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DER WEG DER SOZIALDEMOKRATIE NACH DEN WAHLEN MATTHIAS PLATZECK : Die zupackende SPD HUBERTUS HEIL : Vorwärts! MARTIN GORHOLT : Offen und spannend OLAF CRAMME : Erfolg dank Erneuerung MICHAEL MIEBACH : Plädoyer für ehliche Ursachenforschung KLAUS FABER : Rot-grüne Bilanzen und deutsche Umbrüche WOLFGANG SCHROEDER : Zwei schwierige Partner TOBIAS DÜRR : Der Pol der Beharrung THOMAS KRALINSKI : Die (neue) Mitte im Osten? SUSANNE MELIOR : Fliege hoch du Roter Adler Die neue SPD BRANDENBURGISCHE HEFTE FÜR WISSENSCHAFT UND POLITIK HEFT 28 DEZEMBER 2005 www.perspektive21.de

perspektive21 - Heft 28

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Die neue SPD

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DER WEG DER SOZIALDEMOKRATIE NACH DEN WAHLEN

MATTHIAS PLATZECK : Die zupackende SPD

HUBERTUS HEIL : Vorwärts!

MARTIN GORHOLT : Offen und spannend

OLAF CRAMME : Erfolg dank Erneuerung

MICHAEL MIEBACH : Plädoyer für ehliche Ursachenforschung

KLAUS FABER : Rot-grüne Bilanzen und deutsche Umbrüche

WOLFGANG SCHROEDER : Zwei schwierige Partner

TOBIAS DÜRR : Der Pol der Beharrung

THOMAS KRALINSKI : Die (neue) Mitte im Osten?

SUSANNE MELIOR : Fliege hoch du Roter Adler

Die neue SPD

BRANDENBURGISCHE HEFTE FÜR WISSENSCHAFT UND POLITIK

HEFT 28 DEZEMBER 2005 www.perspektive21.de

Seit 1997 erscheint„perspektive 21 – Brandenburgische Hefte für Wissenschaft & Politik“.

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Zur Zeit sind folgende Titel lieferbar:Heft 13 Kräfteverhältnisse – Brandenburgisches ParteiensystemHeft 14 Brandenburgische IdentitätenHeft 15 Der Islam und der WestenHeft 16 Bilanz – Vier Jahre sozialdemokratisch-bündnisgrünes ReformprojektHeft 17 Ende der Nachwendezeit. PDS am Ende?Heft 18 Der Osten und die Berliner RepublikHeft 19 Trampolin oder Hängematte? Die Modernisierung des Sozialstaates.Heft 20 Der Letzte macht das Licht aus?!Heft 21/22 Entscheidung im Osten: Innovation oder Niedriglohn?Heft 23 Kinder? Kinder!Heft 24 Von Finnland lernen?!Heft 25 Erneuerung aus eigener KraftHeft 26 Ohne Moos nix los?Heft 27 Was nun, Deutschland? H

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Das Debattenmagazin

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Wieviel Einspruch verträgt der Mainstream? Heute regieren die 68er – aber was kommt,

wenn sie fertig haben? Die Berliner Republik ist der Ort für eine neue politische Generation:

undogmatisch, pragmatisch, progressiv. Weil jede Zeit ihre eigenen Antworten braucht.

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Die neue SPDA ls Gerhard Schröder und Franz Müntefering am 22. Mai 2005 Neuwahlen

ausriefen, war es für fast alle politischen Kommentatoren klar, dass die Sozi-aldemokratie den Weg des politischen Selbstmords beschreitet. Der Wahlabendsah aber ganz anders aus. Ich behaupte: Das Ergebnis der Bundestagswahl 2005beweist, dass der Neoliberalismus in Deutschland nicht mehrheitsfähig ist – fürviele wirtschaftsliberale und konservative Meinungsmacher eine ernüchterndeErkenntnis. Für die Verteidiger des Primats der Politik über ein reines betriebs-wirtschaftliches Denken jedoch ist das Ergebnis ermutigend. Die Deutschen be-fürworten in ihrer großen Mehrheit einen Weg notwendiger Reformen, der diesoziale Balance in unserem Land nicht aufgibt. Die Regierung der Großen Koali-tion ist die folgerichtige Entscheidung aus diesem Wahlergebnis. Sie bietet dieChance, in einer Phase nichtantagonistischer Kooperation, die notwendige Er-neuerung unseres Landes entscheidend voranzubringen.

Matthias Platzeck hat kurz nach der Bundestagswahl auf den Punkt gebracht,was dieses Wahlergebnis für die SPD bedeutet: „Wer sich am 18. September 2005in freier Wahl für Gerhard Schröder und die deutsche Sozialdemokratie entschie-den hat, unterstützt die SPD nicht obwohl, sondern weil sie den Weg der umfas-senden Erneuerung unseres Landes eingeschlagen hat.“ Nur kurze Zeit später sahsich Matthias Platzeck als neuer Vorsitzender der SPD in der Verantwortung, die-sen Weg in den kommenden Jahren fortzusetzen. Seine Aufgabe wird es sein, densozialdemokratischen Leitgedanken eines fruchtbaren Wechselverhältnisses vonwirtschaftlicher Dynamik und moderner Sozialstaatlichkeit systematisch weiterzu-entwickeln. Letztlich geht es dabei um die Frage der Daseinsberechtigung der So-zialdemokratie im 21. Jahrhundert. Eine wichtige Etappe auf diesem Weg wirddie Debatte um das neue Grundsatzprogramm der SPD sein. Die Aufsätze in die-ser Ausgabe der Perspektive 21 können und sollen auch als Beitrag zu dieser De-batte gelesen werden.

KLAUS NESS

P.S. Mit diesem Editorial verabschiede ich mich als Herausgeber der Perspektive 21. Diesekleine, aber feine Zeitschrift hat in den vergangenen acht Jahren eine ständig wachsendeLeserschaft gefunden. Und ich bin sicher, dass diese gute Entwicklung auch unter der Lei-tung von Thomas Kralinski in den nächsten Jahren fortgesetzt werden kann.

[ vorwort ]

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2 heft 28 | dezember 2005

[ impressum ]

HERAUSGEBER

J SPD-Landesverband Brandenburg

J Wissenschaftsforum der Sozialdemokratie

in Berlin, Brandenburg und Mecklen-

burg-Vorpommern e.V.

REDAKTION

Klaus Ness (ViSdP), Thomas Kralinski (lei-

tender Redakteur), Ingo Decker, Dr. Tobias

Dürr, Klaus Faber, Tina Fischer, Klara

Geywitz, Lars Krumrey, Christian Maaß, Till

Meyer, Manja Orlowski

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Die neue SPDDER WEG DER SOZIALDEMOKRATIE NACH DEN WAHLEN

MAGAZIN—MATTHIAS PLATZECK: Die zupackende SPD. Miteinander statt gegeneinander – für soziale Demokratie im 21. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5

THEMA—HUBERTUS HEIL : Vorwärts!Wie die Sozialdemokratie die Zukunft gewinnen kann . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23

MARTIN GORHOLT : Offen und spannend . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29

OLAF CRAMME : Erfolg dank Erneuerung Wie aus Old Labour New Labour wurde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33

MICHAEL MIEBACH : Plädoyer für ehrliche Ursachenforschung. Will sie wieder Wahlen gewinnen, dann muss die SPD ihre Niederlage eingestehen und verarbeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43

KLAUS FABER : Rot-grüne Bilanzen und deutsche Umbrüche Nach dem Wechsel in der Regierung und an der SPD-Spitze . . . . . . . . . . . . . 53

WOLFGANG SCHROEDER: Zwei schwierige Partner Über das Verhältnis von Sozialdemokratie und Gewerkschaften . . . . . . . . . . . 61

TOBIAS DÜRR : Der Pol der BeharrungWas die „Linkspartei“ für SPD und Parteiensystem bedeutet . . . . . . . . . . . . . . 71

THOMAS KRALINSKI : Die (neue) Mitte im Osten? In Ostdeutschland ist die Lage der SPD eine andere als im Westen . . . . . . . . . 79

SUSANNE MELIOR : Fliege hoch du Roter AdlerWie die SPD in der Fläche an sich arbeitet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89

[ inhalt ]

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[ inhalt ]

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MITEINANDER STATT GEGENEINANDER – FÜR SOZIALE DEMOKRATIE IM 21. JAHRHUNDERTVON MATTHIAS PLATZECK

Die zupackende SPD

I. Im November dieses Jahres brannten in Frankreichs Vorstädten die Autos.Die Ereignisse, die unser Nachbarland bis ins Mark erschütterten, beweisen

uns, wie dringend, wie ganz ungeheuer dringend unsere modernen Gesellschaftenauf Zusammenhalt und Integration angewiesen sind. Diese Bilder machen unsklar, was geschehen kann, wenn das Band der gesellschaftlichen Gemeinsamkeitzerfasert und zu zerreißen droht. Diese Bilder zeigen uns, was geschehen kann,wenn neue Spaltungslinien die Gesellschaft durchziehen, wenn ganze Bevölke-rungsgruppen über Generationen von der Entwicklung in Wirtschaft und Gesell-schaft ausgeschlossen werden. Diese Bilder zeigen uns, was geschehen kann, wennes in einer Gesellschaft zuerst an Bildungschancen mangelt, dann an beruflichenund wirtschaftlichen Perspektiven für Jugendliche und junge Erwachsene. Mitaller Eindringlichkeit wird deutlich, welchen neuen Gefährdungen das Zusam-menleben in unseren europäischen Gesellschaften des 21. Jahrhunderts ausgesetztist. Diesen Gefahren müssen wir begegnen: vorbeugend und weitsichtig, undnicht erst dann, wenn das Kind in den Brunnen gefallen ist. Deshalb erinnernuns die Ereignisse bei unseren Nachbarn in Frankreich noch einmal mit allerSchärfe daran, welche Aufgabe, welche Verantwortung wir Sozialdemokratenheute haben.

Wir wissen: Die Situation bei uns in Deutschland ist nicht dieselbe wie die inFrankreich. Aber genauso wissen wir: Auch bei uns gibt es zunehmend Menschenund Gruppen, die nicht teilhaben an dem, was unsere Gesellschaft ausmacht.

Wir Sozialdemokraten sind die Partei, die hier Verantwortung übernehmen undneue Ideen entwickeln muss. Ganz einfach weil es sonst niemand tun wird, wennwir es nicht tun. Denn worum geht es uns? Was sind unsere Ziele? Was wollen wir?Welche Idee, welches Leitbild von einer guten und lebenswerten Gesellschaft inDeutschland und Europa haben wir?

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[ matthias platzeck ]

Wir sind ohne Wenn und Aber die Partei der einen und zusammengehörigen Ge-sellschaft in Deutschland. Wir sind die Partei der Lebenschancen für alle, die Parteides sozialen Zusammenhalts, der Chancengleichheit, der inneren Einheit Deutsch-lands, die Partei der Solidarität, des Gemeinsinns und der Nachhaltigkeit. Wir sinddie Partei der Aufklärung und des Fortschritts, uns geht es um die soziale Durchläs-sigkeit unserer Gesellschaft, um Aufstiegschancen für alle. So verstehe ich unsere Par-tei. So hat sie sich selbst immer verstanden – 142 Jahre lang. Dieser großen Sozialde-mokratischen Partei anzugehören bedeutet eine große Verpflichtung.

Wir dürfen niemals vergessen: Die Menschen erwarten etwas von uns! Sie erwar-ten von uns, dass wir Probleme lösen und neue Wege eröffnen. Unsere Diskussionenmüssen immer mehr sein als nur Selbstzweck. Die Aufgabe der SozialdemokratischenPartei heißt niemals Selbstbeschäftigung! Sie war und ist die tägliche harte Arbeit da-für, dass das Leben besser wird – besser nicht bloß für die Wenigen, sondern besserfür alle Menschen in unserem Land.

Mit aller Kraft Probleme lösen

Viele Millionen Wählerinnen und Wähler in Deutschland haben uns am 18. Sep-tember ihre Stimmen gegeben. Jeder und jede Einzelne von ihnen hat mit derStimmabgabe für die SPD eine Erwartung verbunden: Die Erwartung, dass wir unsmit aller Kraft mit den Problemen unseres Landes widmen, um sie zu lösen; dass wirdabei sorgfältiger und ernsthafter; dass wir gewissenhafter und gerechter vorgehen alsandere; dass wir ehrlich sagen, was wir meinen und beherzt tun, was wir sagen.

Diese Erwartungen dürfen wir nicht enttäuschen! Darum darf niemals auch nurfür einen einzigen Augenblick der Eindruck entstehen, es würde uns um das Regie-ren gehen nur um des Regierens willen. Es muss uns immer um mehr gehen als umuns selbst. Es geht ums Gestalten, es geht um die große sozialdemokratische Idee dergleichen Freiheit für alle. Und am wichtigsten: Es geht um unser Land, und es gehtum die Menschen in unserem Land – um Menschen, die in ihrem Leben jede nurmögliche Chance haben sollen, alle ihre Potentiale auszuschöpfen. Nur wenn dasgelingt, wird unsere Gesellschaft auch in Zukunft noch lebenswert sein.

Deshalb lag Franz Müntefering so punktgenau richtig mit seinem legendärenSatz: „Opposition ist Mist!“ Genau so ist es doch! Nicht aus Prinzip. Auch nicht,weil wir dann mal eine Zeitlang nicht regieren. Sondern weil wir dann währenddieser Zeit genau diejenigen Dinge nicht vorantreiben und durchsetzen können,von denen wir wissen: Sie sind gut für das Land! Sie sind gut für die Menschen!Und von denen wir noch dazu wissen: Wenn wir uns nicht um diese Aufgaben

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kümmern, dann werden diese Aufgaben liegen bleiben. Die Aufgaben der Sozial-demokratie dürfen aber nicht liegen bleiben! Sie müssen angepackt werden – weilsie so wichtig sind! Und darum haben wir sie in der Vergangenheit angepackt.Und darum werden wir sie auch in Zukunft anpacken!

Wir Sozialdemokraten wollen die eine Gesellschaft der Lebenschancen für alle– der Lebenschancen für jede einzelne Frau, für jeden einzelnen Mann, für jedeseinzelne Kind. Dass es uns um die eine Gesellschaft geht und dass wir tatsächlichalle Menschen meinen, wenn wir von „Lebenschancen“ sprechen – genau dasunterscheidet uns von allen unseren politischen Mitbewerbern.

II.Die Welt ist im Umbruch. Europa tut sich schwer. Amerika geht immeröfter seine eigenen Wege. Zugleich erleben viele asiatische Länder einen

beispiellosen wirtschaftlichen und technologischen Aufbruch. Alle diese Verände-rungen sind real. Sie betreffen uns ganz direkt. Als Exportweltmeister profitierenwir Deutschen von der Globalisierung wie kaum ein anderes Land, doch derWandel verläuft unübersichtlich. Er kennt Verlierer ebenso wie Gewinner unddeshalb machen die Umbrüche der Gegenwart vielen Menschen Angst. Das istverständlich. Aber Angst ist kein guter Ratgeber! Angst lähmt, und Angst machtmutlos! Deshalb suchen die Menschen in Deutschland inmitten der Veränderun-gen nach neuer Orientierung, deshalb brauchen wir positive Ziele und Leitmoti-ve. Deshalb brauchen wir eine optimistische Grundhaltung, wenn die Herausfor-derungen des 21. Jahrhunderts bewältigt werden sollen, eine Grundhaltung derZuversicht und des engagierten Zupackens.

Umso aktueller sind heute unsere sozialdemokratischen Ziele und Grundwerte,weil sie bleibende Ziele und Werte sind und weil sie die richtigen Ziele und Wer-te sind. Es geht um die Leitsterne der Freiheit, der Gerechtigkeit und der Solida-rität. Diese Ziele der sozialen Demokratie werden für unser Land im 21. Jahrhun-dert um nichts weniger wichtig sein, als sie es im 19. und im 20. Jahrhundertwaren.

Es reicht niemals aus, sich im sicheren Besitz der richtigen Ziele zu wissen. Esreicht auch nicht, die richtigen Ziele zu haben – man muss dann auch alles daransetzen, sie zu verfolgen und zu verwirklichen. Gerade wenn wir wollen, dass Frei-heit, Gerechtigkeit und Solidarität in diesem schwierigen 21. Jahrhundert nichtunter die Räder kommen, gerade wenn wir wollen, dass unsere Grundwerte auchdieses neue Zeitalter prägen – gerade dann müssen wir erkennen: Nur als hellwa-che und als lernende Partei, nur als Partei auf der Höhe unserer Zeit können wirunsere Ziele erreichen.

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[ matthias platzeck ]

Ich meine: Das genau war es, was Willy Brandt meinte, als er kurz vor seinemTod 1992 die Worte schrieb: „Nichts kommt von selbst. Und nur wenig ist vonDauer.“ Diese Sätze heißen doch: Die Ziele bleiben, aber die Voraussetzungen fürihre Durchsetzung verändern sich. Gerade weil uns Sozialdemokraten Freiheit,Gerechtigkeit und Solidarität so wichtig sind – gerade darum müssen wir unsimmer wieder aufs Neue fragen, wie wir ihrer Verwirklichung näher kommen.

Gedanken müssen wir uns keinen Augenblick lang darüber machen, ob unsereGrundwerte, ob soziale Gerechtigkeit und Sozialstaat für das 21. Jahrhundertüberhaupt noch die richtigen Ideen sind. Natürlich sind sie das! Und ich kannnirgendwo irgendwelche Sozialdemokraten erkennen, die hierzu eine grundsätz-lich andere Position vertreten würden. Natürlich gibt es bei uns in Deutschlandharte ideologische Gegner der Grundideen und Prinzipien des Sozialstaates. Dassind die Westerwelles, die Henkels und die Merzens unseres Landes. Wir kennensie alle nur zu gut.

Einen neoliberalen Mainstream gibt es nicht

Aber diese Leute werden bei weitem überschätzt. Sie werden überschätzt, vermut-lich weil sie so oft im Fernsehen zu sehen sind. Tatsächlich sind sie nicht dasHauptproblem. Den ständig herbei geredeten „neoliberalen Mainstream“ in derunserer Gesellschaft gibt es in Wirklichkeit überhaupt nicht. Das genaue Gegen-teil ist doch richtig! Alle Untersuchungen, alle Umfragen, alle unsere Erfahrungenim Alltag und nicht zuletzt das Ergebnis der Bundestagswahl beweisen uns doch:Die Grundidee des Sozialstaates, das Prinzip der sozialen Demokratie – dieseGrundidee erfreut sich ungebrochener Beliebtheit und Zustimmung. Und zwarquer durch alle Gruppen unserer Gesellschaft.

Das grundsätzliche Nein zum Sozialstaat war und ist in Deutschland nichtmehrheitsfähig. Weder im Osten noch im Westen. Und das grundsätzliche Neinzum Sozialstaat wird in Deutschland auch in Zukunft keine Chance haben. Da-für werden wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten sorgen, indem wirunseren Sozialstaat systematisch erneuern und weiterentwickeln – und zwar so,dass er niemals zur Belastung wird, sondern klar und unverkennbar zur Kraft-quelle für Wirtschaft und Gesellschaft.

III.Was unseren Sozialstaat heute tatsächlich in Schwierigkeiten bringt, dassind gar nicht seine ideologischen Feinde. Schwierigkeiten macht viel-

mehr, dass unserem Sozialstaat die alten Voraussetzungen abhanden kommen. In

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seiner gewohnten Form stößt er heute an objektive finanzielle und demografischeGrenzen.

Der gewohnte Weg der Problemlösung hieß kräftiges Wachstum: KräftigesWachstum der Wirtschaft, zugleich Wachstum der Bevölkerung, der staatlichenHaushalte, der Sozialbudgets, der Staatsverschuldung. Dieser Weg steht uns heutenicht mehr offen. Wir müssen tatsächlich auf vielen Gebieten lernen, aus wenigermehr und Besseres zu machen.

Aber wer sagt denn, wir könnten nicht auch unter diesen veränderten Bedin-gungen erfolgreich sein? Unser Land ist zu beeindruckenden Erneuerungsleistun-gen im Stande. Das haben wir in den vergangenen 15 Jahren im Prozess der Ver-einigung von Ost und West eindrucksvoll bewiesen – nicht nur die Menschen inden neuen Bundesländern haben das bewiesen, sondern alle Deutschen. UnserLand ist buchstäblich das einzige auf der Welt, das in seiner jüngeren Geschichtedas Zusammenwachsen zweier so radikal unterschiedlicher Wirtschafts- und Ge-sellschaftsordnungen zu bewältigen hatte. Auf den Erfahrungen dieser Zeit imUmgang mit Prozessen des Umbruchs, des Wandels und der Erneuerung könnenwir in ganz Deutschland sehr selbstbewusst aufbauen. Meine persönliche Erfah-rung aus den vergangenen 15 Jahren Aufbau Ost lautet: Soziale Gerechtigkeit istauch heute noch eine Frage der materiellen Verteilung – natürlich ist sie das. Aberzugleich ist soziale Gerechtigkeit heute mehr denn je eine Frage der Verteilungvon Lebenschancen, eine Frage der aktiven Zugehörigkeit, eine Frage des Mitma-chens und des Mitmachen-Könnens.

Bildung ist der zentrale Schlüssel

Frankreich erlebt eine Rebellion von Menschen, denen die entscheidenden Voraus-setzungen für Zugehörigkeit und Mitmachen-Können vorenthalten worden sind.Wir leben heute mitten im Übergang von der Industrie- zur Wissensgesellschaft. DieAnforderungen an die Kenntnisse und Fertigkeiten der Menschen verändern sich.

Der entscheidende Schlüssel zur vollwertigen Beteiligung am Leben der Gesell-schaft heißt Bildung – und zwar mehr als jemals zuvor in der Geschichte. Des-halb ist es die soziale Gerechtigkeitsfrage des 21. Jahrhunderts schlechthin, ob esuns gelingt, gute und gleiche Bildungschancen für alle zu organisieren. Das gilterst recht, weil unter den Bedingungen der Globalisierung nur bildungsreicheGesellschaften auch wirtschaftlichen Wohlstand erzielen und erhalten können.

Schon heute sind in Deutschland Armut an Lebenschancen, Armut an Geld undlangfristige Arbeitslosigkeit in hohem Maße die Folge davon, dass es Menschen an

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zeitgemäßen Qualifikationen und Fertigkeiten mangelt. Wer zu wenig kann und werzu wenig weiß, der wird in der wissensintensiven Wirtschaft und Gesellschaft immergeringere Chancen haben. Keine noch so gute nachsorgende oder betreuende Sozial-politik kann das später wettmachen. Genau hier verlaufen die neuen Spaltungslinienzwischen den Insidern und den Outsidern in unserer Gesellschaft. Die einen sinddrin, und die anderen sind draußen: Damit werden wir uns nicht abfinden!

Das macht gute Bildung für alle zum zentralen Thema der Sozialpolitik. Dasmacht gute Bildung für alle zu einem zentralen Thema der Wirtschaftspolitik.Das macht gute Bildung für alle zu einem zentralen Thema unserer Demokratie.Das macht gute Bildung für alle zu einem zentralen Thema der Gerechtigkeit.Und das macht gute Bildung für alle – aus allen diesen Gründen – zu einem zen-tralen Thema unserer Partei.

Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten sind es, die eine Gesellschaftmit Lebenschancen für alle wollen. Und darum müssen wir im 21. Jahrhundertdie Bildungspartei in Deutschland sein.

IV. Schaffen müssen wir es auch, die Partei für Kinder und Familien inDeutschland zu sein. Viel zu oft ist heute in Deutschland die Rede von

der angeblichen „Überalterung“ unseres Landes. Ich halte dieses Gerede für Un-fug. So etwas wie „Überalterung“ gibt es nicht! Was so beschrieben wird, das istdie steigende Lebenserwartung, das ist die bessere Gesundheit von immer mehrMenschen bis ins hohe Lebensalter. Darüber sollten wir uns doch freuen! DieseEntwicklung ist eine großartige Leistung unserer gesamten Gesellschaft.

Nein, unser Problem heißt nicht „Überalterung“, unser eigentliches Problem ist,dass vielen Älteren in unserem Land einfach nicht mehr genügend Kinder nachfol-gen. In unserem Land werden viel zu wenige Kinder geboren, in unserem Landgehen viel zu viele Kinderwünsche von jungen Menschen nicht in Erfüllung. Abereine Gesellschaft ohne Kinder ist eine Gesellschaft ohne Zukunft! Und deshalbmüssen wir hinkommen zu einer umfassend verstandenen Politik der Nachwuchs-sicherung. Deshalb wird die neue Bundesregierung Familien fördern und ihnendas Leben erleichtern, werden wir das Elterngeld einführen, werden wir die Kin-derbetreuung steuerlich fördern, werden wir die Angebote zur Tagesbetreuung vonKindern und die Ganztagesbetreuung ausbauen, damit Familie und Beruf besservereinbar werden. Das alles sind zutiefst sozialdemokratische Themen!

Aber wir wollen auch, dass jedes einzelne geborene Kind gute und gleiche Le-benschancen hat. Auch das ist eine Gerechtigkeitsfrage, auch das ist ein zentralessozialdemokratisches Thema des 21. Jahrhunderts. Viel zu viele Kinder in

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Deutschland bekommen nicht die Förderung, die sie brauchen. Viel zu viele blei-ben ohne Schulabschluss, ohne Qualifikationen, ohne Perspektive. Unser Landkann sich diese Ungerechtigkeit nicht leisten – nicht moralisch und auch nichtökonomisch! Unser Land braucht jedes einzelne dieser Kinder, jeden einzelnenJugendlichen, jeden einzelnen Menschen: Das muss die große sozialdemokrati-sche Zielmarke für das 21. Jahrhundert sein!

Zufrieden ist, wer anpacken kann

Gebraucht zu werden – das ist für Menschen das Entscheidende. Gebraucht zuwerden schafft Lebenssinn, gebraucht zu werden schafft Zufriedenheit, schafftsozialen Zusammenhang. Wir alle kennen das aus der eigenen Erfahrung: Manpackt mit an, man hilft sich gegenseitig, man nimmt sich Zeit füreinander, mantut sich mit anderen für gemeinsame Zwecke zusammen. Und man verspürtFreude dabei – ganz einfach weil es gut tut, gebraucht zu werden.

Wo Bürgerinnen und Bürger handfest erleben, dass sie selbst ihr eigenes Ge-meinwesen gestalten, wo Menschen anpacken und sich füreinander engagieren,da wenden sie sich auch dann auch nicht verbittert ab, wenn es einmal schwierigwird. Ich bin sicher: Es sind in Wahrheit nicht nur materieller Erwerb und Besitz,was die Zufriedenheit der Menschen ausmacht. Es ist gerade auch das gemein-schaftliche Zupacken an sich, dass Menschen Befriedigung verschafft.

Schon aus diesem Grund müssen wir daran arbeiten, in Deutschland eine neueGrundhaltung des gemeinsamen Zupackens zu entwickeln. Zupackende Men-schen sind die zufriedeneren Menschen. Deshalb wünsche ich mir die SPD alseine Partei zupackender und optimistischer Menschen in einem tatkräftigenLand. Das sozialdemokratische Bild von Deutschland ist das Bild eines zupacken-den Landes – eines Landes der tatkräftigen Erneuerung für alle und durch alle.

V. Wir tun uns nicht leicht damit, das Neue und die Veränderung als Chancezu begreifen. Da ist der Erneuerungsdruck der Globalisierung. Da ist die

Demografie. Da ist die Tatsache, dass erfolgreiches Wirtschaften immer mehr aufWissen und Qualifikationen angewiesen ist. Ja, das alles ist schwierig, gar keineFrage. Das alles wirkt auch manchmal bedrohlich, auch das ist richtig. Aber gera-de wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten dürfen uns niemals falschenAlternativen aufschwatzen lassen.

Mein Eindruck ist: Es liegt an diesem Denken in den falschen Alternativen,dass wir Erneuerung und Aufbruch zuweilen so misstrauisch gegenüberstehen. Es

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[ matthias platzeck ]

stimmt aber nicht, dass wir nur die Wahl haben zwischen Pest und Cholera. Esstimmt einfach nicht, dass wir heute nur noch wählen können zwischen ideenlo-ser Beharrung und brutalen marktradikalen Rosskuren à la Maggie Thatcher.

Wir Sozialdemokraten haben eine gute, altehrwürdige Tradition des Internatio-nalismus. Wir haben schon immer über Grenzen hinweg die Kooperation ge-sucht. Wir haben schon immer genau hingeguckt, wie es die anderen machen,um von ihnen zu lernen. Diese internationale Zusammenarbeit will ich fortfüh-ren und weiter intensivieren. Wir Deutschen sind heute mehr denn je zuvor inEuropa und der Welt zu Hause. Zugleich ist Europa die einzige wirklichkeitstaug-liche Antwort auf die Herausforderung der Globalisierung.

Wie lassen sich Schutz und Flexibilität verbinden?

Nur mit Europa und nur in Europa werden wir erfolgreich sein. Und wir werdenunsere Krise überwinden, je mehr wir bereit sind, von den Erfolgen anderer Eu-ropäer zu lernen. Ich denke da zum Beispiel an Poul Nyrup Rasmussen, früherdänischer Ministerpräsident, heute Vorsitzender der Sozialdemokratischen ParteiEuropas. Poul hat in Dänemark mit seinem Konzept der „Flexicurity“ bemerkens-werte neue Wege der Sozial- und Arbeitsmarktpolitik beschritten. Wie kriegenwir es hin, in Staat und Gesellschaft die nötige Flexibilität und den genauso nöti-gen sozialen Schutz auf produktive Weise miteinander zu verbinden? Es ist dierichtige Frage. Sicher, wir müssen unsere eigenen Antworten auf sie finden – aberAntworten finden müssen wir auf jeden Fall.

Ich denke auch an Finnland. Ich habe mir die nordeuropäische Wirklichkeitgenauer angesehen. Ich wollte genauer wissen: Woher kommen im 21. Jahrhun-dert gute Arbeitsplätze her, die nicht von Abwanderung bedroht sind? Was schafftWachstum? Was schafft Wohlstand und soziale Gerechtigkeit unter den Bedin-gungen der Globalisierung?

Finnland ist heute die international wettbewerbsfähigste Volkswirtschaft über-haupt. Finnland schneidet am besten ab in allen internationalen Schul- und Bil-dungsvergleichen. Der finnische Staatshaushalt ist Jahr für Jahr mindestens ausge-glichen. Finnland erzielt seit Jahren Wachstumsraten weit oberhalb des europäi-schen Durchschnitts. Und es war in den neunziger Jahren die sozialdemokratischeRegierung unseres Freundes Paavo Lipponen, die diese Erfolge möglich gemachthat.

Ich habe Paavo Lipponen gefragt, worin das finnische Erfolgsgeheimnis be-steht. Die Antwort ist einfach und kurz: Es gibt kein Geheimnis, kein Rätsel,

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[ die zupackende spd ]

kein Mysterium. In Finnland ist allen heute völlig klar: Ganz allein auf die Men-schen kommt es an. Ganz allein auf ihre eigenen Potentiale, auf ihre eigenenIdeen, auf ihre eigene Kreativität. Die muss man fördern, die muss man pflegen –von klein auf in jedem Kind und immer wieder neu im Lebensverlauf. Mit sozia-len Sicherheitsnetzen, auf die sich die Menschen im Ernstfall ohne Wenn undAber verlassen können.

Ich weiß natürlich: Jedes Land hat seine eigenen Bedingungen. Nicht alles istohne weiteres vergleichbar. Aber von den zukunftsweisenden Prinzipien und derzupackenden Grundhaltung der Nordeuropäer können wir lernen: Jeder wirdgefördert! Jeder wird gefordert! Niemand darf zurückgelassen werden! Keiner wirdaufgegeben! Und das betrifft alle Politikfelder quer durch die Bank. Da geht esum die Bildungspolitik, da geht es um die Familienpolitik, da geht es um Wirt-schaftspolitik, um Technologie- und Innovationspolitik. Und ein Rad greift dabeisystematisch ins andere. Das muss auch unser Ziel sein! Genau das kann undmuss uns auch gelingen!

Wir wissen: Gemeinsamkeit, eine Kultur des Vertrauens und des Miteinandermachen stark – und zwar jeden einzelnen Menschen und die ganze Gesellschaft!Genau das schafft soziale Gerechtigkeit und wirtschaftliche Dynamik zugleich.Wir wissen: Wenn wir soziale Gerechtigkeit wollen, dann brauchen wir wirt-schaftliche Dynamik. Und damit wir wirtschaftliche Dynamik bekommen, brau-chen wir soziale Gerechtigkeit.

Aus eigener Kraft erfolgreich sein

Dynamische Wirtschaft und Innovation auf der einen Seite – sozialer Schutz, Bil-dungs- und Lebenschancen für möglichst viele Menschen auf der anderen: Beidesist unter den Bedingungen des 21. Jahrhunderts grundsätzlich immer nur mitein-ander zu haben und nicht gegeneinander. Denn beides gehört zusammen. Beidesbedingt sich gegenseitig. Beides darf niemals gegeneinander ausgespielt werden.Genau das ist die Philosophie, mit der wir aus eigener Kraft erfolgreich sein kön-nen. Und genau das ist die Leitidee für unsere Zeit, mit der auch die deutscheSozialdemokratie im 21. Jahrhundert erfolgreich sein kann und erfolgreich seinwird. Ich bin sehr zuversichtlich: Wir werden den Leitgedanken vom fruchtbarenWechselverhältnis zwischen erneuertem Sozialstaat und innovativer Wirtschaftsystematisch und nachhaltig weiterentwickeln. Dann hat unsere Partei alle Chan-cen, zur prägenden Kraft der kommenden Jahre in Deutschland zu werden. Ge-winner werden die Menschen in unserem Land sein.

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[ matthias platzeck ]

VI.Nur aus dem funktionierenden Wechselverhältnis zwischen modernemSozialstaat und moderner Ökonomie wird in Deutschland zugleich neues

Vertrauen in die eigene Kraft entstehen. Kaum etwas wird heute in unserem Landso dringend gebraucht wie Vertrauen und Selbstvertrauen. Vertrauen ist der Kitt,der eine intakte Gesellschaft zusammenhält. Vertrauen ist der entscheidende Roh-stoff, der Gemeinsamkeit und Solidarität, der Aufbruch und neue Zuversichtüberhaupt erst möglich macht.

Ohne ein Grundklima des Vertrauens und des Selbstvertrauens kann keinePolitik erfolgreich sein. Wo Menschen oder sogar ganze Regionen das Vertrauenverlieren, auf dem richtigen Weg zu sein, da gerät die Demokratie in Gefahr. Unddeshalb: Gut für unser Land ist alles, was mehr Vertrauen schafft – und nichtweniger. Gut für unser Land ist alles, was mehr Gemeinsamkeit schafft – nichtweniger. Gut für unser Land ist, was den Zusammenhalt und die Solidarität derMenschen stärkt – und sie nicht schwächt. Und umgekehrt: Schlecht für unserLand ist alles, was Vertrauen, Gemeinsamkeit und Zusammenhalt beschädigt.Schlecht für unser Land ist alles, was Misstrauen schafft, was Menschen gegenein-ander aufhetzt und gegeneinander in Stellung bringt. Gemeinsamkeit, Miteinan-der, Vertrauen zueinander und Vertrauen in die eigene Kraft. Gemeinsamkeit,Miteinander, Vertrauen zueinander und Vertrauen in die eigene Kraft – das sinddie Grundvoraussetzungen für alles weitere.

Mehr als die Summe der Einzelteile

Das gilt übrigens auch für unsere eigene Partei. Wie alles im Leben hat auchunsere Fähigkeit, unser Land voranzubringen, ihre Voraussetzungen. Sie hat zurVoraussetzung, dass wir zunächst in unseren eigenen Reihen zu einer Kultur desVertrauens, eine Kultur der Zusammenarbeit und des Miteinander fähig sind.Daran sind in den vergangenen Wochen gewisse Zweifel entstanden. Und das hatuns allen zusammen nicht geholfen. Darum müssen wir diese Zweifel so schnellwie irgend möglich wieder ausräumen. Nur wenn wir selbst zu Kooperation undGemeinsamkeit imstande sind, werden wir die Menschen in Deutschland von derKraft unserer Ideen und Konzepte überzeugen.

Ich möchte, dass die deutsche Sozialdemokratie eine lebhafte und diskussions-freudige Partei ist. Wo sich so vieles ändert wie in unserer Zeit, da gibt es viele,viele offene Fragen. Da ist es nicht nur erlaubt, sondern da ist es dringend nötig,Ideen zu entwickeln und die offene Debatte über Ziele und Mittel zu führen.Nur eine debattierende Partei ist eine lebendige Partei, und nur eine lebendige

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[ die zupackende spd ]

Partei entwickelt Strahlkraft. Nur eine lebendige Partei wirkt attraktiv und anzie-hend auch auf ihre Umwelt. Wo nichts los ist, da geht niemand hin.

Eines aber darf uns dabei niemals auch nur für einen einzigen Moment ausdem Blick geraten: Die Sozialdemokratische Partei Deutschlands ist mehr als dieSumme ihrer Flügel und Fraktionen, ihrer Arbeitsgemeinschaften und Gliederun-gen. Die SPD ist und bleibt die eine und unteilbare Sozialdemokratische ParteiDeutschlands.

Sie ist eine Partei mit einer offenen Diskussionskultur. Aber sie ist zugleich einePartei, in der am Ende mit Mehrheit Entscheidungen getroffen und Beschlüssegefasst werden. Sie ist eine Partei mit einer gewählten Führung. Die heißt übrigensdeshalb so, weil von ihr erwartet wird, dass sie die Partei tatsächlich führt.

Wir wollen Wahlen gewinnen

Auch das ist nicht Selbstzweck, sondern politische Notwendigkeit. Eine Wahlliegt gerade erst hinter uns, die nächsten Landtagswahlen und die hessischenKommunalwahlen stehen uns schon wieder ins Haus. Alle diese Wahlen sindwichtig, und diese Wahlen wollen wir gewinnen.

Wir alle wollen, dass sie diese Auseinandersetzungen gewinnen. Auch dafürbrauchen wir ein starkes und geschlossenes Führungsteam. Dazu gehört an ersterStelle Franz Müntefering, der als Vizekanzler und als Arbeitsminister der GroßenKoalition dafür sorgen wird, dass die sozialdemokratische Handschrift auch in derneuen Regierung klar und deutlich erkennbar bleibt.

In dieses Team gehört auch Hubertus Heil. Ich möchte, dass er Generalsekretärwird, weil ich davon überzeugt bin, dass er diesen Job richtig gut machen wird.Es nützt nichts, darum herum zu reden: In unserer Partei sind in den vergange-nen Wochen Fehler gemacht worden, und auch Hubertus hat nicht immer nuralles richtig gemacht. Das weiß er selbst. Aber die Wahrheit ist auch: Wir brau-chen mehr junge Leute in der Verantwortung. Die Zahl der jungen politischenTalente in unserer Partei ist übersichtlich. Wir können es uns nicht erlauben,auch nur einen oder eine einzige unterwegs zu verlieren. Wir brauchen sie alle.Und darum sollten wir jetzt einen dicken Strich unter die Turbulenzen der ver-gangenen Wochen ziehen und nach vorne blicken.

VII.Die Sozialdemokratische Partei Deutschlands ist eine lernfähige undlernende Organisation. Auch Sozialdemokratinnen und Sozialdemokra-

ten machen Fehler – aber sie machen nicht mehrmals hintereinander dieselben

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[ matthias platzeck ]

Fehler. Die Aufgaben und Auseinandersetzungen werden schwierig genug. Wirwerden ihnen nur gerecht, wenn wir uns als die eine Sozialdemokratische ParteiDeutschlands immer wieder aufs Neue Klarheit darüber verschaffen, wofür wirstehen. Wer wir sind. Und was uns von unseren Mitbewerbern unterscheidet.

Diese Einigkeit brauchen wir. Wir brauchen sie angesichts eines Gegners, der in den vergangenen Monaten zu Unrecht etwas aus dem Blick geraten ist. Das istder organisierte Rechtsextremismus in unserem Land. Nur auf den ersten Blickgeben die mageren 1,6 Prozent für die NPD am 18. September den Verharmlo-sern Recht. Hat dieses Resultat nicht die ewige Chancenlosigkeit des Rechtsex-tremismus in Deutschland bewiesen? Und ist dann nicht an der Zeit, Entwar-nung zu geben? Die Antwort lautet klar und deutlich: Nein! Demokraten könn-ten keinen größeren Fehler begehen! Ob eine demokratische Gesellschaft tolerantund lebendig ist, das entscheidet sich nicht allein an Wahltagen. Das entscheidetsich an den Graswurzeln der Gesellschaft, im ganz normalen Alltag der Menschenin den Dörfern und Städten, auf den Schulhöfen und Bahnhofsvorplätzen unseresLandes.

Rechtsextremismus schadet Land und Leuten

Genau hier setzen die Rechtsextremisten ihren Hebel an. Sie treten nicht mehr inabschreckender martialischer Kluft auf, mit Glatze und Springerstiefeln. Stattdes-sen präsentieren sie sich oft freundlich und verbindlich. Sie haben ihre Strategiegeändert. Es geht ihnen um die Durchdringung unserer Gesellschaft von derBasis her. Hier wächst still und unheimlich eine große Herausforderung für dieSPD heran: Wir müssen selbst noch mehr auf die Menschen zugehen. UnsereGenossinnen und Genossen aus Sachsen wissen am besten von allen, wovon ichrede. Hier arbeitet die NPD mit dieser Strategie. Hier sitzt sie im Landtag, hierist sie bei der Bundestagswahl auf 4,8 Prozent gekommen, in 8 von 17 sächsi-schen Wahlkreisen sogar über 5 Prozent.

Diese Strategie der vermeintlich netten neuen Nazis darf niemals aufgehen – undsie wird auch nicht aufgehen! Es sind dieselben Rechtsextremisten mit derselbenrassistischen und antisemitischen Ausgrenzungsideologie wie zuvor. Um es klar zusagen: Scheinbar nette Rechtsextremisten, die im Seniorenwohnheim zur GitarreVolkslieder vorsingen oder Schulkindern bei den Hausaufgaben helfen, sind immernoch Rechtsextremisten – Rechtextremisten mit derselben abstoßenden und men-schenfeindlichen Blut-und-Boden-Ideologie wie eh und je. Diese Leute wollen wirin Deutschland nicht, sie schaden den Menschen und sie schaden unserem Land!

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[ die zupackende spd ]

Aber die bloße Abwehr der Feinde von offener Gesellschaft und freiheitlicherDemokratie reicht noch nicht. Als Sozialdemokraten müssen wir die Auseinan-dersetzung mit unseren Gegnern und Konkurrenten immer offensiv führen. Wirmüssen positiv definieren, wer wir sind, was wir wollen und warum wir es wollen.Zu unseren Prinzipien gehören Ehrlichkeit und Aufklärung. Populistische Parolenjeder Art widersprechen allen Werten, für die wir aus tiefer Überzeugung stehen.Aber es wäre nicht nur moralisch falsch, ebenfalls in den Wettlauf der populisti-schen Gaukler einzusteigen – es würde uns auch überhaupt nichts nützen.

VIII.Wir Sozialdemokraten dürfen niemals in einen Überbietungswettbe-werb mit Populisten einsteigen. Wir müssen den Menschen immer

wieder sehr geduldig, sehr aufklärerisch, aber auch sehr entschieden erklären, wasgeht und was nicht geht. Wir müssen mit den Menschen in Deutschland darüberreden, vor welchen Schwierigkeiten wir heute stehen; aber vor allem auch darü-ber, welche Chancen wir gemeinsam haben. Meine ganz persönliche Erfahrungaus den Wahlkämpfen der vergangenen Jahre lautet: Wenn es drauf ankommt,unterscheiden die Menschen sehr genau, wer ihnen das Blaue vom Himmel ver-spricht und wer an ernsthaften Lösungen für ihre Probleme arbeitet.

Für die Volkspartei SPD bedeutet das: Sie kann und sie wird auch in Zukunftnur erfolgreich sein als Partei der linken Mitte. Das heißt zunächst, dass wir denPlatz in der Mitte unserer Gesellschaft behaupten und verteidigen müssen. DieMitte unserer Gesellschaft, das sind die vielen, vielen Millionen von ganz norma-len Menschen und Familien unseres Landes. Menschen, die arbeiten gehen undsich an Recht und Gesetz halten. Menschen, die von uns ganz handfeste Lösun-gen für ihre ganz konkreten Probleme erwarten. Diese Menschen dürfen wir nie-mals im Stich lassen. Ihnen müssen wir Sozialdemokraten Tag für Tag aufs Neuebeweisen, dass wir auf ihrer Seite stehen.

Links sein, heißt neugierig und kreativ sein

Aber Partei der linken Mitte zu sein heißt zugleich auch, dass wir uns immer imKlaren sein müssen, was „links“ bedeutet – und was „links“ eben nicht bedeutet.Es gibt in Deutschland seit Neuestem eine Partei, die nennt sich „Linkspartei“.Vorher hieß sie PDS. Meine Position zu dieser Umbenennung ist sehr klar: Diesich „links“ nennende Partei ist in Wahrheit alles Mögliche. Sie ist populistisch,sie ist rückwärtsgewandt, sie ist vorgestrig – nur „links“, das ist sie ganz sichernicht.

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[ matthias platzeck ]

Seit wann steht „links“ für Abschottung? Seit wann ist es „links“, gegen „Fremd-arbeiter“ zu agitieren? Seit wann ist es „links“, die Wirklichkeit zu ignorieren? Dasalles ist das Gegenteil von „links“. „Links“ ist etwas anderes. „Links“ ist ein Begriffvon Gerechtigkeit, der sich an Freiheit und an Gleichheit orientiert. „Links“ be-deutet, alles zu tun, um bessere Lebenschancen für mehr Menschen zu schaffen.„Links“ bedeutet Bewegung, Aufbruch, Aufbau, bedeutet neue Ideen, Zuversichtund Neugier, Kreativität und Weltoffenheit.

Aber genau deshalb haben sich Sozialdemokratinnen und Sozialdemokratenauf den Weg gemacht, um unser Land auf einen Kurs der inneren Erneuerung zubringen. Nicht durch Beharrung, nicht durch den nostalgischen Blick zurück ent-stehen heute neue Lebenschancen für mehr Menschen, sondern nur durch diezeitgemäße Erneuerung unserer Gesellschaft. Darum geht es!

Wer verspricht, dass mit den Rezepten der Vergangenheit alles wieder werdenkönnte, wie es einmal war, der verrät in Wirklichkeit genau die Menschen, die erzu vertreten behauptet. Der verrät sie, weil er ihnen außer Parolen und Feindbil-dern überhaupt nichts zu bieten hat. „Links“ ist die beharrliche Arbeit daran, un-ter den neuen Bedingungen dieses Jahrhunderts neue Chancen für möglichst allezu erreichen. Mit immer besserer Vermittlung und mehr Förderung in der Ar-beitsmarktpolitik. Mit immer besserer Betreuung für unsere Kinder, mit immermehr Ganztagsschulen und mit einer Familienpolitik, die Kinder und Beruf ver-einbar macht. Mit hervorragender Bildung für alle Kinder unabhängig von ihrersozialen Herkunft. Mit international wettbewerbsfähiger Wissenschaft und For-schung, die neue Arbeitsplätze in Deutschland schafft. Und mit einer umfassen-den Politik der Nachwuchssicherung angesichts des Umbruchs in der Demogra-fie. Dafür steht die deutsche Sozialdemokratie! Wir sind die Partei der Erneue-rung aus eigener Kraft. Darauf können wir stolz sein!

IX.Und auf noch etwas sind wir stolz: Wir Sozialdemokraten sind die Parteides Friedens und der Friedenssicherung in Deutschland. Dafür standen

Willy Brandt und Helmut Schmidt. Und in genau dieser großen historischen Tra-dition steht auch Gerd Schröder. Auf diese Leistung kann Gerd Schröder und dieganze Partei stolz sein.

Mit Gerhard Schröder und Franz Müntefering an der Spitze hat die SPD diesenrichtigen Weg für unser Land entschlossen eingeschlagen. Dazu hat viel Mut ge-hört. Denn wenn die Erneuerung zu lange hinausgeschoben wird, dann braucht esviel Mut, endlich doch noch damit anzufangen. Wir Sozialdemokraten haben denMut aufgebracht, den Menschen klar zu sagen, warum das Weiter-so nicht mehr

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[ die zupackende spd ]

funktioniert. Mit dieser Ehrlichkeit erntet man keine stürmischen Jubelstürme, dashaben wir erlebt.

Aber wir haben auch erlebt, dass man sich mit dieser Haltung etwas andereserwirbt: Man erwirbt sich Respekt, Achtung, Anerkennung – und zwar ganz all-mählich. Die Menschen erkennen nämlich, dass man es ernst mit ihnen meint,gerade weil man ihnen nicht nach dem Munde redet. Die Menschen sind zu ge-winnen. Sie sind dann zu gewinnen, wenn sie spüren, dass man es wirklich ernstmit ihnen meint. Das ist unsere große Chance gegen die Verbalradikalen vonrechts bis links.

X.Wir brauchen in Deutschland einen neuen Geist des gemeinsamen Anpa-ckens, einen Geist der Kooperation, des Miteinander, der Zusammenarbeit.

Wenn wir diese positive Grundhaltung der Zusammenarbeit hinbekommen, dannist unsere Lage alles andere als aussichtslos. Die jetzt vereinbarte Große Koalition istder Ort, an dem sich die Fähigkeit zur Zusammenarbeit über Parteigrenzen hinwegbewähren muss. Ich bin nach den Gesprächen und Verhandlungen der vergangenenWochen sicher, dass dies gelingen wird.

Gebraucht wird in der Großen Koalition vor allem die Fähigkeit zum intelli-genten Kompromiss. Manche in unserer Partei befürchten, darüber könntenIdentität und Profil der SPD verloren gehen. Ich teile diese Befürchtung aus-drücklich nicht. Denn der Wettbewerb um die besseren Ideen für unser Landwird durch die Große Koalition nicht ausgesetzt. Allein von uns selbst hängt esab, ob unsere Partei als aktiver Motor der Erneuerung jederzeit erkennbar bleibt.

Ich wünsche mir, dass unsere Partei ein Ort ist, in der gute Ideen und Engage-ment jederzeit eine Anlaufstelle haben. Wenn uns das gelingt, dann braucht unsum unser Profil nicht bange zu sein. Darum will ich, dass wir die Diskussion umunser neues Grundsatzprogramm auch als Wettbewerb der guten Ideen wird, mitdem wir auch neue Strahlkraft in die Gesellschaft hinein entwickeln. Und deshalblade ich alle Bürgerinnen und Bürger ein: Wer sich mit Ideen und mit Tatkraft ander Erneuerung unseres Landes beteiligen will, dessen Platz ist in der SPD und ander Seite der SPD.

Ärmel aufkrempeln und zupacken

Ja, die Zeiten sind schwierig. Und ja, sie werden vorerst auch schwierig bleiben.Wir werden die Ärmel aufkrempeln und zupacken müssen. Es geht um viel. Unddeshalb werden in Deutschland in den kommenden Jahren buchstäblich alle

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[ matthias platzeck ]

Kräfte gebraucht – ganz sicher auch die Kräfte der Gewerkschaften. Auch imabgelaufenen Bundestagswahlkampf habe ich in jeder einzelnen meiner Redenlaut und deutlich einen zentralen Satz gesagt: „Ich kann mir Deutschland ohneGewerkschaften nicht vorstellen – und ich will es auch nicht.“ Zu diesem Satzstehe ich ohne jede Einschränkung. Mir ist es wichtig, dass die Gewerkschaftenaus dem notwendigen Prozess der Erneuerung unseres Landes nicht geschwächthervorgehen, sondern gestärkt. Deshalb wünsche ich mir eine Erneuerungspart-nerschaft zwischen SPD und Gewerkschaften.

Die deutschen Gewerkschaften sind keine Dinosaurier. Im Alltag unseres Landestragen sie längst dazu bei, den Wandel zu gestalten – mit großer Professionalität,mit Ideen und Engagement. Da geht es um effektive Beschäftigungssicherung, dageht es um nachhaltige Qualifikation, da geht es um innovative Tarifpolitik und umvieles andere, was unserem Land nützt. Auf allen diesen Gebieten sind die Gewerk-schaften in Deutschland nicht Teil des Problems, sondern sie sind Teil der Lösung!Und deshalb möchte ich, dass wir gemeinsam mit den Gewerkschaften beharrlichnach Wegen suchen, um in der veränderten Arbeitsgesellschaft des 21. Jahrhundertszu bestehen. Dabei wird es nicht ohne Konflikte abgehen – wo gibt es keine Kon-flikte? Aber entscheidend ist der gemeinsame Wille, unter sich verändernden Bedin-gungen Gerechtigkeit herzustellen. Und auch hier gilt: Nicht gegeneinander, son-dern nur miteinander wird uns das gelingen. Nicht in der Konfrontation, sondernim Mitgestalten liegt der Schlüssel zu gemeinsamer Stärke. Das historische Bündniszwischen Sozialdemokratie und Gewerkschaften ist wichtiger denn je.

„Nichts kommt von selbst, wenig ist von Dauer“

Ich habe die ersten 35 Jahre meines Lebens in einer vollkommen anders organi-sierten Gesellschaftsordnung verbracht. Das ist nicht zu ändern. Ich bin darüberauch nicht unglücklich. Ich bin klipp und klar Ostdeutscher sozialisiert. Ich bindas gerne und stehe dazu. 35 Jahre habe ich in Potsdam auf der anderen, der ost-deutschen Seite der Glienicker Brücke gewohnt. Die Glienicker Brücke ist dieBrücke zwischen Potsdam und West-Berlin, wo in der Zeit des Kalten Krieges abund zu bei Nacht und Nebel Agenten ausgetauscht wurden. Ich habe dort natür-lich mit dem Gefühl gewohnt, dass ich über diese Brücke nie gehen werde; daswar Normalität für mich. Vor fast genau 16 Jahren bin ich über diese Brückegegangen. Ich schäme mich nicht zu sagen, dass ich noch heute manchmal Sonn-tag früh, wenn dort kein Betrieb ist, über diese Brücke gehe und das Glücksge-fühl immer wieder genieße. Liebe Genossinnen und Genossen, ich möchte nicht,

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[ die zupackende spd ]

dass mir das verloren geht. Ich habe in diesem Umbruch erfahren, dass viel dranist an dem Satz von Willy Brandt, wir müssten uns klar machen, dass nichts vonDauer ist. Ich habe in dem Umbruch erfahren, dass man sich immer den Blickfür die Risiken und Chancen einer Gesellschaft offen halten soll. Ich möchtemein Land, ich möchte unser Deutschland gegen kein anderes Land auf der Welteintauschen. Es ist ein wunderbares Land. Ich bin froh, in diesem Land lebenund arbeiten zu können. Aber nichts kommt von selbst. Dieses lebenswerte Landist kein naturgegebener Zustand. Es ist eine tägliche Aufgabe. Lasst uns diese Auf-gabe annehmen. Vergeuden wir jetzt also keine Zeit, sondern fangen wir an zuarbeiten. L

MATTHIAS PLATZECK

ist Vorsitzender der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands und Ministerpräsident Brandenburgs.

Dies ist die bearbeitete Fassung der Rede von Matthias Platzeck auf dem Karlsruher SPD-Parteitag vom 15. November 2005.

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WIE DIE SOZIALDEMOKRATIE DIE ZUKUNFT GEWINNEN KANN VON HUBERTUS HEIL

Vorwärts!

I.Was hat sich letztlich als seineSache erwiesen?“ – so fragte

jüngst der Tagesspiegel in einem Por-trät über den scheidenden Bundes-kanzler Schröder und gab sogleich dieAntwort: „Die Zukunft ist offen,wenn man nur anpackt, handelt,kämpft.“ Es ist tatsächlich diese opti-mistische Grundeinstellung, die Ger-hard Schröder der SPD vermacht hat.Diese Haltung trug die SPD zuletztim erfolgreichen Bundestagswahl-kampf. Aus der positiven Erfahrungdieses Wahlsommers kann die Sozial-demokratie Selbstvertrauen schöpfenund einiges lernen – vor allem imHinblick auf kommende Wahlen. Umjedoch im Jahr 2009 den Bundeskanz-ler zu stellen, muss sich die SPD zu-dem programmatisch und organisato-risch weiterentwickeln.

Ihren jüngsten Wahlerfolg erzieltedie SPD unter äußerst schwierigenBedingungen. Die versammelte Weltder Auguren hatte den Untergang derdeutschen Sozialdemokratie auf den18. September 2005 datiert. Dass dieSPD nun doch auf Augenhöhe mitder Union wieder die Regierung bil-det, hat sie vor allem ihrem entschlos-senen Wahlkampf zu verdanken –

einem Wahlkampf, in dem die SPDmit Gerhard Schröder an der Spitzedie Reformagenda 2010 selbstbewusstvertreten hat. Genau diese geradlinigeHaltung hat viele Wählerinnen undWähler von der sozialdemokratischenKompetenz überzeugt.

Linke Volkspartei in der Mitte

Die SPD ist nach wie vor die linkeVolkspartei in der Mitte der Gesell-schaft. Auch das ist ein Grund fürneues Selbstbewusstsein. Über 16 Mil-lionen Bürger haben der Sozialdemo-kratie ihr Vertrauen geschenkt. DieseWählerinnen und Wähler sind Frauenund Männer, die hart für sich undihre Familien arbeiten; es sind jungeMenschen auf der Suche nach einerPerspektive; es sind Ältere, die gut undsicher leben wollen; es sind Arbeitsu-chende, Arme, Kranke, die von derSPD Unterstützung erwarten. Alldiese Menschen vertrauen auf diesePartei. Viele von ihnen kann man tat-sächlich mit Willy Brandt als „partei-lose Sozialdemokraten“ bezeichnen.

Die Wahl hat aber auch die Heraus-forderungen offenbart, vor der die Par-

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[ hubertus hei l ]

tei heute steht. Die FDP hat im Wahl-kampf einen radikalen Wirtschaftslibe-ralismus vertreten, mit dem sich dieSPD künftig immer wieder auseinan-dersetzen muss. Auch die neuerdingsumbenannte PDS fordert die SPDheraus. Ihrem Populismus müssen So-zialdemokraten begegnen, indem sieimmer wieder betonen: Das PDS-Pro-gramm der Abschottung und derRückwärtsgewandtheit kann nicht imErnst als links bezeichnet werden.Links bedeutet, weltoffen zu sein, Ver-trauen in die Zukunft zu haben, kon-kret zu handeln für eine solidarischeGesellschaft. Nichts davon beschreibtdie PDS.

II. Aus Verantwortung für unserLand arbeitet die SPD nun für

den Erfolg der Großen Koalition. Diesozialdemokratische Handschrift ist indieser Konstellation deutlich erkenn-bar. Das Ziel für die nächsten vier Jah-ren steht fest: Die SPD will die maß-gebliche politische Gestaltungskraft inDeutschland bleiben und im Jahr2009 wieder den Bundeskanzler stel-len. Die Regierung Schröder hat dafürin den vergangenen sieben Jahren dieVoraussetzungen geschaffen; sie hatden Grundstein gelegt für eine zeitge-mäße Sozialdemokratie.

Zum einen hat der PragmatikerGerhard Schröder die SPD zu einerverantwortungsbewussten Partei ge-formt, die regieren will, um die Wirk-

lichkeit zu verändern. Die Wünsch-dir-was-Resolutionen der Vergangen-heit sind heute nur noch selten anzu-treffen. Zum anderen hat Schröder aufvielen Politikfeldern für notwendigeParadigmenwechsel gesorgt. Das Kon-zept eines aktivierenden Sozialstaats,ein reformierter Arbeitsmarkt, diekapitalgedeckte Altersvorsorge, einemoderne Familienpolitik oder diegewachsene internationale Verantwor-tung Deutschlands – dies alles gehörtmittlerweile zum Inventar sozialdemo-kratischer und deutscher Politik. Diesekonzeptionellen Neuerungen werdenauch das neue Grundsatzprogrammmit prägen, das die SPD zurzeit erar-beitet.

III.Das Berliner Programm wurdeim Dezember 1989 verab-

schiedet. Die gravierenden Verände-rungen nach dem Ende des KaltenKrieges konnte es nicht mehr berück-sichtigten. Seither haben sich Wirt-schaft, Gesellschaft und die sozialeLage der Menschen in Deutschlandaber stark verändert. Durch grenzen-lose Kapitalmärkte und die geöffnetenVolkswirtschaften in Osteuropa undAsien herrscht ein scharfer globalerStandortwettbewerb. Wie alle hochentwickelten Länder befindet sichDeutschland im Übergang zur Wis-sensökonomie und muss vor allem diegeistigen Ressourcen seiner Gesell-schaft mobilisieren. Am Arbeitsmarkt

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[ vorwärts ! ]

haben sich Ausgrenzungsprozesse fort-gesetzt, viele Menschen sind heuteweit stärker von Arbeitslosigkeit be-droht als noch in den achtziger Jahren.Und der demografische Wandel stelltdie Grundmechanismen unserer Sozi-alsysteme in Frage.

Der Wandel ist gestaltbar

In ihrem neuen Grundsatzprogrammmuss die SPD unbedingt zum Aus-druck bringen, dass sie diesen Wandelals große, aber gestaltbare Herausfor-derung begreift. Grundlage des Pro-gramms muss die Erkenntnis sein, dasssoziale Inklusion und wirtschaftlicheDynamik heute keine Gegensätzesind, sondern einander mehr denn jebedingen. Ohne den modernen, Zu-sammenhalt und Inklusion ermögli-chenden Sozialstaat kann es unter denBedingungen des 21. Jahrhundertskeine innovative Wirtschaft mehr ge-ben – und ohne eine wettbewerbsfähi-ge ökonomische Basis rutschen demSozialstaat auf Dauer alle Fundamenteweg.

Die sozialdemokratische Gestal-tungsaufgabe besteht nunmehr darin,durch die systematische Verzahnungvon Bildungs-, Familien- und Arbeits-marktpolitik sozialen Aufstieg inDeutschland wieder einfacher zu er-möglichen und gleichzeitig durch vor-beugende, nicht nur „reparierende“

Sozialpolitik den sozialen Abstieg zuverhindern. Jeder Mensch soll immerwieder neu die Chance bekommen,eigenverantwortlich zu leben, zu arbei-ten und an den Möglichkeiten derGesellschaft teilzuhaben – unabhängigvon Herkunft, Einkommen oder Ge-schlecht. Anders formuliert: DasGrundsatzprogramm muss das Profilder SPD als Partei der Lebenschancenfür alle schärfen.

IV.Diese Ideen wird die SPD ver-teidigen müssen gegen diejeni-

gen, die jegliche staatliche Tätigkeitauf ein Minimum zurückfahren unddas gesellschaftliche Leben vollständigökonomisieren wollen. Diese Wester-wellschen Ideologie liegt ein einseitigerBegriff von Freiheit zugrunde. WeilFreiheit für Sozialdemokraten nebenGerechtigkeit und Solidarität der ersteGrundwert ist, müssen wir uns selbst-bewusst mit dem Freiheitsbegriff aus-einandersetzen.

Der Kern einer Debatte über denBegriff „Freiheit“ dreht sich um dieklassische Unterscheidung des Philoso-phen Isaiah Berlin zwischen der nega-tiven Freiheit (die Freiheit von etwas)und der positive Freiheit (die Freiheitzu etwas). Die Wirtschaftsliberalenbegnügen sich ganz im Sinne von Frie-drich August von Hayek mit der nega-tiven Freiheit. Guido Westerwellesetzte in seiner Antwort auf die Regie-rungserklärung von Bundeskanzlerin

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[ hubertus hei l ]

Steuererhöhungen mit Unfreiheitgleich. Für ihn bedeutet Freiheit, dieradikale Entstaatlichung und die Frei-setzung des homo oeconomicus ausallen gesellschaftlichen Verpflichtun-gen. Freiheit wird so reduziert auf Ge-werbefreiheit.

Freiheit für viele, nicht für wenige

Der konservative VerfassungsrichterUdo Di Fabio hingegen hebt in sei-nem viel beachteten Buch „Die Kulturder Freiheit“ hervor, dass Freiheitnicht gedacht werden könne, ohnesoziale Bindungen und Verpflichtun-gen mitzudenken. Er nimmt damiteine Gegenposition zum gesellschaft-lich verantwortungslosen Ultralibera-lismus ein. So weit, so gut. Gleichzei-tig ist er aber der Auffassung, der freieMensch solle zunächst etwas leistenund etwas geben, bevor er etwas vonder Gesellschaft verlangen dürfe.Klingt auch gut, aber so wichtig dieserHinweis von Di Fabio ist, so sehrblendet er die sozialen und ganz prak-tischen Voraussetzungen von Freiheitaus.

Die Einsicht, dass individuelle Frei-heit eine zentrale Bedeutung hat, je-doch sowohl in politischer als auch insozialer Hinsicht nicht voraussetzungs-frei ist, gehört zu den Grundüberzeu-gungen der Sozialdemokratie. In seinerAbschiedsrede als Vorsitzender der

SPD formulierte Willy Brandt: „Wennich sagen soll, was mir neben demFrieden wichtiger sei als alles andere,dann lautet mei-ne Antwort ohneWenn und Aber: Freiheit. Die Freiheitfür viele, nicht für die wenigen. Frei-heit des Gewissens und Meinung.Auch Freiheit von Not und Furcht.“Für ihn war Freiheit keineswegs regle-mentiertes Glück, sondern die Freiset-zung der schöpferischen Fähigkeiten,die im Menschen angelegt sind.

Es war nicht zuletzt die politischeLinke, die auf diesem Weg der Freiset-zung der schöpferischen Fähigkeiteneiniges erreicht hat. Dass jeder Menschdurch eigene Anstrengung seinen Platzin der Gesellschaft finden kann, unddass jeder Mensch die theoretischeChance hat, sein Leben nach eigenenPlänen zu gestalten, ist eine sehr jungeErfahrung der Menschheitsgeschichte.Sie setzte gleiche Freiheiten für Frauenund Männer und die Möglichkeit vor-aus, soziale Schranken zu überwinden.

V.Wie frei ist also unsere Gesell-schaft? Ein Jugendlicher, der in

zweiter Generation von Sozialhilfe lebt,in einem Wohnghetto am Stadtrandaufwächst, keinen Hauptschulabschlussschafft, später keine Ausbildungsstellefindet, darf innerhalb der gesetzlichenGrenzen tun und lassen was er will.Aber ist er frei? Natürlich hindert ihntheoretisch niemand daran, neueDinge zu lernen und sich selbstständig

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[ vorwärts ! ]

zu machen. Aber im wirklichen Leben– um das es in der Politik gehen sollte– hat dieser Jugendliche kaum eineChance, wenn er nicht gezielt gefordertund gefördert wird. Oder nehmen wirein anderes Beispiel: Ein Unternehmerist nicht frei darin, seine Beschäftigtennach Gutdünken zu feuern. Gesetzeund Verträge verhindern das undschränken seine negative Freiheit ein.Aber wäre die Gesellschaft freier, wenner es könnte?

Solidarische Gesellschaft,aktiver Staat

Nicht zufällig steht Freiheit am An-fang des sozialdemokratischen Grund-wertekanons. Es geht sowohl um ne-gative Freiheit, das heißt um die Frei-heit von Angst, Not, Bevormundung,Bürokra-tie und Benachteiligung. Esgeht aber auch um positive Freiheit –also um die Freiheit, selbstbestimmtund eigenverantwortlich seine Leben-schancen wahrzunehmen.

Soziale Demokraten sind nichtstaatsgläubig. Auch für uns sind einge-engte Überregulierungen und überbor-dende Statistik- und Berichtspflichtenkeine politischen Ziele. Wir wissen,dass un-ser Land um seiner Zukunftwillen sowohl eine dynamische Öko-nomie, eine solidarische Bürgergesell-schaft und einen handlungsfähigenStaat benötigt. Der handlungsfähigeStaat dient aber nicht nur dazu, Wirt-

schaft und Gesellschaft öffentlicheGüter zur Verfügung zu stellen, dieder Markt allein nicht hervorbringt. Inder Demokratie ist der handlungsfä-hige Staat unabdingbar, um der Stärkedes Rechts und nicht dem Recht desStärkeren Geltung zu verschaffen.

VI.Wir Sozialdemokraten wollenden mündigen und emanzi-

pierten Menschen. Der freie Menschist informiert, er stellt sich der Reali-tät, er vertritt seine Interessen, handeltverantwortungsbewusst für sich undandere. Diese emanzipatorischen Po-tenziale der Freiheit entfalten sichnicht von alleine. Sie zur Entfaltungzu bringen, ist eine aktive und bewuss-te Leistung der Gesellschaft. Wer heu-te von Freiheit spricht, sollte von Ver-antwortung nicht schweigen. Men-schenrechte und Menschenpflichtengelten dabei in einem ganz umfassen-den Sinne. Wer durch Einkommenund Vermögen Vorteile genießt, hatauch die Pflicht einen angemessenenBeitrag zum Wohle aller zu leisten.

Das unterscheidet unseren Frei-heitsbegriff von dem der Wirtschaftli-beralen, die in der positiven Freiheiteine Gefährdung der negativen Frei-heit sehen und damit das Versprechender Freiheit für einen großen Teil derMenschen nicht einlösen können.Eine Politik der Freiheit setzt eine Be-fähigung zur Freiheit voraus. Sie mussauf die Gleichheit von Zukunftschan-

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[ hubertus hei l ]

cen setzen, soziale Rechte garantierenund gesellschaftliche Normen undWerte stärken. Dahinter steckt dieErkenntnis, dass die eigene Freiheitimmer auch die Freiheit des anderenist.

Programmatisch erneuert, selbstbe-wusst gegenüber ihrer Grundwerte,organisatorisch gestärkt und als linkeVolkspartei in der Mitte der Gesell-schaft – so wird die SPD alle Chancenhaben, künftige Wahlen zu gewinnen. L

HUBERTUS HEIL

istist Generalsekretär der SPD und Bundestagsabgeordneter.

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ÜBER DIE ERFAHRUNGEN MIT PETER GLOTZ, DAS GRUNDSATZPROGRAMMUND DIE NEUE SPD SPRACH THOMAS KRALINSKI MIT MARTIN GORHOLT

„Offen undspannend“

2005 war ein ereignisreiches Jahr für dieSPD: die Wahlniederlagen in Schleswig-Holstein und NRW, die vorgezogeneBundestagswahl, die Bildung der neuenBundesregierung – und zu guter Letztein unerwarteter Wechsel an der Partei-spitze. Welche Spuren hat das in derMitgliedschaft hinterlassen?

Auch 2005 haben uns noch einmalviele Mitglieder verlassen. Doch dieAustrittswelle ist gestoppt. Im Bundes-tagswahlkampf war unsere Mitglieder-bilanz positiv. Und auch seit dem Kar-lsruher Parteitag ist die Zahl der Men-schen, die zu uns kommen größer alsdie Zahl der Mitglieder, die uns verlas-sen oder sterben. Wir stabilisieren unsbei knapp 600.000 Genossinnen undGenossen. Damit sind wir immernoch die größte Partei Europas. Ichwill, dass wir das bleiben.

Dennoch: Wie will die SPD für Mitglie-der attraktiver werden?

Es geht sowohl um die Mitgliederals auch um Bürger, die uns nahe ste-hen – und auch unterstützen möch-ten. Als ich in den achtziger Jahren in

der Bonner Baracke angefangen habefür die Juso-Hochschulgruppen zuarbeiten, war Peter Glotz Bundesge-schäftsführer. Von ihm habe ich vielgelernt. Er hat damals das Wissen-schafts- und das Kulturforum gegrün-det. Damit sollte die SPD spannendergemacht werden für wichtige gesell-schaftliche Gruppen. Die SPD hatsich damals erstmals gegenüber Quer-einsteigern geöffnet, man denke nuran Ingrid Matthäus-Meier oder Gün-ter Verheugen. Glotz hat auch erstmalseine umfangreiche Studie über dieLebens- und Motivlagen der Men-schen in Deutschland anfertigen las-sen. Das hat das politische Marketingrevolutioniert.

Wie sollen denn Unterstützer an diePartei gebunden werden?

Was ich mir vorstelle, ist eine Art„Fördermitgliedschaft“. Es gibt vieleMenschen, die die Sozialdemokratieeinfach nur unterstützen wollen, aberkein Interesse an der eigentlichen Par-teiarbeit haben. Die wollen nicht zuOrtsvereinen oder Parteikonferenzen

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[ mart in gorholt ]

gehen. Meiner Ansicht nach solltenwir diese Sympathisanten stärker an-sprechen, ihnen die Möglichkeit ge-ben, sich an die Partei zu binden –und sie aber in Ruhe lassen, wenn siees so wollen.

Wer was verändern will,muss lernen

Steht uns also nun eine neue Partei-reform ins Haus?

Parteireformen wurden von PeterGlotz, von Karlheinz Blessing und vonFranz Müntefering angestoßen. Aufdem Karlsruher Parteitag haben wir ge-rade die Ergebnisse der Beck-Kommis-sion verabschiedet. Deshalb sehe icherstmal keine Notwendigkeit für eineweitere Runde großer organisatorischerVeränderungen. Gleichwohl gilt: Wennwir unser Land verändern wollen, brau-chen wir eine lernende Partei.

Und was bedeutet das? Das heißt, dass wir offener werden

müssen. Offener für Menschen, diemitmachen wollen. Und offener fürEntwicklungen, die in unserem Landund darüber hinaus stattfinden. DieÖffnung der Partei muss einhergehenmit aktiveren Arbeitsgemeinschaften.Unsere AGs müssen Brückenköpfe ingesellschaftliche Gruppen hinein sein.Und lernende Partei zu sein bedeutetnatürlich, dass wir die Bildung undAusbildung unserer hauptamtlichen,

aber auch unserer ehrenamtlichen Ver-antwortungsträger verbessern müssen.Dafür ist die Parteischule sehr wichtig.

Wird es denn auch eine Mitglieder-werbekampagne geben?

Die beste Werbung sind eine aktiveund diskutierende Partei sowie eineerfolgreiche Regierungspolitik. Darü-ber hinaus wird man sehr unterschied-liche Strategien verfolgen müssen. InOstdeutschland haben wir seit vielenJahren einen Stillstand bei der Parteie-nentwicklung. Die älteren Ostdeut-schen sind nach wie vor nicht gewillt,sich in Parteien zu engagieren. Größe-re Chancen haben wir in den neuenLändern bei den Jüngeren. Im Übri-gen sehe ich die größten Wachstums-potentiale in den alten sozialdemokra-tischen Stammgebieten. In der Fuß-gängerzone von Dortmund ist es vieleinfacher, neue Mitglieder zu gewin-nen, als in Halle.

Jungen MenschenWege ebnen

Die Mehrzahl der neuen Mitglieder istunter 40. Was ist deren Motivation, indie SPD einzutreten?

Ehrlich gesagt, wir wissen es nichtgenau – auch weil mittlerweile dieHälfte der Neumitglieder über das In-ternet eintritt. Wir wollen regelmäßigeUntersuchungen machen, um heraus-zubekommen, warum Menschen zu

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31perspektive21

[ offen und spannend ]

uns kommen und wie sie sich für dieSPD engagieren wollen. Fest steht: Esist ein gutes Zeichen, wenn in soschwierigen Zeiten vor allem jungeLeute den Weg in eine Partei finden.Von der Beitrittswelle der siebziger Jah-re hat die SPD viele viele Jahre profi-tiert. Ganz so wird es nicht wiederkommen. Aber wer gesehen hat, wiedie Jungen Teams sich in fast allenWahlkreisen engagiert haben, verspürtMut. Da waren enthusiastische jungeMenschen, die für eine Idee gekämpfthaben – und nicht immer Mitglied derSPD waren. Diese Leute in unseremUmfeld zu halten, ist sehr wichtig.

Gibt es denn eine Chance, dass die SPDihre Grundsatzdebatte einmal zu Endebringt?

Wer sich das Berliner Programmgenau schaut, entdeckt dort Passagen,die nun wirklich nichts mehr mit derRealität zu tun haben. Zum Beispielsteht dort nichts von staatlicher Ein-heit. Dass wir ein neues Programmbrauchen, ist also offensichtlich. Mo-mentan haben wir zwei Programment-würfe in der Schublade, eins von OlafScholz, eins von Franz Müntefering.Das ist eine gute Grundlage. Wahr istaber auch, dass viele Menschen imLand noch gar nicht mitbekommenhaben, dass die SPD eine Grundsatz-programmdebatte führt. Wir müssendiese Diskussion viel breiter führen.Das ist besonders wichtig, wenn wir

eine wertebezogene Politik wollen. Das heißt, es wird noch ein bisschendauern mit dem neuen Programm?

Wir sollten da nichts übers Kniebrechen. Wer die Debatte will, brauchtdafür auch Zeit. Da kommt es auf einpaar Monate nicht an. Zumal wenn wirein Programm diskutieren, dass überden Tag hinaus reicht. Die Partei istprogrammatisch ausgehungert. Darauskann sich ein spannender und nachvorne gerichteter Diskurs ergeben. Zielist die Verabschiedung des neuenGrundsatzprogramms im Jahr 2007.

Zeit für Grundsatzprogramm lassen

Matthias Platzeck hat in seiner Partei-tagsrede viel von den Erfolgen sozialde-mokratischer Politik in Finnland, Däne-mark, Schweden und anderen Länderngesprochen. Wie werden sich diese Erfah-rungen in Deutschland niederschlagen?

Ich bin großer Anhänger eines sozi-aldemokratischen benchmarkings. Dieinternationale Kooperation zwischenunseren Parteien ist viel wichtiger alsder Austausch von Grußbotschaftenauf Parteitagen. Wir können viel vonanderen Ländern lernen. Auch in Spa-nien, Großbritannien oder in den Nie-derlanden haben die Sozialdemokratengelernt und sich programmatisch er-folgreich auf neue gesellschaftliche Si-tuationen eingestellt. Die Suche nachgemeinsamen sozialdemokratischen

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[ mart in gorholt ]

Wegen zu einem erneuerten Sozialstaatkann sehr spannend werden.

Lässt sich der programmatische An-spruch überhaupt verbinden mit demRegierungsalltag?

Das sind genau die beiden wichtig-sten Aufgaben, vor denen wir stehen.Zum einen geht es um professionellesund handwerklich sauberes Regie-rungshandeln. Dabei müssen wir dieMenschen mitnehmen und unser Tunerklären. Wir Sozialdemokraten müs-sen mehr als bisher argumentieren, umdie Menschen zu überzeugen. Wir

müssen offensiv klar machen, um wel-che Grundwerte und Haltungen esuns geht, statt uns mit zusammenge-bissenen Zähnen für unsere Politik zuentschuldigen. In Brandenburg habenwir dazu das Prinzip „Mit dem Ge-sicht zu den Menschen“ entwickelt.Mit dieser zupackenden und offenenArt können wir das Handeln von Re-gierung, Partei und Fraktion nachvoll-ziehbar machen. Parallel dazu, und dasist die zweite Aufgabe, werden wirüber den Tag hinaus denken, unserelangfristigen Ziele, Werte und Über-zeugungen deutlich machen. L

MARTIN GORHOLT

war von 1990 bis 1994 Landesgeschäftsführer der Brandenburger SPD,anschließend arbeitete er im Brandenburger Wissenschafts- und

Bildungsministerium, zuletzt als Staatssekretär. Seit November ist er 2005 Bundesgeschäftsführer der SPD.

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33perspektive21

WIE AUS OLD LABOUR NEW LABOUR WURDE VON OLAF CRAMME

Erfolg dankErneuerung

E s scheint eine Ironie der europäi-schen Politik zu sein, dass die

britische Labour Party im beginnen-den 21. Jahrhundert zusammen mitder schwedischen Linkspartei zum An-ziehungspunkt der Sozialdemokratiein Europa geworden ist, obwohl sie im20. Jahrhundert zu den am wenigstenerfolgreichen sozialdemokratischenParteien zählte. Eine lange Serie vonverlorenen Wahlen führte zwischen1979 und 1997 zu einer 18-jährigenHerrschaft der Konservativen unterMargeret Thatcher und John Major.Labour schien dagegen fast vollkom-men von der politischen Bühne Groß-britanniens verschwunden zu sein,weit entfernt auf jeden Fall von derFähigkeit und dem damit verbunde-nen Wählervertrauen, die Geschickedes Landes zu leiten (Zentralismusund Mehrheitswahlrecht des britischenpolitischen Systems sorgten für einengänzlichen Abschied in der Versen-kung). Heutzutage, nach New Laboursdrittem Wahlerfolg im Mai 2005, hatsich das Blatt gewendet. Während sichLabour fast schon zur „natürlichen“

Regierungspartei entwickelt hat,scheint die Ära der klassischen Torieszu Ende zu gehen. Unweigerlich stelltsich die Frage: Wie konnte es dazukommen?

Aufschwung allein reicht nicht

Nicht wenige Beobachter führen die-sen abrupten Wechsel auf zwei Fakto-ren zurück: Zum einen darauf, dasstrotz des wirtschaftlichen Aufschwungsunter Thatcher selbst viele traditio-nelle Tory-Wähler die konzeptionsloseMajor-Regierung nicht mehr im Amtsehen wollten und sich ausserdemnach einer sozialpolitischen Kurskor-rektur sehnten; zum anderen auf dieinnere Zerrissenheit der Konservati-ven, die mittlerweile eine chronischepersonelle und programmatischeSchwäche nach sich gezogen hat. Ob-wohl aus langfristiger ökonomischerSicht der Thatcherismus sicherlich vonVorteil gewesen ist, greifen diese Er-klärungen viel zu kurz. Weder dasAusmaß der Wahlerfolge noch deren

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1 David Miliband, New Labour wieder an der Macht – was nun?, Vortrag in der Friedrich-Ebert-Stiftung Berlin, 21. Februar2002.

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[ olaf cramme ]

Wiederholungen sind damit zu be-gründen. Gemäß dem Fußball-Motto„der Gegner ist immer nur so stark,wie man es zulässt“ darf die Rolle undAttraktivität Labours nicht verkanntwerden. Den Ursprung des Erfolgesfindet man dabei in den neunzigerJahren, als das Projekt New Labourentstand.

Traditionen mit Erneuerung verbinden

Noch Ende der achtziger und dannvor allem zu Beginn der neunziger leg-ten die damaligen Vorsitzenden NeilKinnock und John Smith die Grund-lagen für eine durchgreifende Reformvon (Old) Labour. Aber erst nachSmiths plötzlichem Tod 1994 unddem darauf folgenden Aufstieg vonTony Blair und Gordon Brown setztesich eine Erneuerung durch, die diePartei elementar verändern sollte. DieArgumentation der neuen Führungwar im Prinzip recht einfach. Sie fußteauf der Überzeugung, dass ein wirt-schaftlicher und sozialer Wandel nichtmit den damaligen Konzepten derLabourpartei bewältigt werden könn-te, sowie darauf, dass die ProblemeGroßbritanniens nicht mit den altbe-währten Methoden der Nachkriegs-Sozialdemokratie zu lösen wären – ins-

besondere nicht mit einer ökonomi-schen Politik, die sich am Keynesianis-mus orientiert. Dagegen sollten, wie esDavid Miliband, einer der führendenKöpfe New Labours, beschrieben hat 1,folgende fünf strategische Eckpunktedie neue Ausrichtung der Partei be-stimmen:K Labour sollte weiterhin an den sozi-

aldemokratischen Werten festhal-ten, zugleich jedoch deren Sicher-stellung durch innovative Ideenund Konzepte ermöglichen. Diesbedeutete vor allem, dass es dieRolle des Staates in einer modernenSozialdemokratie neu zu überden-ken galt.

K Labour sollte einen liberalen Sozia-lismus entwickeln, in der sozialde-mokratisches Engagement undsoziale Gerechtigkeit basierend aufgemeinschaftlichem Wirken durchindividuelle Freiheiten in derMarktwirtschaft erweitert und ver-stärkt werden.

K Labour sollte die Idee der Wohl-standsentwicklung und der Produk-tionspolitik mit gerechten Ergebnis-sen und einer entsprechenden Ver-teilungspolitik verbinden.

K Labour sollte im Rahmen einerfortschrittlichen Neudefinition be-stimmte Themengebiete für sicherobern, die die Konservativen bis-

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35perspektive21

[ erfolg dank erneuerung ]

lang für sich beanspruchten, bei-spielsweise die Bereiche Law andOrder oder Verteidigung.

K Labour sollte sich mit den aufkom-menden dynamischen Tendenzen inder britischen Gesellschaft ausein-andersetzen, die sich vom Kommu-nitarismus zur Reform des Staatesbis hin zur Umweltpolitikerstrecken.

„Ethischer Sozialismus“ als neue Grundlage

Tony Blair selbst formulierte seineAnschauung so: „Die Marx’sche Ideo-logie litt vor allem daran, dass letzt-endlich der Einzelne unterdrückt wur-de, was in der Unterdrückung der Ge-sellschaft seinen Anfang fand. Abererst aufgrund der Bedeutung der indi-viduellen Verpflichtung lässt sich dasGemeinwohl mit den Interessen derGemeinschaft verknüpfen – ein Prin-zip, dass die Kirche im Akt der Kom-munion zelebriert.“ 2 Diese Interpreta-tion des Marxismus diente Blair, umseine eigene Alternative des „ethischenSozialismus“ zu entwickeln.

Dieser Ansatz sollte verhindern,dass der Einzelne von der Macht desStaates unterdrückt wird, sondern imGegenteil dazu führen, dass dieser als„vorrangig“ (paramount) angesehenwird. Während man hier direkte

Linien zum klassischen Liberalismuserkennen mag, unterschied sich BlairsAnsatz dadurch, dass er Individuen als„sozial abhängige Wesen“ betrachtetund dementsprechend „das individu-elle Eigeninteresse unvermeidlich mitdem Interesse der Gesellschaft verbun-den“ sieht. Diese Perspektive war fürBlair der Grundstein seiner politischenMotivation.

Die Prinzipien des „ethischen Sozia-lismus“, wie Blair argumentierte, wür-den die Hauptaufgabe einer LabourRegierung unterstützen, und zwar „zuintervenieren, um die Fähigkeiten desEinzelnen so auszubauen, dass dieserin der neuen Wirtschaft Erfolg habenkann.“

Verschiedene Anschauungen vereinen

Von entscheidender Bedeutung solltesein, die genannten Eckpunkte undAnschauungen zu einem kohärentenGanzen zu verschmelzen. Die Ent-schlossenheit der neuen Führung führtedazu, dass auf dem Parteitag 1995 dieParteiverfassung so geändert wurde, dassvon Old Labour nicht mehr viel übrigblieb. In dem neu aufgenommenen„Paragraphen IV“ (clause four) des La-bour-Parteiprogramms war nun davondie Rede, dass „wir durch die Kraft un-serer gemeinsamen Bemühungen mehr

2 Vgl. Tony Blair, New Britain. My vision of a younger country, London 1996, Seite 59f. (Übersetzung des Autors)

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3 Siehe auch Gero Maass, „Blairs Welten bröckeln – Was bleibt von New Labour, New Britain, New Europe and New World?“,Europäische Politik (06/2004), Friedrich-Ebert Stiftung.

4 Peter Mandelson und Roger Liddle, The Blair Revolution. Can New Labour Deliver?, London, 1996.5 Frankfurter Allgemeine Zeitung, 2. August 1996.6 Vgl. Jürgen Krönig, „Das Ende der Armut?“, in: Berliner Republik, 2/2005.7 Zur weiterführenden Lektüre empfohlen: John Kay, „The Embedded Market“, und Folke Schuppert, „The Ensuring State“, in:

Policy Network, „Progressive Futures: New Ideas for the Centre-Left“, London, 2003.

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[ olaf cramme ]

erreichen als wir jemals alleine erreichenwürden. Deshalb müssen für jeden vonuns die Mittel geschaffen werden, unserwahres Potential zu verwirklichen, undfür uns alle eine Gemeinschaft, in derMacht, Wohlstand und Möglichkeitenin den Händen von vielen und nichtnur einigen wenigen liegen“. Dieser Pa-ragraph sollte jedoch gleichzeitig unterder Prämisse verstanden werden, dassGleichheitsversprechen für sich alleingesehen als Vorhaben für eine Regie-rung nicht ausreichen. Vor allem dannnicht, wenn sie sich verpflichtet, imSinne einer nachhaltigen Sozial- undUmweltpolitik für die allgemeine Si-cherheit und eine größere individuelleFreiheit zu agieren.

New Labour, New Britain

Hierauf folgte dann die eigentliche De-batte um die programmatischen Kon-zepte der Partei, eng verbunden mitdem theoretischen Konzept des „Drit-ten Wegs“. Im Zentrum all dessen standdie Entwicklung eines neuen politischenProjekts, das mit Slogans wie New La-bour, New Britain eingekleidet wurde3.Den Grundstock legte das 1996 vonPeter Mandelson, dem heutigen Han-

delskommissar der EuropäischenUnion, und Roger Liddle, langjährigereuropapolitischer Berater Blairs, ge-schriebene Buch „The Blair Revolu-tion“4, welches sich in großen Teilen imWahlmanifest von 1997 wiederfand.Selbst die ansonsten New Labour-kriti-sche FAZ bescheinigte dem Werk da-mals, es sei „eine Fundgrube neuer poli-tischer Ideen, die visionäre Vorstellun-gen mit Pragmatismus verknüpft unddabei in den politischen Themen eineintellektuelle Frische ausströmt, die wirin Deutschland alle so sehr vermissen“.5

Dynamik und Gerechtigkeit verknüpfen

Die Philosophie New Labours kannam besten mit dem Begriff der„Marktsozialdemokratie“ (Jürgen Krö-nig) beschrieben werden.6 Ökono-misch ist die Regierung mehr am ame-rikanischen Wirtschaftsmodell ausge-richtet, zugleich verfolgt sie aber aucheine klassische Sozialpolitik, wie sieeher typisch für den europäischenKontinent ist. Im Mittelpunkt allerInitiativen steht das Thema Arbeit,welches in das Konzept des enablingstate, des „ermöglichenden“ Staates,eingebettet ist.7 Die Grundidee besteht

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8 Anthony Giddens, Beyond left and right, in: The Observer, 13. September 1998. (Übersetzung des Autors)

[ erfolg dank erneuerung ]

darin, dass der Staat aktiv Hilfe zurSelbsthilfe fördert, ergänzt durch steu-erliche Initiativen, die oftmals in klas-sischer Umverteilung münden. Zielwar es, ein neues Gleichgewicht zwi-schen den Imperativen der wirtschaft-lichen Dynamik und der sozialen Ge-rechtigkeit, sowohl der Werte als auchder Maßnahmen, herzustellen. Hinzukam eine Neudefinition von Gleich-heit. Tony Blair und seine Befürworterwaren weniger an Ungleichheit als an(gesellschaftlichem) Ausschluss interes-siert. Blair redete kaum von Ungerech-tigkeit und Gerechtigkeit, sondern vorallem von social exclusion und socialinclusion. Sein politisches Interessezielte darauf, Wege zu finden, um dieheute Ausgeschlossenen einzuschlie-ßen, und nicht darauf, entstandeneUnterschiede mit allen verfügbarenMitteln auszugleichen.

„Dritter Weg“ für neue Sozialdemokratie

Die neue marktorientierte Mitte-Links-Ideologie in der Wirtschafts-und Sozialpolitik wurde zur gleichenZeit vom Soziologen Anthony Gid-dens in die Formel des „Third Way“gegossen. Giddens argumentierte, dassder „Dritte Weg“ eine erneuerte Sozi-aldemokratie für eine neue Welt derGlobalisierung und des ungezügelten

Individualismus darstellt. Dieser be-ruht auf dem Bekenntnis zu einer neuausgerichteten Wirtschaft, in derMärkte durch den Staat (zu einemgewissen Grad) reguliert, aber nichtkontrolliert werden, sowie zu einerneuen Balance zwischen Recht undVerantwortung sowohl für das Businessals auch für Individuen.

Bürgern helfen,Wege zu finden

„Das Gesamtziel der Third Way-Politiksollte sein, den Bürgern zu helfen, ih-ren Weg durch die großen Revolutio-nen unserer Zeit zu finden: Globalisie-rung, Transformationen im privatenLeben und in unserem Verhältnis zurNatur. Die Third Way-Politik sollte dieKernanliegen der sozialen Gerechtig-keit bewahren, und gleichzeitig akzep-tieren, dass der Bereich der Fragen, dieaus dem klassischen rechts-links Mus-ter herausfallen, größer ist als jemalszuvor […] Nach der Absage an denKollektivismus sucht Politik des Drit-ten Weges eine neue Beziehung zwi-schen dem Einzelnen und der Ge-meinschaft, zwischen Rechten undVerpflichtungen“.8

Die Korrektur des Verhältnisses vonStaat und Individuum sollte so fürNew Labour eine wichtige Rolle spie-len. Man strebte eine neue Ausgewo-

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[ olaf cramme ]

genheit an, zwischen Rechten undPflichten, zwischen Ansprüchen anden Staat und der Gegenleistung desEinzelnen für die Gesellschaft. LautLabour war diese Balance seit densechziger Jahren verloren gegangen,dem sozialen Individualismus der Lin-ken folgte in den achtziger Jahren derökonomische Individualismus derneuen Rechten. Zur Verwirklichungdieses Ziels war es natürlich von ent-scheidender Bedeutung, dass NewLabour auch bereit war, dass eigeneMenschenbild von der Realität korri-gieren zu lassen.

Entdeckung derBildungspolitik

Als ein anderes Beispiel lässt sich NewLabours Verhältnis zur Erziehung(spo-litik) ausmachen. Früher als die meis-ten anderen sozialdemokratischen Par-teien erkannte Blair ihre enorme Be-deutung, basierend auf der Überzeu-gung, dass nur qualifizierte Arbeits-kräfte in der neuen Welt globalerMärkte mithalten können. Darausfolgte unter anderem, dass man konse-quent Abschied von den Erziehungs-modellen der sechziger und siebzigerJahre nahm, in denen Begriffe wie Lei-stung, Disziplin und Prüfung verpöntwurden. Des Weiteren gelang es New

Labour, Themen, die auf den erstenBlick weniger sozialdemokratischerscheinen, nicht zu vernachlässigen,sondern sie mit gleicher Entschieden-heit anzugehen. Von zentraler Bedeu-tung war hier das Problem der Verun-sicherung. Dabei ging es nicht nur umdie Unsicherheit, die durch Arbeitslo-sigkeit ausgelöst wird, sondern umVerunsicherung, die in derBevölkerung mit Themen wie Krimi-nalität, öffentlichem Dienst, Finanzen,Identität und Außenpolitik verbundensind.

Wie es der brillante holländischeVordenker René Cuperus trefflich for-mulierte, ist die Verwandlung von OldLabour zu New Labour ein „kompli-ziertes Phänomen“, das drei analyti-sche Ebenen aufweist:K die Neu- und Umorientierung von

sozialistischen Denkmustern (clausefour);

K die Überarbeitung der politischenKommunikation und Wahlkampf-technik (mit dem Vorbild der NewDemocrats unter Bill Clinton) und

K die Positionierung des Dritten Wegsals Nachwahlerrungenschaft, wobeidurch das neue analytische undideologische Vokabular die sozial-liberalen und kommunitären Ideenin das sozialdemokratische Projekteingebaut wurden.9

9 Vgl. René Cuperus, Der Dritte Weg: Ein intellektuelles Abenteuer, auch für Kontinentaleuropäer! Beobachtungen aus den Nie-derlanden, Friedrich-Ebert-Stiftung, 2000.

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[ erfolg dank erneuerung ]

Eines der wichtigsten Ver.dienste vonNew Labour war es letztlich auch, dasVerhältnis der eigenen Partei, zumin-dest ihrer großen Mehrheit, mit derReformpolitik in Einklang zu bringen.Arbeiterinteressen und Verfechter vonOld Labour waren lange skeptisch ge-genüber „Reformen“. Wie auch beivielen Linksparteien im kontinentalenEuropa ist der Terminus „Reform“zum Synonym für schlechtere Arbeits-bedingungen, Arbeitslosigkeit, Unter-nehmungssanierung inklusive Entlas-sungen und abnehmenden Sozialstan-dards geworden. Dieser Auffassung zu-folge würden die Gewinner im Zeital-ter des globalen ökonomischen Wett-bewerbs nur auf Kosten der Schwa-chen vorankommen.

Mittel ändern sich,Werte bleiben

Die meisten sozialdemokratischen Par-teien haben es jedoch bis heute nichtgeschafft aufzuzeigen, dass Reformendurchaus mit dem traditionellen Be-kenntnis zur sozialen Gerechtigkeitübereinstimmen können.10 Wie Ant-hony Crosland, der Haupttheoretikerdes Reformzweiges der britischenLabour Partei nach dem Krieg, schonsagte, Mittel können sich ändern, aber

Werte bleiben ewig.11 Erst dem ProjektNew Labour gelang es, die Partei hin-ter ihrer Führung und deren reformo-rientierten Programmatik zu vereinen.

Die Erneuerung Labours hatte abernicht nur programmatische Verände-rungen mit sich gebracht, sondernauch strukturelle und personelle inner-halb und außerhalb Partei.

Neue Ideen und Ressourcen erschließen

Neben einer strafferen, zentralerenOrdnung ist die „Durchlässigkeit“ derPartei zum herausgehobenen Merkmalgeworden. Wie kaum eine andereeuropäische Partei bedient sich NewLabour einer Vielzahl von „Ideen- undPersonalquellen“, insbesondere derLabour-nahen sogenannten ThinkTanks, wie die Social Market Foun-dation (SMF), Demos, das Institute forPublic Political Research (IPPR) oderder Foreign Policy Centre (FPC). DasIPPR war zum Beispiel Anfang derneunziger Jahre gegründet worden,um Blaupausen für eine zukünftigeLabour-Regierung zu schreiben.12 Wersich heute die Namen von Beratern,Staatssekretären und auch Ministernder Blair-Regierung anschaut, stößt aufeine hohe Deckungsgleichheit mit den

10 Vgl. Patrick Diamond, The End of Schröder, in: Progress, Juli 2005.11 Vgl. C.A.R. Crosland, The Future of Socialism, Cape 1956.12 Siehe zum Beispiel den Report der Commission on Social Justice: Social Justice. Strategies for National Renewal, IPPR, Lon-

don 1994.

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[ olaf cramme ]

Listen der damaligen Institutsmitglie-der. Nach fast zehn Jahren in der Ver-antwortung verfügt New Labour nochimmer über eine erstaunlich großeAnzahl ministrabler Politiker, gestütztvon aufsteigenden Jungparlamentariernund abgesichert durch das kontinuier-liche Aufrücken kompetenter unddynamischer Nachwuchskräfte.

Was wird nach einem Jahrzehnt derThird Way-Politik kommen? Obwohlder Ausdruck Dritter Weg mituntermehrdeutig klingen mag, hat Giddensimmer unterstrichen, dass es nicht dieAufgabe war, eine unausführbare Syn-these zwischen Sozialdemokratie undNeoliberalismus herzustellen, sondernihn als einen Weg für Erstere, undeine Alternative zu Letzterem zu sehen.

Antworten auf Globalisierungund Individualisierung

Es ging darum, mit dem alten Sozialis-mus zu brechen, da weder die Rezeptedes Neoliberalismus der achtziger undneun-ziger Jahre (Ideologie des freienMarktes und abnehmender staatlicherIntervention) noch die Rezepte destraditionellen Sozialstaats mit seinerkollektiven staatlichen Regulierungvon sozialer Gerechtigkeit und Chan-cengleichheit sich als effektive Antwor-ten auf die Fragen der Globalisierung

und der Individualisierung erwiesenhaben.

Nachdem der „Dritte Weg“ als Ge-samtkonzept seine Schuldigkeit getanzu haben scheint – seine Nichteinbe-ziehung in New Labours drittem erfol-greichen Wahlkampf spricht davonBände – planen die Theoretiker nunihre nächste Mission.

Erneute ideologischeModernisierung

Mehrere Veröffentlichungen lassen ein„neues Gewissen“ der wichtigstenIdeengeber New Labours erkennen.Ohne eine erneute ideologische Moder-nisierung in Angriff zu nehmen, aberauch ohne auf die alten Prinzipien undMethoden des Sozialismus zurückzu-greifen, scheint der Moment gekommenzu sein, um an die Fundamente der So-zialdemokratie, insbesondere der „sozia-len Gerechtigkeit“, wieder anzuknüp-fen. Zwei Publikationen stehen dabeiim Mittelpunkt: „The New Egalitaria-nism“ von Anthony Giddens und Pat-rick Diamond13, sowie „Social Justice:Building a Fairer Britain“, herausgege-ben von Nick Pearce und Will Paxton14.

Um den Begriff der „Gleichheit“wieder stärker zu betonen, möchtesich Giddens ganz auf die Traditiondes Revisionismus eines Eduard Bern-

13 Anthony Giddens und Patrick Diamond (Hg.), The New Egalitarianism, London 2005.14 Nick Pearce und Will Paxton (Hg.), Social Justice: Building a Fairer Britain, IPPR, London 2005.

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[ erfolg dank erneuerung ]

steins („Primat der Politik über dieWirtschaft“) besinnen. Demnach sindes der soziale Zusammenhalt und dieGleichheit – begriffen als unabding-bare Voraussetzung der individuellenFreiheit – die das Herz der sozialisti-schen Bestrebungen ausmachen. Fürdie Revisionisten muss dieses unan-tastbare Prinzip jedoch ständig mitden sozialen Realitäten konfrontiertwerden, um die adäquatesten Mittelfür ihre Umsetzung zu definieren.Durch die schwierige und schnelle An-passung an die wirtschaftlichen und

sozialen Entwicklungen sowie dem„Brechen“ mit Old Labour in den 90erJahren kam die Herausstellung deralten Werte der Sozialdemokratie zukurz15. Die beiden Publikationen wol-len nun daran anknüpfen. Ob sie unddie Politik der Regierung dem gerechtwerden, steht noch aus. Aber schonjetzt verdeutlichen sie einmal mehr dieintellektuelle und programmatischeBeweglichkeit der Labour Party sowieihres Umfeldes. Revisionismus undErneuerung gelten hier noch immerals die Mutter aller Erfolge. L

OLAF CRAMME

arbeitet für Policy Network, einem internationalen think tank in London und promoviert derzeit über europäische Außenpolitik.

15 Siehe auch Antoine Colombani, La « troisième voie » vers l’égalité ? A propos de New Egalitarianism d’Anthony Giddens etPatrick Diamond, in: La Vie des Idées, September 2005.

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WILL SIE WIEDER WAHLEN GEWINNEN, DANN MUSS DIE SPD IHRE NIEDERLAGE EINGESTEHEN UND VERARBEITENVON MICHAEL MIEBACH

Plädoyer für ehrlicheUrsachenforschung

M enschen behandeln lieber dieSymptome eines Problems als

seine Ursachen. Wenn der Rückenschmerzt, gehen wir zum Masseur, an-statt uns zum wöchentlichen Rücken-kurs anzumelden. Beziehungskrisen lö-sen wir lieber mit Blumen und einemRotweinabend als durch Gesprächemit dem Partner über störende Verhal-tensmuster. Die Ursachen eines Miss-standes anzupacken ist immer anstren-gender, langwieriger und ergebnisoffe-ner als das Glätten der Oberfläche. Sowurschteln wir weiter wie bisher – biszum nächsten Kreuzschmerz, zumnächsten Streit.

Aus genau diesem Grund hat Ange-la Merkel nach der Bundestagswahlversucht, innerparteiliche Diskussio-nen über die Ursachen ihres Stimmen-anteils von mageren 35,2 Prozentabzuwürgen. Eine Grundsatzdebattehätte die Koalitionsverhandlungenerschwert und dann die Regierungsge-schäfte behindert – sie wäre anstren-gend geworden. In der SPD kamenForderungen nach Ursachenforschung

gar nicht erst auf. Das ist merkwürdig.Immerhin hatte die Partei nach dem18. September 2005 den Verlust derRegierungsführung zu verdauen.

Aufholjagd in letzter Minute

Viele Sozialdemokraten fühlen sich offen-bar als die eigentlichen Sieger diesesWahlsommers, war doch der Weg derSozialdemokratie gespickt mit unerwar-teten Glücksmomenten und positivenSchlagzeilen: Im Wahlkampf gelang dieAufholjagd in letzter Minute; das Wahler-gebnis ist angesichts eines monatelangenUmfragetiefs eigentlich ganz passabel; derFührungswechsel an der Parteispitze ver-lief reibungslos und mündete in einem99,4-prozentigen Vertrauensvorschuss fürHoffnungsträger Matthias Platzeck; sogardie Regierungsbildung glückte – aufAugenhöhe und mit hochkarätiger sozial-demokratischer Besetzung.

Nüchtern betrachtet handelt es sichbei dieser Siegermentalität um einewaschechte Wahrnehmungsverzerrung.

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[ michael miebach ]

Die SPD ist die große Verliererin dieserWahl, und die Ursachen hierfür liegennicht etwa in der unionsfreundlichenMedienberichterstattung, sondern ein-zig in der verschlafenen Erneuerung derPartei. Will die SPD mittelfristig wie-der auf die Beine kommen, muss siediese Niederlage akzeptieren und Ursa-chenforschung betreiben.

Am 18. September 2005 erhielt dieSPD 4,1 Prozentpunkte oder 2,3 Millio-nen Zweitstimmen weniger als drei Jahrezuvor, wovon der größte Anteil im Aus-tausch mit anderen Parteien verlorenging. Etwa 1 Million Stimmen netto ver-lor die SPD an die PDS/Linkspartei,620.000 an die Union, 370.000 an dieGruppe der Nichtwähler.1

Weil auch die Union Wähler verlor,liegen nun beide Volksparteien wieder

fast gleichauf. Zusammen können diebeiden Volksparteien aber nur noch69,5 Prozent der Zweitstimmen aufsich vereinen. Das ist das schlechtesteResultat seit der ersten Bundestagswahl1949. Stattdessen stärkten die Wählerdie Ränder des Parteiensystems.

Historische Zäsur im Parteiensystem

Die Wählerströme in Ost- und West-deutschland ähnelten sich: In beidenLandesteilen büßten die zwei Volks-parteien Stimmen zugunsten vonPDS/Linkspartei (8,7 Prozent) undFDP (9,8 Prozent) ein. Allerdings sankder Zweitstimmenanteil für die SPDim Osten um ganze 9,2 auf 30,5 Pro-zent und damit weit stärker als im

Zahl der Stimmen Prozent

2005 20052005 2002 -2002 2005 2002 -2002

SPD 16.148.240 18.488.668 -2.340.428 34,3% 38,5% -4,3%

CDU/CSU 16.591.120 18.482.641 -1.071.005 35,2% 38,5% -3,3%

B90/Grüne 3.826.194 4.110.355 -284.161 8,1% 8,6% -0,4%

FDP 4.619.519 3.538.815 +1.080.704 9,8% 7,4% 2,4%

Linke.PDS 4.086.134 1.916.702 +2.169.462 8,7% 4,0% 4,7%

REP + NPD 1.010.220 495.903 +514.317 2,2% 1,0% 1,1%

Das Wahlergebnis im Vergleich

Quelle: Statistisches Bundesamt

1 Alle im Text verwendeten Daten entstammen einer Wahltagsbefragung von Infratest-dimap.

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[ plädoyer für ehrliche ursachenforschung ]

Westen. Die meisten Stimmen verlordie SPD an die PDS/Linkspartei, diein den Neuen Ländern mit 25,4 Pro-zent zweitstärkste Kraft wurde.

Das Auftreten einer zusätzlichenlinken Partei dieser Größenordnungkommt einer historischen Zäsurgleich. Denn obwohl das heterogeneBündnis aus WASG und Linksparteidie schwierigste Phase seiner Selbstfin-dung noch vor sich hat – nicht wenigeAutoren diagnostizieren heute schonSelbstzerfleischungsgelüste –, könntesich die PDS/Linkspartei in der deut-schen Parteienlandschaft dauerhaftetablieren. Im Osten ist sie fest ver-wurzelt und sie wird weiterhin vonzahlreichen Protestwählern profitieren.

Diese tektonische Verschiebung imParteiensystem ergibt für die Sozialde-mokratie eine vollkommen neue Kon-

kurrenzsituation. Die SPD muss sichnicht nur auf unorthodoxe Koalitions-gebilde einstellen. Links von ihr isteine zusätzliche Front entstanden, ander sie um Wähler kämpfen muss. Sieist zur einzigen Partei der Mitte ineinem Fünf-Parteien-System gewor-den, mit mehr direkten Konkurrenten,aber auch mehr potenziellen Bündnis-partnern als die CDU/CSU.

Absturz bei Arbeitslosen

Die mit Abstand meisten Wähler verlordie SPD prozentual unter den Arbeits-losen. Von denen machten statt 41 Pro-zent vor vier Jahren nur noch 31 Pro-zent ihr Kreuz bei der SPD. Auch vieleBeamte (- 7 Prozent), Arbeiter (- 5 Pro-zent) und Rentner (- 5 Prozent) kehr-

Wahlverhalten nach Tätigkeit zur Bundestagswahl 2005

Quelle: Infratest dimap Wahltagsbefragung

SPD CDU/CSU Linke.PDSDifferenz Differenz Differenz

in % zu 2002 in % zu 2002 in %zu 2002

Arbeiter 37% -5% 30% 0% 12% +7%

Angestellte 36% -3% 31% -4% 7% +4%

Beamte 30% -7% 38% +2% 7% +4%

Selbstständige 21% 0% 42% -6% 6% +3%

Rentner 36% -5% 42% -1% 8% +3%

in Ausbildung 40% +1% 24% -3% 8% +4%

Arbeitslose 31% -10% 23% -5% 24% +14%

Gewerkschaftsmitglieder 47% -4% 24% -3% 24% +14%

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46 heft 28 | dezember 2005

[ michael miebach ]

ten der SPD den Rücken, während diePDS/Linkspartei ihre größten Zu-wächse unter den Arbeitslosen (+ 14Prozent) und den Arbeitern (+ 7 Pro-zent) verzeichnete. Im Osten erreichtedie PDS/Linkspartei unter den arbeits-losen Wählern sogar fast 40 Prozent derZweistimmen. Viele „sozial Schwäche-re“ wanderten also von der SPD zurPDS/Linkspartei. Um wieder mehr-heitsfähig zu werden, muss die SPDeinen guten Teil dieser Gruppe zurück-gewinnen.

Es hätte dicker kommen können

Jene Sozialdemokraten mit Siegermen-talität müssen eine weitere Wahrheitzur Kenntnis nehmen: Es hätte für dieSPD viel dicker kommen können. Die

Ausgangslage bei der Ankündigungvon Neuwahlen im Mai war ka-tastrophal. Die Partei hatte eine Serieverlorener Landtagswahlen hinter sich,lag in den Umfragen weit hinter derUnion und ihr Kanzler wusste dieeigene Bundestagsfraktion nicht mehrvollständig hinter sich. Dazu kamenHorrormeldungen aus dem Reform-ministerium für Wirtschaft und Arbeit(„5 Millionen Arbeitslose“). Die SPDgab ein jämmerliches Bild ab.

Die einzigartige Chance zur Polarisierung

Die Aufholjagd aus diesem Tal der Trä-nen gelang allein durch Steilvorlagen derUnion, die einen dilettantischen Wahl-kampf führte. Unter dem Motto „Ehr-lichkeit“ bewegten sich CDU und CSU

Wahlentscheidende Themen

Quelle: Infratest-dimap Wahltagsbefragung

alle SPD- CDU/CSU- Linke.PDSWähler Wähler Wähler Wähler

Wirtschaftpolitik 38% 27% 53% 23%

Ausländerpolitik 11% 10% 11% 8%

Arbeitsmarktpolitik 34% 26% 42% 42%

Innere Sicherheit 9% 9% 11% 7%

Umweltpolitik 11% 13% 3% 6%

Steuerpolitik 19% 15% 24% 17%

Soziale Gerechtigkeit 33% 45% 17% 59%

Schul- und Bildungspolitik 12% 13% 10% 16%

Außen- und Sicherheitspolitik 13% 23% 6% 8%

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47perspektive21

[ plädoyer für ehrliche ursachenforschung ]

überwiegend auf einer reformpolitischenSachebene aus Zahlen und Fakten undpräsentierten ein Programm, das inhalt-lich den Vorstellungen der FDP ähnelte.Weil sie keinen weltanschaulichen Über-bau für diese Reformvorschläge lieferte,nicht Rekurs nahm auf die soziale Tradi-tion der Christdemokratie, war dieUnion dem „Neoliberalismus“-Vorwurfausgesetzt. Zu allem Überfluss schicktesie mit Paul Kirchhof die personifizierteForm des technokratischen Politikstilsins Rennen, der auf seine mediale Rolle

völlig unvorbereitet war und mit angel-sächsischen Kampfbegriffen (flat tax) dieGlaubwürdigkeit des Unionsprogrammsbeschädigte.

Diese Selbstdarstellung der Uniongab der SPD die einzigartige Chancezur Polarisierung. Nun konnte sie sichals Bastion der sozialen Wärme ver-kaufen, die den kleinen Mann voreiner Periode sozialer Kälte bewahre.Diese Rolle hatte Franz Münteferingschon vor dem Neuwahlcoup vorberei-tet, als er mit populistischen Halb-

Kompetenzen auf wichtigen Politikfeldern

Wohlstand

Asylpolitik

Steuern

Gesundheit

Familie

Arbeit

Wirtschaft

Bildung

Außenpolitik

soziale Gerechtigkeit

42 %28 %

33 %31 %

39 %31 %

36 %32 %

38 %37 %

45 %25 %

51 %27 %

43 %31 %

28 %36 %

28 %42 %

CDU

SPD

Quelle: Infratest-dimap

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48 heft 28 | dezember 2005

[ michael miebach ]

wahrheiten seine „Heuschreckenkam-pagne“ betrieb.

Geschickt reanimierte die SPD nunden Leitbegriff „soziale Gerechtigkeit“ –und setzte fortan diszipliniert auf dengenialen Wahlkämpfer Schröder. In bes-ter Oppositionsmanier diffamierte dieserden „Professor aus Heidelberg“, währendAngela Merkel rational-regierungsver-antwortlich argumentierte. Hier schienein Rollentausch vorzuliegen.

Gerechtigkeitgab den Ausschlag

Aus wahltaktischen Gründen war dieseStrategie notwendig, zumindest mobi-lisierte die SPD weit mehr Wähler, alsdie Demoskopen vorhergesagt hatten:Rund 24 Prozent der SPD-Wählernannten als Hauptmotiv für die Wahl-

entscheidung die Person GerhardSchröder. Und 45 Prozent von ihnenführten die Gerechtigkeitsfrage alseinen ausschlaggebenden Faktor fürihre Wahlentscheidung an.

So erfolgreich dieser Wahlkampfkurzfristig auch war, er vermittelte einverschwommenes, ambivalentes Bild vonder SPD und verunsicherte die sozialde-mokratische Wählerschaft. So stimmten42 Prozent der SPD-Wähler, aber nur27 Prozent der Unionsanhänger demSatz zu: „Die Wahlentscheidung ist dies-mal so schwer wie nie.“ Zudem traf derdurchschnittliche Wähler der SPD seineWahlentscheidung deutlich später als derUnionswähler: Rund 51 Prozent allerSPD-Wähler, aber nur 40 Prozent derUnionswähler entschieden sich erst inden letzten Tagen und Wochen vor derWahl für ihre Partei.

Wähleraustausch zur Bundestagswahl 2005

Quelle: infratest dimap Wahltagsbefragung

970.000 620.000 370.000 140.000 120.000Linke.PDS CDU/CSU Nichtwähler B90/Grüne FDP

H H H H H

SPD

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49perspektive21

[ plädoyer für ehrliche ursachenforschung ]

Diese Verunsicherung geht auf einParadox zurück: Einerseits begründeteGerhard Schröder die vorgezogenenWahlen mit einem neuen Mandat, daser für seine Reformagenda benötige.Anderseits legte sich die SPD im Wahl-kampf einseitig für die Bewahrung dessozialstaatlichen Status quo ins Zeug(„Wir stehen für Arbeitnehmerrech-te“). Kein Wort darüber, mit welchenMaßnahmen sie die Agenda 2010 ei-gentlich weiterentwickeln wolle, vondem Konzept der Bürgerversicherungund einigen familienpolitischen Vor-schlägen einmal abgesehen.

Neue Konkurrenzsituationfür SPD

Wen wundert es, dass die meistenWähler der SPD lediglich in den The-

menfeldern soziale Gerechtigkeit undAußenpolitik mehr Kompetenz zu-trauten als der Union, die CDU/CSUjedoch bei allen anderen Themen vor-ne lag, von Wirtschaft über Bildungbis hin zur Steuerpolitik? Dieser Wahl-kampf und dieses Wahlprogramm hat-ten den Wählern die programmatischeLeere der Sozialdemokratie offenbart.Mit jeder Wahlkampfwoche war un-klarer geworden, was sozialdemokrati-sche Politik im 21. Jahrhundert ei-gentlich genau sein soll.

Kurzum: Das sozialdemokratischeWohlempfinden dieser Tage ist trüge-risch. Die SPD hat massiv an Wählernverloren, sie steht vor einer neuenKonkurrenzsituation im Parteiensys-tem, der Wahlkampf hat ihre Wähler-schaft zu Recht verunsichert und diesozialdemokratische Programmatik ist

Wähleraustausch zur Bundestagswahl 2005

Quelle: infratest dimap Wahltagsbefragung

620.000 1.110.000 290.000 130.000 640.000SPD FDP Linke.PDS B90/Grüne Nichtwähler

CDU

H H H

G G

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50 heft 28 | dezember 2005

nur noch verschwommen erkennbar.Diese Partei steckt in einer tiefen Krise.

Während sich andere europäischesozialdemokratische Parteien bereits inden neunziger Jahren auf moderne „so-zialdemokratische Erzählungen“ (HeinzBude) angesichts neuer gesellschaftli-cher Herausforderungen verständigten,misslang der SPD die Entwicklung ei-nes eigenen Projekts auf der Höhe derZeit. Deshalb wurde sie nie ausdrück-lich für ihr Programm gewählt, sondernstets aufgrund äußerer Umstände: ImWahljahr 1998 sorgte die Kohl-muss-weg-Stimmung für den Sieg, vier Jahrespäter der Irak-Krieg und das Elbe-hochwasser, nun wurde Paul Kirchhofzum Retter. Die Krise der SPD liegt inihrer programmatischen Erschöpfung!Die Agenda 2010 war eine Reaktion aufdie schlechten Wahlergebnisse der ver-gangenen Jahre, und nicht ihre Ursa-che, wie manche meinen. Schließlichhatte die SPD bereits vor der Ankündi-gung der Reformagenda im März 2003schwere Niederlagen bei Landtagswah-len eingesteckt.

Kein Weg zurückhinter die Agenda

Niemand sollte glauben, hinter dasReformprojekt Agenda 2010 führeirgendein Weg zurück. Man könnewieder Mehrheiten gewinnen, wennman der PDS/Linkspartei das Wasserabgrabe und nur wieder den traditio-

nellen, nachsorgenden Sozialstaat ge-gen „Heuschrecken“ und „neoliberalenmainstream“ verteidige. Ein solchesUnterfangen wäre nicht nur inhaltlichfalsch und deshalb mittelfristig auto-matisch zur elektoralen Erfolglosigkeitverdammt. Es würde auch politischnicht funktionieren. Die von der SPDzur PDS/Linkspartei gewanderten„unteren Schichten“ sind fürs Ersteeinmal vergrault. Sie sehen nun in derPDS/ Linkspartei das Original, dasden westdeutschen Sozialstaat der sieb-ziger Jahre verkörpert.

Wirtschaftsdynamik undGerechtigkeit verknüpfen

Die SPD kann künftig nur dann at-traktiv für die Wähler auf der Linkenund in der Mitte bleiben, wenn sieneue sozialdemokratische Antwortenauf die deutsche Krise findet. Ein neu-es sozialdemokratisches Projekt mussher, das auf der Agenda 2010 aufbautund im Kern von einer Sozialpolitikhandelt, die heutige Lebenswirklich-keiten berücksichtigt – beispielsweiseist alleinerziehenden Müttern heutzu-tage eher mit Betreuung für ihre Kin-der geholfen als mit mehr Alimenta-tion; und Arbeitssuchende und Men-schen in prekärer Beschäftigung sindweniger an Arbeitnehmerrechten in-teressiert als an Arbeit.

Dieses Projekt muss – das lehrt dererfolglose Unionswahlkampf – ideenpo-

[ michael miebach ]

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51perspektive21

litisch gut fundiert sein. Matthias Plat-zecks zentrale Botschaft, dass wirtschaft-liche Dynamik und soziale Gerechtig-keit sich gegenseitig bedingen, bildethierfür genau die richtige Grundlage.Das Grundsatzprogramm, das im No-vember 2006 verabschiedet werden soll,bildet den Anlass für die notwendigeinnerparteiliche Debatte. Nach der Ver-abschiedung des Programms muss dann„Butter bei die Fische“: Die neue SPDmuss sich für die Zeit nach 2009 kon-krete Projekte auf die Fahnen schreiben.

Matthias Platzeck hat also vollkom-men Recht: „Die Partei soll arbeiten!“Die anderen schlafen nämlich nicht.Auch die Union wird aus demWahlkampf ihre Lehren ziehen für denKampf um die politische Mitte inDeutschland. So schreibt Berthold Löf-fler im Hausblatt der Konrad-Adenau-

er-Stiftung Die Politische Meinung:„Ohne Not, so scheint es, hat die CDUdarauf verzichtet, auf der Grundlageder christlichen Soziallehre die Perspek-tive einer erneuerten Sozialen Markt-wirtschaft zu entwerfen; also die Pers-pektive einer Wirtschaftsordnung, diewirtschaftliche Leistungsfähigkeit mitsozialer Gerechtigkeit in Einklangbringt.“

Die Sterne für die Modernisierungder Partei stehen denkbar günstig. Derneue Parteivorsitzende ist ein Reformermit integrativen Fähigkeiten. Als Mini-sterpräsident eines ostdeutschen Bun-deslandes hat er Erfahrung mit derneuen strategischen Position der SPDals „Partei der Mitte“. Die Regierungs-beteiligung schließlich könnte inner-parteiliche Flügelkämpfe abmildern undeine sanfte Erneuerung ermöglichen. L

[ plädoyer für ehrliche ursachenforschung ]

MICHAEL MIEBACH

ist Redakteur der „Berliner Republik“ und Mitarbeiter der SPD-Landtagsfraktion Brandenburg

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NACH DEM WECHSEL IN DER REGIERUNG UND AN DER SPD-SPITZEVON KLAUS FABER

Rot-grüne Bilanzen unddeutsche Umbrüche

M it Matthias Platzeck und anderenist der Generationswechsel in der

SPD jetzt doch früher gekommen alsgeplant. Er ist inzwischen vom SPD-Parteitag in Karlsruhe mit einem glän-zenden Wahlergebnis für den neuenSPD-Vorsitzenden vollzogen worden.In einer Zwischenphase war die ost-deutsche „Machtübernahme“ durchAngela Merkel und Matthias Platzeckmanche Schlagzeile wert. Das ist aber,zu Recht, längst wieder überholt –auch wenn deren integrationspolitischeBedeutung nicht unterschätzt werdensollte. Anhänger des „Netzwerkes“ undPlatzeck-Vertraute haben zentrale Posi-tionen im Willy-Brandt-Haus besetzt,Stoiber hat sich angeschlagen nachMünchen zurückgezogen und die Fi-nanzlochthematik beherrscht zuneh-mend die öffentliche Debatte. DasVermächtnis der rot-grünen Bundesre-gierung verblasst demgegenüberschneller als gedacht. Es ist bereitsbeschädigt worden, wenn auch nochnicht zur Gänze gelöscht.

Joseph Fischer, bei aller Distanzwohl weiterhin ein Kanzlerfreund, hat

Gerhard Schröder einmal als Situati-onspolitiker bezeichnet. Das, was Fi-scher wahrscheinlich eher positiv an-sprechen wollte, gab anderen Anlass zudeutlich negativer Bewertung.

Zu spät und zu wenig angepackt

Zu spät und vor allem aus Gründendes eher tagespolitischen Zwangs seidie Reform der Sozialsysteme mit derAgenda 2010 angepackt worden. Zuwenig sei das positive Fernziel – einegerechte Neuordnung von Staatsstruk-turen für eine an Innovation und Bil-dung orientierte Gesellschaft – glaub-würdig politisch vermittelt worden.Zu zufällig-intuitiv, auf einem Markt-platz im Wahlkampf, sei ein außenpo-litischer Akzentwechsel mit erhebli-chen Fernwirkungen formuliert undverkündet worden. Zu unklar undunentschieden seien wesentliche Zu-kunftsfragen aufgenommen worden,wie etwa der dramatisch negativeTrend in der deutschen demografi-schen Entwicklung, die überholten

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[ klaus faber ]

Föderalismusstrukturen oder der deut-sche Innovations- und Wissenschafts-rückstand. Die Vorwurfsliste aus denNegativkommentaren ließe sich ver-längern. Allerdings sollte man bei die-sen Vorhaltungen bedenken, dass beiden meisten (nicht allen) dieser Defi-zitbehauptungen auch die Vorgänger-regierungen Verantwortung trug.

Gefahren und Chancen erkennen

Die oft kritisierte „situationspoliti-sche“ Neigung des Kanzlers steht an-dererseits auch für die andere, positiveMedaillenseite: Für die politische Sen-sibilität, die ihn meist früher als ande-re Gefahren und Chancen erkennenließ und seine damit verbundene Fle-xibilität (positiver: seine Lernfähig-keit). Diese Eigenschaft machte ihnfür jeden Gegner zu einem gefährli-chen Wahlkämpfer und zu einem imeigenen wie im fremden Lager gefür-chteten Konkurrenten. Seine Situati-onskompetenz war es wohl auch, dienach den langen, viel überdeckendenKohl-Jahren die grundlegenden Ver-schiebungen, die bereits mit der Wie-dervereinigung in der politischen Tek-tonik angelegt waren, in Wahlergeb-nissen sichtbar gemacht hat.

Deutschland ist 2005, nach den dreiBundestagswahlen seit 1998, erkenn-bar nördlicher, im politisch-kulturellenMilieu protestantischer, weniger „reli-

giös“ und weniger „westlich“ orientiert.Auf der Bundesebene wird in demneuen Fünf-Parteien-System von 2005die Regierungsbeteiligung für die SPDkomplizierter, aber das Regieren ohneSPD auch deutlich schwieriger.

Der Regierungsstil hat sich in derKanzlerzeit Gerhard Schröders ent-scheidend geändert. An dem von ihmgesetzten Verhaltensmaßstab den Me-dien gegenüber wird sich künftig nichtjede Kanzlerin und nicht jeder Kanzlermessen lassen müssen. Die vom Alt-kanzler Helmut Schmidt mit anony-mer Empfängeradresse immer wiederkritisierte zu starke Ausrichtung an derTalkshow-Fähigkeit wird in den kom-menden Jahren vermutlich weniger alsin Schröders Zeiten gefragt sein. DieÖffnung vor allem gegenüber denelektronischen Medien wird aber imGrundsatz bleiben.

Öffnung zu mehr Modernität

Die Schröder überdauernde gesell-schaftliche „Öffnung“ betrifft nochganz andere Gebiete, z.B. die Akzep-tanz von Homosexualität (nicht nur inder Gesetzgebung, selbst in relativ ho-hen Politikpositionen auch im konser-vativ-bürgerlichen Lager) oder die An-nahme der Tatsache, dass Deutschlandein Einwandererland ist und erhebli-che, bislang nur unzureichend erbrach-te Integrationsanstrengungen zu leisten

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[ rot-grüne bilanzen und deutsche umbrüche ]

hat. Dazu gehört möglicherweise auchder neue Konsens, die Kernenergienicht mehr auszubauen und, wohl we-niger deutlich, erneuerbare Energien zufördern. Manche dieser Aktionsfelderwerden überwiegend der grünen Koali-tionsseite zugeschrieben – nicht immerzu Recht – oder als bloß formaler Voll-zug von in der Gesellschaft bereitslängst angekommenen Änderungenverstanden. Das ist eine Beschreibung,die in den meisten Fällen die Lageebenfalls nicht zutreffend schildert undohne triftigen Grund die rot-grüneRegierungsleistung schmälert.

Kurswechsel in Bildungspolitik

Auf der im Kern recht langen Positiv-Liste muss ebenso die enorme Ausga-bensteigerung im Wissenschafts-, For-schungs- und Bildungsbereich er-scheinen. Sie hat indirekt auch dazubeigetragen, unsere nationalen Defizitezum öffentlichen Thema zu machen,wurde aber andererseits als Leistungund Zieldefinition zu wenig in diepolitische Veränderungsagenda (etwanach skandinavischem Muster) einge-baut. Eine stärkere Einbeziehung desInnovations- und Bildungsthemashätte übrigens Rot-Grün auch ein ver-bindendes Thema für die dritte Legis-laturperiode geben können.

Soweit sich dies jetzt beurteilenlässt, sehen die Akteure selbst (Schrö-

der, trotz aller Nuancen im Detailauch Müntefering sowie andere) unddie Mehrheit der Kommentatoren inder Agenda 2010 das rot-grüne Haupt-werk. Es war der Bundespräsident, derden dafür nötigen „Mut“ bescheinigte.Dass das Reformdefizit in diesemPunkt von links (Rot-Grün) aufge-nommen wurde, bleibt eine Leistung.

Über den dauerhaften Erfolg dereingeleiteten Maßnahmen werden abersowohl die neue Große Koalition alsauch andere Faktoren entscheiden, dienur in begrenztem Umfang von natio-naler Politik (oder von EU-Politik)gestaltet werden können. Das ist keineRelativierung der Leistung, sondernein selbstverständlicher Hinweis aufdie Umsetzungsbedingungen.

Streitkräfteeinsatzals Vermächtnis

Ein häufig, wenn auch nicht im Kon-sens genanntes, Schröder-Vermächtniskann mit Formel von der „Friedens-macht Deutschland“ umschriebenwerden. Damit wird (leider) nicht diepolitische Großtat angesprochen, dasssich die rot-grüne Regierung für frie-denssichernde deutsche Streitkräfte-einsätze (mit und ohne UN-Mandat)entschieden hat.

Gemeint ist vielmehr die politischeAuseinandersetzung über den Irak-Krieg. Ein bekannter deutscher His-toriker hat sie etwas abfällig als einzi-

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[ klaus faber ]

gen langfristig in Erinnerung bleiben-den Aspekt der rot-grünen Regie-rungszeit bezeichnet und mit der Wer-tung skizziert, die deutsche Außenpo-litik sei damit aus ihrer „sklavischen“Abhängigkeit von den USA befreitworden.

Deutschland wird„Friedensmacht“

Dass (west-)deutsche Politik gegen-über den USA von Adenauer überBrandt, Schmidt und Kohl durch skla-vische Abhängigkeit gekennzeichnetgewesen sein soll, kann auch beifreundlicher Interpretation wohl nichtso strikt gemeint gewesen sein. Überdie Sache selbst und den Slogan „Frie-densmacht Deutschland“ muss aberdiskutiert werden. Vielleicht ist Frank-reich auch „Friedensmacht“, neuer-dings ebenso Spanien. Wer war und istes nicht? Die USA mit oder auch nachGeorge W. Bush, Blairs Großbritan-nien, die neuen EU-Länder Polen oderTschechien? Die schon durch den Be-griff selbst angelegte Lagerbildung lässtZweifel zu, ob dieser Teil des politi-schen Vermächtnisses positiv überdau-ern wird. Diese Zweifel hängen nichtdavon ab, ob die US-Politik im Irakkünftig ganz oder teilweise als verfehltangesehen wird.

Welche Schlüsse hat die SPD ausdem Wahlergebnis und dem Wechselin der Regierungsverantwortung sowie

an der Parteispitze zu ziehen? Eine ver-breitete Meinung geht dahin, erst imWahlkampf sei (auch dank Müntefe-ring) der soziale Ton, die Verbindungvon Erneuerung, Zusammenhalt undGerechtigkeit, wieder gefunden wor-den. Von Anfang an müsse in derkünftigen Regierungsarbeit dieser As-pekt berücksichtigt werden. Für einederartige Akzentsetzung bietet diepolitische Gesamtlage nach den Wah-len – trotz Münteferings Abgang vonder Parteispitze und auch nach demRückzug Stoibers – eher gute Voraus-setzungen (allerdings nicht für dieAbkehr vom Reformprozess, wie derKoalitionsvertrag zeigt). Selbst dieFDP wird sich nicht nur aus bündnis-politischen Gründen mittelfristigüberlegen müssen, wie sie ihr sozialpo-litisches Profil künftig gestalten will.

Neue Schwerpunkteim Koalitionsvertrag

Ähnlich günstige Bedingungen gibt esfür das klassische SPD-Thema vonInnovation, Wissenschaft und Bil-dung. Das zeigt sich auch im Koaliti-onsvertrag (allerdings nicht in seinenEmpfehlungen zur Föderalismusre-form). Ein derartiger Politikschwer-punkt kann nach dem bereits erwähn-ten skandinavischen sozialdemokrati-schen Vorbild in der Gesellschaft dieVerzichtleistungen rechtfertigen undder Strukturreform eine positive Ziel-

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[ rot-grüne bilanzen und deutsche umbrüche ]

setzung geben. Auch der neue Partei-vorsitzende Matthias Platzeck will die-ses Thema wieder zu einem SPD-Mar-kenzeichen machen.

Überfällige Förderalismusreform

Die Föderalismusreform ist nun ver-einbart, ob allerdings ihre Richtungstimmt, ist fraglich. Gefahr droht voneinem möglichen Bündnis der CDU-,CSU- und SPD-Länderetatisten, diewenig oder kein Verständnis für dieunverzichtbaren Ausgleichsaufgabendes Gesamtstaates vor allem auf denGebieten Wissenschaft und Hoch-schule haben. Eine Realisierung diesesGefahrenpotentials zeigt die Koali-tionsvereinbarung in der ersten, aber(hoffentlich) nicht abschließendenPhase der Willensbildung für eineGrundgesetzänderung. Sie nimmt mitihren Vorschlägen für eine Verfassungs-änderung dem Bund in einer geradezuanachronistischen Weise die unver-zichtbaren Regelungsbefugnisse für dieHochschulen und deren Finanzierung.Diese hatte die erste Große Koalition1969 eingeführt, um den damals schonvorhandenen deutschen Rückstand inder Wissenschaft auszugleichen.

Im Ansatz ist die Föderalismus-reform richtig und überfällig. Es warklar, dass die Landesregierungen imAusglich für reduzierte Bundesratszu-stimmungen zur Bundesgesetzgebung

Gegenleistungen fordern würden. Dassderartige – im Ursprung süddeutsche– Landesforderungen nahezu vollstän-dig erfüllt werden sollen, war jedochkeine unvermeidbare Kompromiss-voraussetzung. Unzutreffende Aus-gangsannahmen, für deren Verbrei-tung und Nicht-Widerlegung auch dasreduzierte Reformengagement der rot-grünen Bundesregierung Verantwor-tung trägt, spielen dabei eine Rolle.

Neuordnung kann langfristigschwächen

Die Bemerkung der neuen Kanzlerin,nun, nach der Föderalismusreform à laKoalitionsvertrag, fände mehr bil-dungspolitischer „Wettbewerb“ zwi-schen den Ländern statt, ist dafür einBeispiel. Auf dem Markt entscheidetder Dienstleistungsabnehmer oder derWarenkäufer über den Wettbewerbser-folg. Haben Eltern, Schüler oder Stu-denten auch nur die geringsten Chan-cen, die Ergebnisse des Länderwettbe-werbs maßgeblich zu beeinflussen?

Selbst wenn sie – im Sinne derUnion – in allen Ländern unionsge-führte Landesregierungen wählen wür-den, könnten diese die Struktur-,Finanz- und Leistungskraftunterschie-de zwischen den Ländern nicht aufhe-ben. Das gilt natürlich auch für denpolitisch umgekehrten Fall.

Jetzt – vielleicht zu spät – protestie-ren die Vertreter der deutschen Hoch-

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[ klaus faber ]

schulen. Sie sehen einen Zusammen-bruch des deutschen, im internationa-len Vergleich ohnehin unterfinanzier-ten Hochschulsystems voraus, wennsich der Bund aus seiner Verantwor-tung zurückzieht. Ähnlich äußertensich (noch in seiner Ministerzeit)Wolfgang Clement und, vor denWahlen, die SPD-Fraktionsvorsitzen-den in den ostdeutschen Ländern.Wissenschaftsminister und -einrich-tungen oder insgesamt die ostdeut-schen Länder mögen ihre Hauptstär-ken noch nicht auf dem Gebiet derlegitimen Interessenvertretung entfal-tet haben.

Spielräume für mehr Nachhaltigkeit

An derartigen (hoffentlich vorüberge-henden) Schwächen darf jedoch einelangfristig wirkende Neuordnung derBund-Länder-Zuständigkeiten für dieWissenschaft und ihre Finanzierungnicht ausgerichtet werden. UnterUmständen helfen hier der Satz deskünftigen Kanzleramtschefs Thomasde Maizière, der Koalitionsvertrag sei„keine Bibel“, sowie der Respekt vorder Unabhängigkeit des Parlaments.

In vielen anderen Fragen der SPD-Bilanz nach den Wahlen und für dieneuen Regierungsoptionen wird man,was konkrete Richtungsentscheidun-gen der Bundespolitik anbelangt, ab-warten müssen. Dazu zählen das viel

zu spät aufgenommene Stichwort„Weg vom Öl“, die Familien- und Ge-nerationen-Politik sowie der AufbauOst. Aus dem Koalitionsvertrag ist nurzum Teil zu erkennen, welche politi-schen Spielräume die neue Regie-rungskoalition hier in der Praxis hatund eröffnen will.

Schröder-Ära als Übergangszeit?

Auf längere Sicht stellt sich selbstver-ständlich wiederum die in der neuendeutschen Politikkonstellation schwe-rer zu beantwortende Bündnisfrage.Einige Kommentatoren meinen, in derOpposition würden sich die Grünennach links bewegen. Die sieben rot-grünen Regierungsjahre haben aberSpuren hinterlassen, die man nichtohne weiteres beseitigen kann. Dasmachen erste grüne Abgrenzungsde-batten gegenüber der neopopulisti-schen Lafontaine-PDS deutlich. Ger-hard Schröder hat gelegentlich, wieandere, gesagt, es sei eigentlich diefalsche Zeit für das rot-grüne Regie-rungsbündnis gewesen. Sind die Zei-chen der Zeit für oder gegen eine be-stimmte Formation aber immer soeindeutig zu interpretieren?

Im späteren Rückblick werden diesesieben Jahre und ihr Kanzler vielleichteinmal einer wichtigen politischenÜbergangszeit zugeordnet. In ihrwurde die erste Abspaltung links von

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[ rot-grüne bilanzen und deutsche umbrüche ]

der SPD – die Grünen – in das politi-sche System integriert. Nach der Wie-dervereinigung wurden gesamtdeut-sche Versuche zur Orientierungs- undIdentitätsfindung, nicht immer mitErfolg, in die Wege geleitet. Es bildetesich eine neue Parteienlandschaft undöffneten sich andere Politikoptionen –jenseits des Sach- und Personalkon-zepts der Alt-68er.

Der frühere chinesische Minister-präsident Chou En-Lai wurde bei ei-nem Besuch in Paris gefragt, wie er diehistorische Bedeutung der französi-schen Revolution einschätze. Er ant-

wortete, es sei wahrscheinlich noch zufrüh, diese Frage zu beurteilen. Zuge-geben, die Bewertungsfälle sind nichtvergleichbar. Vorsicht vor allzu schnellgezogenen Abschlussbilanzen ist den-noch geboten. Für ein abschließendesUrteil über die rot-grüne Bilanz ist esdanach, wie es wohl auch Chou En-Laisehen würde, noch zu früh. Dass wirZeugen eines weit reichenden, in denWirkungen eher noch unterschätztenStimmungs-, Themen- und Personal-wechsels in der deutschen Politik sind,lässt sich allerdings ohne großes Pro-gnoserisiko bereits heute sagen. L

KLAUS FABER

ist Rechtsanwalt, Publizist und Staatssekretär a. D. Er ist Vorsitzender desWissenschaftsforums der Sozialdemokratie in Berlin, Brandenburg und Mecklen-

burg-Vorpommern e. V. sowie Kuratoriumsmitglied des Moses-Mendelssohn-Zentrums für europäisch-jüdische Studien an der Universität Potsdam.

Dies ist die gekürzte Fassung eines in der „Neuen Gesellschaft/Frankfurter Hefte“ erscheinenden Artikels.

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ÜBER DAS VERHÄLTNIS VON SOZIALDEMOKRATIE UND GEWERKSCHAFTEN VON WOLFGANG SCHROEDER

Zwei schwierigePartner

M it dem Wahlkampf 2005 undden ersten Signalen, die von der

neuen großen Koalition gesendet wur-den, hat sich das Verhältnis zwischenGewerkschaften und SPD etwas ent-spannt. Vor allem die koalitionsgebun-dene Bestandsgarantie für die Tarifau-tonomie und die Mitbestimmung ha-ben dazu beigetragen. Doch wer überdie Perspektive dieser Beziehung nach-denken will, kann sich mit dieser Mo-mentaufnahme nicht zufrieden geben.Denn auch wenn es die SPD 2005geschafft hat, wieder an der Regierungbeteiligt zu sein, sind die Probleme derletzten Jahre nicht vergessen: Katastro-phale Wahlniederlagen seit der Bun-destagswahl 2002, hohe Mitglieder-und Wählerverluste gerade im Milieugewerkschaftlich organisierter Arbeit-nehmer und eine gewisse programma-tische Orientierungslosigkeit.

Aber auch die Gewerkschaften agie-ren nicht aus einer Position der Stärke.Sie sind politisch in der Defensive. Inder Tarifpolitik versuchen sie unterschwierigsten Rahmenbedingungen

die Verteilungsposition der Arbeitneh-mer zu sichern und Arbeitsplätze zuhalten. Gleichzeitig greifen Medien,Teile der Arbeitgeber und der Politikdie Tarifautonomie an. Dazu kommenhausgemachte Probleme wie Mitglie-derverluste, fehlende junge Mitgliederund die bis heute nicht gelungene Ver-arbeitung des Strukturwandels hin zueiner modernen Wissens- und Dienst-leistungsökonomie.

Ende der privilegiertenPartneschaft?

In dieser Situation ist es wenig er-staunlich, dass es eine gewisse wechsel-seitige Skepsis gibt. Belastend wirktaus Sicht der SPD vermutlich auchdas vergleichsweise starke Engagementaus den Gewerkschaften für die Grün-dung einer gesamtdeutschen Linkspar-tei, die nunmehr links der SPD agiertund mit einem stattlichen Bundestags-wahlergebnis reüssierte. Damit könntesich das Parteiensystem mittelfristigverändern; und zwar mit Auswirkun-

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[ wolfgang schroeder ]

gen für SPD und Gewerkschaften.Aber nicht nur in den Gewerkschaftengibt es Kräfte, die für ein Ende der„privilegierten Partnerschaft“ plädie-ren und deshalb für eine deutliche Ab-grenzung von den Gewerkschaftenpräferieren, weil sie in der SPD keinenglaubwürdigen Ansprechpartner fürgewerkschaftliche Interessen mehr zusehen glauben.

Mehr neben- alsmiteinander

Spiegelbildlich sind die Gewerk-schaftsskeptiker in der SPD fest davonüberzeugt, dass schon die unterstellteNähe der Gewerkschaften zur SPDschädlich für deren Mehrheitsfähigkeitsei. Denn das gesellschaftliche Imageder Gewerkschaften sei so schlechtund die Mobilisierungsfähigkeiten derGewerkschaften so schwach, dass dieSPD von deren Unterstützung sowiesokeinen Nutzen habe. Während diesebeiden Gruppen, die Kosten einesEndes der konstruktiven Beziehungenzwischen SPD und Gewerkschaftenfür gering erachtet, rechnet die Mehr-heit mit einer modifizierten Kontinui-tät, die beiden Vorteile verschafft.

Die Beziehungen zwischen SPDund Gewerkschaften haben sich verän-dert; vor allem sind sie schwächer ge-worden. Ursächlich sind auf der struk-

turellen Ebene neben unterschiedli-chen Arenen (Wählermarkt einerseitsindustrielle Beziehungen andererseits),in denen die beiden Akteure ihre zen-tralen Aufgaben zu erbringen haben;die unterschiedlichen sozialstrukturel-len Bezugspunkte. Beide Organisatio-nen führen ihr Leben nebeneinanderund pflegen Beziehungen meist übergewählte Repräsentanten. Ob das Ver-hältnis dann besser oder schlechterfunktioniert, hängt auch davon ab,wie angesichts vorhandener strukturel-ler und politischer Divergenzen dieSpitzen „miteinander können“. Ver-schärft wird diese Problemlage da-durch, dass hinter den Spitzen häufigein „Nichtverhältnis“ besteht. VonGrund auf belastbare Strukturen sindam ehesten in den industriellen Zen-tren vorhanden. Die Situation nachden Neuwahlen 2005 könnte jedochein Anstoß sein, das Verhältnis wiederintensiver zu gestalten, um neueHandlungsmöglichkeiten auszuloten.

Hoher SPD-Anteil unter Gewerkschaftern

Aber auch nach dem Parlamentseinzugder Linkspartei, die als old labour zuidentifizieren ist, sind die Beziehungenzwischen Gewerkschaften und Sozial-demokratie immer noch intensiverund umfangreicher als zu jeder ande-

1 Wahltagsbefragung von Intratest dimap für die ARD, September 2005

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ren Partei. So haben 47 Prozent derGewerkschaftsmitglieder SPD ge-wählt, 24 Prozent die CDU und 13Prozent die Linkspartei.1

Die Gewerkschaften haben ihrenEinfluss im politischen System ihrerFähigkeit zuzuschreiben, einen wesent-lichen Teil der Arbeitnehmerschaft re-präsentieren zu können. Gefährdetwerden könnte dies, wenn die Mitglie-derverluste und die bis heute unzurei-chenden Erfolge in Zukunftsbranchen,bei den neuen Berufen, in den kleinenBetrieben und nicht zu vergessen beiden Frauen, nicht abgewendet werdenkönnen. Denn die abnehmende Veran-kerung der Gewerkschaften bei rele-vanten Teilen der abhängig Beschäftig-ten kann dazu führen, dass sie sich vonwesentlichen wirtschaftlichen und ge-sellschaftlichen Entwicklungen entfer-nen.

Auf Augenhöhe mitGesellschaft bleiben

Die politischen Folgen sind spürbar:Das Vertrauen in die Gewerkschaftennimmt ab. Sie werden zunehmendweniger als professionelle Interessenor-ganisation noch als „Organisationender Gemeinwohlvertretung“ angesehen– und dies ist eine klassische Stärkeder Gewerkschaften, die sie bis heutevon normalen Interessenorganisatio-nen, die nur Klientelinteressen vertre-ten, unterscheidet. Der Einfluss der

Gewerkschaften wird sich am Endeauch daran entscheiden, ob sie mitden gesellschaftlichen Entwicklungenauf Augenhöhe bleiben. Damit könnteauch ein Negativszenario zur Zukunftvon Gewerkschaften und SPD verhin-dert werden: Denn ob in Schwächevereint oder getrennt. Beides wäre kei-ne verlockende Perspektive.

Das Verhältnis zwischen Gewerk-schaften und SPD lässt sich unter denBedingungen sozialdemokratischerRegierungsbeteiligung in drei Idealty-pen einteilen:K Anpassung bzw. Unterordnung der

Gewerkschaften: Diese Option be-sagt, dass die Gewerkschaften aufdie Bildung eigener offensiver Ak-zentsetzungen, die mit der Regie-rungspolitik nicht vereinbar sind,verzichten. Dies heißt nicht auto-matisch, dass sie sich unkritisch ver-halten. Sie kritisieren und praktizie-ren einen situativen Lobbyismus.Sie versuchen jedoch nicht, für ihrebesonderen Interessen eigenständiggegen die Regierung zu mobilisie-ren. Diese Variante der Unterord-nung kann sich in der Bandbreitevom aktiven Transmissionsriemenin die Gesellschaft bis hin zum stillschweigenden Mitspieler bewegen.

K Konfliktpartnerschaft: Die Gewerk-schaften pendeln zwischen Koopera-tion und Konflikt. Einmischen undaktive Beteiligung der Gewerkschaf-ten bis hin zur Personalunion wird

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von beiden Seiten für wichtig gehal-ten. Dabei werden auch durchausaktiv eigene Konzepte öffentlichkommuniziert und dafür geworben.Entscheidend ist jedoch, dass einegrundsätzliche Opposition zu undeine Absage an deren Regierungs-fähigkeit nicht angestrebt wird, so-lange erkennbar ist, dass es sich umeine Politik handelt, die im Rahmender begrenzten Möglichkeiten ge-werkschaftliche Interessen berück-sichtigt.

K Autonome Gewerkschaftspolitik:Diese dritte Option geht davon aus,dass die beiden großen Parteien,sowohl als „große Koalition“ in derRegierung, wie auch getrennt inRegierung und Opposition auf derinhaltlichen Ebene gewissermaßeneinen monolithischen Block bilden.Angesichts unvereinbarer Interessenund Strategien angesichts derart„neoliberal“ sich verhaltender sozi-aldemokratischer Parteien, seien dieGewerkschaften gut beraten, ihreneigenen Weg zu gehen und überden Umweg gesellschaftlicher Mo-bilisierung, darauf hin zu wirken,die SPD wieder auf den Pfad derTugend zurück zuführen. Deshalbkonzentrieren sich die Gewerk-schaften in diesem Modell auf eineMobilisierung der Gesellschaft undder Mitglieder durch Demonstra-tionen bis hin zur Gründung bzw.Unterstützung einer „Linkspartei“,

um ihre Interessen auch jenseits derSPD artikulieren zu können.

Bei diesen Optionen handelt sichselbstverständlich um Idealtypen. Inder Realität ist das Verhältnis zwischendiesen Idealtypen angesiedelt, mit einerleichten Tendenz zur Konfliktpartner-schaft, wobei auch zwischen den ein-zelnen DGB-Gewerkschaften sowie füreinzelne historische Phasen deutlicheUnterschiede festzustellen sind.

Verbindungslinien zwischenGewerkschaften und SPD

Zwischen Gewerkschaften und Sozial-demokratie gibt es inhaltliche und pro-grammatische Gemeinsamkeiten, dienicht alleine mit einer ähnlichen Her-kunft und einer gemeinsamen politi-schen Verantwortung zu tun haben. Esbestehen auch tiefgreifende Differen-zen, die dazu beitragen können, dass eszu wechselseitigen Blockaden kommt.Ursächlich dafür ist, dass Gewerkschaf-ten und Sozialdemokratie in differen-ten Arenen agieren und ihre Aktivitä-ten dort anderen Logiken folgen. Einepositive wechselseitige Bezugnahmewird zudem durch eine unterschiedli-che soziale Basis und die daraus resul-tierenden Interessen erschwert. Bei-spielsweise steht einem Arbeiteranteilvon 60 Prozent in der gewerkschaftli-chen Mitgliedschaft einer von 20 Pro-zent bei der SPD gegenüber. Das sind

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jedoch keinesfalls hinreichende Verän-derungen, um einen grundlegendenpolitischen Entfremdungsprozess zuerzeugen. Denn die realen Interessens-unterschiede können durch überein-stimmende Deutungen der Situatio-nen, Instrumente und Strategien desTauschs- und der Beteiligung zumin-dest relativiert werden. Von besondererBedeutung ist dabei eine flexible Eli-tenkooperation auf der Basis gemeinsa-mer Leitbilder.

Die Struktur der Einheitsgewerk-schaft verbietet eine direkte Unterstüt-zung der SPD. Gleichwohl besteht aufder Ebene der Grundwerte, der Zieleund Instrumente eine traditionell engeBeziehung, die wir durchaus als „privi-legierte Partnerschaft“ bezeichnenkönnen. Im Gegensatz zur CDU/CSUspricht die SPD den Gewerkschaftenin ihren Programmen eine herausra-gende Rolle als positiver Faktor gesell-schaftlicher Integration und Gestal-tung zu, was im Godesberger (1959)und im Berliner Programm (1989) ineigenen Kapiteln herausgestellt wird.

Konsens über Leistungen des Sozialstaates

Von zentraler Bedeutung ist bisher derweitgehende Konsens zwischen SPDund DGB über die Leistungen unddie Leistungsfähigkeit des deutschenModells von Sozialstaat und industri-ellen Beziehungen. Damit wird die be-

sondere Rolle der Gewerkschaftenauch institutionell anerkannt, was sichauch bei der Reform des Betriebsver-fassungsgesetzes von 2001 bewährteund jüngst in den Koalitionsverhand-lungen der Großen Koalition, wo dieSPD darauf insistierte, dass die Aner-kennung von Tarifautonomie undMitbestimmung fester Bestandteil ih-rer Regierungspolitik sei.

Agenda 2010erhöhte Druck

Gleichwohl ist dieser normative Kon-sens durch das Schröder-Blair-Papiervon 1999 sowie durch eine sozialde-mokratische Regierungspolitik, die aufPrivatisierung, Eigeninitiative und eineReduktion des Staates im Sinne einerneu akzentuierten Aktivie-rungsstrate-gie setzte, unter starken Druck gera-ten. Die Agenda 2010 wird seitens derGewerkschaften als eine angebotsori-entierte Politik rezipiert, mit der diesoziale Asymmetrie gefährdet wird.Während die Gewerkschaften in ihrenDiskursen mit der Sozialdemokratiedie Rolle der Verteilungsgerechtigkeitherausstellen, besteht die Mehrheit derSPD-Führung darauf, dass dieses Ge-rechtigkeitskonzept relativiert werdenmüsse und Teilhabe-, Chancen-, undGenerationengerechtigkeit ebenfallseine wichtige Rolle spielen sollten. Vordiesem Hintergrund wuchs bei einigenFunktionären der Gewerkschaften die

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Bereitschaft, sich nicht nur von dersozialdemokratischen Regierungspraxiszu distanzieren, sondern auch eineeigene Partei links von der SPD aufzu-bauen. Auch wenn deren Zustande-kommen letztlich von einer Vielzahlvon Zufällen getragen war, bleibt fest-zuhalten, dass die handelnden Akteuredas nutzten, um eine normative Platt-form zu schaffen, die eng an den pro-grammatischen Positionen der beidengroßen Gewerkschaften IG Metall undver.di orientiert sind.

Personelle Überlappungen bleiben

Gerade angesichts auseinanderfallen-der Wirklichkeitsdeutungen und Ba-sisstrukturen müssen die Eliten vonPartei und Verbänden inhaltlicheSchnittmengen und gemeinsame Pro-jekte definieren. Personelle Basis dafürkann das wechselseitige Engagementsein: Gewerkschafter wählen mehrheit-lich SPD; ein Teil von ihnen unter-stützen sie nach wie vor aktiv. UndSPD-Mitglieder sind auch Gewerk-schafter: Etwa ein Drittel aller SPD-Mitglieder sind gewerkschaftlich orga-nisiert. Quantitativ betrachtet kommtdie Majorität der sozialdemokratischenGewerkschaftsmitglieder aus den Ver-bänden des öffentlichen Dienstes. Soliegt etwa der ver.di- und der GEW-Anteil unter den gewerkschaftlich or-ganisierten Sozialdemokraten deutlich

über ihrem DGB-Anteil während dieIG Metall in der SPD deutlich unter-repräsentiert ist. Doppelmitgliedschaf-ten, also SPD-Parlamentarier und Ge-werkschaftsmitglied zu sein, führen inder Regel nicht zu tiefgreifenden Kon-flikten, weil es eine klare Rollendefini-tion gibt, die einen grundlegendenKonflikt in der Regel verhindert.

Homogenisierung derGewerkschaftspositionen

Gewerkschaften benötigen einenZugang zum politischen System.Ebenso kann es für eine sozialdemo-kratische Partei in Regierung und Par-lament, die Konflikte mit der Arbeit-nehmerschaft und ihren Gewerkschaf-ten nicht bewusst in Kauf nehmenwill, hilfreich sein, eine Rückbindungan die gewerkschaftliche Funktionse-lite zu haben. Mit dem 1968 unterWilly Brandt gegründeten Gewerk-schaftsrat besteht ein Gremium desregelmäßigen Austauschs zwischenPartei- und Gewerkschaftsspitzen, dasinsbesondere in Phasen des Konfliktsden Charakter einer Clearingstelleannehmen kann. Mit Ausnahme desver.di Vorsitzenden, der das Parteibuchder Grünen besitzt, sind alle DGB-Vorsitzenden zugleich auch SPD-Mit-glieder. Da alle Gewerkschaftsvorsit-zenden mit sozialdemokratischem Par-teibuch an diesen Gesprächen teilneh-men, kann diese Einrichtung auch zur

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Homogenisierung gewerkschaftlicherPositionen beitragen.

Eine andere Form der Kontaktpoli-tik besteht darin, dass führende Ge-werkschafter als Minister in die Regie-rung eingebunden werden: In Regie-rungszeiten wurde das Amt des Ar-beitsministers immer einem führendenGewerkschafter übertragen, der aufdiese Weise ein spezifischer Ansprech-partner für die Gewerkschaften in derRegierung ist. Erstmals seit die SPDan der Regierung ist, gab es zwischen2002 und 2005 keinen führendenGewerkschafter mehr, der ein Minis-teramt inne hatte; diese Praxis wurdeauch bei der Regierungsbildung 2005fortgesetzt.

Kaum Zielgruppenarbeitim Bundestag

Eine weitere Kontaktebene bilden diegewerkschaftlich organisierten Bun-destagsabgeordneten. Aus der Sicht derParlamentarier kann die Mitgliedschaftin einer Gewerkschaft sowohl norma-tive wie auch instrumentelle Gründehaben. Letzteres meint eine Referenzan die Gewerkschaften als Instanz poli-tischer Ressourcenzuteilung. Dies allessagt allerdings noch nichts über derenBereitschaft und Fähigkeit, gewerk-schaftliche Interessen im politischenRaum zu vertreten. Gleichwohl hat derhohe Anteil von Gewerkschaftsmitglie-dern bei sozialdemokratischen Bundes-

tagsabgeordneten seitens der Unterneh-merverbände immer wieder zu demVorwurf geführt, es handele sich beider SPD-Bundestagsfraktion um eine„Gewerkschafts-Fraktion“ (Schmollin-ger 1973: 229). Tatsächlich spielen diegewerkschaftlich organisierten Bundes-tagsabgeordneten weder als Adressatentsprechender Zielgruppenarbeit einewirklich wichtige Rolle noch sind Ent-scheidungen bekannt, in denen dieseBundestagsabgeordneten als Block –im Konfliktfall – die aktuellen Interes-sen der Gewerkschaften gegen die Op-tionen der Fraktions- und Parteispitzeverfolgten.

Nachlassende Bindung bei Jüngeren

Seit 1990 ist bei allen Bundestagsfrak-tionen mit Ausnahme der PDS eindeutlicher Rückgang hinsichtlich desgewerkschaftlichen Organisationsgra-des feststellbar. Die jüngere Genera-tion der Abgeordneten setzt viel selte-ner als ihre Vorgänger auf das Prinzipüberlappender Mitgliedschaften. Mitder Bundestagswahl 1990 sank der ge-werkschaftliche Organisationsgrad inder SPD-Fraktion von über 90 Pro-zent auf rund 74 Prozent, der derCDU/CSU-Fraktion von fast 20 Pro-zent auf 7,5 Prozent. Auch die emotio-nale Bindung an die Gewerkschaftenhat bei jüngeren Abgeordneten wegenfehlender Erfahrungen nachgelassen,

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was vor allem auf andere Herkunftund Optionen hinsichtlich der Orga-nisation von Arbeit, Sozialstaat sowieeines anderen Gerechtigkeitsverständ-nisses zurückzuführen ist.

Der Parlamentseinzug einer gesamt-deutschen „Linkspartei“ kann sehrunterschiedliche Konsequenzen fürSPD und Gewerkschaften nach sichziehen: So lange es die SPD schafft,einen starken Teil der Arbeitnehmer-schaft für sich einzunehmen, könntees sein, dass ihre Position im Parteien-system durch die Existenz einer zusätz-lichen linken Partei gestärkt ist. Wielässt sich dies erklären?

Schlüsselrollefür die SPD

Die SPD kann sich in sozialstaatlichenFragen variabel in der Mitte bewegensowie in den Bürgerrechtsfragen in denlibertären Bereich (Migration etc.) hin-ein, weil sie auf bestimmte Positionenaus den Gewerkschaften weniger Rück-sicht nehmen muss, wenn diese es nichtschaffen sich in der Dienstleistungs-und Wissensökonomie zu verankern.Und in den Gewerkschaften könnte inFolge dessen sogar die Bewegung inRichtung Linkspartei eine stärkerenSchub erhalten, den es gegenwärtigweder quantitativ noch qualitativ gibt.

Zugleich könnte die SPD in Folgedieser neuen Konstellation in nahezujeder Situation, die mittelfristig abseh-

bar ist, eine entscheidende Rolle fürdie Mehrheitsverhältnisse im Parla-ment spielen. So ähnlich, wie wir diesgerade bei der Regierungsbildung erle-ben durften. Dass dies so ist, hängtauch mit den Konsequenzen für dieGewerkschaften zusammen: Dennwenn sich die Gewerkschaften ver-stärkt an der Linkspartei orientierenwürden, wofür vor allem programma-tische Nähe sprechen könnte, dannbräuchten sie sich selbst inhaltlichkaum zu verändern, weil sie dann jaeinen Partner hätten, der ihre Positio-nen im Parlament eins zu eins trans-portieren könnte. Dies brächte zweiKonsequenzen mit sich: K Erstens besitzen diese Positionen

unter den gegebenen Bedingungennur eine geringe machtpolitischePerspektive, um die Verhältnisse imInteresse der Arbeitnehmer beein-flussen zu können.

K Zweitens, das Projekt, Gewerkschaftzu sein, die in allen Arbeitnehmer-gruppen und in allen Wirtschafts-bereichen gleichermaßen vertretensind, könnte „begraben“ werden,weil die enge Beziehung zur Links-partei vielen Arbeitnehmern denWeg zur Gewerkschaft versperrt.

Die Gewerkschaften wiederum ver-lören durch eine enge Beziehung zurLinkspartei nicht nur ihre privilegiertePartnerschaft mit der SPD, und einepositive Veränderungsperspektive auf

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Augenhöhe mit dem gesellschaftlichenWandel; auch ihr Status als Einheits-gewerkschaft zerfiele mit dieser Op-tion. Für die letzt genannten Entwick-lungen wäre allerdings die Vorausset-zung, dass die Linkspartei ein stabiler,ja ein wachsender Faktor wird, wasderzeit eher unwahrscheinlich ist.Wahrscheinlicher ist, dass sich diesevirtuelle Plattform aus verschiedenen

linken Kulturen nicht zu einer länger-fristigen, handlungsfähigen Einheitentwickeln kann. Doch verlassen wirdiese Spekulationen und konzentrierenuns auf die Arbeit in den Mühen derEbene, um eine neue Phase der privi-legierten Partnerschaft einzuläuten.Und diese ist notwendig, um Deutsch-land wirtschaftlich zu stärken und dasLand zu integrieren. L

DR. WOLFGANG SCHROEDER

ist Politikwissenschaftler und Leiter der Abteilung Sozialpolitik beim Vorstand der IG Metall sowie als Privatdozent an der

Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt am Main tätig.

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WAS DIE „LINKSPARTEI“ FÜR SPD UND PARTEIENSYSTEM BEDEUTETVON TOBIAS DÜRR

Der Pol derBeharrung

D as Auftauchen der so genanntenLinkspartei als gesamtdeutsches

Phänomen bei der vergangenen Bun-destagswahl hat viele Menschen über-rascht. Wie und warum konnte sichdie um den vormalige Sozialdemokra-ten Oskar Lafontaine und beträchtli-che Teile des besoldeten Funktionärs-apparats der westdeutschen Gewerk-schaften erweiterte PDS etablieren?Wer die Antwort auf diese Frage sucht,darf bei den gängigen Erklärungennicht stehen bleiben. Diese handeln sostereotyp wie oberflächlich von derEmpörung über Hartz IV, von derEnttäuschung über die Agenda 2010,von der Wut auf den „Genossen derBosse“ Schröder und – bis zur völligenErmüdung – vom angeblichen „Neoli-beralismus“ der bisherigen roten undgrünen Regierungsparteien.1

Das alles benennt Phänomene,erklärt aber wenig. Mehr Erkenntnisverspricht es da schon, auf den Wan-

del der grundlegenden Konfliktmusterinnerhalb der deutschen (und europäi-schen) Gesellschaft zu achten, der dasAufkommen von Parteien wie die„Linkspartei“ möglich macht.

Kraftvoller Anstoß

„Kraftvolle Parteien sind das Ergebniskraftvoller Anstöße, die sich aus histo-rischen Lagen ergeben“, hat der Poli-tologe Wilhelm Hennis geschrieben.2

Damit hat er die Theorie der cleavages,jener kreuz und quer durch die Gesell-schaft verlaufenden Konfliktlinien grif-fig auf den Punkt gebracht. Es maghier dahinstehen, ob die heute unterdem Namen „Linkspartei“ firmierendeerweiterte PDS tatsächlich eine „kraft-volle“ Partei genannt werden kann; ihräußeres Erscheinungsbild lässt darangewiss allerhand Zweifel zu. „Wir sindeine überalterte und stark männerdo-minierte Partei mit einer Kultur, die

1 Der völlig gedankenlose Umgang mit der Totschlagkategorie „Neoliberalismus“ war einer der entscheidenden Gründe für dieBlockade und Verarmung der politischen Debatte in Deutschland in den vergangenen Jahren. Zur Aufklärung vgl. etwa DavidHarvey, A Brief History of Neoliberalism, Oxford 2005.

2 Wilhelm Hennis, Überdehnt und abgekoppelt: An den Grenzen des Parteienstaates, in: ders., Auf dem Weg in den Parteien-staat: Aufsätze aus vier Jahrzehnten, Stuttgart 1998, Seite 69-92, hier Seite 92.

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für junge Menschen nicht attraktivist“, erklärt etwa der PDS-VordenkerAndré Brie. „Unsere intellektuellenImpulse sind bisher viel zu gering undstrahlen nicht wirklich in die Gesell-schaft aus.“3 Dem ist wenig hinzuzufü-gen. Ebenso klar ist hingegen, dass dieerweiterte PDS tatsächlich das Pro-dukt bestimmter „kraftvoller Anstöße“und einer bestimmten „historischenLage“ ist – einer neuen Konfigurie-rung der Kräfteverhältnisse in der Ge-sellschaft. Von einem „Gezeitenwech-sel“, der inzwischen auch das deutscheParteiensystem erfasse, spricht auchder Publizist Warnfried Dettling. „Diepolitischen Strömungen“, so seineThese, „suchen sich eine neue Rich-tung.“ 4

Bewegung und Beharrung

Das stimmt, ist aber etwas missverständ-lich formuliert. Tatsächlich entsteht janicht eine neue Richtung. Vorerst intui-tiv noch oder schon sehr bewusst ord-nen sich die Menschen vielmehr einervon zwei großen Strömungen zu: der„Partei der Bewegung“ auf der einenSeite oder der „Partei der Beharrung“auf der an-deren. Weder die „Partei derBewegung“ noch die „Partei der Behar-rung“ gibt es heute als Organisationoder, unter diesen Namen, auf den

Wahlzetteln. Aber beide Parteien existie-ren bereits in den Köpfen der Men-schen, und die jeweils mit ihnen ver-bundenen Vorstellungen, Hoffnungenoder Befürchtungen überlagern über-kommene Entgegensetzungen. Warumist das so?

Neue Welt mit neuer Form

Deutschland, Europa und die Welthaben sich in den vergangenen Jahr-zehnten enorm verändert – wirtschaft-lich und politisch, gesellschaftlich undkulturell. Jede zeitgemäße Politik mussheute dringend neue Antworten fin-den: Auf den bevorstehenden demo-grafischen Kladderadatsch, auf dieGlobalisierung, den Aufstieg von Chi-na und Indien zu formidablen ökono-mischen Großmächten, den Herbstdes Ölzeitalters und die Entstehungeiner Ökonomie, die immer mehr aufder Verarbeitung von Wissen undInformationen basiert. „Zu dieserJahrtausendwende ist eine neue Weltdabei, Form anzunehmen“, hat derSoziologe Manuel Castells schon voreinigen Jahren angesichts der Tiefe derTransformation geschrieben.5

Castells hat Recht. Wir erleben indiesen Jahrzehnten in der Tat einenUmbruch unserer westlichen Gesell-schaften, der in seinen Dimensionen

3 „Linkspartei ist überaltert: Vordenker André Brie über Perspektiven seiner Ex-PDS“, in: Berliner Zeitung vom 8.12.2005.4 Warnfried Dettling, Regierungswechsel? Gezeitenwechsel!, in: Berliner Republik 6 (2005), Seite 6-9.5 Manuel Castells, Das Informationszeitalter, Bd. 3: Jahrtausendwende, Opladen 2004, Seite 386.

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[ der pol der beharrung ]

und Auswirkungen dem Übergangvom Agrar- zum Industriezeitalternicht nachsteht – und neue politischeKonfliktlinien erschafft. Jeder wirt-schaftliche und soziale Wandel kenntGewinner und Verlierer. EinzelneMenschen, Gewerbe oder Branchen,Dörfer, Städte, Regionen, Nationen,Erdteile steigen auf, andere geraten insHintertreffen oder sogar ganz insAbseits. Historisch ist das nie andersgewesen, und es wird nie anders sein.

Nirgendwo steht geschrieben, dassDeutschlands Wohlstand und sozialerFrieden unter diesen Bedingungengleichsam mit halber Kraft zu sichernsein werden. Dringend zu warnen istdaher vor der Illusion, es könnte sichso etwas wie ein Mittelweg in die neueWelt des 21. Jahrhunderts finden las-sen. Mit mittelschnellen und mittel-ernsthaften Anpassungsmaßnahmenwird es Deutschland nicht weit brin-gen.

Mithalten auf hohem Niveau

Wie unlängst Geoffrey Garrett in For-eign Affairs dargelegt hat, sind es welt-weit gerade die mittelmäßig wohlha-benden und mittelmäßig modernenLänder, die sich im Prozess der Globa-lisierung am schlechtesten zurechtfin-den: „Auf den heutigen Weltmärktengibt es nur zwei Wege, um voranzu-

kommen. Menschen und Staaten müs-sen entweder wettbewerbsfähig in derWissensökonomie sein, die diejenigenQualifikationen und Institutionen prä-miert, die zu technologischer Innova-tion auf höchstem Niveau beitragen.Oder sie müssen wettbewerbsfähigsein in der Niedriglohnwirtschaft, dieallgemein verbreitete Technik nutzt,um Routineaufgaben zu den niedrigst-möglichen Kosten zu erledigen.“ 6 Werweder auf dem einen noch auf demanderen Markt mithalten kann, derhält bald gar nicht mehr mit. Vor die-ser Gefahr steht heute Deutschland.

Neues Denken

Doch diese abstrakte Erkenntnis fälltdeutlich leichter als die Einsicht, manselbst, die eigene Gesellschaft könntehier und jetzt von solchen Prozessenbetroffen sein. Dabei ist längst unbe-streitbar, dass Deutschlands Wohlstandund sozialer Frieden mit den Denkwei-sen, den Mentalitäten und Instrumen-ten der Vergangenheit in den kom-menden Jahrzehnten nicht zu erhaltenund erneuern sein werden. Nichtskommt von selbst, und nur wenig istvon Dauer – Willy Brandts zeitloseBinsenweisheit stimmt heute womög-lich noch ein bisschen mehr als früher.

Nur leuchtet dies eben nicht allenein – und genau hier verläuft deshalb

6 Geoffrey Garrett, Globalization’s Missing Middle, in: Foreign Affairs 83 (2004) 6, Seite 84-96.

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die zentrale neue Konfliktlinie inner-halb der deutschen Gesellschaft. Vielewollen es am liebsten weiterhin ruhigangehen lassen, nicht wenige werdenauch in Zukunft an denjenigen Insti-tutionen und Üblichkeiten festhaltenwollen, die doch schließlich auch frü-her gut genug gewesen seien. „DieMentalität der Mehrheit der Deut-schen, also der sechzig MillionenWestdeutschen, ist eine erfolgsver-wöhnte Mentalität“, schreibt derHistoriker Hans-Ulrich Wehler. „Esist, so gesehen, gerade die verblüffendeErfolgsgeschichte der Bundesrepublik,die sich unter dem Anprall neuer Er-fahrungen als Belastung erweist.“7

Die alte Mitte ist weg

Die einen begreifen das, andere ver-weigern sich. Die alte mentale Mitteder Bundesrepublik als Komplex ins-gesamt geteilter Grundannahmen undMentalitäten trägt nicht mehr. Wo esdie einen zurück zieht in die idylli-sierte Vergangenheit des „GoldenenZeitalters“ (Eric Hobsbawm), fordertauf der anderen Seite eine „GenerationReform“ (Paul Nolte) mehr Dynamikund Erneuerung. Diese elementareAuseinandersetzung zwischen zweiGeneraldeutungen der Wirklichkeitliegt im Grunde schon jetzt sämtli-

chen gesellschaftlichen Debatten inDeutschland zugrunde. Den Druckdes Wandels spüren alle – sie regierennur völlig unterschiedlich auf ihn. Dieeinen rufen trotzig: „Wir wollen be-halten, was wir haben!“ Die anderenerwidern: „Das hat aber Voraussetzun-gen – Voraussetzungen, die wir erneu-ern oder überhaupt erst schaffen müs-sten.“

Eben hier entsteht die zentrale neueKonfliktlinie der deutschen (und eu-ropäischen) Gesellschaft von Bewe-gung und Beharrung. Dafür drei Bei-spiele:K Bei der Option zwischen Bewegung

und Beharrung geht es nicht mehrum den sterilen Streit um „mehr“oder „weniger“ Staat, um „neolibe-rale“ oder „soziale“ Politik. Geradeder investive Sozialstaat des 21.Jahrhunderts darf kein entkernterMinimalstaat sein und ist zugleichauf die wirtschaftliche Dynamikangewiesen, wie sie nur eine gutgebildete und qualifizierte Bevölke-rung hervorbringen kann. In denWorten von Paavo Lipponen, der inden neunziger Jahren als Minister-präsident der Architekt des AufstiegFinnlands zu einem der ökono-misch und sozial erfolgreichstenLänder weltweit organisierte: „Finn-land ist nicht trotz seines Wohl-

7 Hans-Ulrich Wehler, Bonn – Berlin – Weimar: Droht unserer Republik das Schicksal von Weimar?, in: ders., Umbruch undKontinuität, München 2000, Seite 98-113, hier Seite 106.

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[ der pol der beharrung ]

fahrtssystems, sondern gerade wegendesselben international wettbe-werbsfähig.“8

K Ebenso quer steht die neue Kon-fliktlinie zu dem hergebrachtenGegensatz zwischen „materiellen“und „postmateriellen“ Werthaltun-gen: Bedeutet etwa materiell ge-prägte Politik per se Bewegung,postmateriell ausgerichtete hinge-gen stets Beharrung? Oder ist esdoch eher umgekehrt? Die Antwortwird von Fall zu Fall unterschied-lich ausfallen.

K Und schließlich geht es auch nichtmehr so übersichtlich wie einst umden alten Kampf zwischen „Kapital“und „Arbeit“, um die Auseinander-setzung zwischen Unternehmernund abhängig Beschäftigten: Dasbedrohliche Phänomen des „Wirt-schaftskonservatismus“, wie es tref-fend der Politologe Helmut Wiesen-thal nennt, findet sich heute inDeutschland in beiden Gruppengleichermaßen, und es schadet allengemeinsam. Umgekehrt sind, wieWiesenthal schreibt, „ein großer Teilder Unternehmer und Selbstständi-gen sowie viele Erwerbstätige intechnologisch avancierten Sektorender Wirtschaft … dagegen weitge-hend immun. In Bereichen, dieinternationalem Wettbewerb ausge-

setzt und darum von stetigem Wan-del geprägt sind, zählen die kreati-ven Aspekte der Unternehmer-funktion zum Allgemeinwissen.“9

Kreativität, Dynamik und Offenheitfür Veränderung einerseits – Bewah-rung, Konservatismus und Festklam-mern am Bestehenden andererseits: Dasexistierende deutsche Parteiensystembildet diese in der Gesellschaft entste-hende Hauptkonfliktlinie zwischen Be-wegung und Beharrung nicht adäquatab. Der Bruch verläuft mitten durch diebeiden großen Volksparteien und ihreWähler, ebenso mitten durch die An-hängerschaft der Grünen. Einzig die umdie sozial marginalisierten Wählergrup-pen konkurrierenden Parteien NPD,DVU und PDS lassen sich eindeutig alsreine „Parteien der Beharrung“ charak-terisieren: In ihrem Populismus undProtektionismus sowie in ihrer national-sozialen Wohlfahrtsnostalgie eint sieweitaus mehr, als sie ideenpolitisch von-einander trennen mag.

Verleugnung der Wirklichkeit

Das alles gärt schon lange. Die wirkli-che Neuerung der Wahl des Jahres2005 bestand nun allein darin, dasssich mit der zur „Linkspartei“ umbe-nannten PDS im deutschen Parteien-

8 Paavo Lipponen, Fortschritt neu denken, in: Perspektive 21, Heft 24, Seite 15-20.9 Helmut Wiesenthal: Wirtschaftskonservatismus: Das Münchhausen-Dilemma der Reformpolitik, in: Berliner Republik 6 (2005)

4, Seite 54-63.

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[ tobias dürr ]

system ein Pol der reinen Beharrungetabliert hat. Ob diese Partei als Orga-nisation mittelfristig funktionierenkann, ist hochgradig zweifelhaft. Dassindessen für ihr Angebot der nacktenWirklichkeitsverleugnung eine be-trächtliche Nachfrage besteht, liegtklar zutage. Das ist im Übrigen nichtbloß rein deutsches Phänomen: Über-all in Europa sind erneuerungswilligeParteien – und dabei gerade auch sozi-aldemokratische – seit den achtzigerund neunziger Jahren bei dem Versuchin heftige Schwierigkeiten geraten, denwidersprüchlichen Anforderungen vonBewegung und Beharrung gerecht zuwerden. Neuartigen Herausforderun-gen stehen allenthalben die umsomehr am Vergangenen orientiertenErwartungen traditional orientierterWählergruppen gegenüber.

Platz für linke Mitte

Allerdings: Je länger und intensiver dieKonflikte zwischen Bewegung und Be-harrung innerhalb der noch immergroßen bestehenden Parteien geführtwürden, desto mehr Platz entstündeim deutschen Parteiengefüge frei füreine offene und erneuerungsfreudigePartei der linken Mitte, die die Prinzi-pien der Gleichheit und Gerechtigkeitdynamisch im Lichte der verändertenökonomischen und gesellschaftlichenVerhältnisse zu buchstabieren ver-stünde. Bezogen auf die gesellschaftli-

che Nachfrageseite erscheint es nichtganz ausgeschlossen, dass die Grünenin die Rolle einer modernen Partei derprogressiven linken Mitte einrückenkönnten. Ob die Partei diese „Markt-lücke“ erkennt und zu füllen versteht,ist offen. Erste Signale seit der Bun-destagswahl deuten darauf hin, dassdie Grünen ihr Heil eher in kurzatmi-gen koalitionstaktischen Suchbewe-gungen zu finden hoffen als in langfri-stiger strategischer Selbstverortung imKontext der gesellschaftlichen Kon-fliktstrukturen. Viel war in den ver-gangenen Monaten von den Sinnkri-sen der großen Volksparteien inDeutschland zu hören. Dabei könntengerade die Grünen als kleine Partei dieersten sein, die ins Taumeln geraten,wenn irgendwann niemandem mehrklar ist, wie diese Partei nun links,bürgerlich, ökologisch, fortschrittlich,wertkonservativ et cetera zugleich seinkann. Mit dem taktischen Erfolg desAbschlusses der ersten schwarz-grünenLänderkoalitionen würden die strategi-schen Probleme der Grünen erst rich-tig ernst.

Bewegung und Beharrung zugleich

Noch misslicher erscheint auf Anhiebdie Lage der SPD. In der Phase derAgenda 2010 seit dem 14. März 2003haben die Sozialdemokraten immerwieder versucht, Bewegungs- und Be-harrungspartei zugleich zu sein. Da

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[ der pol der beharrung ]

innerparteiliche Widerstände die SPDdaran hinderten, die Idee der sozialenDemokratie angesichts veränderterHerausforderungen dynamisch undoffensiv zu interpretieren, meintenwesentliche Parteiführer immer wieder,Bewegung per se mit „sozialer Kälte“gleichzusetzen zu müssen. Das mochtefür die Zwecke hastig improvisierterKampagnenpropaganda genügen,demonstrierte aber vor allem das stra-tegische Kernproblem der deutschenSozialdemokratie: Zum Prinzip ihrereigenen Bewegungspolitik wollte (oderkonnte) sie sich nicht offensiv beken-nen, als Partei der Beharrung jedochhätte sie unweigerlich ihre Problemlö-sungskompetenz und Mehrheitsfähig-keit verloren.

Verweigerung geht nicht

Jetzt besteht für die SPD die großeChance, ihr verdruckstes Verhältniszur eigenen Politik endlich zu über-winden – und zwar gerade aufgrundder gesteigerten Präsenz der erweiter-ten Exkommunisten im politischenWettbewerb. In den Worten von Vize-kanzler Franz Müntefering: „MancherUnfug, den die fordern, ist damit füruns tabuisiert.“ 10 Zu hoffen ist, dasssich diese späte, aber umso erfreuli-chere Einsicht auf der ganzen Linie

durchsetzt. Denn wie Gøsta Esping-Andersen bereits vor Jahren festhielt,geraten überall in Europa langfristiggerade diejenigen sozialdemokrati-schen Parteien auf jeden Fall in denStatus permanenter Minorität, „denenes am schlechtesten gelingt, sich vonihrem traditionellen arbeiterlichenImage zu lösen“.11 Mit anderen Wor-ten: Die Verweigerung einer zeitgemä-ßen sozialdemokratischen Politik derBewegung ist schlechterdings keineZukunftsoption. Sollte die SPD je insFahrwasser des lafontainistischen Be-harrungspopulismus geraten, begäbesie sich unweigerlich nicht nur auf denWeg ins elektorale Abseits, sie verlöreauch das Vermögen, ihre Gerechtig-keits-, Gleichheits- und Aufwärtsmo-bilitätsziele jenseits bloßer Posen undPostulate (wie etwa die verunglückte„Heuschreckendebatte“) tatsächlich zuverwirklichen.

Bewegung macht erfolgreich

Genau das ist aber dringend nötig,denn es gibt viel zu tun. Die SPD hatin der jüngsten Zeit viel Aufhebensvom so genannten Europäischen So-zialmodell gemacht. Als eine einheitli-che Konzeption existiert dieses „Mo-dell“ freilich nicht. Die Länder unddie Sozialdemokratien Europas kom-

10 Interview mit Franz Müntefering, in: Die Zeit vom 1.12.2005.11 Gøsta Esping-Andersen, Politics Without Class? Postindustrial Cleavages in Europe and America, in: Herbert Kitschelt u.a.

(Hrsg.), Continuity and Change in Contemporary Capitalism, Cambridge 1999, Seite 293-316, hier Seite 311.

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[ tobias dürr ]

men höchst unterschiedlich gut mitden Herausforderungen des 21. Jahr-hunderts zurecht.

Erfolgreich sind jene, die sich inBewegung gesetzt haben. Und amerfolgreichsten sind unter ihnen sinddie nordeuropäischen. Die jüngsteGeschichte Skandinaviens deutet dar-auf hin, dass es tatsächlich möglich ist,gesunde öffentliche Finanzen mit ge-ringer Ungleichheit und hohen Er-werbsquote zu verbinden.12 In dieseRichtung sollte sich die SPD daherwenden.

Die historische Lage der Gegenwartist gekennzeichnet durch mächtigeUmbrüche. Auf diese Umbrüche rea-gieren Menschen und Parteien – sooder so. Sie setzen sich ebenfalls in

Bewegung oder sie verweigern sich.Politik bedeutet die Vertretung bereitsexistierender Interessen, noch vielmehr aber bedeutet Politik gettingthings done, also die Suche nach neuenLösungen für neue Probleme. DieseLösungen kann keine „Partei der Be-harrung“ anbieten, ganz gleich, unterwelchem Namen sie auftritt. Deshalbwird, wer sich unter dem Banner derBeharrung zusammentut, letztlich im-mer in umfassendem Sinne scheitern.Die Zukunft gehört den „Partei derBewegung“. Von der Frage, ob diesegesellschaftliche „Partei der Bewe-gung“ in den kommenden Jahren zueiner handlungsmächtigen politischeForm finden wird, hängt der WegDeutschlands im 21. Jahrhundert ab.L

DR. DISC. POL. TOBIAS DÜRR

geb. 1965, Politikwissenschaftler und Publizist und Chefredakteur der Berliner Republik.

12 Vgl. Anthony Giddens, The World Does Not Owe Us a Living, in: Progressive Politics 4 (2005) 3, Seite 32-38.13 Anthony Giddens und Patrick Diamond (Hg.), The New Egalitarianism, London 2005.14 Nick Pearce und Will Paxton (Hg.), Social Justice: Building a Fairer Britain, IPPR, London 2005.

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IN OSTDEUTSCHLAND IST DIE LAGE DER SPD EINE ANDERE ALS IM WESTENVON THOMAS KRALINSKI

Die (neue) Mitte im Osten?

E ntscheidend ist, was hinten raus-kommt“ – ist als Leitspruch eines

ehemaligen Bundeskanzlers überliefert.So betrachtet, ist die ostdeutsche SPDeine Erfolgsgeschichte. Seit 1990 hat siebei den Bundestagswahlen zugelegt:von 24 Prozent über 32 Prozent (1994)und 35 Prozent (1998) auf 40 Prozentim Jahr 2002. Bei der Bundestagswahl2002 hat die ostdeutsche Sozialdemo-kratie sogar die entscheidenden Stim-men für die Wiederwahl der Bundes-regierung gebracht. Erst die Wahl von2005 brachte einen Einbruch. Gleich-wohl blieb sie mit 30 Prozent stärkstePartei in Ostdeutschland. Also keinGrund zur Sorge. Oder?

Ein Blick auf die Landtagswahlenergibt bereits ein anderes Bild. In dreider neuen Länder ist die SPD nurdrittstärkste Kraft. In Sachsen hat siezuletzt gerade mal 9,8 Prozent (!), inThüringen nur 14,5 Prozent erreicht.In einer großen Kraftanstrengung hatdie Brandenburger SPD 2004 ihreFührungsrolle verteidigt, im Jahr 2006stehen die sozialdemokratischen Re-

gierungschefs von Berlin und Meck-lenburg-Vorpommern vor schwierigenWahlkämpfen. Immerhin, derzeit re-giert die SPD in vier der neuen Län-der – und es ist wahrscheinlich, dassSachsen-Anhalt im Frühjahr nächstenJahres noch dazu kommt. Dann stän-de die SPD lediglich in Thüringennicht in der Verantwortung.

Ein Abbild der Zukunft des Westens

Und dennoch: Die Basis der ostdeutschenSPD ist schwach. Beim Blick auf die Mit-gliederzahlen wird manchem Genossenaus den alten Ländern schummrig vorAugen. 1990 träumten die neuen Sozi-aldemokraten von einer neuen Volks-partei im Osten. Dieser Traum ist aus-geträumt. Zwar hat die neue SDP/ SPDnach der Wende schnell Mitglieder ge-wonnen – doch von einer Massenparteiist weit und breit nichts zu sehen. Nochnicht einmal 7 Prozent der deutschenSozialdemokraten wohnen in den neuenLändern und Berlin. In Sachsen, mit

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[ thomas kral inski ]

über 4 Millionen Einwohnern dasgrößte Ostland, gibt es nicht mal mehr5.000 Genossen.

Herzkammer mit wenig Blut

Und auch in Brandenburg, der Herz-kammer der ostdeutschen SPD, sindes nur noch knapp 7.000 Genossinnenund Genossen. Auf 100 Wahlberech-tigte kommen im Bund 1,0 SPD-Mit-glieder, in Sachsen sind es nur 0,1, inBrandenburg (immerhin) 0,3. EinzigesTrostpflaster: Die geringen Mitglieds-zahlen werden durch etwas höhere Ak-tivität der Mitglieder ausgeglichen.Und auch – man höre und staune –gerade im Osten ist der durchschnittli-che Mitgliedsbeitrag der Genossenetwa doppelt so hoch wie im Westen.

Und trotzdem: Eine Massenbewegungwird die Sozialdemokratie in denneuen Ländern nicht mehr werden.Zwar hat die Regierungsbeteiligung inden Ländern in der Regel zum Auf-wuchs der Mitgliedszahlen geführt –wodurch auch die dreimal höhereMitgliederdichte in Brandenburggegenüber Sachsen erklärt werdenkann. Doch seit einigen Jahren gehenauch in den neuen Ländern die Mit-gliederzahlen langsam zurück. DerLandesverband Mecklenburg-Vorpom-mern hat mittlerweile gerade mal noch3.000 Mitglieder – eine Zahl über diemancher Stadtverband im Westen nurschmunzeln kann. Doch man solltesich nicht zu früh freuen. Vielmehr istes wahrscheinlich, dass die ostdeutscheSPD heute ein Abbild dessen ist, wasdie Partei in den alten Ländern lang-

Zahl der SPD-Mitglieder 1990 und 2004

Quelle: SPD; Organisationsgrad: Mitglieder pro Wahlberechtigte in %

1990 2004 Differenz Organisationsgrad

Thüringen 3.400 4.800 43% 0,2%

Brandenburg 5.700 6.800 19% 0,3%

Mecklenburg-Vorpommern 3.100 3.100 -3% 0,2%

Sachsen-Anhalt 5.100 4.800 -6% 0,2%

Sachsen 5.500 4.500 -19% 0,1%

Berlin 27.100 16.800 -38% 0,7%

zum Vergleich:

Bayern 116.300 79.700 -31% 0,9%

NRW 287.100 167.500 -42% 1,3%

Bund 943.400 605.800 -36% 1,0%

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[ die (neue) mitte im osten? ]

sam aber sicher auch ereilen wird – dieMitgliederzahl der SPD wird sich in10 oder 15 Jahren eher bei 300.000als bei 600.000 bewegen.

Klein. Aber fein?

Dabei sind nicht so sehr die Austrittedas Problem. Vielmehr wird allein dieAltersstruktur dazu beitragen, dass dieMitgliedszahlen zurückgehen. Seit1990 haben die Landesverbände imNorden, Süden und Westen der Repu-blik zwischen 30 und 50 Prozent (!)ihrer Mitgliederzahlen verloren, wäh-rend die Mitgliedschaft der ostdeut-schen Landesverbände zwischen -20Prozent (Sachsen) und +40 Prozent(Thüringen) schwankt. Es lohnt sichalso genauer hinzuschauen.

Die SPD im Osten ist anders. Sieist erst 1989 gegründet worden, mus-ste neue Kommunikationskanäle auf-bauen, konnte auf traditionelle Bin-dungen und einen eingespielten Par-teiapparat nicht zurückgreifen. Siemusste unter großem Druck Politikim Umbruch gestalten, Wahlkämpfeorganisieren, Personal für politischeÄmter bereitstellen.

Zu wenig Leutefür zu viele Ämter

Die Personaldecke ist extrem dünn beider SPD im Osten. Einziger Trost –bei den anderen Parteien sieht es auchnicht viel besser aus, eher sogarschlimmer. Ein großer Teil der (akti-ven) Mitglieder ist in Funktionen, seies in verschiedenen Vorständen, in

CDU und PDS in den neuen Ländern

Quelle: Oskar Niedermayer, Parteimitgliedschaften im Jahr 2004, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen, Heft 2-2005; Organisationsgrad: Mitglieder in % der Mitgliedsberechtigten

CDU PDSMit- Organi- Mit- Organi-

glieder 1991- sations- glieder 1990- sations-2004 2004 grad 2004 2003 grad

Thüringen 15.100 -53% 0,6 16.000 -78% 0,4

Brandenburg 7.100 -48% 0,3 10.900 -75% 0,5

Mecklenburg-Vorpommern 6.700 -54% 0,5 7.500 -77% 0,5

Sachsen-Anhalt 9.400 -58% 0,4 7.600 -83% 0,3

Sachsen 13.300 -51% 0,4 8.800 -78% 0,4

Berlin 12.900 -17% 0,5 10.400 -79% 0,4

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[ thomas kral inski ]

kommunalen Wahlämtern, im Kreis-,Land- oder Bundestag.

In manchen Wahlkreisen hat dieSPD mittlerweile Probleme, Kandida-ten zu finden – eine Schwierigkeit, vorder die sächsische SPD bei der vergan-genen Landtagswahl stand. So gibt esin einem durchschnittlichen Landkreisin Sachsen gerade mal 100 Mitglieder– aus denen dann eine ganze Reihevon Kandidaten – vom Gemeinderat,über Bürgermeister, Landrat bis zumLandtags- und Bundestagsabgeordne-ten – nominiert werden müssen. Man-che Ortsvereine finden de facto nur alsFraktionssitzung des Gemeinderatesstatt. Es gibt Ortsvereine, die sind soklein, dass die Kontogebühren dieEinnahmen aus den Mitgliedsbeiträ-gen übersteigen.

Drei Parteien im Osten,Vier im Westen

Der Blick über den Gartenzaun derParteienkonkurrenz ergibt ein ganzähnliches Bild. Zuerst muss man fest-stellen: Das Parteiensystem im Ostenist ein ganz anderes als im Westen. Inden alten Bundesländern haben sich inden vergangenen Jahrzehnten zweiVolksparteien und zwei Milieu- oderFunktionsparteien etabliert (ob dieLinkspartei sich im Westen flächende-ckend und dauerhaft etablieren wird,ist sicherlich noch offen). Im Ostengibt es hingegen mit SPD, CDU und

PDS drei „große“ Parteien – mit er-staunlich ähnlicher Anhängerschaftund ganz anderer Konkurrenzsituationals im Westen. Die tief reichende Ho-mogenisierung der DDR-Gesellschaft,die heute noch nachwirkt, bildet sichentsprechend im Parteiensystem ab.Daraus erklärt sich die relative politi-sche Nähe der drei großen Parteien –mit entsprechend relativ gering ausge-prägter Konkurrenz untereinander(auch wenn dies die Parteien – odervielmehr ihre Bundeszentralen – bis-weilen nicht wahr haben wollen).

„Altparteien“ geht es auch nicht besser

Damit erklärt sich auch, dass die Vola-tilität der Wahlergebnisse in den neuenLändern so groß und die Wahlbeteili-gung im Osten relativ gering ist. DieLeute haben schlicht das Gefühl, dassihre (Aus-) Wahlmöglichkeiten subjek-tiv und objektiv geringer sind. Damitfällt der Personenkonkurrenz ganz au-tomatisch eine wichtigere Rolle zu.

Das klingt wie ein Vorteil für CDUund PDS, haben die doch große Mit-gliederstämme aus der DDR-Zeit indie neue Zeit „gerettet“. Jedoch: AuchCDU und PDS plagen große Mitglie-dersorgen. Ähnlich wie die SPD errei-chen die „Altparteien“ CDU und PDSin den neuen Ländern bei weitemnicht die Mitgliederdichte, die manvon den großen Parteien in den alten

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[ die (neue) mitte im osten? ]

Ländern kennt. Mittlerweile sind überzwei Drittel der PDS-Mitglieder über60 Jahre alt. Zum Vergleich: Die Mit-gliederdichte der PDS in Brandenburgist deutlich geringer als die der SPD inBayern oder Baden-Württemberg. Dieehemalige SED verliert im Schnittjährlich etwa 5 Prozent ihrer Mitglie-der. Bislang ist nicht zu erkennen, dassdie Vereinigung mit der WASG zueinem großen Mitgliederschub führenwird. Das wird dazu führen, dass diePDS bei der nächsten Landtagswahl inBrandenburg etwa gleich „viele“ Mit-glieder wie SPD und CDU habenwird. Auch die CDU zehrt noch vonihrem Blockparteienmitgliederbestand– doch auch der geht stetig zurück.

Mitgliederfalle als Hypothek für Demokratie

Insgesamt laufen alle drei Parteien inden kommenden Jahren in eine „Mit-gliederfalle“ – und die Demokratie inschwieriges Fahrwasser. Denn eine derwesentlichen Aufgaben von Parteien –die Bereitstellung von politischem Per-sonal – werden SPD, PDS und CDUin Ostdeutschland immer weniger er-füllen können. Wahlen, gerade Perso-nenwahlen, werden so immer mehrzum Glücksspiel – in der Hoffnung,dass unter den wenigen Kandidatenwenigstens ein guter dabei ist. InSchwedt, einer der größeren StädteBrandenburgs, konnten PDS und

CDU keinen Bürgermeisterkandidatenaufbieten, so dass die SPD ohne ernst-hafte Konkurrenz blieb. Für die Legiti-mation von Demokratie und Parteien,für die Handlungsfähigkeit von Politikinsgesamt ist dies kein gutes Zeichen.

Entpolitisierung undPersonalisierung

Insbesondere bei den Kommunal- undBürgermeisterwahlen ist der Trend zuunabhängigen Kandidaten in den ver-gangenen Jahren immer stärker gewor-den. Selbst in den großen Städten –mit einer traditionell größeren Politi-sierung – haben es die Parteien undihre Kandidaten schwer. In der Halb-millionenstadt Dresden hatten wederSPD noch PDS einen vermittelbarenOB-Kandidaten, während die CDUihren unpopulären Amtsinhaber man-gels Alternative nicht austauschenkonnte. Im Ergebnis wurde ein unab-hängiger Kandidat zum Oberbürger-meister gewählt – ähnliche Tendenzengab es bei OB-Wahlen in Rostock,Cottbus und Görlitz. Im Endeffektkann dieser Trend jedoch auch dazuführen, dass sich Kommunalpolitikimmer stärker von der nach wie vorparteipolitisch dominierten Landes-und Bundespolitik abkoppelt – mitschweren Kommunikations- und Ver-ständnisdefiziten für beide Seiten.

In diesem Trend zur deutlichen Per-sonalisierung und Entpolitisierung

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[ thomas kral inski ]

liegt jedoch auch eine Chance für dieSozialdemokratie. Nämlich genaudann, wenn sie es schafft, in den kom-menden Jahren ihr Kräfte auf die Aus-und Fortbildung ihrer Mitglieder zukonzentrieren. Allein in Brandenburgwerden in den kommenden Jahrenüber 120 neue Kandidatinnen undKandidaten für Bürgermeister- undLandratswahlen „benötigt“. Bei nochnicht einmal 7.000 Mitglieder eineunvorstellbar große Zahl.

Wettlauf um gute Leute

Letztendlich befindet sich die SPD ineinem Wettlauf um die beste Qualifi-kation ihrer zukünftigen Amtsträger.Die Sozialdemokraten haben auch inden kommenden Jahren gute Chan-cen, weiter aktiv Politik zu gestalten -wenn sie diesen Wettlauf annehmen,ihre zukünftigen Kandidaten Schuleund miteinander vernetzen.

Doch zum Politikgestalten gehörtmehr als die Fähigkeit, Behörden zuleiten, Medien zu bedienen, Haushaltezu sanieren und Unternehmer zu um-garnen. Angesichts der tiefen Transfor-mationskrise der ostdeutschen Gesell-schaft muss gerade die Sozialdemokra-tie ihre Programmatik weiter entwi-ckeln und nach neuen politischenKonzepten suchen.

Gegenüber den Genossen in denalten Ländern – aber auch gegenüber

den vergangenheitsbelasteten ParteienPDS und CDU – haben die ostdeut-schen Sozialdemokraten einen ent-scheidenden Vorteil: Sie schleppennicht so viel historischen Ballast mitsich herum.

Ohne Ballastzum Problemlösen

Weder gibt es Verstrickungen mit demDDR-System, noch mussten die Ost-Sozis sich mit den Ideologie- und Gra-benkämpfen der so genannten 68erherumschlagen. So wundert es auchnicht, dass die ostdeutsche SPD heutevor allem von pragmatischen Leutengeführt wird, denen das unkonven-tionelle Problemlösen allemal wichti-ger ist. Platzeck, Tiefensee oder Buller-jahn stehen für die technische Intelli-genz, die nach 1989 den Weg zu denSozialdemokraten fand – und unter-scheiden sich ganz erheblich von denin den Siebziger Jahren aufgestiegenenArbeiterkindern, von denen die „alte“SPD so geprägt ist.

Was also tun in den kommendenJahren? Zur Personalentwicklung mussdie stärkere Vernetzung der Mitgliederund Mandatsträger kommen. Geradedie Arbeitsgemeinschaften werdendabei eine wichtige Rolle spielen(müssen). Als politische Einheiten sindsie flächendeckend nicht vertreten.Die neben der Partei parallel entstan-denen Führungsstrukturen sind kaum

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[ die (neue) mitte im osten? ]

legitimationsfähig. Kann eine AGSelbstständiger für die Unternehmenim Land sprechen, wenn sie selberkaum über ein oder zwei Dutzendaktive Mitglieder verfügt?

Ein dritter Schwerpunkt der Partei-arbeit ist – auch wenn es paradox er-scheint – die konzeptionelle Durch-dringung und programmatische Bear-beitung der Lage in Ostdeutschland.Dies mag auf den ersten Blick wie eineSelbstverständlichkeit klingen. Dochangesichts der extremen Ressourcen-schwäche der ostdeutschen Landesver-bände ist dies eine gewaltige Heraus-forderung.

Neue politische Antworten gesucht

Im Zuge dieses Prozesses wird die SPDsich stärker zu einer Parlamentsparteientwickeln – sind doch die Landtags-fraktionen de facto die einzigen, die dieMöglichkeit haben, programmatischarbeiten und dies auch kommunizierenzu können. Think tanks, workshopsoder die befristete „Hereinnahme“ vonunabhängigen Experten werden diesenProzess begleiten können. Die schwerewirtschaftliche und soziale Krise imOsten kann eine politische Krise wer-den – auf jeden Fall braucht sie neuepolitische Antworten.

Was steht bevor? Vier Faktoren wer-den den neuen Ländern in den kom-menden Jahren zu schaffen machen.

K Da ist zum einen die demografischeTransformation mit dem fortschrei-tenden massiven Einwohnerrück-gang in einigen Regionen – inSachsen-Anhalt um ein Drittel (!)zwischen 1990 und 2020.

K Bis 2020 werden die Solidarpakt-mittel schrittweise auf Null zurück-gefahren. Damit gehen die Volu-mina der Landeshaushalte zurück –in Brandenburg in den nächsten 15Jahren um fast ein Viertel. Paralleldazu ist derzeit nicht erkennbar, woder wirtschaftliche Aufschwung, derdiesen Rückgang kompensierenkönnte, herkommen soll.

K Die seit zehn Jahren anhaltendeMassenarbeitslosigkeit wird immerstärker zur Belastung – nicht (nur)zur fiskalischen, sondern auch zursozialen Hypothek in allen Lebens-bereichen.

K Hinzu kommt der widersprechendeUmstand, dass wir in etlichen Bran-chen im Osten bereits heute einenFachkräftemangel erleben – bei wei-terhin hoher Arbeitslosigkeit. Die-ser Trend wird sich in den kom-menden Jahren noch verschärfen,denn bald wird den Unternehmender Nachwuchs fehlen angesichtsder nach der Wende halbiertenGeburtenrate.

Diese Probleme sind insgesamt sogravierend, dass sie eine Parteiforma-tion allein gar nicht mehr lösen könn-

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[ thomas kral inski ]

te. Sie würde sich programmatischschwer tun, sie würde aber auch poli-tisch und personell überfordert sein.

Zum Streit und Diskurs anspornen

Im Osten ist die SPD aufgrund derDrei-Parteien-Konstellation die „Parteider Mitte“. Das ermöglicht ihr mehrKoalitionsoptionen als ihren Konkur-renten. Sie wird die anderen beidengroßen Parteien in Zukunft stärker alsBündnispartner brauchen – die einenmöglicherweise mehr, die anderen we-niger. Auf der SPD lastet die Verant-wortung, nicht nur für sich selbst poli-tische Klarheit zu verschaffen. Siemuss die anderen beiden Parteien imStreit und im Diskurs mitnehmen undanspornen, die tiefe gesellschaftlicheKrise in Ostdeutschland zu analysierenund Lösungsmöglichkeiten zu eröff-nen. Reformbereitschaft und Reform-fähigkeit sind keine Selbstverständlich-keiten, sondern müssen erarbeitet wer-den – nicht nur von Sozialdemokra-ten, sondern auch von den Christde-mokraten als auch den PDSlern.

Als Scharnierpartei kommt derSPD im Osten eine wichtige Rolle zu:Sie muss auf der Höhe der Zeit sein –und ihre Zukunftskompetenz stärkerausbauen. In Brandenburg und Sach-sen-Anhalt ist das der SPD schon einStück weit gelungen. Dort haben dieSozialdemokraten Zukunftsdebatten

angestoßen, die weit über den Taghinaus wirken werden und weit überdie eigene Partei reichen. Sicherlich istes nicht einfach, unbequeme Wahr-heiten unters Volk zu streuen. Für dieneuen Länder aber wird es sich aus-zahlen, wenn es Sozialdemokratensind, die diese Debatten anstoßen,nach neuen Lösungen suchen – unddie die Zukunft bestimmen werden.

Spezifische ostdeutsche Interessen integrieren

Solche politischen Prozesse in dieWege zu leiten – und dies mit gerin-gen Ressourcen und dünner Personal-decke – wird eine Fähigkeit sein, diedie SPD im Osten wird lernen müs-sen. Wenn dies gelingt, könnten diealten Landesverbände einiges aus demOsten lernen – denn es ist wahr-scheinlich, dass hier Probleme bear-beitet werden, die die alte Bundesre-publik in nächster Zeit auch erreichenwerden.

Die SPD insgesamt muss in denkommenden Jahren – sowohl als Par-tei als auch in der Regierungsverant-wortung – auf eine bessere Berück-sichtigung spezifischer ostdeutscherInteressen achten. Die Menschen inden neuen Ländern wollen das Gefühlhaben, dass sie mit ihren spezifischenProblemen wahr und ernst genommenwerden. Die seit zehn (!) Jahren an-dauernde Wirtschaftskrise im Osten

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[ die (neue) mitte im osten? ]

führt dazu, dass die Demokratie selbstimmer mehr in Frage gestellt wird –und mit ihr auch die SPD. Die Sozial-demokraten sind mithin zum Erfolg

verdammt. Wenn ihr das gelingt,könnte sie auch ihre Vormachtstellungauch bei der nächsten Bundestagswahlbehaupten. L

THOMAS KRALINSKI

ist Geschäftsführer der SPD-Landtagsfraktion in Brandenburg und leitender Redakteur der Perspektive 21.

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WIE DIE SPD IN DER FLÄCHE AN SICH ARBEITET VON SUSANNE MELIOR

Fliege hoch duRoter Adler …

F liege hoch du roter Adler, hochüber Sumpf und Sand …“, heißt

es in der Märkischen Hymne. Und soist sie auch die märkische Landschaftmit Städten und Dörfern und Men-schen, die gern hier leben. Sie sindwendisch, slawisch oder sorbisch, dieGenerationen zuvor der Große Kur-fürst in das Oderland oder die Mittel-mark gelockt hat oder diejenigen, diein der Neuzeit bewusst in das Umlandder Großstadt Berlin oder Potsdamsgezogen sind.

Auf dem Weg zum SPD-Unterbe-zirksvorstand in Potsdam Mittelmarkfahre ich wie immer in letzter Minutelos, die Landesstraße 77 entlang, amBahnhof Michendorf biege ich rechtsab auf die viel befahrene Bundesstraßeund an der nächsten Kreuzung wiederlinks. In den Wintermonaten muss ichauf der Kreisstraße nach Caputh be-sonders aufpassen: mal ist es ein Wild-schwein, dann wieder der Fuchs oderauch ein stattlicher Damhirsch, derdie Straße kreuzt und den Autofahrernblitzschnelles Handeln abverlangt. DieFähre liegt wie so oft auf der Geltower

Seite, d.h. geduldig warten und mitBlick aufs Wasser ein bisschen ent-spannen. Ein Reiher fliegt dicht überden Erlen und landet im Schilf. Urlau-ber sind unterwegs mit dem Rad, aufdem Boot oder gehen nur spazieren.Idyllisches Brandenburg! Dannkommt die Fähre, ein freundlichesHallo vom Fährmann – man kenntsich, wählt nicht immer die gleichePartei und ist sich doch sympathisch.

Muntere Diskussion um viele Themen

Im freundlichen Gasthaus sind dieersten schon angekommen, aber nochist die Runde nicht beschlussfähig,also zuerst Berichte aus Kreis, Landund Bund und meistens eine muntereDiskussion. Im Laufe des Abends wer-den wir zahlreicher und können unsauch den Beschlussthemen wie Geld,Mitglieder, Sonderbeiträge, Verkehroder Parteitagsvorbereitung widmen.Es ist wieder spät geworden. DieFähre fährt nicht mehr und ich fahredie große Runde um den See nach

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[ susanne melior ]

Hause. Die Rehe stehen am Straßen-rand und schauen irritiert. Sie hattennoch nicht mit der SPD zu tun.

Nicht jeder SPD-Unterbezirk tagtam Ufer der Havel und nicht allemüssen eine Fähre passieren. Der Restist wohl übertragbar. Um die Be-schlussfähigkeit besser zu gewährleis-ten, wurde hier und da der Vorstandverkleinert. Aber die Fläche ist großund alle sollen mitgenommen werden.

Wenig Mitgliederauf großer Fläche

6.700 Mitglieder hat die Sozialdemo-kratische Partei Deutschlands in Bran-denburg. In den wenigen großen Städ-ten Brandenburg, Cottbus, Frankfurt/Oder und Potsdam sind knapp 1.200Sozialdemokraten organisiert. Mit derKreisgebietsreform sind aus den vor-mals kleinen Unterbezirken größere,den neuen Kreisgrenzen angepassteEinheiten geworden. Von den ländli-chen Unterbezirken ist Prignitz derkleinste mit 150 Mitgliedern undPotsdam-Mittelmark der größte mitüber 700 Mitgliedern.

Seit 1990 ist die Sozialdemokrati-sche Partei in Brandenburg die regie-rungstragende Partei auf Landesebene;in den ersten vier Jahren gemeinsammit der FDP und dem Bündnis 90,von 1994 bis 1999 mit absoluterMehrheit und seitdem in großer Koa-lition mit der CDU. Auf der kommu-

nalen Ebene sieht es ähnlich aus. DieSPD stellt mit einer Ausnahme alleLandräte. In den kreisfreien Städtengibt es zwei christdemokratische Ober-bürgermeister, in Cottbus ist dieOberbürgermeisterin ein ehemaligesSPD-Mitglied, die heute parteilos ist.Nur die Landeshauptstadt Potsdamwird von einem Sozialdemokraten denregiert. Wir stellen einschließlich par-teiloser Mitstreiter auf unseren kom-munalen Listen ca. 1.200 Gemeinde-vertreter, Stadtverordnete und Kreis-tagsabgeordnete. Bei den letzten Kom-munalwahlen mussten wir herbe Ver-luste hinnehmen. So sind in Potsdam-Mittelmark nur noch fünf Bürgermei-ster und Amtsdirektoren SPD-Mit-glied. In einigen Gemeindevertretun-gen sind ausschließlich parteilose Ab-geordnete für die SPD gewählt wor-den. In anderen SPD-Unterbezirkenzeigt sich ein ähnliches Bild.

Von der Luxemburg-Demo biszur Auswanderwelle

Verstehen kann die Sozialdemokratiein Brandenburg nur, wer den Blickzurück wagt in das Jahr 1989. Waswar das eigentlich, was mich und vieleandere vor 15 Jahren umtrieb und dieEntscheidung leicht machte, sich inkonspirativen Sitzungen mit sozialund demokratisch gesinnten Men-schen zu treffen, immer einer von derStaatssicherheit unter uns, die Tren-

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[ fliege hoch du roter adler … ]

nung von Kindern und Familie zu ris-kieren, notfalls Haft in Kauf zu neh-men, die Gründung der SDP vorzube-reiten und sich auf den Weg zu bege-ben? Die Frage wird jede und jedernur für sich selbst beantworten kön-nen. Ich habe sie im September 1989für mich gemeinsam mit meinemMann beantwortet.

Die erneute Wahlfälschung vomMai 1989, die Rosa-Luxemburg-De-monstration, der mit Blut getränktePlatz des Himmlischen Friedens inPeking und die noch immer anhal-tende Auswanderungswelle, die auchviele unserer engsten Freunde erfasste,ließen uns keine Wahl.

Freiheit undGerechtigkeit

Gerade unsere damals noch sehr klei-nen Kinder waren unsere stärksteMotivation. Sie sollten nicht in diesernicht freiheitlich demokratischen Weltaufwachsen, sie sollten kein indoktri-niertes Schulsystem erleben und siesollten nicht der Willkür von selbster-nannten Repräsentanten eines Staatesausgesetzt sein. Wir wollten freie undgeheime Wahlen, Pressefreiheit undGewaltenteilung. Und dafür waren wirbereit, sehr viel zu riskieren.

Nun hätte ich dafür auch in alleanderen neu entstandenen Gruppie-rungen eintreten und mich wie vieleHunderttausende z.B. im Neuen

Forum engagieren können. Die klareAnalyse sprach dagegen. Meine per-sönliche Überzeugung war, dass ausdem Sumpf nur ein gerader, geordne-ter Weg führen konnte, der nicht nochzusätzlich Kraft kostet für unendlicheSatzungsdebatten, der auf die Schwe-sternschaft der West-SPD und ihreSolidarität hoffen durfte, der in den„gewohnten“ Strukturen des demokra-tischen Deutschlands verläuft und dernichts mit den DDR-Blockparteien inder Nationalen Front zu tun hatte.Um keine Missverständnisse aufkom-men zu lassen, sei hinzugefügt, dassder Friedensnobelpreisträger WillyBrandt mit seiner Ostpolitik meinHerz längst erreicht hatte und ich auseinem christlichen Elternhaus kom-mend, meine Vorstellungen von Frei-heit und Gerechtigkeit nur in derSozialdemokratie verankert sah.

Parteigründung amKüchentisch

Wie macht man das nun? Wie gründetman eine Partei? Zum Studieren undNachlesen blieb wenig Zeit. AlsoSprung in das kalte Wasser und lear-ning by doing. Die ersten SPD-Orts-vereine im heutigen Potsdam-Mittel-mark wurden zu Hause an meinemKüchentisch verabredet. Es gab sogenannte Kontaktadressen und ich wareine davon. Alle, die dabei sein woll-ten, konnten sich dort melden, Infor-

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[ susanne melior ]

mationen bekommen und den Terminfür das nächste Treffen erfahren.

Noch Ende 1989 wurden die erstenOrtsvereine der SDP gegründet mitfünf oder zehn Mitgliedern undwohnortbezogen, denn es gab wederVersammlungsräume noch Telefone.Die Älteren besannen sich auf ihreMitgliedschaft in der Vor-Kriegs-SPDoder in Arbeitervereinen und unter-stützten mit Zeit und Kraft die erstenWahlkämpfe. Hilfe kam im BerlinerUmland von den Genossen aus denBezirken, aber auch aus Partnerkreisenund Regionen in den westlichen Bun-desländern. Viele dieser Partnerschaf-ten existieren bis heute, auch wenn sieinzwischen nicht mehr so zweckorien-tiert sind.

Zeitung, Sommerfest und Radtour

Die Sozialdemokratie in Brandenburgist 15 Jahre nach ihrer Gründung eineim ländlichen Raum etablierte Partei.Die SPD-Ortsvereine sind von damalszehn bis zwanzig Mitgliedern kaumgewachsen. Im Berlin nahen Raumund in den großen Städten gibt esZuwachs, oft umzugsbedingt unddamit nur als Umverteilung. Hier gibtes regelmäßig Ortsvereinssitzungen,eine eigene Zeitung, aktive Mitglieder,Stadtteilfeste und viele Ideen. Auf demflachen Land trifft man sich monat-lich, manchmal vierteljährlich, aber

auf jeden Fall zu den Neuwahlen desOrtsvereinsvorstandes. Das alljährlicheKegeln, die Radtour oder das Som-merfest sind wichtig. Jeder Wahlkampfist eine neue Herausforderung undganz viel hängt von Einzelpersonen ab.Sie sind zum Teil seit 15 Jahren unddamit seit der Gründung im Amt.Niemand hat das wirklich gewollt,aber dann ergab es sich so. „Grün-dungsstöpsel“ nannte sie der frühereLandesvorsitzende und meinte damitvor allem jene, die derart „charismati-sche“ Persönlichkeiten waren, dassandere im Dorf schon ihretwegennicht in die SPD eintraten.

Pragmatismus siegt (fast immer)

Die wichtigsten Themen sind diedörfliche oder städtische Gemein-schaft. Man diskutiert am häufigstenüber Abwasser, Baugenehmigungen,öffentlichen Personennahverkehr, Mo-bilfunkantennen, den Bürgermeisterund den Kindergarten. Dabei geht esschon einmal hoch her. Dann wirdkurzerhand die Fraktion aufgefordert,der Kreistag oder besser noch gleichder Landtag. Ein Beschluss wird ge-fasst, die Presse benachrichtigt und dernächste Parteitag garantiert mit demProblem konfrontiert. Wenn es dannnicht eins zu eins umgesetzt wird,grollt noch ein wenig der Donner überdie märkischen Hügel, aber der Prag-

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[ fliege hoch du roter adler … ]

matismus siegt fast immer. Undschließlich sind die aktuellen Proble-me immer die wichtigsten.

In den Wahlkämpfen wächst in denOrtsvereinen das Interesse an landes-und bundespolitische Fragen. Kandi-datinnen und Kandidaten werden gernals Gäste begrüßt, nach allen Regelnder Kunst ausgequetscht und mit Auf-trägen versehen wieder los geschickt.Die Genossen erwarten von ihnen An-wesenheit bei allen wichtigen Ereignis-sen im Dorf, besonderen Einsatz fürden Wahlkreis, Spendenbereitschaftund gute Artikel im Regionalteil. Un-ser stabilestes Wählerklientel ist nochimmer die Melkerin aus der Ucker-mark. Nur leider gibt es von ihnenimmer weniger – erst recht in Pots-dam-Mittelmark.

Junge Menschen braucht die Partei

In den kommenden Jahren werden wiretwa 300 wichtige Positionen in Kom-munal-, Landes- und Bundespolitik zubesetzen haben. Und dabei werden wirnicht jünger. Auch wenn wir ein Jahr-zehnt unter dem Altersdurchschnittder ewigen Ost-Partei, die sich neuer-dings Linkspartei nennt, liegen, ist esdoch wichtig, Menschen – insbeson-dere junge Menschen - für unsereZiele und unsere Arbeit zu gewinnen.

Das gemeinsam von Juso-Bundes-vorstand und der Arbeitsgemeinschaft

sozialdemokratischer Frauen ins Lebengerufene Mentoringprogramm („alteHäsin“ betreut junge SPD-Frau) istdabei ein wichtiges Instrument. Geradejungen Frauen fällt es oft schwer, sichin den noch immer männerdominier-ten Kommunalvertretungen zurecht zufinden, ihren Weg in der Partei zu su-chen und Lust auf die Übernahme vonFunktionen zu bekommen. Auf derkommunalen Ebene sind die Sozialde-mokratische Gemeinschaft für Kom-munalpolitik (SGK) und die Friedrich-Ebert-Stiftung wichtige Partner. Siebieten zu den verschiedensten ThemenSeminare und workshops an, die auchvon Noch-Nicht-Mitgliedern genutztwerden können.

Erst schnuppern, dann Mitglied werden

Die SPD hat in Brandenburg einenOrganisationsgrad (dem Verhältnisvon wahlberechtigten Bürgern zu Mit-gliedern) von 0,32 Prozent. Das istzwar der höchste Wert in den neuenBundesländern, jedoch liegen die altenBundesländer wesentlich höher. IhrSpitzenreiter ist das Saarland mit 3,39Prozent. Das ist mehr als das Zehnfa-che! Im Bundestagswahlkampf 2005gab es auch erfreuliche Nebenwirkun-gen, u.a. allein in Potsdam-Mittelmark15 Neueintritte, wobei der Alters-durchschnitt bei 25 Jahren lag. Im-merhin! Auf absehbare Zeit werden

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[ susanne melior ]

wir dennoch auf parteilose Mitstreiterangewiesen sein, die unsere Arbeit vorallem auf der kommunalpolitischenEbene mittragen. Ich sehe darin aucheine Chance, möglichst viele Men-schen zu erreichen, den Kontakt ausden Parteiebenen zu den Bürgerinnenund Bürgern zu gewährleisten undneue Mitglieder zu gewinnen.

Meines Erachtens hilft uns hier dieauf dem Karlsruher Parteitag beschlos-sene „Schnuppermitgliedschaft“. Inter-essierte Bürgerinnen und Bürger kön-nen für ein Jahr Gastmitglieder sein,ohne formell Mitglied der SPD zuwerden. Damit ist die Zutrittsschwelleerheblich gesenkt. An uns liegt esdann, ob diesen Gastmitgliedern dieMitarbeit in der Partei so attraktiverscheint, dass sie bleiben möchten.

Mehr Bürgerdialog für mehr Vertrauen

Jeder Mensch neigt dazu, Veränderun-gen, deren Sinn und Auswirkungen ernicht beurteilen kann, mit Misstrauenoder Angst zu begegnen. Wenn es gutgeht, suchen Menschen dann nachAntworten. Der normale Sterblicheverfügt über ein begrenztes Zeitkontin-gent hierfür und bezieht daher seinpolitisches Wissen vorwiegend aus denMedien. Hierbei ist er zum einen derAuswahl ausgesetzt, was angebotenwird und andererseits, was er oder sieaus diesem Angebot auswählt. In der

Regel ist dieser Informationsweg wederumfassend noch differenziert und vorallem ist er eine Einbahnstraße – keinRaum für Probleme, Fragen, Kritik.

Programm für das neue Jahrtausend

Hier sehe ich eine große Chance fürdie SPD vor Ort. Sie kann und musseinen Bürgerdialog organisieren, dersich bemüht, sprachliche „Monster“wie demographische Veränderungen,Globalisierung, dem Übergang zurWissensgesellschaft in den Alltag zuübersetzen, Möglichkeiten undGefährdungen konkret zu erläuternund vor allem zu zeigen, dass wirlängst nicht so hilflos sind, wie wirmanchmal glauben. Wissen und Ver-trauen in die eigene Kraft kann man-chen dicken Stein bewegen.

In den gerade erst begonnenen Zei-ten der Großen Koalition auf Bundese-bene muss uns gemeinsam ein schwie-riger Spagat gelingen, der zugleichauch eine große Chance ist. Die SPDmuss sich als Partei neu formieren, zu-kunftsfit werden und als Mitgliederpar-tei an Attraktivität gewinnen. Zugleichmüssen wir den gesellschaftspolitischenHerausforderungen gerecht werden,ein zuverlässiger Partner in Regierungund Parlament sein und den eigenenStempel, der zuallererst mehr sozialeGerechtigkeit heißt, aufdrücken. Ganzwichtig dafür ist eine Fortsetzung un-

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[ fliege hoch du roter adler … ]

serer Programmdebatte, die die Ge-samtpartei in Ost und West mit-nimmt, die verschiedenen Strömungenzusammenführt und der SPD ein Pro-gramm für das neue Jahrtausend gibt.Die Diskussion bietet viele Möglich-keiten, Mitglieder wieder stärker einzu-beziehen, 15 Jahre Erfahrung mit derDeutschen Einheit auszuwerten undMenschen für die SozialdemokratischePartei Deutschlands zu gewinnen. Füruns in Brandenburg ist die program-matische Diskussion jetzt, wo wir mit

Matthias Platzeck den Bundesvorsit-zenden stellen, eine ganz besondereChance. Wir haben ein „Schwerge-wicht“, dass uns bei der Umsetzungunserer Ideen und Wünsche hilft.

Wenn die SPD in Brandenburg alleChancen nutzt, in ihrer Wählerschaftfest verankert bleibt, man sich gegen-seitig aufeinander verlassen kann,glaubhafte und Vertrauen schaffendePersönlichkeiten die Sozialdemokratierepräsentieren, wird der Rote Adlerauch weiterhin hoch fliegen. L

SUSANNE MELIOR

ist Landtagsabgeordnete in Brandenburg und Vorsitzende des SPD-Unterbezirks Potsdam-Mittelmark

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Wissenschaftsforum der Sozialdemokratie in Berlin,Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern e.V.

In Trauer, freundschaftlicher Erinnerung und großer Dankbarkeit nehmen wir Abschied von unserem Vorstandsmitglied

Dr. Ing. Klaus-Dietrich Krüger* 26.10.1936 † 06.10.2005

Dr. Klaus-Dietrich Krüger hat nach 1990 die Arbeitsgemeinschaft Wissenschaft und Hochschulen in derOst-SPD, später die Projektgruppe Wissenschaft im Wissenschaftsforum der Sozialdemokratie sowie nach2000 das Wissenschaftsforum der Sozialdemokratie in Berlin, Brandenburg und Mecklenburg-Vorpom-mern e.V. mitgegründet. Fast 15 Jahre lang hat er auch in diesem Rahmen die sozialdemokratische Wissen-schaftspolitik programmatisch mitgestaltet und dazu beigetragen, die Hochschul- und Forschungsland-schaft im Osten Deutschlands zu erhalten und weiterzuentwickeln. Von 1990 bis 1999 war Dr. Klaus-Die-trich Krüger Mitglied des Landtags Brandenburg und Vorsitzender des Wissenschafts- und Forschungsaus-schusses im Landtag. In der wichtigen Neugründungsphase hat er im Parlament Weichen für den Auf- undAusbau der Wissenschaftseinrichtungen im Land Brandenburg gestellt. Wesentlichen Anteil hatte er an dernahezu einmütigen Verabschiedung des ersten Hochschulgesetzes im Land Brandenburg, an der Sicherungder notwendigen Aufbaumittel vor allem für die Hochschulen durch die Haushaltsgesetzgebung und anweiteren wissenschaftspolitischen Strukturentscheidungen. Auf seine Initiative geht zum Beispiel eine mitgroßer Mehrheit gefasste Entschließung der SPD-Landtagsfraktion zurück, mit der das Finanzministeriumgebeten wurde, der in Gründung befindlichen Europa-Universität ihr späteres Hauptgebäude zur Verfü-gung zu stellen. Vor dem Hintergrund regionaler und überregionaler Widerstände wäre der Aufbau derUniversität ohne diese Entscheidung in der ersten Legislaturperiode des neuen Landtags gefährdet gewe-sen. Dr. Klaus-Dietrich Krüger war für seine Zurückhaltung, aber auch für die Entschiedenheit und Kon-sequenz bekannt, mit denen er wissenschaftspolitische Ziele verfolgte. Er stand mehr für Gestaltung als fürRepräsentation – und damit in vielem für die neue ostdeutsche Politikergeneration nach 1990. Wir wer-den ihn nicht vergessen.

Die Mitglieder des Vorstands

Tilo Braune Klaus Faber Andrea WickleinStaatssekretär a.D., Staatssekretär a.D., Rechtsanwalt, MdB

1. Vorsitzender Geschäftsführender Vorsitzender

Dr. Bert Flemming Dr. Annette Fugmann-HeesingMdA Senatorin a.D., MdA, Vorsitzende des Wissenschafts-

ausschusses im Abgeordnetenhaus Berlin

Dr. Klaus Lommatzsch Prof. Dr. Bernd Müller-RöberUniversität Potsdam

PD Dr. Andela Zander Dr. Klaus-Jürgen SchererUniversität Greifswald Geschführer Kulturforum,

1990-1999 Geschfäftsführer Wissenschaftsforum der Sozialdemokratie

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Das Debattenmagazin

Jetzt Probeheft bestellen: Telefon 030/255 94-130, Telefax 030/255 94-199, E-Mail [email protected]

www.b-republik.de

Die Berliner Republik erscheint alle zwei Monate. Sie ist zum Preis von 5,- EUR im Zeitschriftenhandel erhältlich oder im Abonnement zu beziehen:

als Jahresabo zum Preis von 30,- EURals Studentenjahresabo zum Preis von 25,- EUR

Bezug der bereits erschienenen Hefte möglich

Wieviel Einspruch verträgt der Mainstream? Heute regieren die 68er – aber was kommt,

wenn sie fertig haben? Die Berliner Republik ist der Ort für eine neue politische Generation:

undogmatisch, pragmatisch, progressiv. Weil jede Zeit ihre eigenen Antworten braucht.

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DER WEG DER SOZIALDEMOKRATIE NACH DEN WAHLEN

MATTHIAS PLATZECK : Die zupackende SPD

HUBERTUS HEIL : Vorwärts!

MARTIN GORHOLT : Offen und spannend

OLAF CRAMME : Erfolg dank Erneuerung

MICHAEL MIEBACH : Plädoyer für ehliche Ursachenforschung

KLAUS FABER : Rot-grüne Bilanzen und deutsche Umbrüche

WOLFGANG SCHROEDER : Zwei schwierige Partner

TOBIAS DÜRR : Der Pol der Beharrung

THOMAS KRALINSKI : Die (neue) Mitte im Osten?

SUSANNE MELIOR : Fliege hoch du Roter Adler

Die neue SPD

BRANDENBURGISCHE HEFTE FÜR WISSENSCHAFT UND POLITIK

HEFT 28 DEZEMBER 2005 www.perspektive21.de

Seit 1997 erscheint„perspektive 21 – Brandenburgische Hefte für Wissenschaft & Politik“.

Wenn Sie Interesse an bisher erschienenen Ausgaben haben, können Sie ältere Exemplare auf unserer Homepage www.perspektive21.de alspdf-Datei herunterladen.

Einzelne Exemplare von bisher erschienenen Ausgaben schicken wir Ihnengerne auch auf Wunsch kostenlos zu. Senden sie uns bitte eine E-Mail an [email protected].

Zur Zeit sind folgende Titel lieferbar:Heft 13 Kräfteverhältnisse – Brandenburgisches ParteiensystemHeft 14 Brandenburgische IdentitätenHeft 15 Der Islam und der WestenHeft 16 Bilanz – Vier Jahre sozialdemokratisch-bündnisgrünes ReformprojektHeft 17 Ende der Nachwendezeit. PDS am Ende?Heft 18 Der Osten und die Berliner RepublikHeft 19 Trampolin oder Hängematte? Die Modernisierung des Sozialstaates.Heft 20 Der Letzte macht das Licht aus?!Heft 21/22 Entscheidung im Osten: Innovation oder Niedriglohn?Heft 23 Kinder? Kinder!Heft 24 Von Finnland lernen?!Heft 25 Erneuerung aus eigener KraftHeft 26 Ohne Moos nix los?Heft 27 Was nun, Deutschland? H

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SPD-Landesverband Brandenburg, Friedrich-Ebert-Straße 61, 14469 PotsdamPVST, DPAG, Entgelt bezahlt, A47550