Prokla167

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  • PROKLA 167 Zeitschrift fr kritische Sozialwissenschaft

    42. Jahrgang Nr. 2 Juni 2012 H20729

    Perspektiven der Gesellschaftskritik heute

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    ISSN 0342-8176ISBN 978-3-89691-367-8

    Silke van DykPoststrukturalismus. Gesellschaft. Kritik ber Potenziale, Probleme und Perspektiven

    Hanno PahlGenealogisch-poststrukturalistische konomiekritik und Kritik der politischen konomie Eine Aufforderung zum Tanz

    Barbara UmrathJenseits von Vereinnahmung und eindimensionalem Feminismus Perspektiven feministischer Gesellschaftskritik heute

    Robin Mohan, Daniel KeilGesellschaftskritik ohne Gegenstand Axel Honneths Anerkennungstheorie aus materialistischer Perspektive

    Harald WolfGesellschaftskritik und imaginre Institution Zur Aktualitt von Cornelius Castoriadis

    Daniel LoickUniversitt und Polizei Jacques Rancire ber intellektuelle Emanzipation

    Thomas SeibertHumanismus nach dem Tod des Menschen Flucht und Rckkehr des subjektiven Faktors der Geschichte

    Anne StecknerNeoliberal-Islamische Synthese in der Trkei: Der Herrschaftsmodus der AKP

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    2012 - 219 Seiten - 19,90

    In diesem Buch wird Verstndigungsarbeit geleistet: Ausge-hend von Gramscis in den Gefngnisheften formulierten Thesen stellt Benjamin Opratko Anstze vor, die Hege-monie als Referenzkonzept nutzen, aber mit Gramsci ber Gramsci hinaus denken.

    Einstiege Grundbegriffe der Sozialphilosophie

    und Gesellschaftstheorie

    2012 - 219 Seiten - 19,90

    Wie knnen wir die Stabilitt des Kapitalismus erklren? Auf welche Weise wird er alltglich reproduziert? Warum erscheint er selbst durch globale Krisen hindurch vie- len als alternativlos?

    Neu

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  • Heft 167 42. Jahrgang 2012, Nr. 2

    PROKLA Zeitschrift fr kritische Sozialwissenschaft

    Die PROKLA wird herausgegeben von der Vereinigung zur Kritik der politischen konomie e.V., die jhrlich in ihrer Vollversammlung die Redaktion der Zeitschrift whlt.Redaktion: Alex Demirovi, Silke van Dyk, Michael Heinrich (geschftsfhrend, presserechtlich verantwortlich), Martin Kronauer, Henrik Lebuhn, Stephan Lessenich, Sabine Nuss, Thomas Sablowski, Stefan Schmalz, Dorothea Schmidt Redaktionsbeirat: Margit Mayer, Klaus Mller, Urs Mller-Plantenberg, Christoph Scherrer, Rudi Schmidt, Gnter Thien, Ulf Kadritzke, Gudrun Trautwein-Kalms In der Zeitschrift PROKLA werden seit 1971 Themen aus den Bereichen der Politischen konomie, der Politik, Sozialgeschichte und Soziologie bearbeitet. Im Zentrum stehen dabei gesellschaftliche Machtverhltnisse, Polarisierungen im internationalen System und das gesell-schaftliche Natur verhltnis. Die Hefte werden jeweils nach thematischen Schwerpunkten zu-sammengestellt.Der Inhalt der letzten Hefte ist auf den letzten Seiten aufgelistet. Die Schwerpunkte der nch-sten Nummern (siehe auch die Call for Papers unter www.prokla.de) sind: PROKLA 168 September 2012 EU und Euro in der Krise PROKLA 169 Dezember 2012 Konzentration des Kapital und Perspektiven kapitalistischer EntwicklungDie Redaktion ldt zur Einsendung von Manuskripten ein. Eine Haftung kann nicht ber-nommen werden. Die Beitrge sollten sich in einem Umfang von 12-25 Seiten (max. 50.000 Zeichen) halten (amerikanische Zitierweise, Bibliographie am Ende des Texts, ein Merkblatt zur formalen Gestaltung der Artikel kann von unserer Website www.prokla.de heruntergeladen werden). Manuskripte bitte stets in elektronischer Form an [email protected] einsenden. Die PROKLA erscheint regelmig mit vier Nummern im Jahr mit einem Gesamtumfang von mindestens 640 Seiten. Jedes Heft kostet im Jahresabonnement 9,50 , im Einzelverkauf 14 . Abonnements erhalten Sie ber eine Buchhandlung oder ber den Verlag (Postkarte im Innern des Hefts). Wenn Sie ber den Verlag abonnieren, erhalten Sie von einer Versandbuchhandlung, die mit dem Verlag kooperiert, eine Vorausrechnung fr die nchsten Hefte (38,- plus Porto). Nach Bezahlung erhalten Sie die Hefte jeweils nach Erscheinen sofort zugeschickt. Das Abonnement kann mit einer Frist von 8 Wochen zum Jahresende schriftlich gekndigt werden.Postanschrift: PROKLA-Redaktion, Postfach 100 529, D-10565 Berlin; Tel.: (030) 3 95 66 22;

    E-mail: [email protected]; Internet: http://www.prokla.deVerlagsadresse: Verlag Westflisches Dampfboot, Hafenweg 26a, 48155 Mnster,

    Telefon (02 51) 39 00 48-0, FAX (02 51) 39 00 48 50; E-mail: [email protected], Internet: http://www.dampfboot-verlag.de

    Vertrieb an Einzelkunden: Germinal GmbH, Siemensstr. 16, D-35463 Fernwald, Tel.: +49 (0) 641 / 4 17 00, E-mail: [email protected]

    Vertrieb an Institutionen/Buchhandlungen: Prolit Verlagsauslieferung, Siemensstr. 16 D-35463 Fernwald, Tel.: +49 (0) 641 / 9 43 93 33, Fax: +49 (0) 641 / 9 43 93 39; E-mail: [email protected]

    2012 Verlag Westflisches Dampfboot. Alle Rechte, auch das der bersetzung vorbehalten. Druck und Bindung: Rosch-Buch Druckerei GmbH, SchelitzDieser Ausgabe liegt ein Prospekt von Mittelweg 36 bei.ISSN 0342-8176 ISBN 978-3-89691-367-8

    GUTE BUCHLDEN, IN DENEN DIE PROKLA ZU HABEN IST: Augsburg Probuch Ggginger Str. 34 Bamberg Collibri Austr. 14 Berlin Argument Buchladen Reichenberger Str. 150Berlin Motzbuch Motzstr. 32 Berlin OH*21 Oranienstr. 21 Berlin Pro qm Almstadtstr. 48-50 Berlin Schwarze Risse Gneisenaustr. 2 Berlin Schwarze Risse Kastanienallee 85 Berlin Schweitzer Sortiment Franzsische Str. 13/14 Bielefeld Eulenspiegel Buchladen Hagenbruchstr. 9 Bielefeld Buchhandlung in der Uni Universittsstr. 1 Bochum Notstand e.V. Universittsstr. 150 Bochum Universittsbuchhandlung Brderstr. 3 Bonn Buchladen 46 Kaiserstr. 46 Braunschweig Guten Morgen Buchladen Bltenweg 87 Bremen Albatros Buchversand Fedelhren 91 Bremen Buchladen in der Neustadt Lahnstr. 65 B Bremen Buchladen im Ostertor Fehrfeld 60 Darmstadt Georg-Bchner-Buchladen Lautenschlgerstr. 18 Dortmund Buchladen Litfass Mnsterstr. 107 Dortmund Taranta Babu Humboldtstr. 44 Dresden Im Kunsthof Bucher Str. 31 Dsseldorf Buchhandlung BiBaBuze Aachener Str. 1 Essen Heinrich-Heine-Buchhandlung Viehofer Platz 8 Flensburg Carl v. Ossietzky Buchhandlung Groe Str. 34 Frankfurt Karl-Marx-Buchhandlung Jordanstr. 11 Frankfurt Land in Sicht Rotteckstr. 13 Frankfurt Uni-Buch Jgelstr. 1/Studentenhaus Frankfurt Theo Hector Grfstr. 77 Frankfurt Ypsilon-Buchladen Bergerstr. 18 Freiburg Jos Fritz Wilhelmstr. 15 Gieen Ricker'sche Universittsbuchhandlung Ludwigsplatz 12-13 Gttingen Buchladen Rote Strae Nikolaikirchhof 7 Hamburg Buchhandlung im Schanzenviertel Schulterblatt 55 Hamburg Buchladen in der Osterstrae Osterstr. 171 Hamburg Heinrich-Heine-Buchhandlung Grindelallee 26 Hannover Buchladen Annabee Stephanusstr. 12-14 Kassel ABC-Buchladen Goethestr. 77 Kln Der andere Buchladen GmbH Weyertal 32 Kln Der andere Buchladen GmbH Wahlenstr. 1 Kln Der andere Buchladen GmbH Ubierring 42 Konstanz Zur Schwarzen Gei Am Obermarkt 14 Krefeld Der andere Buchladen Donysiusstr. 7 Lneburg Delbanco Bessemerstr. 3 Mannheim Der andere Buchladen M 2, 1 Marburg Buchhandlung Roter Stern Am Grn 28 Mnchengladbach Prolibri-Buchladen Schillerstr. 22-24 Mnchen Arabella Versandbuchhandlung Wimmerstr. 5 Mnchen Basis Sozialwiss. Fachbuchh. Adalbertstr. 41 B Mnster Rosta-Buchladen Aegidiistr. 12 Nrnberg Ex Libris Bismarckstr. 9 Oldenburg Carl-von-Ossietzky Buchhandlung Uhlhornsweg 99Osnabrck Buchhandl. Dieter zur Heide Osterberger Reihe 2-8 Potsdam Buchladen Sputnik Charlottenstr. 28 Ratingen Buchcaf Peter & Paula Grtstr. 3-7 Tbingen Rosalux Lange Gasse 27 Saarbrcken Der Buchladen Frsterstr. 14 Siegen Bcherkiste Bismarckstr. 3 Wiesbaden Buchh. Otto Harrassowitz Taunusstr. 5 Wrzburg Buchladen Neuer Weg Sanderstr. 33-35 A-Graz dradiwaberl Zinzendorfgasse 25 A-Wels Buchhandlung Infoladen Wels Spitalhof 3 A-Wien Lhotzkys Literaturbuffet Rotensterngasse 2 A-Wien Karl Winter Rathausstr. 18

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  • PROKLA 167

    Perspektiven der Gesellschaftskritik heute

    PROKLA-Redaktion: Editorial . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178Silke van Dyk: Poststrukturalismus . Gesellschaft . Kritik ber Potenziale, Probleme und Perspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185

    Hanno Pahl: Genealogisch-poststrukturalistische konomiekritik und Kritik der politischen konomie Eine Aufforderung zum Tanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211

    Barbara Umrath: Jenseits von Vereinnahmung und eindimensionalem Feminismus . Perspektiven feministischer Gesellschaftskritik heute . . . . . . . 231

    Robin Mohan, Daniel Keil: Gesellschaftskritik ohne Gegenstand Axel Honneths Anerkennungstheorie aus materialistischer Perspektive . . .249

    Harald Wolf: Gesellschaftskritik und imaginre Institution Zur Aktualitt von Cornelius Castoriadis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .267

    Daniel Loick: Universitt und Polizei Jacques Rancire ber intellektuelle Emanzipation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .287

    Thomas Seibert: Humanismus nach dem Tod des Menschen Flucht und Rckkehr des subjektiven Faktors der Geschichte . . . . . . . . . . . .305

    Auerhalb des Schwerpunkts

    Anne Steckner: Neoliberal-Islamische Synthese in der Trkei: Der Herrschaftsmodus der AKP . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .327

    Summaries . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .348Zu den AutorInnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 350

  • 178 PROKLA-Redaktion

    PROKLA-Redaktion

    Editorial: Perspektiven der Gesellschaftskritik heute

    Editorial

    Das Verhltnis von Kapitalismus und Kritik ist ein politischer wie gesellschafts-theoretischer Dauerbrenner mit kon-junkturellen Schwankungen, und es ist unbestreitbar, dass wir im Nachgang der Finanzmarktkrise im Herbst 2008 und der sich anschlieenden Folgekrisen eine Kritik-Renaissance ungeahnten Ausmaes und mit zum Teil wahrhaft erstaunlichen ProtagonistInnen erleben . Groe Teile des eher kritikunverdchtigen Feuilletons verschrieben sich pltzlich (und mit kurzer Halbwertszeit) mit radikaler Rhetorik der Kritik des Kapitalismus: So war in der libe-ralen ZEIT (27 .7 .2009) zu lesen: Der Ka-pitalismus ist genauso gescheitert wie der Sozialismus . Diese Krise ist das Symptom eines fundamentalen Wandels, es sind die Geburtswehen fr eine neue Welt . So et-was hat in der Geschichte mglicherweise noch nie stattgefunden . Die Frankfurter Allgemeine Zeitung rief Kapitalismuskritik als neues heies Thema aus und auch wenn die Titelberschrift We are all socialists now des Magazins Newsweek (6 .2 .2009) ironisch grundiert ist, trifft sie doch den Geist insbesondere der ersten Monate nach der Insolvenz von Lehman Brothers . Sys-temkritik war pltzlich en vogue . Ginge es tatschlich nur um eine feuilletonistische Kritikblase, wre das zwar nicht uninter-essant, aber doch nicht von nachhaltiger Bedeutung . Tatschlich aber wurde das Jahr 2011 mit dem Arabischen Frhling, den heftigen, andauernden Protesten in

    Griechenland, der spanischen Bewegung des 15 . Mai, den Sozialprotesten in Israel (vgl . dazu PROKLA 166) sowie der Ent-stehung und Ausbreitung der Occupy-Bewegung zum Jahr der globalen Proteste . The protester avancierte gar zur vom Time Magazine gekrten Person des Jahres . Die mediale und politische Begeisterung fr die Occupy-Bewegung reichte so weit in den Mainstream hinein, dass die Abwehr fal-scher Freunde schnell zur zentralen bung der jungen Bewegung wurde .

    Zwei Bcher, die unterschiedlicher nicht sein knnten, begleiteten die Pro-teste in den westlichen Metropolen und wurden in vielen europischen Lndern zu unerwarteten Verkaufsschlagern: Zum einen Stephane Hessels Flugschrift Em-prt euch ein humanistisch grundier-ter, uerst allgemein gehaltener Aufruf, sich einzumischen, ein Pldoyer gegen die Indifferenz der Massen, gegen soziale Un-gleichheit, Finanzkapital und Rassismus . Obwohl der kurze Text analytisch nicht viel zu bieten hat, traf und trifft er ganz of-fenkundig einen Nerv der Zeit, wobei das Alter und die Biographie des 93-jhrigen ehemaligen Rsistance-Kmpfers, KZ-berlebenenden und Diplomaten fr den Erfolg des Textes wohl entscheidend sind . Ganz anders das Buch Der kommende Aufstand des Unsichtbaren Komitees, das bereits seit 2007 in Frankreich und seit 2010 in deutscher bersetzung groe Aufmerksamkeit erlangte und dessen

  • 179Editorial

    AutorInnen anonym eben unsichtbar bleiben . Getreu der Devise Die Katas-trophe ist nicht das, was kommt, sondern das, was da ist werden mit anarchistischer Emphase Symptome des Zusammenbruchs der westlichen Demokratien zusammenge-tragen und in poetischer Sprache die Kraft gewaltsamer Aufstnde beschrieben .1

    Das in der Nachfrage nach so unter-schiedlichen Statements seinen Ausdruck findende groe Interesse an einer Kritik, die ber das politische Alltagsgeschft hinausweist, hat einen neuen Resonanz-raum fr theoretische Krisenanalysen und Gesellschaftsdiagnosen geschaffen . Seit Beginn der 2000er Jahre lt sich eine beachtliche Zahl von Verffentlichungen und AutorInnen feststellen, die der kri-tischen Gesellschaftstheorie, der politi-schen Theorie, der Kritik der politischen konomie oder der feministischen und Queer-Theorie neue Impulse geben . Auch der Kritik-Begriff selbst ist mittlerweile zum Gegenstand einer Reihe von Verf-fentlichungen geworden (vgl . Demirovi 2008; Jaeggi/Wesche 2009; Forst u .a . 2009; Celikates 2009) .2 Mit den Heften ber Marx und Foucault (PROKLA 151, 2008), ber Sozialismus? (PROKLA 155, 2009), ber Marx! (PROKLA 159, 2010), ber Gesellschaftstheorie im An-

    1 Stephane Hessel: Emprt Euch, Berlin: Ullstein 2011; Unsichtbares Komitee: Der kommende Aufstand, Hamburg: Edition Nautilus 2010 .

    2 Alex Demirovi (Hrsg .): Kritik und Mate-rialitt, Mnster 2008; Robin Celikates: Kritik als soziale Praxis. Gesellschaftliche Selbstverstndigung und kritische Theorie, Frankfurt/M . 2009; Rainer Forst u .a . (Hrsg .): Sozialphilosophie und Kritik, Frankfurt/M . 2009; Rahel Jaeggi, Tilo We-sche (Hrsg .): Was ist Kritik? Frankfurt/M . 2009 .

    schluss an Marx (PROKLA 165, 2011) hat auch die PROKLA zu dieser notwendigen Diskussion beigetragen . Dabei ging es der Redaktion darum, sich zwei komplemen-tren Einseitigkeiten entgegenzustellen . Zum einen sollte das an Marx anschlie-ende Projekt der Kritik der Gesellschaft nicht nur in diese Diskussion eingebracht werden, die erkennen lsst, dass sie diese Theorietradition weiterhin mit einem Tabu belegt, sondern es sollten auch seine Po-tenziale im Zusammenspiel mit neueren Anstzen radikaler Gesellschaftskritik ref lektiert werden . Zum anderen sollte deutlich gemacht werden, dass die Kritik der politischen konomie und die daran anschlieende Tradition der Gesellschafts-theorie gerade in Zeiten brachialer (nicht nur) feuilletonistischer Verkrzungen Marxschen Denkens nicht auf eine bloe Kritik des Wirtschaftssystems und der entfremdenden Macht des Markt re-duziert werden darf .

    Mit dem vorliegenden Heft 167 weiten wir den theoretischen Blick und wenden uns gesellschaftskritischen Perspektiven nach dem cultural und discursive turn zu: Im Spannungsfeld von Postmarxismus und Poststrukturalismus, von Cultural Studies und Kritischer Theorie, von fe-ministischer Kritik und theoretischen Grenzgngern wie Cornelius Castoriadis fragen die AutorInnen dieses Heftes, ob und inwiefern wir mit, gegen und ber diese Perspektiven hinaus das Projekt der Gesellschaftskritik als kritische Praxis in den aktuellen Konstellationen den-ken knnen . Wie verhalten sich Theorie, Kritik und Praxis zueinander? Wo finden aktuelle gesellschaftskritische Anstze ihre theoretischen wie praktischen Ansatz- und Ankerpunkte? Wie knnen im Lichte der seit drei Jahrzehnten aus unterschiedlichen Perspektiven entwickelten Wahrheits-, Subjekt- und Universalittskritik(en)

  • 180 PROKLA-Redaktion

    kritische Standpunkte eingenommen und ausgewiesen werden? Welche Anschlsse an materialistische Kritiken bieten sich an? Was bedeutet Gesellschaftskritik fr theoretische Anstze, die Gesellschaft als Bezugsgre problematisieren und an die Stelle der groen Ordnung und Teleo-logie ein dezentrisches und anarchisches Weltbild setzen? Und wie sind die aktu-ellen Entwicklungen in den Bewegungs-zonen zwischen Akademie und Politik zu bewerten, die in der gegenwrtigen Krise des Kapitalismus sicher nicht zufl-lig auf eine Suche nach Denkangeboten hinauslaufen, die ber Wahrheits-, Univer-salismus- und Subjektkritik hinausweisen?

    Immer wieder wird der Vorwurf vorge-bracht, dass die Gesellschaftsanalysen und Kritiken, die aus den Protestbewegungen der 1960er und 1970er Jahre hervorge-gangen sind, bei all ihrer Radikalitt von der neoliberalen Strategie vereinnahmt und genutzt worden seien, um mit ihnen den Kapitalismus zu revolutionieren . In der Folge sei von den emanzipatori-schen Gehalten dieser Theorien wenig oder gar nichts brig geblieben wenn sie jemals welche hatten . Tatschlich wird heute auch von denen, die sich dem Poststrukturalismus oder Postmarxismus zurechnen, darauf hingewiesen, dass die theoretische Emphase fr das Fluide und Nicht-Fixierbare ebenso wie der anti-institutionelle Gestus und der Fokus auf Prozesse der Subjektivierung Anschlsse an Flexibilisierung, De-Regulierung und Entstaatlichung im Neoliberalismus bie-ten knnen . Wir verstehen die PROKLA-Hefte demgegenber als Ansto zu einer rettenden Kritik, sofern diese berhaupt notwendig ist . Denn wir vermuten, dass die Theoriebildung der spten 1960er Jahre und die davon ausgehenden Impulse ein Kritikprogramm hervorgebracht hat, das immer noch unabgegolten ist . Entspre-

    chend fragen verschiedene AutorInnen die-ses Heftes danach, ob und inwiefern eine solche Entwicklung durch die angefhrten Theorien sowie die an sie anschlieenden Bewegungen ermglicht wurde und wie der Gefahr der ungewollten Vereinnah-mung zu entgehen ist . Konsequenterweise steht damit die unterschiedlich gestellte und beantwortete Frage im Zentrum des Heftes, wie im Sinne einer radikalen Gesellschaftskritik die Problematisierung von Subjekt(ivierung), gesellschaftlicher Totalitt und Wahrheit mit einer kapita-lismuskritischen Thematisierung sozialer und konomischer Fragen zusammenzu-fhren ist .

    Silke van Dyk greift in ihrem Beitrag das vielfach artikulierte Unbehagen ob der Analysekraft und des Kritikpotenzi-als von Poststrukturalismus und Cultural Studies auf, und konfrontiert das theore-tische Paradigma mit Fragen nach Kritik und Wahrheit, nach Ungleichheit und Herrschaft sowie nach der Analyse von Gesellschaft als groem Ganzen . Das gegenwrtige gesellschaftskritische Defi-zit des Poststrukturalismus kann, so ihre These, durch Denkfiguren des Paradigmas selbst eingeholt werden . Dafr sei es jedoch notwendig die partielle Selbstdestruk-tion und Entpolitisierung poststruktura-listischen Denkens zu berwinden, die im Zuge seiner akademischen Popularisierung zu beobachten sei .

    Hanno Pahl sammelt in seinem Beitrag Indizien dafr, dass es fr eine avancierte Gegenwartsanalyse kapitalistischer Verge-sellschaftung ergiebig ist, bestehende Span-nungen zwischen Poststrukturalismus und konomiekritik als Forschungsheuristik fruchtbar zu machen . Konkret zeigt Pahl auf, dass und wie eine genealogisch-post-strukturalistische konomiekritik als Korrektiv modernisierungstheoretischer bzw . subsumtionslogisch verfahrender

  • 181Editorial

    Lesarten Marxscher konomietheorie eingesetzt werden und dazu beitragen kann, die historische Trennschrfe sowie das Kontingenzbewusstsein kritischer Ka-pitalismustheorien zu vergrern .

    Barbara Umrath fragt danach, ob die seit geraumer Zeit zu beobachtende In-tegration feministischer Forderungen in den politischen Mainstream als Erfolg der Kritik oder eher als eine Art feindliche bernahme zu verstehen ist . In kritischer Auseinandersetzung mit Analysen zur Ver-einnahmung feministischer Kritik disku-tiert die Autorin, wie es zur Umdeutung feministischer Positionen kommen konnte und wie diese in Zukunft zu verhindern sind . Zentrale Annahme ist, dass der Fe-minismus nur dann seinen gesellschafts-kritischen Impetus zurckgewinnen kann, wenn er sich wieder strker polit-konomischen Entwicklungen zuwendet . Theoretisch empfiehlt die Autorin einen Anschluss feministischer Kritik an die frhe Kritische Theorie .

    Robin Mohan und Daniel Keil ent-wickeln eine materialistische Kritik der Anerkennungstheorie Axel Honneths . Mit der engen Anbindung der Anerken-nungstheorie an das Institut fr Sozialfor-schung werde so die Autoren suggeriert, dass ein kategorialer Rahmen entwickelt worden sei, der es ermgliche, die auch heute aufrecht zu erhaltenden Ansprche der Kritischen Theorie besser zu verwirk-lichen . Mohan und Keil argumentieren stattdessen, dass die kategorialen Umstel-lungen Honneths der zentralen Aufgabe kritischer Gesellschaftstheorie die kapi-talismusspezifische Form von Herrschaft und die Verhinderung von Emanzipation zu begreifen nicht gewachsen sei . Damit, so die These, wird Honneth seinem An-spruch nicht gerecht, den Zusammenhang von kritischer Theoriebildung und vern-dernder Praxis zu restituieren .

    Harald Wolf wiederum zeigt auf, dass das Werk des theoretischen Grenzgngers Cornelius Castoriadis einen wertvollen Beitrag zur Neuorientierung kritischen Denkens und emanzipatorischen Han-delns leisten kann . Castoriadis erffne einen neuen Blick auf die Bedingungen und Mglichkeiten von Gesellschaftskri-tik und setze in der Kapitalismusanalyse und -kritik andere Akzente als gegenwrtig dominierende Spielarten der Analyse und Kritik: Whrend diese die Kapitalismus-kritik primr als Marktkritik konzipierten, begreife Castoriadis den Kapitalismus als Organisations-, Rationalisierungs- und Kontrollprojekt . Daraus folge schlielich sein ausgeprgtes Interesse an Widerstand und praktischer Kritik im Alltag, die als Keime autonomer Vergesellschaftung ge-deutet werden .

    In den Debatten um Perspektiven ra-dikaler Gesellschaftskritik spielt die im weiteren Sinne postmarxistische politische Philosophie derzeit eine herausragende Rolle, weshalb zentrale Referenzautoren dieses Feldes so Jacques Rancire, An-tiono Negri, Alain Badiou oder Slavoj iek in diesem Heft nicht fehlen sollen . Daniel Loick beschftigt sich mit Jacques Rancires Beitrag zur Frage der intellektu-ellen Emanzipation . Rancire hat in seinen frhen Arbeiten eine radikale Kritik an den disziplinierenden Effekten staatlicher Bildung vorgelegt, die provokanterweise auch eine anarchistische Zurckweisung fortschrittlicher Reformprojekte beinhal-tet . In kritischer Reflexion von Rancires Prinzip der axiomatischen Gleichheit kommt Loick zu dem Schluss, dass Ran-cires anti-institutionelle Kritik am Bil-dungssystem zwar zu spontaneistisch und voluntaristisch ist und dass sie Gefahr luft Prozessen neoliberaler De-Regulierung und Entstaatlichung in die Hnde zu spie-len, dass sie aber dennoch instruktiv fr

  • 182 PROKLA-Redaktion

    gesellschaftskritische Reflexionen gngiger Bildungspraktiken ist .

    Thomas Seibert vermisst in seinem Beitrag das Spannungsfeld von poststruk-turalistischen und postmarxistischen Positionen und geht der Frage nach, wie ein Subjekt der Kritik zu restituieren ist . Whrend poststrukturalistische Theore-tiker wie Deleuze/Guattari und Foucault den Tod des Menschen verkndeten und den teleologischen Geschichtsverlauf des traditionellen Marxismus in einer pluralen Geschichte der Kontingenzen auflsten, versuchen Postmarxisten wie Hardt/Negri, Badiou und iek zu einem historischen Subjekt und einer materialistischen Te-leologie zurckzukehren . Seibert errtert, inwiefern diese Kritikbewegungen keinen Rckfall hinter poststrukturalistische Problematisierungen darstellen, erffne sich mit der Perspektive des Posthuma-nismus doch ein dritter Weg jenseits einer fruchtlosen Entgegensetzung von Post-strukturalismus und Postmarxismus .

    Auerhalb des Schwerpunkts unter-sucht Anne Steckner die islamische AKP, die seit 2002 in der Trkei mehrere Wahl-erfolge feiern konnte und inzwischen eine hegemoniale Stellung erreicht hat . Indem

    die Autorin die Politik der AKP in mehre-ren Feldern untersucht, macht sie deutlich, dass es sich hier um eine eigentmliche neoliberal-islamische Synthese handelt, die sich mit einer Mischung aus Konsens und Zwang eine unerwartet stabile Herr-schaftsposition verschafft hat .

    Dieses Heft wurde mit viel Engagement von Silke van Dyk als Gastredakteurin kon-zipiert, organisiert und inhaltlich gestaltet . Dafr danken wir ihr sehr herzlich .

    * * *

    Am 28 . April fand in Berlin die diesjhrige Mitgliederversammlung der Vereinigung zur Kritik der politischen konomie statt . Die Vereinigung gibt die PROKLA heraus und whlt Redaktion und Redaktionsbei-rat . Unser Redaktionsmitglied Martin Kronauer stand aufgrund beruf licher Belastungen fr eine erneute Wahl leider nicht mehr zu Verfgung . Allerdings bleibt er der PROKLA weiterhin eng verbun-den, er wurde er in den Redaktionsbeirat gewhlt . Ebenfalls aus Zeitgrnden kan-didierte Klaus Mller nicht mehr fr den Beirat . Beiden sei an dieser Stelle fr ihre bisherige Arbeit ganz herzlich gedankt .

  • 183Editorial

    PROKLA 168: EU und der Euro in der Krise (September 2012)

    Krisen in der Geschichte der europischen Integration sind nichts Neues . Die Folgen der Weltwirtschaftskrise 2008/09 haben jedoch zu einer Eskalation der Widersprche dieser Integration gefhrt . Das geplante Heft soll die Zusammenhnge zwischen der gegenwrtigen Verschuldungs- und Bankenkrise in Europa und den Widersprchen des gegenwrtigen, finanzialisierten Modells kapitalistischer Akkumulation einerseits und den Widersprchen der europischen Integration andererseits in den Blick zu nehmen . Die Kontroversen um das richtige Krisenmanagement erscheinen hufig als Gegenstze zwischen nationalen Regierungen . Was hat es mit der Behauptung auf sich, dass es bei der herrschenden Krisenstrategie um die Durchsetzung deutscher imperialistischer Interessen ginge? Inwiefern kann man angesichts transnationaler Unternehmen und eines globalen Konkurrenzkapitalismus davon sprechen, dass die jeweiligen nationalen Regierungen die Interessen nationaler Kapitale vertreten?

    Die Krise der EU und des Euro findet in einer krisen- und konflikthaften Welt-wirtschaft statt . Whrend sich in den USA die konomie nur langsam von der Krise 2008/09 erholt, werden die kapitalistischen Schwellenlnder immer strker . Sowohl auf den Absatzmrkten fr Fertigwaren als auch auf den Rohstoffmrkten verschrft sich die Konkurrenz mit dem nordamerikanischen und westeuropischen Kapital . Wie wirken sich diese globalen Bedingungen auf die Krise in Europa aus?

    Welche Schlussfolgerungen ergeben sich fr eine emanzipatorische Politik? Was knn-ten kurzfristige Forderungen sein? Sollte die Forderung nach Schuldenstreichung im Zen-trum stehen, oder greift eine solche Forderung zu kurz, weil ihre Realisierung lediglich zu einer Zuspitzung der Krise fhren wrde? Bietet fr einzelne Lnder wie Griechenland der Austritt aus der Eurozone tatschlich die Perspektive fr eine andere Politik? Sollte es um die Unabhngigkeit der Nationalstaaten oder um Demokratisierung der EU gehen?

    PROKLA 169: Kapitalkonzentration, neue Unternehmensformen und globale Konkurrenz (Dezember 2012)

    Je ein Kapitalist schlgt viele tot . Mit dieser drastischen Formulierung beschrieb Marx die Konzentrations- und bernahmeprozesse des Kapitals . Doch kennt der Konzentra-tionsprozess nicht nur eine Richtung: manche bernahmen und Zusammenschlsse er-weisen sich als grandiose Fehlschlage, die mit groen Kosten wieder rckgngig gemacht werden (wie die Fusion von Chrysler und Daimler oder BMWs bernahme von Rover) . Trotzdem bleiben solche Konzentrationsprozesse wichtig, Mergers & Acquisitions stellen sowohl fr die Branche der Unternehmensberater als auch fr die Finanzindus-trie, die Fusionen und bernahmen finanziert, ein lohnendes Geschftsfeld dar . Wer profitiert von diesen Prozessen und wie verndern sie die Strukturen kapitalistischen Wirtschaftens? Wie verschieben sich die Beziehungen von industriellem Kapital und Finanzkapital bzw . von Kapital und Staat? Schlielich ist auch nach der internationalen Dimension dieser Prozesse zu fragen: was bedeutet es, wenn Konzerne der Peripherie Unternehmen des frheren Koloniallandes aufkaufen (wie z .B . die bernahme von Jaguar durch die indischen Tata Motors)? Wie verndert sich die internationale Kon-kurrenz im globalen Kapitalismus?

  • 184 PROKLA-Redaktion

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    Das Forum fr Politik und Kultur mitte-links

    Thema im Juni:

    Soziale Demokratie

    in Europa

    mit:Johanno Strasser ber das fruchtbare Choas der Kultur Thomas Meyer im Gesprch mit Wilhelm Heitmeyer Richard Meng ber Auf- und Umbruch im Wahljahr 2012 Juliane Wetzel ber Antisemitismus Wolfgang Thierse ber Anstand Karin Priester ber Rechtsterrorismus Anetta Kahane ber Ursprung und Ursache von Rechtsextremismus Harro Zimmermann ber Aufklrung Hanjo Kersting ber Strindberg Sven Hanuschek ber Krachts Imperium David Leuenberg ber Kuhle Wampe Klaus Harpprecht ber Mitgefhl und Publikationspannen

  • 185Poststrukturalismus. Gesellschaft. Kritik

    Silke van Dyk

    Poststrukturalismus. Gesellschaft. Kritikber Potenziale, Probleme und Perspektiven

    Fast sturmhnlich weht im Gefolge der jngsten Krisen eine neue Emphase der Kritik durch die Lande . Das deutsche Feuilleton hat im Nachgang der Finanz-marktkrise mit zum Teil radikaler Rhetorik die Kritik des Kapitalismus fr sich entdeckt, Occupy-AktivistInnen avancierten zum Alter-Ego und ber-Ich ansonsten (und auch weiterhin) bewegungsresistenter BrgerInnen, Stphane Hessels schmales Bndchen Emprt euch wurde zum Weltbestseller und liegt im Buchladen direkt neben der Kasse . Zugleich erleben kritische (Sozial-)Wissen-schaftlerInnen, dass das, was bislang ihr Alleinstellungsmerkmal an den Rndern der etablierten Disziplinen zu sein schien, im Zentrum (wenn auch mit neuen Vorzeichen) goutiert wird . Seit dem Zusammenbruch von Lehman Brothers im Herbst 2008 darf vom kapitalistischen System und seiner Kritik wieder gespro-chen werden . Whrend sich fr marxistisch konturierte Analysen vor diesem Hin-tergrund mitunter berraschend neue Resonanzrume erschlieen ohne dass sie deshalb unbedingt an Einfluss gewinnen , scheinen die in den vergangenen Jahren gehypten theoretischen Lieblingskinder der inner- und aueruniversitren akademischen Linken angeschlagen: Die in poststrukturalistischen Theorien und Cultural Studies1 zentrale Problematisierung von Subjekt, Wahrheit und groen Ordnungen, die Vorliebe fr (eigensinnige) Mikropolitiken, komplexe Krftere-lationen und Deutungskmpfe gilt so manchem (neuen) Gesellschaftskritiker im Angesicht der groen Krise als berholt . Die Felder poststrukturalistischer Kritik so die Sichtbarmachung verworfener Existenzweisen, bearbeitet in den Queer

    1 Entstanden in Grobritannien Ende der 1950er Jahre im Kontext der politischen und kulturkritischen Bewegungen der New Left, grenzten sich die Cultural Studies in ihren Anfngen von einem konomischen Reduktionismus ab und fokussierten anknpfend an Antonio Gramsci und Louis Althusser auf Kultur als einen eigenstndigen Bereich der Produktion von Gesellschaft . Seit den 1970er Jahren sind die Cultural Studies zuneh-mend poststrukturalistisch beeinflusst und interessieren sich insbesondere fr die Frage kreativen und widerstndigen Handelns . Im Folgenden werden die Cultural Studies dementsprechend unter das Paradigma des Poststrukturalismus gefasst .

    PROKLA. Verlag Westflisches Dampfboot, Heft 167, 42. Jg. 2012, Nr. 2, 185 210

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    und Postcolonial Studies verblassen zu possierlichen Spielwiesen in Zeiten, da so der Tenor normale Menschen wieder wirkliche Probleme haben .2

    Als sich im Dezember 2011 im Berliner Haus der Kulturen der Welt eine illustre Schar von Intellektuellen zusammenfand, um die Demokratie in Europa gegen den Kapitalismus zu verteidigen, war die Welt so einfach, dass Marx in trauter Eintracht mit Foucault verzweifelt wre . Der Sozialpsychologe Harald Welzer, Initiator der Veranstaltung, wusste zu berichten, dass er mit 15 glaubte, die Welt sei durch die Oligarchie des Kapitals beherrscht . Dann habe er viele Jahre Foucault und andere poststrukturalistische TheoretikerInnen gelesen und gedacht, dass die Dinge doch sehr komplex seien . Und heute wisse er: Es ist genau so, wie ich mit 15 gedacht habe . Wo Welzer in durchaus sympathischer Weise einen im jugendlichen berschwang enthaupteten Marx bemht, sehen andere im Angesicht der Krise(n) die Stunde der Wiederkehr der so die Diktion klassischen Soziologie gekommen . Das Rad drei Jahrzehnte zurckdrehend in die seligen Zeiten vor dem cultural und discursive turn, als man noch wusste, was wahr und richtig ist, wird die Aufgabe einer krisenangemessenen Soziolo-gie neu vermessen: So konstatierte Heinz Bude jngst den Bedeutungsverlust poststrukturalisischer Soziologie(n) zugunsten einer Soziologie, die Fragen von Ungleichheit, Herrschaft und Ideologie ins Zentrum ihrer Aussagen stellt (Bude 2011: 13)3 und die Wahrheit ber die Spaltung der Gesellschaft, die Unterdr-ckung der Menschen und die Zurechtweisung des Publikums (ebd .) zur Sprache bringt . Die neue Soziologie im klassischen Gewande habe die Aufgabe zu den Sachen selbst (ebd .: 14) zurckzukehren, statt in die kulturalisierende Analyse von komplexen Krftekonstellationen und Wissensordnungen auszuweichen . Schluss mit dem Faible fr die Kultur als Sphre des Eigensinns und der Vorliebe fr lokale Taktiken, zurck zur Gesellschaft als Gegenstand von Analyse und Kritik so nicht nur Budes Diktum .

    Ziel dieses Beitrags ist es, das artikulierte Unbehagen ob der Analysekraft und Reichweite wie ob des Kritikpotenzials poststrukturalistischer Anstze ernst zu nehmen, und das theoretische Paradigma mit den aufgeworfenen Fragen nach Kritik und Wahrheit, nach Ungleichheit und Herrschaft sowie nach der Analyse von Gesellschaft als groem Ganzen zu konfrontieren . Ich mchte zeigen, dass und wie berechtigte Kritikpunkte aufgegriffen und verarbeitet werden knnen, ohne dass deshalb das Rad der Theoriegeschichte gleich um mehrere Jahrzehnte

    2 Bereits Mitte der 2000er Jahre polemisierte Terry Eagleton: In some cultural circles, the politics of masturbation exert far more fascination than the politics of the Middle east . Socialism has lost out to sado-masochism . (Eagleton 2004: 3)

    3 Dass er hierfr ausgerechnet Ralf Dahrendorf und Erwin K . Scheuch als Gewhrsmnner anfhrt, sei dahingestellt .

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    zurckgedreht werden muss . Das gegenwrtige gesellschaftstheoretische wie -kri-tische Defizit des Poststrukturalismus kann, so meine These, durch Denkfiguren des Paradigmas selbst eingeholt werden . Dafr ist es jedoch notwendig die partielle Selbstdestruktion und Entpolitisierung poststrukturalistischen Denkens zu berwinden, die im Zuge der akademischen Popularisierung zu beobachten ist .4

    1. Poststrukturalismus revisited. Wie das wurde, was es nicht gibt

    Ihre Namen sind allseits bekannt . Michel Foucault avancierte zum Theorie-Super-Star, mit einer AnhngerInnenschaft, die nur Marx nicht beeindrucken drfte, Gilles Deleuze und Felix Guattari fungieren als prominente Stichwortgeber fr bewegungsnahe Intellektuelle, Jacques Derridas Einfluss ist ungebrochen, nachdem sein frher Tod 2004 zum Feuilleton-Ereignis wurde . Judith Butler, Ernesto Laclau oder Antonio Negri werden bei ihren Auftritten von Tausenden gefeiert, ganz zu schweigen von Slavoj iek, dem Grenzgnger und Provokateur mit poststrukturalistischen Wurzeln . Dafr, dass es den Poststrukturalismus eigentlich nicht gibt, dass zu Recht darauf verwiesen wird, dass es sich um ein von auen attribuiertes Etikett handelt, dem kein homogenes Denksystem zu Grunde liegt (vgl . z .B . Lorey et al . 2011: 11), finden sich gerade in jngerer Zeit doch recht viele Versuche, das uneinheitliche Theoriefeld zu vermessen (vgl . z .B . Moebius/Reckwitz 2008; Stheli 2000; Angermller 2007) . Entstanden im politischen Kontext der 1960er und 1970er Jahre in Frankreich, knnen die sich seit den 1980er Jahren auch im angelschsischen Raum ausbreitenden poststrukturalistischen Theorien5 im Kontext des cultural turn in den Sozial- und Geisteswissenschaften verortet werden, im Zuge dessen die kulturelle und symbolische Strukturierung des Sozialen ins Blickfeld rckte . Die Bedeutung des Pariser Mai 68 fr die Entwicklung poststrukturalistischer Theorien ist ebenso

    4 Ich danke Stefanie Graefe fr instruktive Gesprche ber das geteilte Unbehagen ob dieser Entwicklung .

    5 Nach einer wechselvollen Rezeptionsgeschichte in unterschiedlichen Disziplinen und Wellen (so insbesondere in der Philosophie sowie der Sprach- und Literaturwissenschaft) ist der Poststrukturalismus seit einiger Zeit auch in den deutschen Sozialwissenschaf-ten angekommen (Moebius/Reckwitz 2008: 7) und hat sich als kulturwissenschaftlich orientierte Analytik an den Universitten verankert . In einzelnen Forschungsbereichen so den Gender und Disability Studies, den Postcolonial Studies, der Kultur- und Kr-persoziologie kann von einem sehr groen Einfluss poststrukturalistischer Analysen gesprochen werden . In anderen Bereichen wie der Wirtschafts- und Industriesoziologie, der Ungleichheits- und Wohlfahrtsstaatsforschung, aber auch der konomiekritik und Staatstheorie ist das poststrukturalistische Theorieprogramm im deutschsprachigen Raum jedoch weiterhin ein Fremdkrper .

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    unbestritten wie der Einfluss vieler poststrukturalistischer TheoretikerInnen auf die Bewegungen der 1960er und 1970er Jahre . Zwar markierte 1968 keinen sofortigen, radikalen Bruch mit einer linken Politik, die an den strategischen Vorgaben marxistischer Staatstheorie und Ideologiekritik sowie an einem repres-siven Machtmodells orientiert war; der Fokus verschob sich aber (tendenziell und sukzessive) hin zu mikropolitisch grundierten Fragen der Subjektivierung und des Begehrens . Dies war jedoch keineswegs gleichbedeutend mit einer generellen Entpolitisierung, wie sie nicht nur Terry Eagleton polemisch unterstellte: Die Studentenbewegung wurde von der Strae gesplt und in den Untergrund des Diskurses getrieben . (Eagleton 1994: 127) Das politische Engagement und die Bewegungsnhe fast aller genannten AutorInnen, so Foucaults Rolle in der fran-zsischen Gefngnisbewegung, Deleuze Engagement gegen rassistische Gewalt, Antonio Negris enge Bezge zur italienischen Autonomia oder Judith Butlers Rolle im queeren Aktivismus sind vielfach belegt .6 Diese enge Verknpfung von Theorie und Politik sowie die groe Rolle, die poststrukturalistische Anstze ins-besondere (aber nicht nur) fr die Entstehung von queeren Bewegungen gespielt haben, straft all jene Lgen, die in poststrukturalistischen Theorien einzig einen abgehobenen, hoch abstrakten Akademismus ausmachen .

    1.1 Wahlverwandte theoretische Geste

    Bei aller Heterogenitt kann poststrukturalistischen Theorien das bescheinigt werden, was Stheli eine wahlverwandte(n) theoretische(n) Geste (Stheli 2000: 7) genannt hat und die wie im Folgenden zu sehen wird auch eine Reihe po-litischer Theorien umfasst, die sich eher an den Rndern poststrukturalistischen Denkens bewegen: Wesentliche Geste ist das differenztheoretische Denken, dem zufolge kein Element gesellschaftlicher Wirklichkeit identittslogisch aus sich heraus bestimmt werden kann, sondern erst durch die Differenz zu dem, was es nicht ist .7 Der wesentliche poststrukturalistische Clou ist nun der Umstand, dass die Vielzahl der einzelnen Differenzen nicht auf ein Fundament oder ein organisierendes Prinzip (z .B . die Produktionsverhltnisse, die Moderne oder

    6 Vgl . auch Kuhn (2009: 56f .): Alle der genannten TheoretikerInnen waren politisch aktiv und einige ( . .) in sehr radikalen Zusammenhngen; um einiges radikaler als die Zusammenhnge, in denen sich viele jener KritikerInnen bewegen, die den Poststruk-turalistInnen jedweden revolutionren Charakter absprechen wollen .

    7 Dass eine Kritik identittslogischen Denkens nicht dem Poststrukturalismus vorbehalten ist, zeigt Harald Wolf in seinem Beitrag zu Castoriadis (in diesem Heft); dass umgekehrt nicht alle poststrukturalistischen TheoretikerInnen in gleicher Weise das differenztheo-retische Denken zentral stellen, demonstriert das Beispiel Foucaults .

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    das Patriarchat) rekurrieren und durch dieses stabilisiert werden, sondern dass sie stets relational und beweglich und damit kontingent bleiben: Angesichts dieses Verzichts auf einen letzten Grund knnen die meisten poststrukturalis-tischen Anstze als post-foundationalist (Stheli 2000: 9) bezeichnet werden . Eine solche post-fundamentalistische Perspektive ist nicht gleichbedeutend mit einem Diskurs-Idealismus oder Sprachspiel jenseits von Materialitt und Insti-tutionalisierung: poststrukturalistische Anstze interessieren sich vielmehr fr die Genese von institutionalisierten Formen, Krpern und Praktiken, als dass sie ihre materiale Existenz negieren wrden . Was die diskursive Konstruktion der Wirklichkeit betrifft, wird die Welt jenseits des Diskurses nicht in Abrede gestellt, sondern lediglich im Hinblick auf ihre Unerfahrbarkeit problematisiert: Nicht die Existenz von Gegenstnden auerhalb unseres Denkens wird bestritten, sondern die ganz andere Behauptung, da sie sich auerhalb jeder diskursiven Bedingung des Auftauchens als Gegenstnde konstituieren knnen . (Laclau/Mouffe 1991: 158; vgl . abgrenzend gegen einen Diskurs-Idealismus auch: Butler 1997: 30f .) .

    Poststrukturalistische Anstze bieten eine theoretisch fundierte Delegitimie-rung der fr die Geschichte des christlich-westlichen Abendlandes so zentralen Vorstellungen einer objektiv gegebenen, vom erkennenden Subjekt unterschie-denen, geschichtlich oder natrlich begrndeten Wahrheit oder Vernunft . An die Stelle der philosophisch zu erkennenden groen Ordnung und Te-leologie treten ein dezentrisches und anarchisches Weltbild und die Aufgabe eines organizistischen Gesellschaftsbegriffs (Moebius 2010: 269) . Zentral ist das Anliegen, aufzuzeigen, da das, was ist, nicht immer gewesen ist [ . . .] . Was die Vernunft als ihre Notwendigkeit erfhrt oder was vielmehr verschiedene Formen von Rationalitt als ihr notwendiges sein (tant) ausgeben, hat eine Geschichte, die wir vollstndig erstellen und aus dem Geflecht der Kontingenzen wiedergewinnen knnen . (Foucault 1996: 179) . Diese nicht nur bei Foucault genealogisch konturierte Perspektive zielt zum einen auf die Dechiffrierung von Universalien und die Infragestellung vertrauter Denkschemata und zum anderen auf das Aufdecken des spezifischen Netzes von Krfteverhltnissen, das jene Selbstverstndlichkeiten hervorgebracht hat . Kaum eine theoretische Perspektive scheint besser geeignet, herauszuarbeiten, wo die Parolen ausgegeben und wo die Regeln gesetzt werden (Bude 2011: 13) wie Heinz Bude es in seinem Zwischenruf als Anspruch an eine zeitgeme Soziologie formuliert . Auch die Frage, wie vermeintliche Alternativlosigkeit erzeugt wird,8 ist ein Kernanliegen

    8 Aufzuzeigen sei, wie Bude (2011: 13) es formuliert, wer lgt und sich ber den Zustand der Welt betrgt und wer, weil es angeblich keine Alternativen gibt, belogen und betrogen wird .

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    des Poststrukturalismus, wobei die Macht- und Subjekt(ivierungs)-Analytik ver-hindert, diesen komplexen Prozess als Tuschung und Betrug einzelner mchtiger und souverner Subjekte zu fassen .

    1.2 Prekre Schlieungsprozesse

    Entscheidend fr poststrukturalistische Anstze und ihre Perspektive auf die Genese von Wahrheit und Evidenz ist nun, dass die in diesem Prozess erzeugte Stabilisierung stets prekr, brchig und von Irritationen durchzogen bleibt . Kennzeichnend, wenn auch nicht in allen poststrukturalistischen Anstzen in gleicher Weise zentral, ist ein Machtverstndnis, das Macht als verstreutes, plurales, produktives und notwendig omniprsentes Krfteverhltnis fasst (Ontologie der Macht), welches sich nur temporr zu stets instabilen Herr-schaftskonstellationen verdichtet . Whrend die liberale Selbstbeschreibung der Moderne die Kontingenzffnung als Resultat des Modernisierungsprozesses betont, fokussiert der Poststrukturalismus auf machtvolle Kontingenzschlieun-gen sei es durch Hegemonie (Laclau & Mouffe), durch Dispositive (Foucault), Reterritorialisierungen (Deleuze & Guattari) oder Polizei (Rancire) sowie auf deren Destabilisierung . Das Herzstck poststrukturalistischer Theorie der Fokus auf Destabilisierungen durch die Betonung der Kluft zwischen Norm und Praxis, zwischen Anrufung und Umwendung, zwischen Regel und Anwendung, zwischen Text und Lektre affirmiert dabei die Mglichkeit von Handlungs-fhigkeit, allerdings ohne dass das Subjekt als gesellschaftlich Geformtes aus dem Blick gert . Konsequent entwickeln poststrukturalistische Theorien eine radikale Kritik gegenber allen Anstzen, die bei der Analyse konkreter Gesell-schaftlichkeit souverne Subjektivitt und individuelle Handlungsautonomie als gegebene Konstanten voraussetzen . Statt in den modernisierungstheoretischen Chor der Emanzipation des Subjekts einzustimmen, werden Subjektivierungs-prozesse im Hinblick auf ihre Gleichzeitigkeit von Subjektkonstituierung und -unterwerfung thematisiert .9 Poststrukturalistische Anstze sensibilisieren dafr, wie die Unterdrckung der Menschen in ihre Subjektwerdung eingelassen ist und entlarven die Grausamkeiten, durch die Subjekte produziert und differen-

    9 Der groe Einfluss Althussers als Schlsselfigur zwischen Marxismus und Poststruk-turalismus wird hier mehr als offensichtlich, finden sich doch die wesentlichen Motive seiner spten Ideologietheorie in modifizierter Weise in fast allen poststrukturalistischen Theorien wieder: seine Kritik am Determinismus und seine Kritik am hierarchischen Machtmodell sind hier ebenso zu nennen wie insbesondere seine Kritik eines kurzschls-sigen Subjektverstndnisses, das die subjektivierende Wirkung sozialer Macht ausblendet (vgl . Saar 2008: 196ff .) .

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    ziert werden (Butler 1992: 131) . Die Aufmerksamkeit richtet sich damit auf die im Zuge von Kontingenzschlieungen aus der gesellschaftlichen Ordnung exkludierten Subjektivitten und Existenzweisen, auf das Verworfene jenseits der majoritren Norm Mensch-mnnlich-wei-Stadtbewohner-Sprecher einer Standardsprache (Deleuze 1980: 27) . Die von Bude im Sinne einer kritischen Sozialwissenschaft eingeforderte Identifizierung von Gewinnern und Verlierern gesellschaftlicher Verhltnisse wird hier insofern radikalisiert, als dass nicht nur die Ungleichheit sozialer Positionen, sondern das Spiel der Positionierung selbst zum Thema wird .

    1.3 Das Politische denken

    Neben der poststrukturalistischen Kulturalisierung des Sozialen nehmen einige VertreterInnen im Hinblick auf die partiellen Verdichtungen zu Herrschaftssys-temen auch die politische Dimension des Sozialen in den Blick: Der auf Kontin-genzschlieung zielenden institutionalisierten Politik (das politische System, verortet auf der Ebene des Seienden) wird die (ontologische) instituierende Kraft des Politischen entgegengesetzt, die die Ordnung der Politik in unaufhrlicher Bewegung durchkreuzt, destabilisiert und ber sie hinausweist . Neben den im engeren Sinne poststrukturalistischen politischen Theorien (so insbesondere Ernesto Laclau und Chantal Mouffe) sind hier Arbeiten aus dem Kontext ei-ner dezidiert post-fundamentalistischen politischen Philosophie zu ergnzen, die mit Namen wie dem bereits erwhnten Jacques Rancire, aber auch Claude Lefort, Alain Badiou oder Jean-Luc Nancy verbunden sind . Die Abwesenheit eines letzten Grundes und Fundamentes konstituiert bei all diesen Autoren das Feld des Politischen, ist jeder Prozess der Institutionalisierung und Schlieung doch notwendig umkmpft und kontingent: Erst in einer Gesellschaft, der kein archimedischer Punkt, kein substanzielles Gemeingut, kein unhinterfragter Wert verfgbar ist, steht die eigene Institution immer aufs Neue zur Aufgabe . Und zwar deshalb immer aufs Neue, weil diese Gesellschaft nie letztgltig instituiert werden kann . (Marchart 2010: 17) Entscheidend ist nun, dass es sich nicht um eine anti-fundamentalistische, sondern um eine post-fundamentalistische Grundierung handelt: An die Stelle eines letzten Grundes und Fundaments tritt nicht das so oft von KritikerInnen des Poststrukturalismus beklagte anything goes oder der eben so oft prophezeite relativistische Nihilismus, sondern der Konflikt um partielle Grndungsversuche, vorbergehende Stabilisierungen und Institutionalisierungen und ihre De-Stabilisierungen: Die Krise des essentia-listischen Universalismus als selbst-erklrter Grund hat unsere Aufmerksamkeit auf die kontingenten Grnde (im Plural) seines Entstehens und auf die komplexen Prozesse seiner Konstruktion gelenkt . (Laclau 1994: 2) .

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    Andreas Reckwitz hat, die Perspektiven Foucaults, Derridas und Butlers zu-sammenfhrend, drei methodologische Direktiven des Poststrukturalismus ausgemacht, die das bislang Gesagte zuspitzen: Die zentralen Direktiven seien, 1) das scheinbar Befreiende und Rationale als das Zwingende und Regulierende zu betrachten, 2) das scheinbar Notwendige und Alternativenlose als das kulturell Kontingente zu sehen, 3) das scheinbar Fixe und Geschlossene dieser kulturel-len Festlegungen als das Unkontrollierbare, kulturell Instabile wahrnehmen . (Reckwitz 2008: 294) . Das heterogene Theorieprogramm bietet damit, das sollte deutlich geworden sein, Anschlsse fr eine Kritik der herrschenden Ordnung und der Propagierung vermeintlicher Wahrheiten und Sachzwnge und stellt zugleich ein Rstzeug dar fr die Sichtbarmachung von Brchen und Abweichun-gen, von Verworfenem und Anderem und damit fr das Nicht-Hegemoniale .10 Die drei wesentlichen Problematisierungen poststrukturalistischer Theorien die der Wahrheit, der Struktur und der Affirmation des souvernen Subjekts verbindet letztlich ein grundlegend antitotalitres Motiv, das die konstitutive Unmglichkeit von Gesellschaft (als Totalitt bzw . groes Ganzes) begrn-det . Obwohl Verdichtungen von Krfteverhltnissen im Sinne von temporren Schlieungsprozessen theoriearchitektonisch vorgesehen sind, fokussieren viele poststrukturalistische und post-fundamentalistische Anstze in der Forschungs-praxis weniger auf (die institutionalisierten, als herrschaftsfrmig identifizierten) Makrostrukturen (wie den Staat oder die kapitalistische konomie) als auf die (machtdurchsetzte) Kraft von Mikropolitiken, anti-institutionellen lokalen Bewe-gungen und Revolutionierungen von Alltagspraxis einerseits sowie die (zugleich ermchtigende wie repressive) Konstitution von Subjektivitt andererseits .

    2. Etablierung poststrukturalistischer Theorien und die Erosion kritischen Potenzials

    Im Zuge seiner akademischen Etablierung wurde der Poststrukturalismus ins-besondere, aber nicht nur in den USA in einigen Feldern zum wissenschaftli-

    10 Seit einiger Zeit ist die Position populr, dass sich das kritische Potenzial dieser Perspektive verbraucht habe, da minoritre Existenzweisen heute nicht nur mglich, sondern unter-schiedslos zum Schmiermittel des kapitalistischen Gefges geworden seien . Bekannteste Beispiele sind ieks und Badious Polemiken gegenber dem Abfeiern des Minoritren, dekoriert mit zahlreichen Beispielen wie schwarzen Homosexuellen, behinderten Serben oder verheirateten Priestern (z .B . Badiou 2002: 11) . Katja Diefenbach entgegnet diesen Kritikern jedoch zu Recht, dass sie die freisetzende Dynamik des Kapitals berbetonen, whrend sie die neokonservative Verfestigung familirer und religiser Werte unterthe-matisieren (Diefenbach 2007: 3) .

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    chen Kanon, der wie eine Reihe von KritikerInnen monieren viele politische Konnotationen eingebt habe, mit denen er in den Anfngen verbunden war (vgl . kritisch z .B . Lichtblau 2002) . John Sanbonmatsu (2011: 230) konstatiert in seiner harschen Kritik des poststrukturalistisch-postmodernen Feldes incen-tives for increasingly sexy forms of theorizing as a way for sympathetic or left intellectuals to maintain or advance their position in a crowded academic field . Es gehe nur noch um den Tauschwert einer akademischen Theorie, nicht aber um den Gebrauchswert als gesellschaftskritisches Instrumentarium (ebd .: 231) . Doch die Kritik kommt nicht nur von auen: Slavoj iek, sicherlich der lauteste Kritiker mit theoretischer Verankerung im poststrukturalistischen Feld, unterscheidet zwischen dem authentische(n) sozialen Engagement zugunsten der ausgebeuteten Minderheiten und den multikulturellen/postkolonialen, absolut risikofreien Feierabendrevolten, in denen sich die radikale Welt des aka-demischen Amerika gefllt (iek 2002: 20) . Er kritisiert die De-Politisierung der poststrukturalistischen Cultural Studies, die den politischen Kampf gegen einen Kulturkampf um die Anerkennung marginaler Identitten und die Tole-ranz gegenber Unterschieden (iek 2001: 302) ausgetauscht habe . Und Robert Misik macht in der deutschsprachigen Diskussion unorthodoxe Geister aus, die versuchen minoritre Lebenspraxen mit exaltierten Theorien in Einklang zu bringen (Misik 2006: 190) . Was ist dran, am wiederkehrenden Vorwurf der de-politisierten Kulturalisierung, der exaltierten Komplexittsemphase und Ab-straktion, der Auflsung von Widersprchen im Geflecht unendlicher Differen-zen, wenn es um die Kritik von Herrschaft, Ausbeutung und Ungleichheit geht?

    Auch wenn der Vorwurf nicht selten der pauschalen Diskreditierung dient und genutzt wird, um sich den Herausforderungen poststrukturalistischen Den-kens erst gar nicht stellen zu mssen, sind einzelne Aspekte doch nicht von der Hand zu weisen . In formaler Hinsicht zu nennen ist in der Tat die Tendenz zu extrem abgehobenen, terminologisch hermetischen und schwer verstndlichen Texten, die eine kritische Auseinandersetzung und Rezeption gerade auch durch Nicht-PoststrukturalistInnen erheblich erschweren . Dieser verbrei-teten, durchaus elitren und fr das Funktionieren im akademischen Betrieb gefahrlosen Flucht in die Abstraktion korrespondiert wie ich im Folgenden argumentieren werde eine inhaltliche Flucht in Fluiditt, Abweichung, rhizo-matische Texturen und Beweglichkeit, ohne dass jedoch das in dieser Bewegung angelegte kritische Potenzial im Sinne einer zu realisierenden Mglichkeit unter je spezifischen Bedingungen genutzt wrde . Derweil wird in mitunter berraschend un-poststrukturalistischer Manier das Bild als selbst ernannte, vom feindlichen Mainstream bekmpfte Underdogs gepflegt, wodurch die eigenen Verstrickungen in Akademisierung und Eingemeindung ausgeblendet bleiben: All die Effekte der Ignoranz, der Vereinnahmung und der Akademisierung sind

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    Komponenten einer allgemeineren diskursiven Aufstandsbekmpfung, in der die Ausschweifungen einer gefhrlichen Theorie-Klasse mglichst unschdlich gemacht werden sollen . (Lorey et al . 2011: 18) Wie gefhrlich diese Theorieklasse in jngerer Zeit eigentlich (noch) ist, bleibt leider allzuhufig unreflektiert . Meine zentrale These ist, dass es die implizite in der Regel uneingestandene Nor-mativitt poststrukturalistischer Theorien ist, die linke AkademikerInnen und TheoretikerInnen fr das theoretische Paradigma begeistert und die ihrerseits dazu beitrgt, dem Bedarf nach einem kritischen Gestus Genge zu tun, ohne dass eine kritische (Theorie-)Position ausformuliert bzw . gewagt werden muss . Problematisches Resultat ist nicht nur die De-Politisierung vieler poststruktu-ralistischer Analysen, sondern auch die theoretische Sedierung von Teilen der radikalen Linken . Die Kritik zielt dabei nicht auf die normativen Restbestnde poststrukturalistischer Theorien, sondern darauf, dass sie theoretisch negiert werden, um praktisch das linke Gewissen zu beruhigen .

    2.1 Implizite Normativitt

    Die Kritikperspektive des Poststrukturalismus ist nicht im engeren Sinne nor-mativ, sondern gekennzeichnet durch eine Problematisierung von Universali-tt, Stabilitt und Befreiungsemphase, die ihrerseits die Zurckweisung eines universal gltigen Normenkatalogs erfordert . Den repressiven Charakter der Norm(avititt) aufzuzeigen, kann als eines der Hauptanliegen poststrukturalis-tischer Theorien bezeichnet werden: Denn einen Normenkomplex aufzustellen, der sich jenseits der Macht oder Strke ansiedelt, stellt selbst eine machtvolle, starke begriffliche Praxis dar, die ihr eigenes Machtspiel durch den Rckgriff auf Tropen der normativen Universalitt sublimiert, verschleiert und zugleich ausdehnt . (Butler 1993: 36f .) Sehr treffend ist nach wie vor die Formulierung Paul Veynes, dass ein genealogisch-poststrukturalistisch konturiertes Kritikpro-gramm nicht sage Ich bin im Recht und die anderen irren sich, sondern nur: die anderen behaupten zu Unrecht, da sie im Recht sind . (Veyne 1991: 214) Doch ist damit nicht die ganze poststrukturalistische Geschichte erzhlt, wie Andreas Reckwitz betont: trotz dieser normativen Abstinenz wird indirekt deutlich, dass () die Prmisse der Unkontrollierbarkeit kultureller Codes, eine solche positive normative Konnotation enthlt: Dass die kulturellen Systeme gegen den eigenen Anspruch doch nicht fix, sondern unkontrollierbar sind, stellt sich als eine wnschenswerte Tendenz dar . (Reckwitz 2008: 295, Hervorhebung SvD)

    Ausgehend von der wahlverwandten, differenztheoretisch-postfundamenta-listischen Geste ist die als wnschenswerte Tendenz aufscheinende Unkontrol-lierbarkeit und konstitutive Sinnverschiebung in den verschiedenen poststruk-turalistischen Theorien unterschiedlich ausgearbeitet: Bei Foucault ist es die

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    genealogisch begrndete Analyse der kontingenten historischen Bedingungen, die das Potenzial transformierender Singularitten ans Licht bringt, bei Deleuze und Guattari durchkreuzt die Mikroebene mit ihren vielschichtigen Bewegungen der Entterritorialisierung die Makrostrukturen der Territorialisierung/Fixierung . Derridas dekonstruktivistische Lektre und mit anderer Akzentsetzung an ihn anschlieend Butler (s .u .) fokussiert auf die konstitutive Unabgeschlossenheit von Sinn und die daraus resultierende Iterabilitt, welche die Wiederholung mit der Andersheit/Verschiebung verbindet: Die Iterabilitt verndert und kontaminiert auf parasitre Art gerade das, was sie identifiziert und wiederholt; sie bewirkt, da man (immer schon, auch) etwas anderes sagen will, als man sagen will, etwas anderes sagt, als man sagt und sagen mchte, etwas anderes versteht usw . (Derrida 2001: 120) . Laclau und Mouffe gehen davon aus, dass es ein (konstitutives) Auen gibt, das im Sinngefge der Gesellschaft nicht zu erfassen ist, dieses aber trotzdem permanent herausfordert: In einer politischen Wendung machen sie den Abstand zwischen Unentscheidbarkeit (die dem not-wendigen Auen geschuldeten Unmglichkeit gesellschaftlicher Totalitt) und Entscheidung (der temporren Fixierung) als Raum fr Handlungsfhigkeit aus .

    Diese theoriearchitektonisch unterschiedlich begrndete konstitutive Un-kontrollierbarkeit und Dynamik wird in der (im weiteren Sinne) poststruk-turalistischen Debatte nun in sehr unterschiedlicher Weise affirmiert: 1) als Grundlage partieller wie temporrer Schlieungen und Verfestigungen sowie als Ermglichungsbedingung fortlaufender Durchkreuzungen dieser Fixierungen, 2) als Affirmation der Instabilitt und Dynamik um ihrer selbst willen, wie wir sie vor allem in postmodern konturierten Perspektiven auf die Gleich-Gltigkeit aller Ansprche und Begehren finden sowie 3) als Mglichkeitsraum fr die ereignishafte Entstehung des unvorhersehbaren, radikal Anderen, so in Ereig-nisphilosophien und Ontologien des Unbestimmten (z .B . prominent bei Alain Badiou) . Die meisten der hier diskutierten AutorInnen sind mit verschiedenen Akzentsetzungen der ersten Verstndnisweise zuzuordnen: Ausgehend von der grundstzlich unabschliebaren Bewegung interessiert diese Lesart sich fr die je spezifischen Fixierungen sowie ihre fortlaufende De-Stabilisierung . Dabei gibt es durchaus berschneidungen mit der dritten Verstndnisweise, die sich weniger fr fortlaufende De-Stabilisierungen als fr Ereignisse des radikalen Bruchs mit der gegebenen Ordnung interessiert . Ich komme auf die berschneidungen dieser beiden Verstndnisweisen in Kapitel III zurck . Alle hier diskutierten AutorInnen grenzen sich hingegen von der zweiten Lesart der Gleich-Gltigkeit aller Ansprche auf das Schrfste ab und verwehren sich gegen einen Anti-Fundamentalismus und (als nihilistisch deklarierten) Relativismus . Die fr die weitere Argumentation damit zentrale Verstndnisweise (1) basiert hingegen auf der Annahme einer kategoriale(n) Differenz zwischen einer zugrundeliegen-

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    den Dynamik und ihrem Ausdruck (Niederberger/Wagner 2004: 185) . Diese Differenz, die wir in zahlreichen Theorien als politische Differenz (Marchart 2010) zwischen Politik und Polizei (Rancire) oder Politik und Politischem fin-den, markiert den Nicht-Ort (Butler), an dem das Soziale verhandelt wird: an dem also (unfinalisierbar, aber begrndet) um das gestritten wird, was uns alltglich umgibt . Im Sinne dieser Verstndnisweise geht es ausdrcklich nicht um die Affirmation der konstitutiven Dynamik und Verschiebung um ihrer selbst Willen, sondern um das darin angelegte Potenzial, spezifische hegemoniale Verfestigungen/Fixierungen kritisch zu durchkreuzen .11

    2.2 Poststrukturalistische Rezeptionen und die Beruhigung des linken akademischen Gewissens

    Aus meiner Sicht hat es nun im Zuge der Popularisierung und akademischen Etablierung poststrukturalistischer Positionen eine problematische Verschiebung gegeben, die sich durch eine paradigmatische Hinwendung zur zweiten Verstnd-nisweise und damit durch eine Postmodernisierung auszeichnet: En vogue ist die Affirmation von Dynamik qua Gleich-Gltigkeit der Ansprche, frei nach der Devise Hauptsache es bewegt sich, egal was und wie: Everything we have been told is real and unchangeable will be revealed as lies, and in refusing them we will make them change . Into what? No one knows, but that is not important . What is important is the change itself . (Jun 2011: 247) Bei dieser Haltung begrndet die poststrukturalistische Lcke, die durch die Differenz von konstitutiver Dynamik und konkreter Schlieung perpetuiert wird, nicht die Mglichkeit kritischer oder subversiver Handlungsfhigkeit, sondern sie wird mit eben dieser gleichgesetzt: Es wird darauf verzichtet, die konzeptionell freigelegte Lcke auf ihren je empirisch-spezifischen, eigensinnigen oder emanzipatorischen Charakter hin zu untersuchen . Gerade in einer Vielzahl post-deleuzianischer Arbeiten bricht sich eine solche Affirmation des Strmens und der Bewegung relativ ungebremst Bahn . So heit es in einer Begrndung des Poststrukturalismus als gefhrlicher Theorie-Klasse beispielsweise: Die Invention als kooperative Form der Erfin-dungskraft soll vielmehr dazu dienen, die Verbindung von Krften herzustellen,

    11 Dennoch ist auch bei den fr diese Verstndnisweise (1) in Bezug genommenen Au-torInnen eine gewisse Emphase der Dynamik nicht zu verleugnen, die diese wichtige Unterscheidung mitunter etwas verwischt (vgl . z .B . Butler 2009: 69f .) . Auch Deleuze und Guattari, die stets betont haben, Absatzbewegungen, Entterritorialisierungen, Bewegun-gen des Molekularen auf der Mikroebene nicht per se positiv zu sehen, tendieren in ihren Ausfhrungen zu einer zumindest affirmativ gefrbten Faszination fr Fluchtlinien und Nomadologie(n) (Deleuze/Guattari 1992) .

  • 197Poststrukturalismus. Gesellschaft. Kritik

    die vor der Invention einander entgegengesetzt waren: eine Verbindung von Krften, aus denen neue Strme sich entwickeln, temporre berlappungen von diskursiven und sozialen Maschinen . (Lorey et al . 2011: 19)12 Wieder andere begngen sich mit der Praxis der De-Naturalisierung qua Rekonstruktion des Gewordenseins, obwohl allein der Hinweis auf die prinzipielle Vernderbarkeit eines Sachverhalts noch kein Kriterium dafr liefert, warum es denn zu verndern sei (vgl . kritisch auch: Saar 2009) . Mit der poststrukturalistischen Zurckweisung eines letzten Grundes wird zumindest theoretisch jeglicher Grndungsversuch aufgegeben und das mit jeder Positionierung, jedem Versuch, diese Lcke zu vermessen einhergehende Risiko einer wieder zu verwerfenden (temporren) Festlegung gescheut . Diese Fortschreibungen poststrukturalistischen Denkens vollziehen damit die Wende zum theoretischen Anti-Fundamentalismus, der Foucault und Deleuze, Butler und Laclau so oft zu Unrecht unterstellt worden ist . (Nicht nur) mit Foucault kann man dieser Tendenz entgegen halten: Der Herrschaft einer Wahrheit entkommt man () nicht, indem man ein Spiel spielt, das dem Spiel der Wahrheit vollstndig fremd ist, sondern indem man das Wahr-heitsspiel anders spielt . (Foucault 1984: 895)13

    Dabei bricht durch die Hintertr theoretisch unausgewiesen und in hohem Mae implizit eine normative Perspektive ein, erscheint doch das Normale (Stabile) allzuschnell per se problematisch und die Abweichung (als Vernderung) immer irgendwie gut . Ein verbreitetes Beispiel fr diese implizite Normativitt ist die in den poststrukturalistischen Cultural Studies augenfllige Tendenz zur

    12 Die hoch assoziative Schreibweise von Deleuze und Guattari scheint zumindest (mit-)verantwortlich dafr zu sein, dass es hufig gerade die an diese beiden so politischen Autoren anschlieenden Analysen sind, die einen mit rauchendem Kopf zurcklassen, bis man realisiert, dass es zwar strmt und molekularisiert, dass man schon nach dem letzten Satz nicht mehr wirklich wei, was und wohin . Eine Ausnahme in Form und Inhalt stellen beispielsweise jngere Betrachtungen von Raul Zelik dar, der sich nicht scheut, das noma-dische Prinzip und das emanzipatorische Potenzial der Absatzbewegungen aufzugreifen und fr aktuelle soziale Bewegungen dezidiert normativ weiterzudenken: Damit diese Vernderung emanzipatorisch wirkt, darf sie aber nicht nur deterritorialisieren, sondern muss auch Kriterien erfllen: Die Absatzbewegungen mssen solidarische Beziehungen strken, materielle Lebensbedingungen verbessern, Herrschaftsverhltnisse reduzieren . (Zelik 2011: 127)

    13 Untersttzt wird diese Tendenz der De-Politisierung durch jene Diagnosen, die die un-terschiedslose Vereinnahmung aller kritischen, subversiven und nonkonformen Impulse durch den Kapitalismus unterstellen, die auf diese Weise per definitio-nem zum Motor des permanent seine Grenzen berschreitenden kapitalistischen Systems umgearbeitet werden (vgl . z .B . Brckling 2007: 133ff .; kritisch zu dieser Diagnose van Dyk 2009) . System und Kritik werden ununterscheidbar verschrnkt, mit verheerenden Konsequenzen fr die Praxis der Kritik und Subversion .

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    politischen Romantisierung von Mikropraktiken und lokalen Kmpfen in Abgrenzung zu institutionalisierten (Makro-)Strukturen (vgl . kritisch: Stheli 2004) . Hier wird hufig mit Foucault (als zentraler Referenz fr die Bedeutung von Mikro-Praktiken) gegen Foucault eine einfache dichotome Machtordnung mit einer homogenen, repressiven Macht dort oben und den vielfltigen, di-versen, grassroot-Praktiken hier unten restauriert, die bereits die Mglich-keit reaktionrer und anti-emanzipatorischer Mikro-Praktiken konzeptionell ausschliet .14

    Die uneingestandene Normativitt geht dabei ber die Affirmation erklrt anti-institutioneller Dynamiken noch hinaus, scheint in der Forschungspraxis doch hufig eine implizite Emphase fr bestimmte Brche und Verschiebungen durch . Dadurch, dass diese Normativitt theoretisch uneingestanden ist bzw . sogar explizit verworfen wird, entsteht die problematische Verknpfung der the-oretischen Affirmation der Gleich-Gltigkeit aller Ansprche mit der Auswahl von Beispielen und Analysefeldern, die im akademisch-politischen Umfeld als unproblematisch gelten knnen: man interessiert sich nicht fr neo-faschistische, sondern fr progressive Subkulturen, fr anti-institutionelle Praktiken gegen repressive Apparate statt gegen die soziale Infrastruktur etcpp . Das Resultat ist genau das, wogegen poststrukturalistische Theorien eigentlich angetreten sind: Die Entproblematisierung vermeintlich naheliegender, normativer Mastbe des Guten und Richtigen . Wir haben es also mit der Problematik einer Theorie zu tun, die ihren normativen Anspruch nicht mehr theoretisch, sondern nur noch habituell pflegt (Niederberger/Wagner 2004: 185) .

    Handelt es sich bei diesen Rezeptionsweisen und Fortschreibungen nun um eine mehr oder weniger zufllige Entwicklung, die akademischen Produktions-bedingungen und selektiven Lesarten geschuldet ist, oder liegt die Problematik tiefer, bereits auf der Ebene der diskutierten Referenztheorien selbst? Zeigen sich hier womglich die unintendierten, aber dennoch systematischen Neben-effekte einer Perspektive, die die Materialitt von Gesellschaft und Subjekten, die Bedeutung konomischer Strukturen und Prozesse sowie die Mglichkeit gesellschaftlicher und individueller Handlungsautonomie vorrangig dekonst-ruiert und nicht, zumindest nicht mit derselben Emphase, in auch politischer Absicht theoretisch rekonstruiert?

    14 Eindrckliches Beispiel ist die auf Alltagspraktiken rekurrierende Analyse der Antidiszi-plin bei de Certeau (1988) . Zum nicht notwendigerweise emanzipatorischen Charakter von Eigensinn vgl . auch Graefe 2010 .

  • 199Poststrukturalismus. Gesellschaft. Kritik

    2.3 Potenziale, die unausgeschpft bleiben: das theoretische Angebot Judith Butlers

    Ich mchte am Beispiel der Position Judith Butlers aufzeigen, warum die Schwie-rigkeit, das (gesellschafts-)kritische Potenzial poststrukturalistischer Anstze zu heben, trotz aller entsprechenden Anschlusspunkte, auch dieser in die Theorie-architektur eingelassenen Emphase fr die Dekonstruktion geschuldet ist . Butler schliet an Foucaults Subjektivierungsanalysen und die Derridasche Perspektive der Dekonstruktion an, die sie via die Integration von Krper(lichkeit) praxisthe-oretisch zusammenfhrt . Ihr zentrales Argument ist, da ein Subjekt nur durch eine Wiederholung oder Reartikulation seiner selbst als Subjekt Subjekt bleibt, und diese Abhngigkeit des Subjekts und seiner Kohrenz von der Wiederholung macht vielleicht genau die Inkohrenz des Subjekts aus, seine Unvollstndigkeit . (Butler 2001: 95) In Abgrenzung zu Derrida interessiert sie dabei weniger die notwendige Unabschliebarkeit dieser Prozesse im allgemeinen, sondern das in der Wiederholung liegende konkrete Potenzial: Diese Wiederholung oder besser Iterabilitt wird so zum Nicht-Ort der Subversion, zur Mglichkeit einer Neuverkrperung der Subjektivationsnorm, die die Richtung ihrer Normativitt ndern kann . (ebd ., Hervorhebung SvD) Dieser Nicht-Ort der Subversion nimmt in Butlers Werk einen zentralen Stellenwert ein, wobei sie sowohl subversive Krperakte und die Taktik der Parodie (als politischer Praxis) als auch die Aneig-nung und performative Re-Kodierung diskriminierender Sprechakte thematisiert (Butler 1991, 2006) . Deutlich wird im hervorgehobenen Satzteil dabei, dass es nicht darum geht, jegliche normative Grndung zu berwinden, sondern den repressiven Charakter von Letztbegrndungen zu problematisieren die einen Richtungswechsel (kontingenter) Normativitt(en) strukturell verhindern . Zu-gleich hat Butler wiederholt selbstkritisch angemerkt, dass das in der Iterablitt liegende subversive Potenzial in poststrukturalistischen Analysen abstrakt bleibe und zu wenig auf seine empirisch-sozialen Konsequenzen analysiert werde: (F)r mich war und ist der Verlust des Subjekts als Zentrum und Grund von Bedeutung die Mglichkeitsbedingung einer diskursiven Modalitt von Handlungsfhigkeit . Es ist logisch mglich, da solche Verluste solche glcklichen Konsequenzen zeitigen knnen, aber beschreibt irgendwer von uns Verhltnisse, die sozial oder historisch genannt werden knnen? (Butler 1998: 218; Hervorhebung SvD)

    beraus interessant ist in diesem Zusammenhang der Umstand, dass Butler schon frh zugestanden hat, dass sie sich auf die Problematisierung repressiver Subjektformung konzentriert, dass diese aber durch weitere gesellschaftspolitische Ziele und Fragen zu ergnzen sei: Ich rume ein, da das (Anm .: Kritik repressi-ver Subjektformung, SvD) nicht das einzige Ziel ist und da es Fragen sozialer und wirtschaftlicher Gerechtigkeit gibt, in denen es nicht primr um Subjektbildung geht . (Butler 1993: 131f .) Dieser Ball der Hinweis auf die notwendige Verknp-

  • 200 Silke van Dyk

    fung von Subjektivierungskritik und sozialer Frage und die damit einhergehenden Ambivalenzen15 ist in der umfangreichen Butler-Rezeption und -fortschreibung, so weit ich das berblicken kann, bis heute nicht aufgegriffen worden . Butler selbst macht deutlich, wo ihre Prioritt liegt, benennt aber explizit, dass es ge-rade im Hinblick auf Fragen sozialer und wirtschaftlicher Gerechtigkeit immer notwendig sein wird, fr konkrete Institutionalisierungen und Fixierungen von Normen einzustehen ohne das damit einhergehende repressive Potenzial aus dem Blick zu verlieren . Gerade in ihren jngeren Arbeiten betont sie zudem, dass reale Menschen auch im Hinblick auf ihre Subjektkonstitution nicht nach perma-nenter Offenheit streben (knnen) und dass eine theoretische Subjekt(ivierungs)analyse, dies nicht ignorieren drfe: Das Begehren, keine offene Zukunft zu haben, ist jedoch stark, und es ist wichtig, die Macht des Begehrens, Zuknftigkeit schlieen und verwerfen zu wollen, nicht zu unterschtzen . (Butler 2009: 290) Zwar durchzieht auch Butlers Werk eine Emphase fr das Unabgeschlossene und Offene, zugleich scheut sie aber nicht vor Begrndungen ihrer Denkbewegungen zurck, die sie theoriepolitisch einzufangen wei: Was mich politisch bewegt und wofr ich Raum schaffen will, ist der Moment, in dem ein Subjekt das kann eine Person oder ein Kollektiv sein ein Recht oder einen Anspruch auf ein lebenswertes Leben geltend macht, obwohl eine solche Rechtsgrundlage noch nicht besteht, obwohl eine eindeutig ermchtigende Konvention nicht gegeben ist. (Butler 2009: 354, Hervorhebung SvD) Die Norm des lebenswerten Lebens, die die Tatsache der Existenz als normativen Ankerpunkt ausweist, wird hier durch die konkrete Praxis begrndet: Sie ist nicht essentiell gegeben, sondern grndet, wie Balibar (2007: 6) es ausgedrckt hat, in der Kontingenz des Aufstandes selbst. Damit wird Butler ihrem eigenen Anspruch gerecht, sich des poststrukturalistischen Denkens zu bedienen und es im Zuge der Ausrichtung auf spezifische Anliegen zu politisieren, hat die poststrukturalistische Theorie selbst doch aus ihrer Sicht keine notwendigen politischen Konsequenzen (Butler 1993: 39).

    Faktisch verlegt sich ein Groteil poststrukturalistischer Analysen jedoch auf die (wiederholende) Darlegung des subversiven Potenzials statt diese Bedienungs-Aufforderung aufzugreifen und die theoretische Bewegung fortzuschreiben . Und trotz der von Butler selbst formulierten Vorbehalte und Einschrnkungen, steht eben auch in ihrem Denken ganz eindeutig die Dekonstruktion von Gesellschaft und Subjekt im Zentrum, whrend die kontingent-temporren normativen Fun-dierungen der stets notwendigen Re-Konstruktionen nachgeordnet bleiben . In diesem Sinne gibt es einfach wenig konkrete Anregungen, wie genau das

    15 Dies gilt auch ber Butler hinaus: Thomas Seibert und Hanno Pahl weisen (in diesem Heft) darauf hin, dass zentrale poststrukturalistische Referenzautoren den konomischen Kontext und die mit diesem einhergehenden Spaltungen keineswegs ausgeblendet haben .

  • 201Poststrukturalismus. Gesellschaft. Kritik

    Spiel der Wahrheit anders zu spielen ist, um mit Foucault zu sprechen . In eine hnliche Richtung zielt die von Demirovi an Laclau und Mouffe gerichtete Kritik: Auflsung des Gewordenen, erneute Herstellung einer hegemonialen Bedeutungskette und Fixierung der Bedeutungen, schlielich erneut die Ver-flssigung des Sinns . Nur um den Preis, sich niemals zu verwirklichen, werden Freiheit und Gleichheit als Ziele verfolgt . Die Kritik wird darauf beschrnkt, das, was zur Naturalisierung, zur Verdinglichung tendiert, wieder aufzulsen . (Demirovi 2008: 24, Hervorhebung SvD)

    Gegen diese Kritik kann natrlich eingewandt werden, dass genau dieser Fokus auf De-Konstruktion und De-Normalisierung die ureigenste Aufgabe post-strukturalistischer Theorie ist, dass es gerade um den theoretischen Ausweis des Strpotenzials geht, frei nach dem Motto: das Geschft der normativ-repressiven Schlieung betreiben ja bereits alle anderen . Soll eine poststrukturalistische Sozialwissenschaft also nur in den Zwischenrumen der Soziologie (Stheli 2000: 71) spuken und alles, was als sicher gilt, mit einem De- versehen? Und wre es dann allein die Aufgabe einer poststrukturalistisch inspirierten politi-schen Praxis die temporren (Be-)Grndungen und normativen Verortungen im Alltags- und Straenkampf entlassen aus der Theorie zu entwickeln wie zu verwerfen? Ich finde nein . Eine kritische Gesellschaftstheorie kann sich nicht darauf beschrnken, die Mglichkeit von Kritik und Subversion auszuweisen, ohne den mit diesem Ausweis verbundenen Implikationen, Fallstricken und Ambivalenzen in ihren je konkreten sozialen und politischen Kontexten nachzu-gehen, so unabgeschlossen diese auch sein mgen . Ich stimme Niederberger und Wagner (2004: 187) zu, die auf die Gefahr hinweisen, konkrete Interventionen und Parteinahmen hinter der vermeintlich revolutionren ontologischen These verschwinden zu lassen, dass eine andere Welt mglich sei . Stattdessen msse die Theorie unbedingt die radikalkritische und radikalskeptische Beachtung faktischer sozio-politischer Handlungskontexte fortfhren . (ebd .)

    3. (Re-)Politisierung der Kulturalisierung des Sozialen?

    Eine poststrukturalistisch konturierte Gesellschaftskritik steht damit vor einer zweifachen Herausforderung: einerseits grer zu denken, in dem die mikro-politischen Analysen der kulturellen Konstituierung des Sozialen eingebettet werden in eine makrosoziologisch und herrschaftskritisch grundierte Gesell-schaftsanalyse und andererseits konkreter zu werden und die kategoriale (on-tologische) Differenz von konstitutiver Unabgeschlossenheit des Sozialen und je konkreter Verfestigung und Fixierung nicht als abstrakt-subversives Potenzial zu kultivieren, sondern in ihren empirisch-spezifischen Ausprgungen zu analysie-

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    ren . Die Herausforderung dieser Doppelgeste liegt darin, aufzuzeigen, dass und inwiefern Gesellschaft als Bezugsgre aus poststrukturalistischer Perspektive zugleich unmglich und notwendig ist: unmglich, da die Abwesenheit eines stabilen Fundaments die finale Fixierung einer gesellschaftlichen Totalitt ver-hindert (vgl . zur Unmglichkeit des Gegenstandes Gesellschaft: Stheli 1995), notwendig, wenn das Soziale nicht in gleich-gltige Partikularitten zerfallen soll . Der Fokus liegt damit auf den hegemonialen Kmpfen um prekre und temporre (Bedeutungs-)Fixierungen und den Funktionsbedingungen von notwendig aus-schlieenden Grenzen sowie ihren permanenten Durchkreuzungen . Es ist genau diese Lcke zwischen der Unmglichkeit der Schlieung irgendeines Kontextes und dem Kampf um konkrete Institutionalisierungen, die das Feld des Politi-schen konstituiert . Damit treten jene Theorien ins Blickfeld, die die kategoriale Differenz von Dynamik und Verfestigung politisieren, und zwar als Differenz von Politischem als instituierender Kraft und Politik als instituierter Ordnung, die ihre Kontingenz verschleiert . Der Fokus ist dabei nicht auf das traditionelle Feld der Politik beschrnkt, sondern befragt alle Dimensionen von Gesellschaft im Hinblick auf die doppelte Geste von Grndung/Entgrndung (Marchart 2010: 29) . Tatschlich verbleibt jedoch auch die Mehrzahl der Theorien des Po-litischen einem grundlagentheoretischen Ausweis dieser Doppelgeste verhaftet: Was auch hier nicht geleistet wird, bzw . im Sinne einer politischen Philosophie auch gar nicht geleistet werden soll, ist die Analyse konkreter Verfestigungen in quantitativer wie qualitativer Hinsicht, d .h . im Hinblick auf den Grad der Verfestigung/Stabilisierung sowie im Hinblick auf die Bewertung des Fixierten . Dagegen lsst sich mit Balibar jedoch einwenden: Nun kann der immanente gewaltsame Ausschluss, der der Institution oder der Umsetzung des Universalen immanent ist, verschiedene Formen annehmen, die nicht gleichwertig sind und nicht nach der gleichen Politik verlangen . (Balibar 2007: 7) Es sind genau diese notwendigen Differenzierungen, die grundlagentheoretisch nicht zu erschlieen sind und die eine poststrukturalistisch informierte empirische Forschung erfor-dern, die bereit ist anzuerkennen, dass nicht alle Bestimmungen oder Sinndi-mensionen, die Handlungen, berzeugungen und Gegenstnden zukommen, () auf derselben Ebene (liegen) (Niederberger/Wagner 2004: 189), sind doch die unterschiedlichen Niveaus historischer Variabilitt und Stabilitt betrchtlich .

    Wenn Rancire die Gleichheit eines jeden sprechenden Lebens als Ausgangs-punkt whlt und fr nicht institutionalisierbar erklrt, Laclau und Mouffe Frei-heit und Gleichheit als nicht zu verwirklichende Ziele benennen und Butler die Inklusion als unerreichbares Ideal markiert, scheitert dieser theoretische Fokus in gesellschaftskritischer Hinsicht nicht an einem fehlenden Grund, sondern am grundlagentheoretisch gerechtfertigten Bias auf die Unmglichkeit der Realisierung . Die Betonung der konstitutiven Unmglichkeit schiebt sich in

  • 203Poststrukturalismus. Gesellschaft. Kritik

    ihrer Radikalitt vor die empirisch je beschrnkten, potenziell unterschiedlich zu qualifizierenden Weisen der Annherung, des Verfehlens, des Scheiterns und der Verankerung . Statt dass diese (konstitutiv beschrnkten) Weisen und Wege abgeschritten wrden, herrscht auch in vielen Theorien des Politischen ein mehr oder weniger emphatisch aufgeladener anti-institutioneller, anarchistisch geprg-ter Gestus vor,16 der in diesem Punkt kulturtheoretischen Analysen nicht un-hnlich das regressive Potenzial anti-institutioneller Destabilisierungen und die potenziell emanzipatorische Kraft von partiellen Stabilisierungen unterschtzt . Entgegen Foucaults instruktivem Diktum, dass Kritik die Kunst ist, nicht auf diese Weise und um diesen Preis regiert zu werden (Foucault 1992: 129) scheint in der Fokussierung auf die Unmglichkeit von Gesellschaft nicht selten eine Emphase grundstzlicher Unregierbarkeit und Anarchie auf, verkennend, dass Befreiung () nur mglich (ist), wenn es auch Stabilitten und Sicherheiten gibt (Zelik 2011: 126) .

    Interessant fr eine Politisierung poststrukturalistischer Kritik ist nichts-destotrotz die instituierende Kraft des Politischen, die die zuvor eingefhrte dritte Lesart der Affirmation konstitutiver Unabgeschlossenheit begrndet: als Mglichkeitsraum fr die (je nach Ansatz mehr oder weniger ereignishaft-unvorhersehbare) Entstehung des radikal Anderen, bestimmt als Dimension die dem Zugriff sozialer und politischer (systemischer) Domestizierung entkommt (Marchart 2010: 27) . So betont Rancire: Als politisch kann jene Ttigkeit bezeichnet werden, die einen Krper von dem ihm angewiesenen Ort anderswo-hin versetzt; die eine Funktion verkehrt, die das sehen lt, was nicht geschah, was nur als Lrm vernommen wurde . Politisches ist also die Benennung jener Ttigkeit, von der die Ordnung der auf Stellen, Funktionen und Mchte verteilten Krper durch das Einbringen einer Voraussetzung, die dieser Ordnung vollkommen uerlich ist, aufgehoben wird: der Voraussetzung von der Gleichheit eines jeden sprechenden Wesens mit einem jeden anderen sprechenden Wesen . (Rancire 1996: 67, Hervorhebung SvD) Von besonderem Interesse an dieser Perspektive ist der Umstand, dass sie mit einer Rarifizierung des politischen Ereignisses (Marchart 2010: 176) einhergeht so in besonders ausgeprgter Weise bei Alain Badiou (vgl . diesbezglich Seibert in diesem Heft) , dass also der qualifizie-rende (und damit rarifizierende) Ausweis eines ganz bestimmten Bruchs, einer spezifischen Verschiebung vorgenommen wird, die ber das Bestehende hin-ausweist . Damit stehen diese Theorien im Gegensatz zur dekonstruktivistisch

    16 Augenfllig sind die starken Bezugnahmen auf postfundamentalistische politische The-orien im Kontext aktueller post-anarchistischer Theoriedebatten, so z .B . Newman 2011, der emphatisch an Rancire anschliet . Kritisch zur anti-institutionellen Perspektive Rancires fr den Bereich der Bildung vgl . den Beitrag von Loick in diesem Heft .

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    geprgten Rezeption poststrukturalistischer Theorien, die die Abweichung als Regel in den Mittelpunkt des Interesses stellt . Ohne diesen Aspekt hier weiter vertiefen zu knnen, knnte es sich aus meiner Sicht als fruchtbares Unterfangen erweisen, kategoriale Differenzierungen unterschiedlicher Ereignistiefen gegen die Flucht in die unpolitische berhhung der konstitutiv notwendigen und damit allgegenwrtigen Iterabilitt in Anschlag zu bringen: Diese Ereignistiefen knnten dabei durchaus von der Schpfung des radikal Anderem ber die Erschtterung konkreter Verschleierungen von Kontingenzen so durch die Institutionalisierung vermeintlicher Sachzwnge , bis hin zur Re-Kodierung und Aneignung diskriminierender Akte im Sinne von queer politics reichen .

    4. Poststrukturalistische Kritik als Gesellschaftskritik

    Es war mein Anliegen aufzuzeigen, dass die Diskreditierung poststrukturalisti-scher Theorien als mikropolitische Ethnographien des Kulturellen ebenso ber das Ziel hinausschiet wie die pauschale Abwehr als berkomplexe, akademische Exaltiertheit . Poststrukturalistische Theorien bieten, bei allen eingestandenen Tendenzen in diese Richtung, reichhaltige Anschlussmglichkeiten fr eine linke Kritik der herrschenden Ordnung(en) und der Propagierung vermeintlicher Wahrheiten und Sachzwnge . Dabei stellen sie ein theoretisches Rstzeug fr die Sichtbarmachung von Brchen und Verworfenem zur Verfgung, das den Blick fr den Mglichkeitsraum des Nicht-Hegemonialen sowie fr eine ber das Bestehende hinausweisende radikale Kritik ffnet . Im Zuge der Etablierung poststrukturalistischer Anstze ist, wie dargelegt, jedoch eine sukzessive De-Politisierung der Analysen zu konstatieren . Entstanden ist eine poststruktura-listische Kritikblase, die nicht zuletzt auch eine De-Politisierung eines groen Teils der akademischen Linken zur Folge hat(te): Sehr leicht war es,17 sich in einer implizit links grundierten Prozesswissenschaft einzurichten, die das theoretische Instrumentarium bietet, hip und radikal Positionen von anderen zu dekonstruie-ren, whrend die eigene Haltung als rhizomatische oder taktische un(an)greifbar wird . Diese Praxis erinnert an jenen Teil der kommentierenden Linken (sehr

    17 Dennoch ist auch bei den fr diese Verstndnisweise (1) in Bezug genommenen Au-torInnen eine gewisse Emphase der Dynamik nicht zu verleugnen, die diese wichtige Unterscheidung mitunter etwas verwischt (vgl . z .B . Butler 2009: 69f .) . Auch Deleuze und Guattari, die stets betont haben, Absatzbewegungen, Entterritorialisierungen, Bewegun-gen des Molekularen auf der Mikroebene nicht per se positiv zu sehen, tendieren in ihren Ausfhrungen zu einer zumindest affirmativ gefrbten Faszination fr Fluchtlinien und Nomadologie(n) (Deleuze/Guattari 1992) .

  • 205Poststrukturalismus. Gesellschaft. Kritik

    unterschiedlicher Provenienz), der Demonstrationen im richtigen Outfit und mit lssiger Ironie von der Nebenfahrbahn aus beobachtet, um dabei gewesen zu sein, ohne gezhlt zu werden . Zu konstatieren ist in der Folge die Ausbreitung eines theoretischen Anti-Fundamentalismus, der sich in problematischer Weise mit einem impliziten, doppelten Normativismus verbindet: der grundstzlichen Affirmation von Bewegung und Dynamik um ihrer selbst willen be