde ausgestattet und von keiner Logik des Preises bzw. der elementaren Gerechtigkeit ableitbar. An dieser Stelle bleibt nur daran zu erinnern, dass Aristoteles sein Gerechtigkeitskonzept auf den griechischen Bürger beschränkte und Nichtgriechen, Barbaren und Sklaven apriori davon ausschloss; auch Frauen wurde die Bürgerschaft verweigert. Zudem sah er auch innerhalb der griechischen Gesellschaft soziale Differenzierungen vertikaler Art vor.Diese Caritas, die soziale Zentralbotschaft des Christentums, entwickelte sich neben der „öffentlichen Gerechtigkeit“ des römischen Imperiums, sowohl in seiner antiken wie auch mittelalterlichen Form. Letzte dauerte in ihrer institutionellen Form bis 1803 fort. Dabei revolutionierte es nicht die politisch-öffentlichen Strukturen, welche durch die Allianz von Thron und Altar legitimiert waren. So realisierte das anfängliche Christentum die Sozialrelevanz der Caritas nicht politisch, sondern in dem von der Gesellschaft zurückgezogenen, liturgischen Bereich. So ist es in der Mahlgemeinschaft, dass sich erstmals die Idee der gleichen Würde aller, Sklaven wie Herren, Männer wie Frauen, realisierte (vgl. 1 Kor 10,17; 12,13). Die gelebte soziale Freiheit, wenn auch zunächst nur im liturgischen Moment, als universaler menschlicher Wert, war damit die soziale Zentralbotschaft der christlichen Caritas. Es sollte jedoch – trotz der vielen Jahrhunderte einer profund christlichen Gesellschaft – bis ins 19. Jahrhundert dauern, um diese Strukturen auch effektiv und de facto zu überwinden. Dies ist das Resultat nicht nur der amerikanischen und französischen Revolution, aber auch der Naturrechtsreflexion in der Neuzeit. Erst 1865, mit dem Ende des Bürgerkriges, wurde die Sklaverei in den Vereinigten Staaten abgeschafft, erst 1888 in Brasilien und erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts verschwand sie aus den Konstitutionen und Kodizes

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aller Länder der Erde. Man kann also von einem Jahrhunderte dauernden Prozess sprechen, der mit der Entdeckung der Menschenwürde seitens des christlichen Liebesbegriffs begann und sich dann bis zu den Menschenrechten fortsetzte. Wenn diese Fortsetzung im säkularen Gewand erfolgte, dann wird dabei deutlich, wie stark die christliche Idee des Sozialen in die Praxis und Geschichte hinein drängt und diese zu gestalten sucht. Auch innerhalb des Christentums selbst war diese Geschichte nicht frei von Fehlern und von Schreckensszenarien, die es nicht zu vergessen gilt, die aber umgekehrt umso mehr darauf verweist, wie sich kontinuierlich die Idee der „sozialen Gerechtigkeit“, einer Konstitution der Gesellschaft nach dem ethischen Kriterium der Menschenwürde und der auf ihr beruhenden universalen Solidarität mit allen, die Menschenantlitz tragen, durchgesetzt hat.Ist unsere politisch-rechtliche Ordnung auf den Prinzipien der Menschenwürde und der Solidarität begründet, dann ist darin die historische Konkretisierung der geschichtlichen Kraft der Caritas zu sehen, die als „Motor“ der Neuzeit diese Entwicklung katalysierte. Damit realisierte sich das christliche Prinzip der Caritas nicht als individuelle Tugend oder als Großherzigkeit, sondern in ihrer dezidiert politisch-rechtlichen Implikation, die Menschenwürde als Kriterium der Ordnung selbst zu erweisen, welche somit die Prinzipien der sozialen Gerechtigkeit bzw. des Gemeinwohls hervorbringt: Personalität (Freiheit), Solidarität und Subsidiarität. Damit ist die christliche Botschaft der Caritas an ihren sozialethischen Konsequenzen angelangt. Sie gibt kein konkretes Staatskonzept vor und bietet «keine technischen Lösungen» an. Doch gibt sie Prinzipien vor, welche an die gesellschaftliche Wirklichkeit anzulegen sind. Damit wird einerseits ihr kritisch-konstruktives Potential realisiert. Andererseits bezeugen diese aber auch, dass im modernen freiheitlich-demokratischen Staat und in der sozialen Marktwirtschaft sich die Grundintuitionen des christlichen Begriffs der Menschenwürde verwirklichen. In diesem Sinn stellen Liberalismus und Christentum keine Gegensätze dar, sondern Ersterer kann im Fall der hier analysierten liberalkatholischen Denker als die sozialethische Realisierung des Letzteren angesehen werden. Nur ein klamoröses historisches Missverständnis führte zu jener Entgegensetzung von liberalen Denkern und der Kirche insbesondere im 19. und 20. Jahrhundert. Wilhlem Röpke, einer der Väter der Sozialen Marktwirtschaft, betonte daher: «Il liberalismo non è […]

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nella sua essenza abbandono del Cristianesimo, bensì il suo legittimo figlio spirituale, e soltanto una straordinaria riduzione delle prospettive storiche può indurre a scambiare il liberalismo con il libertinismo. Esso incarna piuttosto nel campo della filosofia sociale quanto di meglio ci hanno potuto tramandare tre millenni di pensiero occidentale, l’idea di umanità, il diritto di natura, la cultura della persona e il senso dell’universalità».„Soziale Gerechtigkeit“ besagt damit jenes Ordnungsprinzip, nach dem sich das Prinzip der personalen Würde in der gesellschaftlichen Wirklichkeit umsetzt. Aus diesem gehen die Grundprinzipien einer rechtlich-freiheitlichen Ordnung hervor. Damit hat das Christentum, über den aristotelischen Gerechtigkeitsbegriff hinaus, die Menschenwürde als Rechtsprinzip in die politisch-gesellschaftliche Ordnung konstitutiv eingebracht. Soziale Gerechtigkeit ist mithin das Gegenprinzip einer Konzentration der öffentlichen Gerechtigkeitsinstanz im Staat. Diese bringt zum Ausdruck, dass der Staat nicht die Allorganisationskompetenz besitzt, sondern nach dem Prinzip der Subsidiarität zu gestalten ist. Frédéric Bastiat, ein weiterer Exponent des Liberalkatholizismus, drückte dies anhand eines nicht unaktuellen Beispiels aus: «Wenn eine Nation von Steuern erdrückt wird, ist nicht schwieriger – ich würde geradezu sagen: unmöglich – als diese gerecht zu verteilen».Dieses christliche Gesellschaftsmodell setzte sich langsam und in Umwegen durch, insbesondere durch die Auseinandersetzungen der Aufklärungszeit. Das Christentum hat nicht die mittelalterliche Feudalordnung hervorgebracht, denn diese geht auf nichtchristliche germanische Ordnungsvorstellungen zurück. So ist es erstmals in der Neuzeit der Fall, dass sich die Gesellschaft und der Staat in ihrer konstitutionellen Organisation auf die Kriterien des christlichen Menschenbildes stützen – oftmals vielleicht, ohne dass dies im einzelnen bewusst gewesen wäre. Denn das christliche Menschenbild ist in der Neuzeit Allgemeingut und Zentrum von Reflexion und Kultur geworden. So waren es nicht die Aufklärer, welche der Hexenverfolgung ein Ende gesetzt haben, sondern christliche Juristen und Theologen. Weiterhin gehen den gegenchristlichen Aufklärungen meistens kritische christliche Denker voraus.Die Person ist grundlegendes Recht. Dieses konkretisiert sich dann in den verschiedenen Ordnungen: im rechtlichen Sinn in den Verfassungen, im politischen Sinn in der Demokratie, im wirtschaftlichen Sinn in der Sozialen

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Marktwirtschaft, im sozialen Sinn im Sozialstaat. Luigi Sturzo hat diesen Zusammenhang der Freiheit in den gesellschaftlichen Dimensionen auf der Grundlage des Menschenbildes veranschaulicht: «Se la libertà è violata in campo economico, è lesa anche, secondo me, in quello culturale, in quello politico e sociale e viceversa. Non c’è esempio nella storia di una libertà che stia insieme da sola».

5. Die freiheitliche Gesellschaft und ihre Option für die ArmenNeben der transzendent begründeten Menschenwürde, die von der Caritas erkannt wird, ist es dann die gelebte Caritas, durch die das Christentum gesellschaftsprägend wurde. Denn es ist gerade kein für den Mitmenschen blinder Liberalismus, den das Christentum hervorgebracht hat, sondern die Caritas war die erste öffentliche Aufgabe der Christen von Anfang an, wie in den ersten Kapiteln der Apostelgeschichte nachzulesen ist. Das Christentum hat damit die „soziale Kälte“ aus der antiken Gesellschaft verbannt (Eugen Biser), indem es von seinem Stifter besonders zu den Armen, Alten, Schwachen und Kranken gesandt wurde. Diese Dimension hält sich auch in der sozialethischen Sicht der Neuzeit durch, indem die Kirchliche Soziallehre gerade den Blick auf die Armen als Prüfstein der Stichhaltigkeit der sozialen Konzepte und Ordnungsvorstellungen vorstellt. Dies wird häufig unter dem Stichwort „Option für die Armen“ zusammengefasst, ein Konzept, das zwar auf den Zusammenhang der Befreiungstheologie verweist, aber von allgemeiner systematisch-ethischer Bedeutung ist: Seine soziale Bestätigung und Rechtfertigung findet ein gesellschaftliches Konzept, sofern es vor allem für die am wenigsten Begünstigten einen Vorteil bringt. Auch in diesem Aspekt stimmt die Kirchliche Soziallehre mit einem bedeutenden Vertreter des liberalen Denkens überein, nämlich John Rawls.Dem Liberalismus wird bekanntlich häufig vorgeworfen, im Hinblick auf die Armen zynisch zu sein. Mit seiner Grundlegung von Menschenwürde und Freiheit zeichne dieser zwar der staatlichen Sphäre deutliche Grenzen und sichere so die Freiheits- und Entfaltungsdimensionen des Individuums, doch begründe dies noch nicht umgekehrt die positive Pflicht des Staates oder der Gemeinschaft, den in Not Geratenen zu Hilfe zu kommen und für sie

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einzustehen. Mit anderen Worten, das reine Organisationsprinzip der Subsidiarität führe noch nicht zur aktiven Solidarität. Doch auch dieser Einwand gegen den Liberalismus besteht auf einer vorschnellen eindimensionalen Verkürzung des Freiheitsbegriffs und die Verengung des „Liberalismus“ auf „Egoismus“. Dies ist jedoch – wie gesehen – vom Begriff her nicht gerechtfertigt. Im Gegenteil, gerade die Würdehaftigkeit der Person begründet den Rechtsanspruch, dass diese in ihren Grunddimensionen entfaltet werden kann. „Freiheit“ wird hier durchaus positiv im Sinne der konkreten Verwirklichung des Personseins gedacht: Sie muss verwirklicht werden können, damit sie auch konkret eine Entfaltungsdimension für das Individuum besagt. Was dem Menschen als sein Existenzminimum zusteht, also an minimalen materialen Bedingungen zur Ausübung seiner Grundfreiheiten, rangiert also nicht als Mildtätigkeit oder Barmherzigkeit, sondern ist unmissverständlich Rechtspflicht der Gemeinschaft ihm gegenüber.Aus der transzendenten Begründung der Menschenwürde, welche im Einzelnen nicht ein abstraktes Individuum oder lediglich einen Staatsbürger sieht, aufgrund derer ein konkretes Antlitz, ein mir Nächster und Gleicher begegnet, ergibt sich also die „Subsidiarität“, nach der „Personalität“, als zweites konkretes Rechtsprinzip. Dieses betont nun nicht wie der methodische Individualismus des Personalitätsprinzips die Freiheitsdimension des Einzelnen dem Staat gegenüber, sondern nun die Einstandspflicht des Staates für den Einzelnen. Als Rechtsprinzip besagt dies, dass die gesellschaftlichen Institutionen so beschaffen sein müssen, dass sie an jenem Prinzip der Solidarität ausgerichtet sind, die keinem versagt wird, der Menschenantlitz trägt. Damit ist Solidarität prinzipiell grenzenlos: Es gibt im christlichen Sinn keine Partialsolidarisierungen, welche den Horizont jener umfassenden Solidarität ausschließen könnte, die alle Menschen miteinander verbindet. Dies eröffnet die Perspektive einer universalen Ethik im Zeitalter der Globalisierung und des wachsenden Kontakts mit Angehörigen anderer Nationen oder Kulturen, zu welchen kein spontanes und gefühlsmäßiges Band der Solidarität besteht. Selbst wenn ein Staat Menschen die Einbürgerung verweigert und definitiv außerhalb des Zugehörigkeitskontexts eines Landes stellt, so ist er dennoch dazu gehalten, ihnen dem Prinzip der Solidarität nach zu begegnen.

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Die Solidarität wendet sich gegen den sozialen Ausschluss und sichert somit die Grundbedingung der Verwirklichung des Menschseins. Diese Form von „sozialer Gerechtigkeit“ wird auch unter dem Stichwort „Beteiligungsgerechtigkeit“ verhandelt. Zur Wahrnehmung ihrer Grundfreiheiten müssen die Personen auch die materielle Möglichkeit haben. Nur dann sind sie in der Lage, die Gesellschaft als Möglichkeitsraum zu betrachten und nur so stellt sich also „Chancengerechtigkeit“ ein.Weiterhin bedeutet das Rechtsprinzip Solidarität aber auch, dass der Staat nur bis zu einem bestimmten Punkt tätig werden kann. Denn Solidarität, als spontane Hilfeleistung aus der Caritas heraus, ist wesentlich ein individuell-spontaner Akt. Während der Staat nach dem Prinzip der Gerechtigkeit organisiert ist, beruht die Solidarität auf jener Spontaneität der Caritas, welche darauf beruht, dass im Antlitz des Notleidenden der Appell seiner unverkürzbaren Würde an mich ergeht, dem ich mich nicht entziehen kann. Damit ist Solidarität grundsätzlich an Zwischenmenschlichkeit gebunden und besteht in der spontanen Bewegung zum anderen hin, die dann als „Solidarisierung“ und aktive Hilfeleistung bezeichnet wird. Damit kann sich Solidarität immer nur von der Person her, ausgehend von den Individuen organisieren.Der Staat jedoch agiert durch Gesetze und administrative Anordnungen – er agiert als Machtapparat – und also alles andere als „spontan“. Damit kann er Solidarität nicht als Handlungsprinzip, sondern nur als Rechtsprinzip verwirklichen. Zu den Konsequenzen dieses Rechtsprinzips kann etwa der Minimallohn gerechnet werden, der von liberalen Denken wie etwa Friedrich von Hayek keinesfalls ausgeschlossen wird. Das Lebensminimum muss gesichert sein, gerade von einem liberalen Standpunkt aus, denn dieses ist keine Forderung der Mildtätigkeit, sondern des Geschuldeten. Es ist eine Rechtsforderung der „sozialen Gerechtigkeit“. Weiterhin ist an alle jene Hilfeleistungen zu denken, die sich als Spontaneität der Caritas verstehen lassen: Auch hier kann der Staat im Namen aller Bürger handeln und deren Beiträge zur Verwirklichung der Solidarität einsetzen. Was über die Solidarität als Rechtsprinzip – Sicherstellung des Existenzminimums und Sponaneität der Caritas – hinausgeht, entzieht sich jedoch der Organisierbarkeit des Staates. Diese Grenze bewahrt den Staat davor, zu einem unfinanzierbaren welfare

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state zu werden: Sie ist mithin als ethische Grenze, nicht als kontingente Grenze der Unfinanzierbarkeit des welfare states zu verstehen. In diesem Sinn können nicht vom Personalprinzip gedeckte Sozialleistungen dazu führen, der Person in ihrer Würde nicht gerecht zu werden: Menschenwürde bedeutet, dass jeder das, was er als Einzelner leisten kann, ethisch auch leisten soll. Weiterhin, wie die aktuelle Enzyklika hinzufügt, hat ein überbordener Welfare-Staat die Problematik, eine Meinung zu fördern, welche die Armen als ein „Klotz“ ansieht, statt sie als Personen wahrzunehmen, deren Ziel es ist, sich in ihrem Personsein gesellschaftlich zu verwirklichen. Die Armen, so Caritas in veritate, dürfen nicht als «Last» perzipiert werden, sondern müssen als eine «Ressource» angesehen werden. Den Armen muss zu Perspektiven verholfen werden, nicht in den pessimistischen Strudel einer Armutsspirale zu geraten. Gerade dieses Phänomen ist heute in Europa wachsend und ernst zu nehmen.Das Recht auf Sozialhilfe begründet sich auf der Einsicht, dass diejenigen, die in Not geraten sind, überbrückungsweise Unterstützung erhalten, um wieder ein eigenverantwortetes Leben gestalten zu können. Damit darf das Prinzip Solidarität nicht mit Assistentialismus oder Paternalismus verwechselt werden, die sich beide nicht auf der Grundlage der Menschenwürde begründen: Denn sie bestimmt den Menschen nicht nach dem, was er in christlicher Perspektive ist, nämlich „Vorsehung für sich und die anderen“. Führt der Assistentialismus dazu, dass der Einzelne nur noch gefördert, nicht mehr gefordert wird, dann ergibt sich daraus ein ethisches, nicht rein finanzielles oder politisches Argument eine Neujustierung des Sozialstaates. Zudem erhält man daraus dann auch eine klare Linie, wie und nach welchem Konzept Kürzungen vorzunehmen sind.Solidarische Hilfe als Rechtsprinzip gestaltet sich damit also subsidiär: Die Hilfe ist nicht monodirektional, nur auf Intervention ausgerichtet, sondern hat bereits im Moment des Helfens den Blick für den anderen und beurteilt, wann er wieder in die Lage versetzt ist, aktiv am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen. Dies ist ja das Ziel gesellschaftlichen Zusammenlebens, nicht einfach die „Ruhigstellung“ potentieller gesellschaftlicher Unruheherde aufgrund sozialer Spannungen. Aufgrund von dieser ethischen Überlegung wird schließlich auch die ökonomische These verworfen, welche Armut als Voraussetzung zu Reichtum rechtfertigt.

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Für John Rawls sind soziale Ungleichheiten dann gerechtfertigt, wenn sie auch dem am schlechtesten gestellten Mitglied der Gesellschaft noch einen Vorteil erbringen. Die „Option für die Armen“ begründet sich also auf der Würde des Individuums, sie ist gelebte Solidarität, weil alle Menschen Personen sind, Recht auf Anerkennung, oder, religiös gesprochen: Abbild – Kinder – Gottes. Sie ist die Solidaritätsdimension der gesellschaftlichen Sphäre, die sich aber vom Individuum her begründet. Auch hier ist die Menschenwürde das Kriterium, nicht ein spezifischer gesellschaftlicher Zusammenhalt. Aus diesem Grund ist Solidarität nach christlichem Verständnis universal und verpflichtet jedem gegenüber, der Menschenantlitz trägt. Damit wird die Solidarität zur grundlegenden ethischen Dimension aller Grund- und Menschenrechte. Damit begründen diese keinen rechtlichen Individualismus – auf diese Gefahr weist Caritas in veritate hin –, sondern begleiten als Gerechtigkeitsordnung jene Solidarität, die sich nicht auf die reine Gerechtigkeitsdimension beschränkt.

6. Kirche und Familie als Grundinstitutionen der GesellschaftDoch jenseits der universalen Dimension der Menschenwürde, welche in der transzendenten Verankerung der Individualität des Menschen besteht, und der grundlegenden umfassenden Solidarität, die daraus folgt, ist die Menschenwürde auch durch ihre soziale Dimension ausgezeichnet. Hierin unterscheiden sich die liberalchristlichen Denker mit am deutlichsten von den stärker einem säkularen Liberalismus folgenden Liberalen außerhalb des christlichen Denkstromes. Die liberalchristlichen Denker finden nämlich nicht nur in der abstrakten, universalen Individualität, sondern auch in der menschlichen Relationalität, in dieser Konkretheit der Existenz, universale Konstanten. Dies war zu allen Zeiten das Anliegen des Naturrechts und dieses Anliegen wird in der Moderne neu und kritisch aufgegriffen. Dabei wird das wichtige Ergebnis herausgestellt, dass die personale Freiheit nicht unbestimmt, sondern bestimmt, weil immer im relationalen Bereich verwirklicht ist. So fragt Sturzo gegen die Kantische Bestimmung der Freiheit als Willensfreiheit: «Intendiamoci: la libertà non è arbitrio, essa non è mai senza limiti. Non esiste in natura né un potere senza limiti, né una libertà senza limiti. Il fatto sociale per se stesso limita tanto il potere centrale quanto la libertà dei singoli». In der

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Tat erkennen die liberalchristlichen Denker, dass keine Beschränkung der Freiheit vorliegt, wenn diese nicht abstrakt als prinzipiell unbegrenzt vorgestellt wird, sondern als eine Freiheit, die sich in Beziehungen verwirklicht. Damit ist Freiheit aber Bestimmung, eine Bestimmung, die dem Menschen nicht von außen auferlegt wird, sondern die in seiner Natur angelegt ist. Es gibt also grundlegende Relationalitäten, in denen die Verwirklichung der Freiheit nicht Begrenzung, sondern Realisierung ihrer selbst ist. In diesem Sinn unterstreicht auch die aktuelle Enzyklika, dass es Wesensbestandteil des christlichen Menschenverständnisses ist, nicht einfach Substanz zu sein, sondern gleichzeitig und auf der gleichen Ebene Relationalität: «Die christliche Offenbarung über die Einheit des Menschengeschlechts setzt eine metaphysische Interpretation des humanum voraus, in dem die Fähigkeit zur Beziehung ein wesentliches Element darstellt».Diese Relationalitäten werden konkret (1) in der Familie und (2) in der Religionsgemeinschaft verwirklicht. Neben der religiösen Dimension, die in der grundlegenden Relationalität des Individuums zum göttlichen Absoluten begründet ist und auf die bereits eingegangen wurde, zeichnet die Menschenwürde noch eine zweite grundlegende Relationalität aus: Diese realisiert sich im familiären Band, in welchem sich der Mensch auch konkret als Relation-sein erfährt. Als ontologische Existentialrelation tritt das Familienband nicht nachträglich zur menschlichen Würde hinzu, sondern ist selbst konkrete Realisierungsform dieser Würde. Als solche ist diese Relationalität mit der apriorischen Würde des Menschen gegeben und verdankt sich nicht gesellschaftlicher Setzung. Wie diese sich bereits in ihrem Gründen im transzendenten Absoluten als relational erwiesen hat, so entfaltet sie sich auch in der Ehe und Kindschaft auf jener Ebene, die kein Staat durch die „Gerechtigkeit“ herstellen kann. Denn partizipiert sie an der Würde, und nicht am Staat, so ist sie im Bereich der Caritas angesiedelt, der Gratuität. Aus diesem Grund ist dem Staat nicht nur der Zugang zur Individualität verwehrt, sondern auch zur Familie. In der Ehe wie in der Kindschaft erfährt sich der Mensch in originärer Weise als konstitutiv relational. Alle gesellschaftliche Relationalität baut dagegen auf jenem „Humankapital“, dass der Mensch in der Familie die Erfahrung einer Relationalität macht, die nicht – wie im gesellschaftlichen Bereich – auf Zweckrelationen beruhen, sondern unter dem

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Vorzeichen der Gratuität, der Caritas, statthat. In dieser Relationalität bildet sich der Mensch nun in der Dimension der „Gabe“: die Gratuität und Alteritätsbezüglichkeit des Gebens, ohne auf eine Gegengabe zu warten, wird allererst in der Familie eingeübt, „gebildet“, „erzogen“. In der Gesellschaft lässt sich diese Dimension nicht organisieren, denn sie beruht auf Spontaneität. Dennoch lebt die Gesellschaft wesentlich auch von dieser Dimension.Wie in der familiären Relationalität der Menschenwürde das Moment des „Gebens“ grundgelegt wird, so in der existential-religiösen Relationalität das Moment der „Vergebens“. Auch dies ist eine gesellschaftliche Dimension, auf die der Staat angewiesen ist, um ein humanitärer Staat zu sein. Alasdair MacIntyre hat darauf hingewiesen, dass dieses Konzept in der antiken Philosophie unbekannt war und vor allem der aristotelische Begriff der Freundschaft ohne die Dimension der „Vergebung“ auskam. Beide Dimensionen, des Gebens und des Vergebens, sind für die Gesellschaft und den Staat von größter Bedeutung. Doch kann der Staat diese weder organisieren noch herausbilden. Denn beide Relationalitäten sind in der Personwürde begründet und gehen von ihr aus, aber sie werden erst in ihrer Konkretisierung in der Religionsgemeinschaft und in der Familie verwirklicht. Denn sie sind nicht physisch-motorische Fähigkeiten, sondern Tugenden, die einer Einübung, Erziehung und eines sozialen Umfeldes bedürfen. Keine Gerechtigkeitsordnung, keine „soziale Gerechtigkeit“, kann diese Dimensionen garantieren und verwirklichen, doch ist die Gesellschaft darauf angewiesen, dass die Menschen in diesen Dimensionen „gebildet“ sind und sie konkret leben. Diese beiden Relationalitäten, der Familie und der Religion, sind also nicht Relationalitäten der Gerechtigkeit, sondern Relationalitäten der Caritas. Damit muss der Staat, wie er die Menschenwürde voraussetzt, auch diese Prinzipien und damit die Realität der Familie und der Religion positiv-konstitutiv voraussetzen. Die Freiheit dieser beiden Institutionalitäten sind damit Freiheiten, die personalistisch zu verstehen sind und welche das Wertesystem der Gesellschaft aufbauen. Sie realisieren genauso wie die Menschenwürde die grundlegende rechtsethische Prinzipialität für den Aufbau der Gesellschaft. Damit muss der Staat nicht nur die grundlegenden Individualrechte der individuellen Freiheit, der politischen Mitbestimmung und des sozialen Anspruchs gewährleisten, sondern auch die Freiheitsräume der Familie und der

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Religion anerkennen. Dies bedeutet nicht, dass Familie und Religion (Kirche) rechtsfreie Räume wären. Denn dann würden sie sich dem sozialethischen Kriterium der Menschenwürde entziehen. Im Gegenteil, gerade weil sie zur Pflege dessen ethischen Gehalts in der Gesellschaft einen unersetzbaren Beitrag leisten, dieser aber durch staatliche Einmischung zunichte gemacht würde, sind sie subsidiär in ihrer grundlegenden Bedeutung der Konstitution des Staates gemäß der „sozialen Gerechtigkeit“ anzuerkennen. So wie die Menschenwürde nicht Entrechtlichung der individual-liberalen Grundrechte bedeutet, sondern im Gegenteil deren rechtsethische Substanz darstellt, so entziehen sich auch die Familie und die Religion (Kirche) nicht der Autorität des Staates, dessen Aufgabe es ist, die Modalität der Rechte der sozialen Sphäre in ihrer gesamten Ausdehnung zu regeln, sondern sichern die ethische Substanz dieser sozialen Sphäre.So muss der Staat einerseits der Religion Freiheitsräume gewähren. Darauf kommt es gerade im Sozialbereich, in Schule, Erziehung, aber auch der sozialen Mildtätigkeit. In diesem Sinn wird deutlich, wie der moderne Staat die ursprünglich gesellschaftlichen und in der menschlichen Natur wurzelnden Kompetenzen monopolisiert hat, dadurch aber zum überbordenen welfare state geworden ist. In diesen Bereichen gilt es, im Sinne der Subsidiarität die Kompetenz der Religionsgemeinschaften (Kirchen) wieder neu politikrelevant werden zu lassen.Desweiteren ist, selbiger subsidiärer Überlegung gemäß, die Familie zu fördern. Denn wie die Freiheit, so ist auch die Familie in der Krise und die Entscheidung gegen Familie und Kinder stellt die Gesellschaft nicht nur vor große Herausforderungen demographischer, sondern auch erzieherischer Art. Viele nur in der Familie erlernbaren Umgangsformen, oder moderner ausgesprochen: die Bildung von „Humankapital“, werden gerade in der heutigen Krise der Freiheit vermisst. Eine größere Stärkung des familiären Bereichs würde hier mehr Ressourcen für eine positive Auseinandersetzung mit den Dynamiken der Globalisierung schaffen. Dazu muss aber bedacht werden, dass „Familienpolitik“ nicht einen Automatismus darstellt, sondern Ordnungspolitik ist, also nach dem Prinzip der Freiheit der Person und mithin nach dem Subsidiaritätsprinzip vorgeht. Es können gesellschaftliche Anreize geschaffen werden, doch muss auch gesamtgesellschaftlich wieder das Bekenntnis zur

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Familie wachsen. Hier ist es für die Politik unausweichlich, auf den gesellschaftlichen Beitrag beispielsweise der Kirchen zu achten.Mit dieser einführenden Durchbuchstabierung des christlichen Menschenbildes in seinen gesellschaftlichen Belangen zwischen Individualität und gesellschaftlicher Dimension wird deutlich, wie stark dieses Menschenbild die Realität unseres freiheitlich-demokratischen Verfassungsstaates prägt. So macht gerade das Christentum deutlich, dass Liberalismus und Humanismus zu einer Synthese finden müssen, wollen sie konstruktiv zum ethischen Fundament der Gesellschaft beitragen: «Che cos’è il liberalismo? Esso è umanistico. Ciò significa: esso parte dalla premessa che la natura dell’uomo è capace di bene e che si compie soltanto nella comunità, che la sua destinazione tende al di sopra della sua esistenza materiale e che siamo debitori di rispetto ad ogni singolo, in quanto uomo nella sua unicità, che ci vieta di abbassarlo a semplice mezzo. Esso è perciò individualistico oppure, se si preferisce, personalistico» (Röpke).

7. Das christliche Menschenbild in der wirtschaftlichen und politischen Ordnung

Röpke hat einmal die Marktwirtschaft und die Demokratie gleichermaßen als «besonders schwierig» bezeichnet, da sie «besonders viel voraussetz[en], worum wir uns angestrengt bemühen müssen. So ergibt sich ein umfangreiches Programm einer durchaus positiven Wirtschaftspolitik». Wie aus der moralischen Deklination des Freiheitsbegriffs durch die relationalen Implikationen der Menschenwürde deutlich wurde, kann Freiheit ohne grundlegende, substantielle Relationalität und mithin ohne fundamentale moralische Implikationen nicht gesellschaftlich realisiert werden. Aus diesem Grund haben die liberalkatholischen Vertreter stets einen starken, ethisch fundieren Freiheitsbegriff zur Grundlage ihrer wirtschaftlichen und politischen Theorieansätze gemacht. Mit diesem moralischen Freiheitsverständnis fanden sie sich mit den meisten nichtkatholischen Vertretern des Liberalismus im Einklang. So formulierte Hayek: «Es ist eine Tatsache, die all die großen Vorkämpfer der Freiheit außerhalb der rationalistischen Schule nicht müde wurden zu betonen, dass Freiheit ohne tief eingewurzelte moralische

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Überzeugungen niemals Bestand gehabt hat und dass Zwang nur dort auf ein Mindestmaß herabgesetzt werden kann, wo zu erwarten ist, dass die Individuen sich in der Regel freiwillig nach gewissen Grundsätzen richten».Aus der Synthese von christlichem Menschenbild und liberaler Tradition (Alfred Müller-Armack) ist das Konzept der sozialen Marktwirtschaft erwachsen, wie sie während der Diktatur von christlichen Ökonomen im Exil oder im Untergrund erarbeitet wurde und die auf der Suche nach einem „Neoliberalismus“ waren; dieser allerdings nicht im heutigen Verständnis eines radikalen, ohne Grenzen auftretenden Manchester-Liberalismus, sondern als «Dienerin der Menschlichkeit», wie sich Alexander Rüstow 1838 ausdrückte. Diese Intuition war bereits an den Anfängen des Liberalismus, im „Paläoliberalismus“, bei Adam Smith bekannt und systemprägend: Seine «unsichtbare Hand» proklamiert so keinen antimoralischen Egoismus, sondern gibt ein Legitimationsmodell dafür ab, dass eine Wirtschaft, welche sich auf die Freiheit und das Eigeninteresse der einzelnen beruft, ökonomisch effizienter ist. Darauf darf sich keine Marktmetaphysik begründen; und in diese Richtung wird die «unsichtbare Hand» ja meist missverstanden. Denn sie ersetzt nicht die Moral des Einzelnen, sondern funktioniert nur, wenn unter Freiheit nicht Willkürfreiheit, sondern moralisch-personalistische Freiheit verstanden wird. Dies hatte auch Smith so gesehen, wenn er den Marktmechanismus auf eine Theorie moralischer Empfindungen und unter diesen wesentlich auf die «Sympathie» gründet.Zur „sozialen Frage“ im 19. Jahrhundert kam es dann freilich, weil diese moralische Basis sich als sehr dünn erwies und die Zuspitzung der sozialen Situation und das Aufkommen der Arbeiterfrage nicht zu verhindern wusste. Erst durch die Einführung von Sozialrechten und einer Sozialgesetzgebung ist damit das konstitutionelle Gerüst des modernen Staates vervollkommnet. Dies steht dafür, dass Freiheit konkrete und moralische Freiheit ist. Der Markt funktioniert nur, wenn er auf freien Individuen beruht; diese sind aber nur solange frei, als ihnen die wirtschaftlichen Mechanismen nicht die materiale Lebensgrundlage entziehen. Genau diese fatale Dynamik hatte ja die Sozialgeschichte des 19. Jahrhunderts bewegt. Daher muss dem Konzept des freien Marktes, um umfassend zu sein, auch die soziale Komponente beigegeben werden. Dabei geht es um die Hilfe für diejenigen, die nicht am

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Markt teilnehmen können: Kinder, Alte, Kranke, Arbeitslose. Es geht in der berühmten Formulierung Alfred Müller-Armacks darum, «das Prinzip der Freiheit auf dem Markte mit dem des sozialen Ausgleichs zu verbinden». Damit wird die soziale Basis selbst geschaffen, derer die Marktwirtschaft zu ihrem eigenen Funktionieren bedarf.Dieses soziale Eingreifen des Staates darf seinerseits aber – um den Grundsätzen der Personwürde und der Freiheit nicht zuwiderzulaufen – nicht die Individualfreiheit, die sich in der Freiheit der Akteure des Marktes Ausdruck verschafft, zunichte machen. Der Staat darf sozial nur unter Anerkennung der Eigenlogik des wirtschaftlichen Marktgeschehens handeln. Berücksichtigt er dies nicht, so setzt er sich über die individuelle Freiheit hinweg, die sich als ökonomische Freiheit ausdrückt, und wird zum sozialistischen Staat. Interesse der Vertreter der Sozialen Marktwirtschaft war es stets, die sozialstaatlichen Operationen mit der Freiheitlichkeit des Marktes in Verbindung zu bringen und damit einen „dritten Weg“ zwischen einem sozial unsensiblen Liberismus und einem freiheitsunsensiblen Sozialismus zu finden. Diese Lösung darf allerdings keinesfalls als „Kompromiss“ zwischen beiden Extremen verstanden werden, sondern als originäre Position, die sich aus den Grundsätzen des christlichen Menschenbildes ergibt und daher die Extreme des Manchester-Liberalismus und Sozialismus vermeidet. Diese Position geht davon aus, dass soziales Handeln notwendig ist, um den Markt selbst als freiheitliche Institution im Respekt der Menschenwürde zu erhalten.In der Tat haben die Theoretiker der Sozialen Marktwirtschaft stets betont, dass ein freier Markt ohne moralisch-soziale Bindung seine eigenen Voraussetzungen zerstört, indem er zur Monopol- und Kartellbildung tendiert. Im Gegenteil, der Markt braucht Regeln, um sich selbst in seiner Freiheit zu erhalten: Dies dürfen dann nicht Regeln sein, die seine Freiheit einschränken, sondern müssen derart beschaffen sein, dass sie diese allererst ermöglichen. Wie bereits gesehen, können solche Regeln nur ausgehend von der Menschenwürde und den grundlegenden ontologischen Relationen des Menschen her entwickelt werden. Diese sind im Ordnungsrahmen der Wirtschaft festgehalten. Dieser Ordnungsrahmen instituiert das Marktgeschehen nach den personal-ethischen Prinzipien der freien Individuen („Marktteilnehmer“) und beinhaltet mithin jene positiv-ethischen

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Bestimmungen der Freiheit des Marktes, welche diese Freiheit vor ihrem bindungslosen Missverständnis bewahren soll. Es geht in dieser Rahmenordnung mithin nicht darum, Freiheit einzuschränken, sondern ein richtiges Verständnis dieser Freiheit sicherzustellen. Nur unter dieser Voraussetzung gilt der Erhardsche Grundsatz: «Je freier die Wirtschaft, umso sozialer ist sie auch». Somit kann nur eine auf die Person und ihre moralische Freiheit zentrierte Rahmenordnung die funktionierende Basis eines liberalen Wirtschaftssystems sein. Zu Elementen dieser Rahmenordnung zählen die Regelung der Konkurrenz zum Ausschluss der Kartellbildungen und zur Garantie des freien Zugangs zu den Märkten, Ausschluss staatlicher Monopolmacht, ein funktionsfähiges Preissystem, Nachhaltigkeit und Umweltschutz, Verbraucherschutz sowie soziale Sicherheit und soziale Gerechtigkeit – nur um einige wichtige Eckpunkte zu nennen. Diesen Elementen liegt, so Müller-Armack, die Verschränkung der beiden Grundsätze zugrunde, «das Prinzip der Freiheit auf dem Markt mit dem Prinzip des sozialen Ausgleichs zu verbinden». Diesem gemäß müssen staatliche Eingriffe in die Wirtschaft marktkonform sein.Alexander Rüstow sprach in diesem Zusammenhang von «Vitalpolitik» und deutete damit die anthropologische Basis des Marktmechanismus an. Diese soll zu einem «konstruktiven Liberalismus» bzw. zu einem «ökonomischen Humanismus» führen. Dies ist dann kein „systemgerechtes“ Handeln im Sinne einer Auslieferung an ein abstraktes System, da dieses ja bereits am Kriterium der Menschenwürde entlang gebildet wurde und sich als notwendig erweist, um diese sozial und ökonomisch abzusichern. Röpke definiert zusammenfassend: «Das Maß der Wirtschaft ist der Mensch. Das Maß des Menschen ist sein Verhältnis zu Gott». Gemäß den im Liberalkatholizismus erarbeitete Prinzipien stellt dies keine Unterwerfung des Marktes unter Regeln dar, die ihm fremd wären und daher Ineffizienz erzeugten; noch handelt es sich um einen „Import“ des Ethischen in die Ökonomie, sondern um jene ethische Dimension, welche der Markt verwirklicht, sofern er konstitutiv aus Personen und ihrer Freiheit besteht. Die Regeln der Sozialen Marktwirtschaft sind also in einem die Grundsätze des Marktes selbst in seiner unverkürzbar personal-ethischen Dimension.

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Die geschützte und fundamentale Freiheit des Individuums drückt sich in zwei Charakteristika der Sozialen Marktwirtschaft und des freien Marktes aus: Konkurrenz und Unternehmensfreiheit. Wie eine ökonomische Theorie zu diesen beiden Faktoren steht, daran erkennt man deren wirtschaftliche und ethische Ausrichtung. Aus dem christlichen Menschenbild ergibt sich eine positive Würdigung, ja eine Forderung beider im Sinne einer menschenwürdigen Wirtschaft. Nur in diesen Freiheiten kann sich der Mensch als Ebenbild Gottes entfalten. Hier wird dann auch deutlich, warum die Verankerung in Gott kein Hindernis für die Freiheit ist, sondern erst deren Ermöglichung: Im Glauben erkennt der Mensch, dass er dazu bestimmt ist, für sich und die anderen „Vorsehung“ zu sein. Konkurrenz und Unternehmensfreiheit werden meist negativ als „Sozialdarwinismus“ gekennzeichnet, wonach die Stärkeren die Schwächeren fressen. Doch darum geht es im Marktgeschehen grundsätzlich nicht: Wer darauf aus ist, den anderen zu vernichten, handelt nicht mit ihm, sondern geht anders mit ihm um. Der Markt bringt uns zwar an sich nicht menschlich näher, er macht uns aber auch nicht zu Räubern, im Gegenteil: Wer kauft, stiehlt nicht. Das Marktgeschehen setzt so eine grundsätzliche Anerkenntnis des anderen als Person voraus, die noch kein moralisches Handeln und noch kein Wohlwollen ist, die aber auch nicht darauf aus ist, den anderen seiner Grundrechte und -freiheiten zu berauben. Dies wird oft durch die Haltung übersetzt, dass der andere einem „egal“ bleibt. Dies ist mit einer rational-kalkulierenden Haltung vereinbar, die bei jenem Menschen vorausgesetzt werden kann, «solange er nur Vernunft besitzt», wie Kant an solchen Stellen sagte. Dies bedeutet aber, dass der Marktmechanismus, wenn er nicht beschränkt oder verhindert wird, ohne zu moralisieren, eine Freiheitsdynamik in Gang setzt, welche auf die Realisierung der Grundfreiheiten des Menschen zielen. Und um genau diese Freiheitsdynamik zu erhalten, ist er es dann selbst, der nach einer Rahmenordnung verlangt. So ist es nicht eine übergeordnete Ebene, die dem Markt diese Ordnung überstülpt, sondern er selbst verlangt nach einer Ordnung und nach einem Schiedsrichter, da mehrere freie Akteure, die aus freiem Willen heraus nach gewissen Regeln handeln („spielen“) möchten, sich damit eine Ordnung geben und nach einer Garantie für die Einhaltung dieser Regeln verlangen („Schiedsrichter“), ohne dass auch diese Garantie ihre Freiheit

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einschränkte. Im Gegenteil, nur so ist sie verwirklichbar, denn andernfalls käme der Handel („das Spiel“) überhaupt nicht zustande. Dies beinhaltet auch wechselseitige Einstandspflichten und Solidarität. Und vor allem wird bei all dem ein grundsätzliches Wohlwollen dem anderen gegenüber vorausgesetzt bzw. das Vertrauen darauf, dass auch der andere die („Spiel“-)Regeln nicht nur grundsätzlich einhält, sondern vor allem die gegenseitige Anerkennung als Partner verwirklicht wird. Innerhalb dieser Rahmenbedingungen kann sich dann der Markt in Freiheit, Konkurrenz und Unternehmensfreiheit vollziehen.Freiheit heißt dann aber nicht die Abwesenheit von Staat, sondern die Anwesenheit einer klaren Ordnungsstruktur, die nur vom Staat geschaffen werden kann. Allerdings muss dieser sich darauf beschränken, um den freien Markt und die Konkurrenzsituation nicht wieder zu vernichten, sondern im Gegenteil zu schützen. Der Staat nicht auf die Prozesse der Wirtschaft einwirken, sondern auf die Formen; er muss das Marktgeschehen garantieren, dessen Freiheit und die Beachtung der grundsätzlichen Achtung aller Marktteilnehmer garantieren. Und er muss darauf aufmerksam sein, nicht um der Wirtschaft einen Gefallen zu tun, sondern weil Wirtschaft ein Teil des öffentlichen Lebens des Menschen und der gesamten Gesellschaft ist und nicht nur in ihrer Freiheit Garantin der politischen Freiheit ist, sondern auch umgekehrt in ihrer Unfreiheit leicht politische Unfreiheit hervorbringt. Amartya Sen hat die Umkehrthese zu Freiheitsthese Sturzos oder Röpkes, wonach gesellschaftliche, politische und wirtschaftliche Freiheit unmittelbar zusammenhängen, gewagt und definierte: «Wirtschaftliche Unfreiheit kann zur Brutstätte für soziale Unfreiheit werden».Für die Demokratie gilt Ähnliches: Die Freiheit muss durch Regeln konkretisiert sein. Doch ist es hier nicht die Freiheit des homo oeconomicus, sondern des homo politicus. Dabei Despotismus vermeiden und unter Depotismus kann auch die Demokratie wiedergefunden werden. In diesem Sinn analysieren Rosmini und Tocqueville den «Despotismus der Mehrheit». Es genügt daher nicht, Demokratie als Staatsform zu proklamieren, wenn sie nicht in eine konstitutionelle Ordnung eingebunden ist, welche die Grundrechte der Person sichert. Nur so kann nämlich verhindert werden, dass der politische Wille, auch wenn er demokratisch zustande gekommen ist, alles beschließen und sich auch über die fundamentalen Gerechtigkeitsgrundsätze hinwegsetzen kann. Nur so

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kann verhindert werden, dass eine Regierung, ist sie einmal demokratisch an die Macht gewählt worden, auf der Basis dieser Legitimation schalten und walten kann, wie es ihr gefällt und dabei auch in fundamentale Grundrechte der Personen eingreifen kann.Nur eine Konstitution, die auf der Menschenwürde und den damit verbundenen Grundrechten beruht, kann Totalitarismus und jede Form von Despotismus wirksam verhindern. Doch worin ist wiederum die Menschenwürde begründet? Hierauf gibt das chrisltich-politische Denken die Antwort, dass der Mensch in seiner Würdehaftigkeit nicht erst durch den Staat, die Zivilgesellschaft, sein gesellschaftliches und nicht einmal familiäres Umfeld konstituiert wird, sondern diese Würde immer schon hat bzw. besser: ist. Er ist diese Würde, da er sich nicht der Gesellschaft oder der Natur verdankt, sondern jenem göttlichen Absoluten, von dem er sich her weiß. Dies muss dabei nicht unbedingt bewusst sein und kann auch vom Einzelnen geleugnet werden. Doch seine Würdehaftigkeit beinhaltet eine letzte Unverfügbarkeit, etwas nicht organisierbares oder mit politischer „Macht“ beherrschbares. Dies ist der ursprüngliche Sinn von Autorität: Gegenüber der politischen Ebene und der ??? politischer Macht hat die Autorität einen Ursprung, den man nicht genau lokalisieren, daher auch nicht genau beherrschen kann, und der dem Menschen eine letztliche Unnahbarkeit, Undurchdringbarkeit, Unfassbarkeit erbringt, weswegen keine politische Macht in diesen Persönlichkeitskern eindringen kann und darf. Hier sind dann auch seine beiden grundlegenden Freiheitsrechte begründet, die Religions- und die Glaubens- bzw. Gewissensfreiheit. Diese besagt, dass der Staat zur Beantwortung und Regelung aller dieser Angelegenheiten keine Kompetenz beseitzt. Daher gibt es eine Freiheitssphäre des Menschen, in die der Staat nicht eindringen darf. Hierauf beruhen mithin alle anderen Freiheitsrechte.Demokratie als Staatsform kann sich also nur dort verwirklichen, wo sie sich bereits auf personal-ethischer Weise verwirklicht: in der fundamentalen Anerkennung der menschlichen Würde. Wird diese mit Füßen getreten, so ist jede demokratische Legitimation nichtig. Damit deutet sie an, wie sich die gesamte Gesellschaft auf eine grundlegende Gerechtigkeit begründet, die nicht machbar ist, sondern zu der der Mensch auf eine andere Weise Zugang hat. Von dieser Gerechtigkeit sagte bereits Augustinus, dass sie die Staaten vor

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jeder anderen Art des Zusammenschlusses von Menschen unterscheidet, bzw. in seinen – wesentlich deutlicheren – Worten: «Was sind Staaten anderes als große Räuberbanden, wenn ihnen die Gerechtigkeit fehlt?».Wie steht aber nun die Tatsache, dass sich der Staat, weil er aus Menschen besteht, auf einen ihn übersteigenden Gerechtigkeitsmaßstab zurückbezieht, zum Faktum, dass er Recht setzt und also durch Gesetze festlegt, was „recht“ ist? Bleibt nicht das grundgesetzliche Gestell zu formal und lückenhaft und sind es nicht eher die konkreten Gesetze und Rechtsordnungen, die längst bestimmen, was „recht“ ist? Der person-ethische Ansatz besagt, dass die konstitutionell-grundrechtliche Ordnung ein Wertefundament beinhaltet, auf das sich der Staat in seiner Gesetzgebung beziehen muss, da er ansonsten verfassungswidrig, man könnte auch sagen: gegen die in der Verfassung beschriebene person-ethische Werteordnung verstößt. Oder wie dies Gustav Radbruch in einem zentralen Moment unserer abendländischen Zivilisationsgeschichte formuliert hat, als sich das Abendland anschickte, aus dem Moment tiefsten Falls in eine antihumane Barbarei, wieder auf die Bahnen der Gerechtigkeit und des Friedens zurückzufinden: In aller Regel ist den Gesetzen Folge zu leisten, einfach aus dem Umstand heraus, dass sie sind, und dass es besser ist, wenn die gesellschaftlichen Verhältnisse geregelt sind, als wenn sie dies nicht sind, Regeln schaffen Erwartbarkeit, Planbarkeit und einfach Sicherheit. Werden sie als unrecht empfunden, ist dies noch kein Grund, sie als ungültig oder „Unrecht“ anzusehen. Doch ist es denkbar, dass sie so eklatant gegen das grundsätzliche Rechtsempfinden, gegen jene Maßstäbe des Rechten und Richtigen verstoßen, die jedem Menschen eingeboren sind, da er im Anderen das Antlitz der Menschenwürde erkennt und sich mit ihm solidarisiert. In diesem Fall liegt Tatsächlich Unrecht im Sinne von nicht-gültigem Recht vor. Ist dies auf wirklich extreme undeklatante Fälle einzuschränken, so bezeichnet diese Option jedoch – leider – auch keine historisch unmögliche Konstellation, wie 1946 bei den Nürnberger Prozessen anerkannt wurde – als Radbruch diese Formel entwickelte – und 1990 bei den berühmten Mauerschützenprozessen wieder deutlich wurde.Nicht nur zu dieser Bestimmung der politischen Gerechtigkeit, bzw. der politischen Implikationen der Menschenwürde, ist die Politik auf den Dialog mit dem Glauben angewiesen, sondern dieser Beitrag ist auch zum Erhalt der

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freiheitlich-demokratischen Grundordnung selbst indispensabel. Die politische Ordnung ist eben nicht ein Mechanismus, der einmal angestoßen wird, und wenn für ihn die richtige Justierung der Grundregeln gefunden ist, dann auch von alleine läuft. Sondern sie erweist, gerade wenn sie sich wie die freiheitlich-säkulare Ordnung der Moderne auf die Freiheit und Menschenwürde bezieht, durchaus eine offene Flanke: diese offene Flanke ist eben die nicht-Garantierbarkeit, die Unverfügbarkeit, welche eben menschliche Freiheit und Würde mitbringen. Oder in anderen Worten: In dem Maße, wie die verfassungsmäßige Grundordnungen Freiheiten lässt und diese auch absichert, ist sie darauf angewiesen, dass die Einzelpersonen diese Freiheit verantwortungsvoll und aktiv ausfüllen und damit aufrechterhalten. Gerade hierin wird deutlich, was auf dem Spiel steht, wenn betont wird, das Freiheit nicht Willkürfreiheit besagt, sondern moralische Freiheit: eine Freiheit, die dem Menschen aufgegeben ist, und die, wenn er sie nicht verantwortungsvoll gestaltet, ihm entwischt.Oder in anderen Worten: Die freiheitlich-politische Ordnung kontrolliert den Menschen nicht und verpflichtet ihn nicht auf ein ideologisches Bekenntnis – es macht ihn nicht zu einer Marionette des Staates. Wenn er aber seine Freiheit missversteht und daraus ableitet, dass Politik keiner aktiven Gestaltung, keiner Eigeninitiative und die freiheitliche Grundordnung keiner Zivilcourage, keines ehrenamtlichen Einsatzes, keiner wohlwollenden Zuwendung zum Nächsten bedarf, dann sind ihre Tage bereits gezählt. All dies ist in dem berühmten Axiom von Böckenförde zusammengefasst: „Der freiheitlich-säkulare Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann. Dies ist das Risiko, das er um der Freiheit willen eingegangen ist“. „Um der Freiheit willen“ heißt aber: „In seinem Bekenntnis für Freiheit“ oder „Aus Liebe zur Freiheit“. Eine abstrakte Freiheit kann man aber nicht bezeugen und noch weniger lieben. Damit ist also eine Freiheit beinhaltet, die Person meint, Personwürde. Das Böckenförde-Axiom drückt kein abstraktes Bekenntnis zur Freiheit aus und noch viel weniger spricht es von abstrakten, obskuren oder nicht erklärbaren Voraussetzungen, sondern hat die zentrale Gerechtigkeitsdimension der Menschenwürde im Auge.Was darunter zu verstehen ist, ist aber genau zu erörtern, denn sonst dient dieses Axiom vielleicht als publikumswirksamer Slogan, besagt dann aber auch

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alles und gleichzeitig nichts und wird dadurch zum leichten Einfallstor für Ideologien: Denn welche Ideologie behauptete nicht von sich, die entscheidende, bisher nicht berücksichtigte Voraussetzung des Staates zu sein? Als einziges Gerechtigkeitskriterium, um diese zu ermitteln, haben wir die Menschenwürde. Aber diese gibt bereits eine entscheidende Richtung vor: Jede politische Richtung, welche die Personalität und Freiheit des Menschen nicht berücksichtigt, keine Solidarität aufkommen lässt und in ihrem Bild von Staat keine subsidiären Strukturen anerkennt, ist auszuschließen. Die Menschenwürde kann nur in jenem den Staat überscheitenden Merkmal der Gottebenbildlichkeit bestehen. Aus diesem Grund ist Politik auf Religion verwiesen – nicht auf ein bestimmtes religiöses Bekenntnis, sondern auf die Dimension der Transzendenz, insofern diese den Menschen als Menschen – nicht in einer bestimmten religiösen Konfession – auszeichnet. Nach Johann Baptist Metz heißt die kürzeste Definition von Religion „Unterbrechung“: In diesem Sinn bringt die Religion ein „Unterbrechungsmoment“ in die politische Logik der Machtorganisation und -legitimation ein. Diese Unterbrechung ist dem Menschen geschuldet, denn sie ist dieselbe Dimension der Menschenwürde. Wie bereits gesehen, ist sie nicht als Gerechtigkeit organisierbar, sondern nur mit den Augen der Caritas erkenn- und anerkennbar. Wenn diese anthropologische Dimension auch keine Begründung einer Staatsreligion besagt, insofern auch Religion ihrerseits, um ihren Beitrag für die Gesellschaft leisten zu können, frei bleiben muss, so erwiesen sich doch – gerade aus der Trennung von Religion und Staat – nur die christlichen Kirchen als religiöse Institutionen, welche die freiheitlich-säkulare Werteordnung des Staates anerkennen und fördern. Dies begründet mehr als eine nur gegenseitig vorteilhafte Zusammenarbeit, sondern dies macht die Kirche konstitutionell zur subsidiär seitens der Politik anzuerkennenden und zu behandelnden Wirklichkeit. Dies – und hier liegt die Pointe der freiheitlich-säkularen Argumentation – erfolgt nicht aus Interesse der Kirche, sondern des Staates heraus, welcher die Grundlagen des Zusammenlebens nicht schaffen oder garantieren kann, aber die institutionellen freiheitlichen Voraussetzungen schaffen muss, dass sich diese Ressourcen immer wieder erneuern und so gleichbleibend stark sind. Somit muss der Staat an einer freien Kirche

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interessiert sein und seine Grundordnung auf die Religions- und Glaubensfreiheit stellen.Diese Würde expliziert sich aber auch im familiären Band, wie bereits erörtert wurde. Daher ist Politik auch auf die Familie als die elementare Organisationseinheit des Staates verwiesen. Nur durch die Aufrechterhaltung von Familie kann im Letzten Freiheit gesichert werden. Damit wird die Familie zum grundlegenden Element der subsidiären Freiheitsorganisation des Staates. Die Soziallehre der Kirche bringt diesen Zusammenhang so zum Ausdruck: «Kein Gesellschsaftsmodell, das dem Wohl des Menschen dienen will, kann über die zentrale Bedeutung und die soziale Verantwortung der Familie hinwegsehen. Gesellschaft und Staat haben im Gegenteil die Verpflichtung, sich in ihren Beziehungen zur Familie an das Subsidiaritätsprinzip zu halten». Damit sind Kirche und Familie, gemäß des Subsidiaritätsprinzips, die beiden Grundinstitutionen der Verwirklichung gesellschaftlicher Freiheit.

8. Das GemeinwohlNach der konsequenten Begründung der sozialen Natur des Menschen auf den grundlegenden Relationalitäten seines Personseins stellt sich die Frage, was unter dem für jedes politisch-ethische Bemühen zentrale Begriff des „Gemeinwohls“ genauer zu verstehen sei. Ausgehend von den bisher entwickelten Grundsätzen kann „Gemeinwohl“ keine Dimension bezeichnen, die außerhalb des Wohls der Person läge, da ansonsten der staatlichen Ebene eine eigenständige ethische Prinzipialität zugemessen würde, das sie dann mit dem personalistischen Ansatz in Konflikt brächte. Im Gegenteil kann auch der Begriff des Gemeinwohls, will er ein ethisch legitimierter Begriff sein, nur vom Imdividuum und seiner Personalität her gedacht werden. Doch stellt sich gerade bei einem vom einzelnen anhebenden Ansatz heraus, dass es bestimmte Güter gibt, die nur in Gemeinschaft verwirklicht werden können. Dies bedeutet nicht, dass dies gegen den methodischen Individualismus des liberalen Ansatzes spricht. Der Staat wird nicht zum individuellen Agent des Gemeinwohls, denn der Staat als solcher kann nicht intentional Handeln. Oder, wie Sturzo herausstellt, «Der Staat ist per definitionem unfähig, auch nur einen einfachen Schusterladen zu betreiben». Vielmehr ist darin zu erkennen, dass

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auch das Gemeinwohl am Kriterium der Menschenwürde zu messen ist. Die gesellschaftliche Dimensionalität, auf der es beruht, ist diejenige der Solidarität. So definiert auch die Sozialenzyklika Sollicitudo rei socialis, Solidarität sei «die feste und beständige Entschlossenheit, sich für das „Gemeinwohl“ einzusetzen». Es gibt Güter, die lassen sich nur solidarisch verwirklichen. Das Gemeinwohl bestimmt sich in dieser Hinsicht vom Personwohl, vom Ziel der Person her.Es gibt schließlich nicht die „Gesellschaft“ im selben Sinn, wie es die „Personen“ gibt. Es gibt nur gute und schlechte Personen. Auf diesen Aspekt hat Karl Popper besonders hingewiesen. Doch vermittelt sich über die institutionelle Konstitution der Gesellschaft diese moralische Determination der Personen in die Gesellschaft hinein. So kann gerade im Bereich der Politik von einer „Verantwortungsethik“ gesprochen werden, der nicht dieselben Charakteristika wie einer persönlichen Moral zukommt. Während die persönliche Moral das Subjekt unbedingt im Gewissen bindet, entstehen politische Entscheidungen durch Kompromisse, die insofern nicht mehr direkte Weisungen des Gewissens sind. Allerdings müssen sich auch in der politischen Verantwortung die grundlegenden Dimensionen des christlichen Personbegriffs widerspiegeln.

9. Zum Konzept der „Zivilreligion“Es stellt sich an dieser Stelle die Frage, ob die hier skizzenhaft präsentierte politisch-wirtschaftlich-gesellschaftliche Gesamtsicht, welche aufzeigt, inwiefern das christliche Menschenbild in der Neuzeit jene Gesellschaft und jene Institutionen hervorgebracht hat, die wir heute vorfinden, und deren ethischen Gehalt wir von neuem ergründen sollten, in einem weltanschuungsneutralen, säkularen Verfassungsstaat haltbar ist. Denn sie setzt die Präsenz der christlichen Religion voraus, die staatlich nicht abgesichert werden kann, die aber aufgrund ihres ethischen Wertes für die politisch-wirtschaftlich-gesellschaftliche Ordnung unabdingbar scheint. Um dieser Verlegenheit zu entgehen, aber auch aus dem Gedanken heraus, den säkularen Mitbürgern aufzuzeigen, auf wie vielen religiösen Resten diese immer noch beruht, ohne dass diese sich das im einzelnen klarmachten, haben

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einige zeitgenössische Denker, ausgehend von dem Amerikaner Bellah, den Begriff der Zivilreligion geprägt. Ich denke dabei vor allem an Hermann Lübbe und Marcello Pera. Dabei werden unter Zivilreligion die «als universalkonsensfähig unterstellten religiösen Orientierungen, die in unsere politische Kultur integriert sind» (Lübbe), verstanden. Nach Pera ist es Aufgabe der Zivilreligion, «ihre Werte in jene lange Kette einzufügen, die vom Individuum zur Familie, zu Gruppen und Verbänden, zur Gemeinschaft und Gesellschaft führt», was explizit als eine «nichtkonfessionelle christliche Religion» gefasst wird.Dieses Konzept besteht im Versuch einer Horizontalisierung des Religiösen, indem die Religiosität als menschliche Existenzialrelation, da sie doch jeden Menschen existential auszeichnet, unter säkularem Vorzeichen interpretiert wird, wodurch es möglich sein soll, deren sozialethische Funktion für den gesellschaftlichen Aufbau zu bewahren und darüber hinaus in einem säkularen Umfeld neu einsichtig zu machen. Damit soll einerseits die notwendige „Unterbrechungsfunktion“ der Religion für die Gesellschaft auch in einem säkularen Zusammenhang gesichert werden, aber auch andererseits jene sozialen „Mehrkosten“ in Form der aktiven Motivation der Bürger aufgebracht werden können, die es heute, in der Krise der Freiheit, aufzubringen gilt, um die freiheitliche Grundordnung aufrecht erhalten zu können.Historisch geht diese Idee der Zivilreligion wesentlich auf Rousseau zurück, der – gerade um den Despotismus zu überwinden – für die Fusion aus „theologischem System“ und „politischem System“ plädiert. Lübbe und Pera analysieren darauf hin jene Momente, in denen die religiöse Dimension des Menschen in die politische Sphäre hineinbricht und in dieser ein Moment der Unverfügbarkeit ausdrückt. Doch gerade damit stellt sich vor diesem Hintergrund erst recht die Frage, ob das hier entwickelte christlich-liberale Gesellschaftsmodell auch säkular denkbar ist oder ob es der gelebten christlichen Religiosität nicht vielmehr konstitutiv bedarf.Einen ähnlichen Vorschlag machte jüngst Habermas: Er geht davon aus, dass auch die säkulare Gesellschaft der Präsenz religiöser Gruppieren bedarf, da sie einen Sinnvorrat – erkenntlich an Begriffen, über welche die politische Gemeinschaft nicht verfügt – besitzt, ohne welchen eine Gesellschaft nicht auskommen kann. Also sei eine Übersetzungsleistung der religiösen Inhalte in

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säkulare Sprache gefragt, die aber nicht nur den Christen, sondern auch den Nichtchristen und Atheisten zugemutet wird. Auch hier wird davon ausgegangen, dass das Religiöse nicht der gelebten Religion bedarf, nicht der gelebten Beziehung zum göttlichen Absoluten, sondern dass dies auch ganz säkular als Dimension des Menschen angesehen werden kann.Für Joseph Ratzinger kann dagegen nur die gelebte Religion, die konfessionell und damit in ihrer Religiosität ausgeprägt ist, jene Instanz sein, welche die „Entgleisung der Vernunft“ verhindern könne. Dieses Verhältnis wird dabei reziprok gedacht. In der spätmodernen Zeit des «Zweifels an der Verlässlichkeit der Vernunft» müsse man zu einer «notwendigen Korrelationalität von Vernunft und Glaube, Vernunft und Religion» finden, mithin zu einem reziproken Ergänzungs- und Reinigungsverhältnis beider. In unserem kulturellen Zusammenhang stünden dafür das Christentum und die politische Vernunft ein. Beide haben sich historisch in jenem Zuordnungesverhältnis zueinander herausgebildet, das auch heute in seiner grundlegenden Bedeutung für die Politik deutlich werden muss. Denn die Leistung der Motivation geht von der gelebten Religiosität und nicht von abstrakten Werten aus, auf welche die Religion im Zivilreligionsmodell reduziert würde.Und gerade als gelebte Religion, so lässt sich nach den vorhergegangenen Ausführungen hinzufügen, tritt sie nicht nur dafür ein, dass heute die politische Vernunft nicht «austrocknet» oder «entgleist», sondern als solche hat sie sich bereits in der konstitutionellen Ordnung niedergeschlagen. Hier hat sie also in gewisser Weise die Dimension der Zivilreligion angenommen. Doch gilt es stets, nicht von diesem zivilreligiösen Resultat als gesichertes Ergebnis auszugehen. Die freiheitlich-demokratische Ordnung lebt im aktiven und streitbaren täglichen Eintreten für sie. Aus diesem Grund vermag auch nicht ein lebloser Zivilreligionsbegriff, sondern nur die gelebte Religiosität, die Menschenwürde in ihrem transzendenten und relationalen Freiheitsverständnis aufrecht zu erhalten.

10. Freiheitsordnung und Theodizee

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Auch die Sozialethik kennt eine „Mikro“-Argumentation und eine „Makro“-Argumentation. Nachdem die Mikroargumentation die ethische Dimension der Menschenwürde in der ontologischen Relationalität der Person als konstitutives Prinzip des gesellschaftlichen Aufbaus in der Moderne und darin als Verwirklichung des christlichen Menschenbildes aufzeigte, verteidigt die Makroargumentation diesen Gesellschaftsaufbau gemäß der „sozialen Gerechtigkeit“ vor dem Einwand, der gegen die liberalkatholischen Ansatz gemacht wird, wenn kritisiert wird, dass die Freiheitlichkeit des Systems zu viel Übel und Elend zulasse und gerade deswegen dem Menschen nicht gerecht werde. Mit anderen Worten, es wird der Freiheit des Menschen zu viel Gewicht zugestanden, zuungunsten der Gleichheit und der Moralität. Natürlich lässt sich diesem auf das christliche Menschenbild begründete Gesellschaftsbild ein Mangel an Moralität nur vorwerfen, wenn man die ethischen Implikationen der Menschenwürde als gering ansieht und darüber hinaus vergisst, dass gerade der Freiheitsbegriff selbst „moralisch“ ist bzw. nur dann Gesellschaft aufbaut, wenn er nicht als Willkürfreiheit und Bindungslosigkeit verstanden wird, sondern als Aufgabe, die eigene Freiheit nicht nur rechtlich, sondern auch moralisch legitim zu verwirklichen. Dennoch bleibt richtig, dass dadurch das Übel nicht aus der Welt geschaffen wird. Indem liberalismuskritische Positionen eine gesellschaftliche Moral konzipieren und damit die Ordnungssysteme moralisch aufladen, gehen sie davon aus, wirksamer politische Ordnung durchsetzen zu können.So ist interessant, dass die liberalkatholischen Denker sich stets rechtfertigen mussten, der Freiheit vielleicht doch zu viel Gewicht einzuräumen und daher einer gewissen laissez-faire-Mentalität zu huldigen. Dagegen haben sie eine Überlegung entwickelt, die als „soziale Theodizee“ (Pietro Piovani) bezeichnet wird. Diese basiert auf dem Gesetz des „geringsten Mittels“, das besagt, dass gesellschaftlich möglichst wenig in die gesellschaftlichen Freiheitsstrukturen eingegriffen werden soll, da sonst die Freiheitssphären der Individuen in ihrer moralischen Qualität beeinträchtigt werden. Die Legitimation dieses Ansatzes ist, wie herausgestellt, die Personwürde und die Freiheit des Individuums. Gerade in diesen beiden Elementen ist der Mensch Ebenbild Gottes. Was die „Makroargumentation“ angeht, muss sich also das liberale Gesellschaftsbild entsprechend an jener Makrostruktur rechtfertigen lassen, die der göttliche

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Schöpfer für den Weltenlauf eingerichtet hat. Und in der Tat stellt Rosmini heraus, dass die freiheitlich-neuzeitliche Gesellschaft in ihrer Struktur der „sozialen Gerechtigkeit“ – heute würden wir sagen: in Demokratie, sozialer Marktwirtschaft und Rechtsstaatlichkeit – analog dem Gesetz des „geringsten Mittels“ gestaltet ist und gestaltet werden muss, welches das göttliche Handeln in der Geschichte bezeichnet. So sei das göttlich-vorhersehende Handeln, so Rosmini, nicht dadurch gekennzeichnet, dass es in die Freiheit und Eigenverantwortung des Menschen eingreift. Göttliches Handeln ist dagegen als die Unterstützung, Bekräftigung und Vervollkommnung der menschlichen Freiheit zu verstehen. Darin werde die „Logik der Freiheit” deutlich, die bereits göttliches Handeln kennzeichnet. Ist der Mensch nun, wie bereits Thomas von Aquin herausgestellt hatte, „sich selbst Vorsehung“, so wird nun deutlich, wie sehr dieser mittelalterliche Denker bereits die freiheitlich-subjektive Grundlegung der gesellschaftlichen Ordnung vorwegnimmt. Sowohl göttliches als auch menschliches Handeln ist „vorsehend” – darin ist der Mensch Ebenbild Gottes.Dabei ist es durchaus Kennzeichen der menschlichen Freiheit, dass sie sich auch zum Schlechten wenden kann. Diese Möglichkeit – die Wahlfreiheit – muss gegeben sein, damit es sich überhaupt um Freiheit handeln kann. Der Verdienst kann immer nur vor dem Hintergrund der potentiellen Möglichkeit des Scheiterns konzipiert werden. Dies schließt einen geschichtlichen oder natürlichen Determinismus aus. Göttliche Vorsehung kann also nicht nach einem dieser beiden Muster gedacht werden. Dies würde gegen die von Gott selbst geschaffenen menschliche Freiheit verstoßen – seine Schöpfung würde „perfektistisch“ und damit freiheitsavers. Genauso – analog hierzu – darf auch auf der Ebene der menschlichen Gestaltung der gesellschaftlichen Ordnung nicht auf eine Übergehung dieser Freiheit gebaut werden. Die Freiheit des Menschen ist das letzte und grundlegendste Argument gegen den perfektistischen und paternalistischen Staat. Denn die Freiheit verwirklicht sich nach der Ordnung des „hinreichenden Grundes“ (des „geringsten Mittels“) und darf nicht einem „vorherrschenden Grund“ geopfert werden. Mit dem „hinreichenden Grund” ist mithin kein logisches oder kausales Prinzip angegeben, sondern ein Prinzip der Freiheit zur personal-ethischen Gestaltung der Gesellschaft. Dieses Freiheitsverständnis ist, recht besehen, der Mittelweg

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zwischen einem staatlichen Konstruktivismus und einer die Eigenverantwortung zunichte machenden Willkürfreiheit. Die Freiheit steht damit im Dienst an der Realisierung der menschlichen Würde, für sich und die anderen Vorsehung zu sein. In diese Dynamik werden die ökonomische und die politische Vernunft einbezogen und integriert.Damit dieses Gesetz zum Gesetz der Freiheit werden kann, muss es jeden Moralismus bzw. die „Tyrannei der Werte“ vermeiden, darf aber weder in eine vollkommene Relativierung oder Umkehrung der Werte führen, wie dies Mandeville thematisierte, demzufolge im wirtschaftlichen Geschehen die Tugenden durch Laster ersetzt wird, noch ein einen Hayekschen Indifferentismus auf politischer Ebene In beiden Konzeptionen sucht man vergebens nach dem Kriterium der moralischen Freiheit, die das Gerechte einbeziehen. In diesem Sinn müssen der Staat und die wirtschaftliche Rahmenordnung der nicht individualistischen, sondern personal zu verstehenden Freiheit weitaus mehr Platz machen. Sie dürfen nicht in eines der beiden Extreme einer moralischen Indifferenz den Tugenden gegenüber oder dem „ethischen Staat“ verfallen. Dies drückt Rosmini etwa im politischen Gesetz aus, demzufolge es darum geht «sicherzustellen, dass in der Welt so wenig Tugend wie möglich gebraucht wird», was heißen will, dass auf sozialer Ebene, auf der Ebene der sozialen Systeme, die Ordnungen umso besser funktionieren, je weniger sie auf moralischen oder tatsächlichen Forderungen beruhen. So zeichnete sich das vorneuzeitliche Staats- und Wirtschafssystem dadurch aus, von dem Einzelnen die Beachtung eines Tugendkataloges einfordern zu müssen. Diese Forderung gestaltete sich mithin gegen die Freiheitlichkeit der Personwürde. Somit wirkt die moderne Konzeption in erster Linie der Tendenz zum „ethischen Staat“ entgegen. Dagegen war es die Kantische Auffassung, dass «es nur von einer guten Organisation des Staates abhängt (und dessen sind die Menschen fähig), dass die menschlichen Kräfte wechselseitig verbunden werden»; und es sind die Gesetze, welche das Funktionieren des Staates mit dem Einsatz des „geringsten Mittels“ garantieren.Dies bedeutet nicht, dass nun die Rahmenordnung das Moralpotential realisiert und damit die moralischen Forderungen an den Einzelnen erschöpft. Oder dass der Einzelne nun, um gesellschaftlich erfolgreich zu sein, gar den Untugenden

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nachgehen könne oder müsse, wie dies Mandeville konzipierte. Nach wie vor werden auch heute Tugenden gebraucht – ja in der Krise der Freiheit mehr denn je. Denn die wirtschaftlich-politische Rahmenordnung nach dem christlichen Menschenbild, wie sie die Moderne letztlich geprägt hat, folgt weder Mandeville, noch Hayek, welcher jegliche Form von „sozialer Gerechtigkeit“ zum Atavismus erklärte, damit die sozialen Systeme von der Gerechtigkeitsfrage entlastete und diese ganz dem Individuum aufbürdete. Denn durch die christliche Ablehnung eines paternalistischen oder assistentialistischen Staates wird noch lange kein „Minimalstaat“ oder „Nachtwächterstaat“ verteidigt. Ein starker Staat – nicht im Sinne des „ethischen Staates“ – ist dadurch ausgezeichnet, auf einer starken, weil funktionstüchtigen Ordnung zu beruhen, die die Aufgabe hat, in «den Menschen die Versuchungen gegen das Ehrenwerte und das Gerechte zu vermindern»; oder mit eher modernen Worten: die richtige, d. h. an der Gerechtigkeit der personal-ethischen Würde ausgerichtete, Anreizstruktur zu schaffen. Diese eher „negative“ oder „indirekte“ Funktion des Staates, die auf der „moralischen Freiheit“ beruht, steht dabei in vollem Einklang mit dem Böckenförde-Axiom, demzufolge der Staat nicht positiv jene moralische und kulturelle Basis „herstellen“ kann, auf der er jedoch beruht. Dies verurteilt ihn nicht zur Passivität, aber zum Handeln gemäß des «geringsten Mittels» bzw. auf indirekte Weise, indem er die juridisch-formelle Ordnung bereitstellt, innerhalb derer die «Versuchungen gegen das Ehrenhafte und Gerechte» reduziert sind und die richtigen Anreize für das Handeln freier Personen geschaffen sind. Der Staat muss es auf sozialer Ebene ermöglichen, dass sich die „moralische Freiheit“ realisiert, die er allerdings nicht selbst durchsetzen kann. Nur auf diese Weise wird die „moralische Freiheit“ zur Voraussetzung des Staates selbst.Auf diese Weise formulieren das christliche Menschenbild und die Vorsehungsidee Grundsätze für die Gestaltung der sozialen Systeme, dass es darum geht, Freiheitspotentiale der Menschen zu nutzen und sie nicht aus Angst ihres Missbrauchs einzuschränken oder zu negieren. Somit meint die „Neutralität” des Staates keinesfalls Indifferenz, denn das Gesetz des «geringsten Mittels» realisiert die „Logik der personalistischen Freiheit“. Diese wird zur Basis der Politik, da sie die Konstitution des Staate „gemäß der

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sozialen Gerechtigkeit“ bestimmt. Auf diese Weise wird das politische Handeln beschränkt und das Abgleiten in den Despotismus des „Perfektismus“ verhindert. Konstitutionalismus und Gesetz des «geringsten Mittels» sind mithin gegenseitig aufeinander bezogen. Somit wird nochmals deutlich, wie die freiheitlich-demokratisch-rechtsstaatliche Grundordnung zum Rahmen und Kriterium wird, durch welches die menschliche Würde den wirtschaftlichen und politischen Ordnungen konkrete Form verleiht.Christliche Tugenden erweisen daher ihren Wert nicht nur in der Jenseitsausrichtung, sondern sind selbst politische Tugenden und Bürgertugenden.

11. Das Christentum als Motor auch im Zeitalter der Globalisierung

Es war Wilhelm Röpkes Vorschlag, «für ein Jahr» auf Schlagwörter und ideologische Ausflüchte zu verzichten und in frischer und nicht abgenutzter Weise, mit Einfachheit und Klarheit, die politischen Grundtermini neu zu durchdenken. Nach der Wende schien es, als sei die Stunde dazu gekommen. Viele legten jedoch die alten Schlagwörter beiseite, ohne sie zu reflektieren und ohne das Interesse, ihren ethischen Gehalt neu zu überdenken. Damit folgte man nicht der Mahnung Johannes Pauls II. in der Enzyklika Centesimus annus. Und in der Zwischenzeit, in der Tat, sind wir aber wieder in alte Grabenkämpfe zurückgefallen, die nun aber so zugespitzt sind, dass nicht mehr der personal-ethische Gehalt dahinter durchscheint, um den es eigentlich gehen sollte.Das christliche Verständnis von Menschenwürde gibt Religion und Familie als Voraussetzungen an, von denen der Staat lebt. Indem diese beiden Wirklichkeiten, in denen sich ursprünglich und vor dem Staat menschliche Freiheit ausdrückt, subsidiär über die Person bestimmt sind und nicht institutionell verfügt werden, lässt sich hieraus kein „ethischer Staat“ ableiten – der Staat soll nicht diese Realitäten garantieren oder schaffen, sondern Freiraum für sie lassen. Aber gerade dies scheint ihm heute am schwersten zu fallen. Darin zeigt sich, dass er weit weg von jenem „starken Staat“ ist, wobei seine Stärke nicht in Macht, sondern in rechtsstaatlicher Autorität bestehen

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sollte, um die menschliche Person und ihre Würde in der politisch-wirtschaftlich-sozialen Ordnung hervortreten zu lassen, indem er institutionell Freiräume für sie schafft und diese Freiräume auch durchsetzt. Dazu darf der Staat nicht positiv Religion und Familie definieren, sondern muss ihnen ihren subsidiären Freiraum lassen. Dies ist beileibe nicht wenig, fordert aber ein nicht problemloses Umdenken. Nur mit diesem Umdenken lässt sich aber den Herausforderungen der Globalisierung begegnen, welche gerade in diesen beiden Bereichen eine neue und gesellschaftlich ungewohnte Situation präsentiert: Denn wir haben es mit einer religiösen Pluralisierung der Gesellschaft und einem Verfall des klassischen Familienbildes zu tun. Eine christlich orientierte Politik wird diesbezüglich nicht traditionalistisch, sondern sucht, die christlich-anthropologische Dimension dieser Fragen im Kontext der neuen Herausforderung zu denken.Diesbezüglich ist es heute Aufgabe der Christen in der Gesellschaft, eine Art “archäologische Arbeit” zu leisten und die christlichen Elemente der Strukturen unserer Ordnugn und unserer Gesellschaft aufzudecken. Es geht darum, in der Gesellschaft von neuem das Bewusstsein über deren Grundlage im christlichen Menschenbild zu schaffen. Reinhard Marx bemerkte in diesem Zusammenhang, durch die «Adern dieser Gesellschaft» fließe «subkutan christliches Blut». Dieser Art sind die juridischen Prinzipien der Menschenwürde, der Solidarität und der Subsidiarität, die man nicht bejahen kann, wenn man gleichzeitig die transzendente Fundierung und Grundrelation des Menschen negiert. In diesem Sinne kommt dem Christentum eine bedeutende und einzigartige öffentliche Rolle zu und hierin hat es eine unverkürzbare Verantwortung für die Gesellschaft. Böckenförde schließt den Aufsatz, in welchem er das berühmte Axiom formuliert hat, mit der Frage, ob «se anche per lo Stato mondano secolarizzato, in ultima analisi, non sia necessario vivere degli impulsi e delle forze vincolanti che la fede religiosa trasmette ai suoi cittadini. Certo non nel senso che lo si riconfiguri di nuovo come Stato “cristiano”, ma invece nel senso che i cristiani, comprendano questo Stato, nella sua laicità, non più come qualcosa di estraneo e nemico della loro fede, bensì come l’opportunità della libertà, che è anche loro compito preservare e realizzare». Die Öffentlichkeitsrelevanz des Christentums befindet sich damit in den Strukturen des liberalen und säkularisierten Staates, der sich auf die Menschenwürde, die

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negative und positive Religionsfreiheit und auf die Prinzipien Solidarität und Subsidiarität gründet. Als Religion in der Gesellschaft identifiziert es sich nicht mit der staatlichen Ebene, sondern findet gerade in der Trennung von diesem jenen Freiraum, um seinen eigenen, konstruktiven Beitrag zur Stabilität von Gesellschaft und Staat zu leisten. Dass das Christentum diesen Beitrag aber nur unter freiheitlichen Voraussetzungen des Staates, d. h. auf der Basis einer Trennung von Staat und Kirche leisten kann, da es sich sonst mit jenen politischen Mechanismen vermischt, die seiner religiösen Kraft die politisch-konstruktive Dimension rauben, davon waren die liberalkatholischen Denker der Neuzeit zutiefst beseelt.Im Zeitalter der Globalisierung verschwindet nicht der Staat, wie oft zu hören ist. Aber er wandelt sich, er wird subsidiär. Die Gesellschaft und damit auch die Religion und die Familie rücken in ihre Verantwortungsposition ein. Aber dies können sie nur, wenn sie darauf vorbereitet sind. In der Vergangenheit ist sie entwöhnt worden, aktiv zu sein und einzustehen. In diesem Sinn gilt es in der Zeit der Globalisierung größere Aufmerksamkeit auf die bislang ethisch verbrämten Elemente Verantwortung, Wettbewerb und Risiko zu setzen und sie als positive Herausforderungen an das christliche Menschenbild zu erkennen. Sie sollen die Gesellschaft nicht entsolidarisieren, können aber gerade auf der Basis der grundlegenden Solidarität zu Schlagworten einer im Zeichen des Freiheitsgedankens erneuerten Ordnung werden. Dazu muss das Bild eines Staates verändert werden, der bislang nach gegenteiligem Muster arbeitete und den Individuen viel abgenommen hat. Oder mit anderen Worten: Hat der Mensch heute, nach der Epoche der Erfahrungen des Vaters Staat, die persönlichen Voraussetzungen für mehr Freiheit? Wie kann ein stabiles Individuum als Voraussetzung, die der Staat nicht garantieren kann, entstehen? Dies kann der Mensch, so die Überzeugung des christlichen Menschenbildes, nicht leisten, ohne auf die ursprünglichen Dimensionen von Religion und Familie, auf „Geben“ und „Vergeben“, zu bauen.Dazu bedarf es aber auch vernünftiger Analyse. Heute macht sich jedoch radikales Misstrauen gegen die Vernunft breit – und damit ist auch die politische Vernunft in Gefahr. Gerade die Enzyklika Fides et ratio von 1998 weist auf ein «radikales Misstrauen gegen die Vernunft» hin und ruft die Christen auf, sich für die Vernunft einzusetzen. Und nach Benedikt XVI ist im

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Christentum «Aufklärung Religion geworden und nicht mehr ihr Gegenspieler». In diesem Sinne müssen sich gerade Christen heute durch vernunftbasierte Analyse und Lösungskonzepte auszeichnen. Dies ergibt sich aus dem christlichen Menschenbild. Darin erweisen die Christen heute ihre Öffentlichkeitsrelevanz. So leisten sie einen Beitrag zur Überwindung der Krise der Freiheitsidee, in welcher die Crux der heutigen sozialen und wirtschaftlich-politischen Probleme besteht. So bewahrheitet sich, was bereits Röpke formulierte: «Die Krise unserer Gesellschaft ist die Krise des Liberalismus». Und weiterhin betonte er: «Si può osare l’affermazione che un bon chrétien est un liberal qui s’ignore».

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