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Band 3 der Gesammelten Werke in sieben Bänden eröffnet mit dem ersten, von Celan später zurückgezogenen Gedichtband Der Sand aus den Urnen (1948). Es folgt die Sammlung von spätesten Gedichten, ZeitgehöJt (1976), mit Gedichten, die Celan nicht mehr fUr den Druck vorbereitet hat. Eine Abteilung mit Verstreuten Gedichten enthält chronologisch geordnet die wenigen Gedichte, die von Celan einzeln veröffentlicht, aber nie in einen der Gedichtbände aufgenommen wurden. Im Zentrum des Bandes aber stehen die poetisch-essayistische, aphoristische und poetologische Prosa (darunter mit dem Gespräch im Gebirg das einzige von Celan selbst zur Veröffentlichung gebrachte Beispiel erzählender Prosa) sowie die für das Verständnis seines Werks höchst aufschlußreichen Reden: die Bremer Ansprache (1958) und, vor allem, ,die Rede zur Verleihung des Büchner-Preises 1960, Der Meridian. .
Paul Celan Gesammelte Werke
in sieben Bänden
Dritter Band Gedichte III
Prosa Reden
Suhrkamp
ANSPRACHE
ANLÄSSLICH DER ENTGEGENNAHME DES
LITERATURPREISES DER FREIEN HANSESTADT BREMEN
Denken und Danken sind in unserer Sprache Worte ein und des
selben Ursprungs. Wer ihrem Sinn folgt, begibt sich in den Bedeu
tungsbereich von: »gedenken«, »eingedenk sein«, »Andenken«,
»Andacht«. Erlauben Sie mir, Ihnen von hier aus zu danken:
Die Landschaft, aus der ich - auf welchen Umwegentaber gibt es
das denn: Umwege? -, die Landschaft, aus der ich zu Ihnen kom
me, dürfte den meisten von Ihnen unbekannt sein. Es ist die Land
schaft, in der ein nicht unbeträchtlicher Teil jener chassidischen
Geschichten zu Hause war, die Martin Buber uns allen auf deutsch
wiedererzählt hat. Es war, wenn ich diese topographische Skizze
noch um einiges ergänzen darf, das mir, von sehr weit her, jetzt vor
Augen tritt, - es .war eine Gegend, in der Menschen und Bücher
lebten. Dort, in dieser nun der Geschichtslosigkeit anheimgefalle
nen ehemaligen Provinz der Habsburgermonarchie, kam zum · er
stenmal der Name Rudolf Alexander Schröders. auf mich zu: beim
Lesen von RudoIfBorchardts »Ode mit dem Granatapfel«. Und
·dort gewann Bremen auch so Umriß für mich: in der Gestalt der
Veröffentlichungen der Bremer Presse.
Aber Bremen, nähergebracht durch Bücher und die Namen derer,
die Bücher schrieben und Bücher herausgaben, behielt den Klang
des Unerreichbaren.
Das Erreichbare, fern genug, das zu Erreichende hieß Wien. Sie
wissen, wie es dann durch Jahre auch um diese Erreichbarkeit bestellt war.
Erreichbar, nah und unverloren blieb inmitten der Verluste dies
eine: die Sprache.
Sie, die Sprache, blieb unverloren> ja, trotz allem. Aber sie mußte
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nun hindurchgehen durch ihre eigenen Antwortlosigkeiten, hin
durchgehen durch furchtbares Verstummen, hindurchgehen durch
die tausend Finsternisse todbringender Rede. Sie ging hindurch
und gab keine Worte her für das, was geschah; aber sie ging durch
dieses Geschehen. Ging hindurch und durfte wieder zutage treten, »angereichert« von all dem.
In dieser Sprache habe ich, in jenen Jahren und in den Jahren nach
her, Gedichte zu schreiben versucht: um zu sprechen, um mich zu'
orientieren, um zu erkuflden, wo ich mich befand und wohin es mit mir wollte, um mir Wirklichkeit zu entwerfen.
Es war, Sie sehen es, Ereignis, Bewegung, Unterwegssein, es war
der Versuch, Richtung zu gewinnen. Und wenn ich es nach seinem
Sinn befrage, so glaube ich, mir sagen zu müssen, daß in dieser
Frage auch die Frage nach dem Uhrzeigersinn mitspricht.
Denn das Gedichtist nicht zeitlos. Gewiß, es erhebt einen Unend
lichkeitsanspruch, es sucht, durch die Zeit hindurchzugreifendurch sie hindurch, nicht über sie hinweg.
Das Gedicht kann, da es ja eine Erscheinungsform der Sprache und
damit seinem Wesen nach dialogisch ist, eine Flaschenpost sein,
aufgegeben in dem- gewiß nicht immer hoffnungs starken - Glau
ben, sie könnte irgend wo und irgendwann an' Land gespült wer
den, an He~zland vielleicht. Gedichte sind auch in dieser Weise unterwegs: sie halten auf etwas zu.
Worauf? Auf etwas Offenstehendes, Besetzbares, auf ein an
sprechbares Du vielleicht, auf eine ansprechbare Wirklichkeit.
Um solche Wirklichkeiten geht es, so denke ich, dem Gedicht.
Und ich glaube auch, daß Gedankengänge wie diese nicht nur
meine eigenen Bemühungen begleiten, sopdern auch diejenigen
anderer Lyriker der jüngeren Generation. Es sind die Bemühungen
dessen, der, überflogen von Sternen, die Menschenwerksind, der,
zeitlos auch in diesem bisher ungeahnten Sinne und damit auf das
unheimlichste im Freien, mit seinem Dasein zur Sprache geht, wirklichkeits wund und Wirklichkeit suchend.
DER MERIDIAN
Rede anläßlich der Verleihung des Georg-Büchner-Preises
Darmstadt, am 22. Oktober 1960
Meine Damen und Herren!
Die Kunst, das ist, Sie erinnern sich, ein marionettenhaftes, jam
bisch-fünffüßiges und - diese Eigenschaft ist auch, durch den
Hinweis a\Jf Pygmalion und sein Geschöpf, mythologisch belegt
kinderloses Wesen.
In dieser Gestalt bildet sie den Gegenstand einer Unterhaltung, die
in einem Zimmer, alsonicht in der Conciergerie stattfindet, einer
Unterhaltung, die, das spüren wir, endlos fortgesetzt werden
könnte, wenn nichts dazwischenkäme.
Es kommt etwas dazwischen.
Die Kunst kommt wieder. Sie kommt in einer ande~en Dichtung
Georg Büchners wieder, im »Woyzeck«, unter anderen, namen
losen Leuten und - wenn ich ein auf »Dantons Tod« gemünztes
Wort Moritz Heimanns diesen Weg gehen lassen darf - bei noch
»fahlerem Gewitterlicht«. Dieselbe Kunst tritt, auch in dieser ganz
anderen Zeit, wieder auf den Plan, von einem Marktschreier prä
sentiert, nicht mehr, wie während jener Unterhaltung, auf die
»glühende«, »brausende« und »leuchtende« Schöpfung beziehbar,
sondern neben der Kreatur und dem »Nix«, das diese Kreatur
»anhat«, - die Kunst erscheint diesmal in Affengestalt, aber es
ist dieselbe, an »Rock und Hosen« haben wir sie sogleich wie
dererkannt.
Und sie kommt - die Kunst - auch mit einer dritten Dichtung
188
Büchners zu uns, mit »Leonce und Lena«, Zeit und Beleuchtung
sind hier nicht wiederzuerkennen, wir sind ja »auf der Flucht
ins Paradies«, »alle Uhren und Kalender« sollen bald »zerschla
gen« bzw. »verboten« werden, - aber kurz vorher werden noch
»zwei Personen beiderlei Geschlechts« vorgeführt, »zwei weltbe
rühmte Automaten sind angekommen«, und ein Mensch, der von
sich verkündigt, daß er »vielleicht der dritte und merkwürdig-.
ste von den beiden« sei, fordert uns, »mit schnarrendem Ton«,
dazu auf, zu bestaunen, was wir vor Augen haben: »Nichts als
Kunst und Mechanismus, nichts als Pappendeckel und Uhrfe
dern!«
Die Kunst erscheint hier mit größerer Begleitung als bisher, aber,
das springt in die,Augen, sie ist unter ihresgleichen, es ist dieselbe
Kunst: die Kunst, die wir schon kennen. - Valerio, das ist nur ein
anderer Name für den Ausrufer.
Die Kunst, meine Damen und Herren, ist, mit allem zu ihr Gehö
renden und noch Hinzukommenden, auch ein Problem, und zwar,
wie man sieht, ein verwandlungsfähiges, zäh- und langlebiges, will
sagen ewiges.
Ein Problel)1, das einem Sterblichen, Camille, und einem nur von
seinem Tod her zu Verstehenden, Danton, Worte und Worte an
einanderzureihen erlaubt. Von der Kunst ist gut reden.
Aber es gibt, wenn von der Kunst die Rede ist, auch immer wieder
jemand, der zugegen ist und ... nicht richtig hinhört.
Genauer: jemand? der hört und lauscht und schaut ... und dann
nicht weiß, wovon die Rede war. Der aber den Sprechenden hört,
der ihn »sprechen sieht«, der Sprache wahrgenommen hat und Ge
stah, und zugleich auch - wer vermöchte hier, im Bereich dieser
Dichtung, daran zu zweifeln? -, und zugleich auch Atem, das heißt
Richtung und Schicksal.
Das ist, Sie wissen es längst, sie kommt ja, die so oft und kaum von
ungefähr so oft Zitierte, mit jedem neuen Jahr zu Ihnen - das ist
Lucile.
Das während der Unterhaltung Dazwischengekommene greift
rücksichtslos durch, es gelangt mit uns auf den Revolutionsplatz,
»die Wagen kommen angefahren und halten«.
Die Mitgefahrenen sind da, vollzählig, Danton, Camille, die ande
ren. Sie alle haben, auch hier, Worte, kunstreiche Worte, sie brin~
gen sie an den Mann, es ist, Büchner braucht hier mitunter nur zu
zitieren, vom gemeinsamen In-den-Tod-gehen die Rede, Fabre
will sogar »doppelt« sterben können, jeder ist auf der Höhe, - nur
ein paar Stimmen, »eini·ge« - namenlose - »Stimmen«, finden, daß
das alles »schon einmal dagewesen und langweilig« sei.
Und hier, wo alles zu Ende geht, in den langen Augenblicken, da
Camille - nein, nicht er, nicht er selbst, sondern ein Mitgefahre
ner -, da dieser Camille theatralisch - fast möchte man sagen: jam
bisch - einen Tod stirbt, den wir erst zwei Szenen später, von ei
nem ihm fremden - einem ihm so nahen - Wort her, als den seinen
empfinden können, als rings um Camille Pathos und Sentenz den
Triumph von »Puppe« und »Draht« bestätigen, da ist Lucile, die
Kunstblinde, dieselbe Lucile, für die Sprache etwas Personhaftes
und Wahrnehmbares hat, noch einmal da, mit ihrem plötzlichen
»Es lebe der König!«
Nach allen auf der Tribüne (es ist das Blutgerüst) gesprochenen
Worten - welch ein Wort!
Es ist das Gegenwort, es ist das Wort,das den »Draht« zerreißt,
das Wort, das sich nicht mehr vor den »Eckstehern und Paradegäu
len der Geschichte« bückt, es ist ein Akt der Freiheit. Es ist ein
Schritt.
Gewiß, es hört sich - und das mag im Hinblick auf das, was ich
jetzt, also heute davon zu sagen wage, kein Zufall sein -, es hört
sich zunächst wie ein Bekenntnis zum »ancien regime« an.
Aber hier wird - erlauben Sie einem auch mit den Schriften Peter
Kropotkins und ' Gustav Landauers Aufgewachsenen, dies aus
drücklich hervorzuheben -, hier wird keiner Monarchie und kei
nem zu konservierenden Gestern gehuldigt.
Gehuldigt wird hier der für die Gegenwart des Menschlichen zeu
genden Majestät des Absurden.
Das, meine Damen und Herren, hat keinen ein für allemal festste
henden Namen, aber ich glaube, es ist ... die Dichtung.
»- ach, die Kunst!« Ich bin, Sie sehen es, an diesem Wort Camilles
hängengeblieben.
Man kann, ich bin mir dessen durchaus bewußt, dieses Wort
so oder so lesen, man kann verschiedene Akzente setzen: den
Akut des Heutigen, den Gravis des Historischen - auch Literarhi
storischen -, den Zirkumflex - ein Dehnungszeichen - des Ewi
gen. Ich setze - mir bleibt keine andere Wahl -, ich setze den Akut.
Die Kunst- »ach, die Kunst«: sie besitzt, neben ihrer Verwand
lungsfähigkeit, auch die Gabe der Ubiquität ;-: sie ist auch im
»Lenz« wiederzufinden, auch hier - ich erlaube mir, das zu beto
nen -, wie in ,)Dantons Tod«, als Episode.
ȟber Tisch war Lenz wieder in guter Stimmung: man sprach von
Literatur, .er war auf seinem -Gebiete . .. «
» ... Das Gefühl, daß, was geschaffen sei, Leben habe, stehe über
diesen beiden und sei das einzige Kriterium in Kunstsachen ... «
Ich habe hier nur zwei Sätze herausgegriffen, mein in bezug auf den
Gravis schlechtes Gewissen verbietet es mir, Sie nicht sogleich dar
auf aufmerksam zu machen, - diese Stelle hat, vor allem anderen,
literarhistorische Relevanz, man muß sie mit der schon zitierten
Unterhaltung' in »Dantons Tod« zusammenzulesen wissen, hier
findet Büchners ästhetische Konzeption ihren Ausdruck, von hier
aus gelangt man, das Lenz-Fragment Büchners verlassend, zu
Reinhold Lenz, dem Verfasser der »Anmerkungen übers Theater«,
und über ihn, den historischen Lenz also, weiter zurück zu dem
literarisch so ergiebigen ,)Elargissez l'Art« Merciers, diese Stelle
eröffnet Ausblicke, hier ist der Naturalismus, hier ist Gerhart
Hauptmann vorweggenommen, hier sind auch die sozialen und
politischen Wurzeln der Büchnerschen Dichtung zu suchen und zu
finden.
Meine Damen und Herren, daß ich das nicht unerwähnt'lasse, be
ruhigt zwar, wenn auch nur vorübergehend, mein Gewissen, es
zeigt Ihnen aber zugleich auch, und damit beunruhigt es mein Ge
wissen aufs neue, - es zeigt Ihnen, daß ich von etwas nicht los
komme, das mir mit der -Kunst zusammenzuhängen scheint.
Ich suche es auch hier, im »Lenz«, ~ ich erlaube mir, Sie darauf
hinzuweisen. Lenz, also Büchner, hat, »ach, die Kunst«, sehr verächtliche Worte
für den »Idealismus« und dessen »Holzpuppen«. Er setzt ihnen,
und hier folgen die unvergeßlichen Zeilen über das» Leben des Ge
ringsten«, die »Zuckungen«, die »Andeutungen«, das »ganz feine,
kaum bemerkte Mienenspiel«, - er setzt ihnen das Natürliche und
Kreatürliche entgegen. Und diese Auffassung von der Kunst illu
striert -er nun an Hand eines Erlebni~ses :
»Wie ich gestern neben am Tal hinaufging, sah ich auf einem Steine
zwei Mädchen sitzen: die eine band ihr Haar auf, die andre half ihr;
und das goldne Haar hing herab, und ein ernstes bleiches Gesicht,
und doch so jung, und die schwarze Tracht, und die andre so sorg
sam bemüht, Die schönsten, innigsten Bilder der altdeutschen
Schule geben kaum eine Ahnung davon. Man möchte manchmal
ein Medusenhaupt sein, um so eine Gruppe in Stein verwandeln zu
können, und den Leuten zurufen. «
Meine. Damen und Herren, beachten Sie, bitte: »Man möchte ein
Medusenhaupt« sein, um ... das Natürliche als das Natürliche
mittels der Kunst zu erfassen!
Man möchte heißt es hier freilich, nicht: ich möchte.
Das ist ein Hinaustreten aus dem Menschlichen, ein Sichhinausbe
geben in einen dem Menschlichen zugewandten und unheimlichen
Bereich - denselben, in dem die Affengestalt, die Automaten .und
damit ... ach, auch die Kunst zuhause zu sein scheinen.
So spricht nicht der historische Lenz, so spricht der Büchnersche,
hier haben wir Büchners Stimme gehört: die Kunst bewahrt für ihn
auch hier etwas Unheimliches .
Meirie Damen und Herren, ich habe den Akut gesetzt; ich will Sie
ebensowenig wie mich selbst darüber hinwegtäuschen, daß ich mit
dieser Frage nach der Kunst und nach der Dichtung -. einer Frage
unter anderen Fragen -, daß ich mit dieser Frage aus eigenen, wenn
auch nichtfreien Stücken zu Büchner gegangen sein muß, um die
seine aufzusuchen.
Aber Sie sehen es ja: der »schnarrende Ton« Valerios ist, sooft die
Kunst in Erscheinung tritt, nicht zu überhören.
Das sind wohl, Büchners Stimme fordert mich zu dieser Vermu
tung auf, alte und ältesteU nheimlichkeiten. Daß ich heute mit sol
cher Hartnäckigkeit dabei verweile, liegt wohl in der Luft - in der Luft, die wir zu atmen haben.
Gibt es nicht - so muß ich j~tzt fragen -, gibt es nicht bei Georg
Büchner, bei dem Dichter der Kreatur, eine vielleicht nur halblau
te, vielleicht nur halbbewußte, aber darum nicht minder radikale
oder gerade deshalb im eigentlichsten Sinne radikale In-Frage-Stel-
193
lung der Kunst, eine In-Frage-Stellung aus dieser Richtung? Eine
In-Frage-Stellung, zu der alle heutige Dichtung zurück muß, wenn
sie weiterfragen will? Mit anderen, einiges überspringendenWor
ten: Dürfen wir, wie es jetzt vielerorts geschieht, von der Kunst als
von einem Vorgegebenen und unbedingt Vorauszusetzenden aus
gehen, sollen wir, um es ganz konkret auszudrücken, vor allem
sagen wir - Mallarme konsequent zu Ende denken?
Ich habe vorgegriffen, hinausgegriffen - nicht weit genug, ich
weiß -, ich kehre zu Büchners »Lenz« zurück, zu dem - episodi~
sehen - Gespräch also, das »über Tisch« geführt wurd~ und bei dem Lenz »in guter Stimmung war«.
Lenz hat lange gesprochen, »bald lächelnd, bald ernst«. Und jetzt,
nachdem das Gespräch zu Ende ist, heißt es von ihm, also von dem
mit Fragen der Kunst Beschäftigten, aber zugleich auch von dem
Künstler Lenz: »Er hatte sich ganz vergessen.«
Ich denke an Lucile, indem ich das lese: ich lese: Er, er selbst.
Wer Kunst vor Augen und im Sinn hat, der ist - ich bin hier bei der
Lenz-Erzählung -, der ist selbstvergessen. Kunst schafft Ich-Fer
ne. Kunst fordert hier in einer bestimmten Richtung eine bestimmte Distanz, einen bestimmten Weg.
Und Dichtung? Dichtung, die doch den Wegder Kunst zugehen
hat? Dann wäre hier ja wirklich der Weg zu Medusenhaqpt und Automat gegeben!
Ich suche jetzt keinen Ausweg, ich frage nur, in derselben Rich
tung, und, so glaube ich, auch in der mit dem Lenz-Fragment ge
gebenen Richtung weiter.
Vielleicht - ich frage nur -, vielleicht geht die Dichtung, wie die
Kunst, mit einem selbstvergessenen Ich zu jenem Unheimlichen
und Fremden, und setzt sich - doch wo? doch an welchem Ort?
doch womit? doch als was? - wieder frei?
194
Dann wäre die Kunst der von der Dichtung zurückzulegende Weg - nicht weniger, nicht mehr.
Ich weiß, es gibt andere, kürzere Wege. Aber auch die Dichtung eilt
uns ja manchmal voraus. La poesie, elle aussi, brille nos etapes. \
Ich verlasse den Selbstvergessenen, den mit Kunst Beschäftigten,
den Künstler. Ich habe bei Lucile der Dichtung zu begegnen ge
glaubt, und Lucile nimmt Sprache als Gestalt und Richtung und
Atem wahr -:)ch suche, auch hier, in dieser Dichtung Büchners,
dasselbe, ich suche Lenz selbst, ich suche ihn - als Person, ich su
che seine Gestalt: um des Ortes der Dichtung, um der Freisetzung, um des Schritts willen.
Der Büchnersche Lenz, meine Damen und Herren, ist ein Frag
ment geblieben. Sollen wir, um zu erfahren,~elche Richtung die
ses Dasein hatte, den historischen Lenz aufsuchen?
»Sein Dasein war ihm eine notwendige Last.:'" So lebte er hin ... « Hier bricht die Erzählung ab.
Aber Dichtung versucht ja, wie Lucile, die Gestalt in ihrer Rich
tung zu sehen, Dichtung eilt voraus. Wir wissen, wohin er lebt, wie er hinlebt.
»Der Tod«, so liest man in einem 1909 in Leipzig erschienenen
Werk über Jakob Michael Reinhold Lenz - es stammt aus der Fe
der ein~s 1-:10skauer Privatdozenten namens M. N . Rosanow _,
»der Tod als Erlöser ließ nicht lange auf sich warten. In der Nacht
vom 23· auf den 24. Mai 1792 wurde Lenz entseelt in einer der Stra
ßen Moskaus aufgefunden. Er wurde auf Kosten eines Adligen be
graben. Seine letzte Ruhestätte ist unbekannt geblieben.« So hatte er hin gelebt.
Er: der wahre, der Büchnersche Lenz, die Büchnersche Gestalt, die
Person, die wir auf der ersten Seite der Erzählung wahrnehmen konn
ten; der Lenz, der »den 20. Jänner durchs Gebirg ging«, er- nicht der
Künstler und mit Fragen der Kunst Beschäftigte, er als ein Ich.
195
Finden wir jetzt vielleicht den Ort, wo das Fremde war, den Ort, wo
die Person sich freizusetzen vermochte, als ein - befremdetes - Ich?
Finden wir einen solchen Ort, einen solchen Schritt?
» ... nur war es ihm manchmal unangenehm, daß er nicht auf dem
Kopf gehn konnte. « - Das ist er, Lenz. Das ist, glaube ich, er und
sein Schritt, er und sein »Es lebe der König«.
» ... nur war es ihm manchmal unangenehm, daß er nicht auf dem
Kopf gehn konnte. «
Wer auf dem Kopf geht, meine Damen und Herren, - wer auf dem
Kopf geht, der hat den Himmel als Abgrund unter sich.
Meine Damen und Herren, es ist heu"te gang und gäbe, der Dichtung
ihre »Dunkelheit« vorzuwerfen. - Erlauben Sie mir, andieser Stelle ,
~nvermittel~ - aber hat sich hier nicht jäh etwas aufgetan? -, erlauben
Sie mir, hier ein Wort von Pascal zu zitieren, ein Wort, das ich vor
einiger Zeit bei Leo Schestow gelesen habe: »Ne nous reprochez pas
le manque de c1arte puisque nous en faisons profession!« - Das ist,
glaube ich, wenn nicht die kongenitale, so doch wohl die der Dich
tung um einer Begegnung willen aus einer - vielleicht selbstentwor
fenen - Ferne oder Fremde zugeordnete Dunkelheit.
Aber es gibt vielleicht, und in einer und derselben Richtung, zweier
lei 'Fremde - dicht beieinander.
Lenz - das heißt Büchner - ist hier einen Schritt weiter gegangen als
Lucile. Sein »Es lebe der König« ist kein Wort mehr, es i§t ein
furchtbares Verstummen, es verschlägt ihm - und auch uns - den
Atem und das Wort.
Dichtung: das kann eine Atemwende bedeuten. Wer weiß, vielleicht
legt die Dichtung den Weg - auch den Weg der Kunst - um einer sol
chen Atemwende willen zurück? Vielleicht gelingt es ihr, da das Fremde, also der Abgrund und das Medusenhaupt, der Abgrund und
die Automaten, ja in einer Richtung zu liegen scheint, - vielleicht
gelingt es ihr hier, zwischen Fremd und Fremd zu unterscheiden,
vielleicht schrumpft gerade hier das Medusenhaupt, vielleicht ver
sagen gerade hier die Automaten -für diesen einmaligen kurzen
Augenblick? Vielleicht wird hier, mit dem Ich - mit dem hier und
solcherart freigesetzten befremdeten Ich, - vielleicht wird hier
noch ein Anderes frei?
Vielleicht ist das Gedicht von da her es selbst .. . und kann nun, auf
diese kunst-lose, kunst-freie Weise, seine anderen Wege, also auch
die Wege der Kunst gehen - wieder und wieder gehen?
Vielleicht.
Vielleicht darf man sagen, daß jedem Gedicht sein »20. Jänner«
eingeschrieben bleibt? Vielleicht ist das Neue an den Gedichten,
die heute geschrieben werden, gerade dies: daß hier am qeutlich
sten versucht wird, solcher Daten eingedenk zu bleiben?
Aber schreiben wir uns nicht alle von solchen Daten her? Und wel
chen Daten schreiben wir uns zu?
Aber das Gedicht spricht ja! Es bleibt seiner Daten eingedenk, aber
- es spricht. Gewiß, es spricht immer nur in seiner eigenen, aller
eigensten Sache.
Aber ich denke - und dieser Gedanke kann Sie jetzt kaum überra
schen -, ich denke, daß es von jeher zu den Hoffnungen des Gec
dichts gehört, gerade auf diese Weise auch in fremder - nein, dieses
Wort kann ich jetzt nicht mehr geb~auchen -, gerade auf diese
Weise in eines Anderen Sache zu sprechen - wer weiß, vielleicht in
eines ganz Anderen Sache.
Dieses »wer weiß«, zu dem ich mich jetzt gelangen sehe', ist das
einzige, was ich den alten Hoffnungen von mir aus auch heute und
hier hinzuzufügen vermag.
Vielleicht, so muß ich mir jetzt sagen, - vielleicht ist sogar ein Zu
sammentreffen dieses »ganz Anderen « - ich gebrauche hier ein be-
197
kanntes Hilfswort - mit einem nicht allzu fernen, einem ganz na
hen »anderen« denkbar - immer und wieder denkbar.
Das Gedicht verweilt oder verhofft - ein auf die Kreatur zu bezie
hendes Wort - bei solchen Gedanken.
Niemand kann sagen, wie lange die Atempause - das Verhoffen und
der Gedanke - noch fortwährt. Das »Geschwinde«, das schon im
mer »draußen« war, hat an Geschwindigkeit gewonnen; das Gedicht
weiß das; aber es hält unentwegt auf jenes' »Andere« zu, das es sich
als erreichbar, als freizusetzen, als vakant vielleicht, und dabei ihm,
dem Gedicht - sagen wir: wie Lucile .;,. zugewandt denkt.
Gewiß, das Gedicht - das Gedicht heute - zeigt, und das hat, glaube
ich, denn doch nur mittelbar mit den - nicht zu unterschätzenden
Schwierigkeiten der Wortwahl, dem rapideren Gefälle der Syntax
oder dem wacheren Sinn für die Ellipse zu tun, - das Gedicht zeigt,
das ist unverkennbar, eine starke Neigung zum Verstummen.
Es behauptet sich -erlauben Sie mir, nach so vielen extremen Formu
lierungen, nun auch, diese -, das Gedicht behauptet sich am Rande
seiner selbst; es ruft und holt sich, um bestehen zu können, unaus
gesetzt aus seinem Schon-nicht-mehr in sein Immer-noch zurück.
Dieses Immer"noch kann doch 'Wohl nur ein Sprechen sein. Also
nicht Sprache schlechthin und vermutlich auch nicht erst vom
Wort her »Entsprechung«. Sondern aktualisierte Sprache, freigesetzt unter dem Zeichen einer
zwar radikalen, aber gleichzeitig auch der ihr von der Sprache ge"
zogenen Grenzen, der ihr von der Sprache erschlossenen Möglich"
keiten eingedenk bleibenden Individuation.
Dieseslmmer-noch des Gedichts kann ja wohl nur in dem Gedicht
dessen zu finden sein, der nicht ver gißt, daß er unter dem Nei
gungswinkel seines Daseins, dem Neigungswinkel seiner Kreatür
lichkeit spricht. Dann wäre das Gedicht - deutlicher noch als bisher - gestaltge"
wordene Sprache eines Einzelnen, - und seinem innersten Wesen nach Gegenwart und Präsenz;
Das Gedicht ist einsam. Es ist einsam und unterwegs. Wer es schreibt, bleibt ihm mitgegeben.
Aber steht das Gedicht nicht gerade dadurch, also schon hier, in
der Begegnung - im Geheimnis der Begegnung?
Das Gedicht will zu einem Andern, es braucht dieses Andere, es
braucht ein Gegenüber. Es sucht es auf, es spricht sich ihm zu.,
Jedes Ding, jeder Mensch ist dem' Gedicht, das auf das Andere zuhält, eine Gestalt dieses Anderen.
Die Aufmerksamkeit, die das Gedicht allem ihm Begegnenden zu
widmen versucht, sein schärferer Sinn für das Detail, für Umriß,
für Struktur, für Farbe, aber auch für die »Zuckungen« und die
»Andeutungen«, das alles ist, glaube ich, keine Errungenschaft des
mit den täglich perfekteren Apparaten wetteifernden (oder mit
eifernden) Auges, es ist vielmehr eine aller unserer Daten eingedenk bleibende Konzentration.
»Aufmerksamkeit« - 'erlauben Sie mir hier, nach dem Kafka-Essay
Walter Benjamins, ein Wort von Malebranche zu zitieren -
»Aufmerksamkeit ist das natürliche Gebet der Seele. «
Das Gedicht wird - unter welchen Bedingungen! - zum Gedicht
eines - immer noch - Wahrnehmenden, dem Erscheinenden Zu
gewandten, dieses Erscheinende Befragenden und Ansprechenc
den; es wird Gespräch - oft ist es verzweifeltes Gespräch.
Erst im Raum dieses Gesprächs konstituiert sich das Angespro
chene, versammelt es sich um das es ansprechende und nennende
Ich. Aber in diese Gegenwart bringt das Angesprochene und durch
Nennung gleichsam zum Du Gewordene auch sein Anderssein
mit. Noch im Hier und Jetzt des Gedichts - das Gedicht selbst hat ja
199
immer nur diese eine, einmalige, punktuelle Gegenwart -, noch in
dieser Unmittelbarkeit und Nähe läßt es das ihm, dem Anderen,
"Eigenste mitsprechen: dessen Zeit.
Wir sind, wenn wir so mit den Dingen sprechen, immer auch bei
der Frage nach ihrem Woher und Wohin: bei einer »offenbleiben
den«, »zu keinem Ende kommenden«, ins Offene und Leere und
Freie weisenden Frage - wir sind weit draußen.
Das Gedicht sucht, gla~be ich, auch diesen Ort.
Das Gedicht?
Das Gedicht mit seinen Bildern und Tropen?
Meine Damen und Herren, wovon spreche ich denn eigentlich,
wenn ich aus dieser Richtung, in dieser Richtung, mit diesen Wor
ten vom Gedicht - nein, von dem Gedicht spreche?
Ich spreche ja von dem Gedicht, das es nicht gibt!
Das absolute Gedicht - nein, das gibt es gewiß nicht, das kann es
nicht geben!
Aber es gibt wohl, mit jedem wirklichen Gedicht, es gibt, mit dem
anspruchslosesten Gedicht, diese unabweisbare Frage, diesen un-erhörten Anspruch. .
Und was wären dann die Bilder?
Das einmal, das immer wieder einmal und nur jetzt und nur hier
Wahrgenommene und Wahrzunehmende. Und das Gedicht wäre
somit der Ort, wo alle Tropen und Metaphern ad absurdum ge
führt werden wollen.
Toposforschung ?
Gewiß! Aber im Lichte des zu Erforschenden: im Lichte der U-topie.
Und der Mensch? Und die Kreatur?
In diesem Licht.
200
Welche Fragen! Welche Forderungen!
Es ist Zeit, umzukehren.
Meine Damen und Herren, ich bin am Ende - ich bin wieder am Anfang.
Elargissez I'Art! Diese Frage tritt, mit ihrer alten, mit ihrer neuen
Unheimlichkeit, an uns heran. Ich bin mit ihr zu Büchner gegan
gen - ich habe sie dort wiederzufinden geglaubt.
Ich hatte auch eine Antwort bereit, ein »Lucilesches« Gegenwort, ich
wollte etwas entgegensetzen, mit meinem Widerspruch dasein: Die Kunst erweitern? .
Nein. Sondern geh mit der Kunst in deine allereigenste Enge. Und setze dich -frei.
Ich bin, auch hier, in IhrerGegenwart, diesen Weggegangen. Es war ein Kreis.
Die Kunst, also auch das Medusenhaupt, der Mechanismus, die
Automaten, das unheimliche und so schwer zu unterscheidende,
letzten Endes vielleicht doch nur eine Fremde - die Kunst lebt fort.
Zweimal, bei Luciles »Es lebe der König«, und als sich unter Lenz
der Himmel als Abgrund auftat, schien die Atemwende da zu sein.
Vielleicht auch, als ich auf jenes Ferne und Besetzbare zuzuhalten
versuchte, das schließlich ja doch nur in der Gestalt Luciles sichtbar
wurde. Und einmal waren wir auch, von der den Dingen und der
Kreatur gewidmeten Aufmerksamkeit her, in die Nähe eines üffe"
nen und Freien gelangt. Und zuletzt in die Nähe der Utopie.
Die Dichtung, meine Damen und Herren -:diese Unendlichsprechung von lauter Sterblichkeit und Umsonst!
Meine Damen und Herren, erlauben Sie mir, da ich ja wieder am
201
Anfang bin, noch einmal, in aller Kürze und aus einer anderen
Richtung, nach demSelben zu fragen.
Meine Damen und Herren, ich habe vor einigen Jahren einen klei
nen Vierzeiler geschrieben - diesen:
»Stimmen vom Nesselweg her: / Komm auf den Händen zu uns. /
Wer mit der Lampe allein ist, / hat nUl die Hand, draus zu le-
sen.«
Und vor einem Jahr, in Erinnerung an eine versäumte Begegnung
im Engadin, brachte ich eine kleine Geschichte zu Papier, in der ich
einen Menschen »wie Lenz« durchs Gebirg gehen ließ.
Ich hatte mich, das eine wie das andere Mal, von einem» 20. Jän
ner«, von meinem »20. Jänner«, hergeschrieben.
Ich bin ... mir selbst begegnet.
Geht man also, wenn man an Gedichte denkt, geht man mit Gec
dichten solche Wege? Sind diese Wege nur Um-Wege, Umwege
von dir zu dir? Aber es sind ja zugleich auch, unter wie vielen ande
ren Wegen, Wege, auf denen die Sprache stimmhaft wird, es sind
Begegnungen, Wege einer Stimme zu einem wahrnehmenden Du,
kreatürliche Wege, Daseinsentwürfe -vielleicht, ein Sichvoraus
schicken zu sich selbst, auf der Suche nach sich selbst ... Eine Art
Heimkehr.
Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluß - ich komme,
mit dem Akut, den ich zu setzen hatte, zum Schluß von ... »Le
once und Lena«.
Und hier, bei den letzten zwei Worten dieser Dichtung, muß ich
mich in acht nehmen.
Ich muß mich hüten, wie Karl Emil Franzos, der Herausgeber je
ner »Ersten Kritischen Gesammt-Ausgabe von Georg Büchner's
Sämmtlichen Werken und handschriftlichem Nachlaß«, die vor
202
einundachtzig Jahren bei Sauerländer in Frankfurt am Main erschienen ist, - ich muß mich hüten, wie mein hier wiedergefunde
ner Landsmann Karl Emil Franzos, das »Commode«, das nun ge
braucht wird, als ein »Kommendes« zu lesen!
Und doch: Gibt es nicht gerade in »Leonce und Lena« diese d~n Worten unsichtbar' zugelächelten Anführungszeichen, die viel
leicht nicht als Gänsefüßchen, die vielmehr als Hasenöhrchen, das
heißt also als etwas nicht ganz furchtlos über sich und die Worte Hinauslauschendes verstanden sein , wollen?
Von hier aus, also vom »Commoden« her, aber auch im Lichte der
Utopie, unternehme ich - jetzt - Toposforschung:
Ich suche,die Gegend, aus der Reinhold Lenz und Karl Emil Fran- '
zos, die mir auf dem Weg hierher und bei Georg Büchner Begegne
ten, kommen. Ich suche auch, denn ich bin ja wieder da, wo ich be
gonnen habe, den Ort meiner eigenen Herkunft.
Ich suche das alles mit wohl sehr ungenauem, weil unruhigem Fin
ger auf der Landkarte - auf einer Kinder-Landkarte, wie ich gleich gesteben muß.
Keiner dieser Orte ist zu finden, es gibt sie nicht, aber ich weiß, wo
es sie, zumal jetzt, geben müßte, und . .. ich finde .etwas!
Meine Damen und Herren, ich finde etwas, das mich auch ein we
nig darüber hinwegtröstet" in Ihrer Gegenwart diesen unmögli
chen Weg, diesen Weg des Unmöglichen gegangen zU sein. Ich finde das Verbindende und wie das Gedicht zur Begegnung Führende. '
Ich finde etwas - wie die Sprache - Immaterielles, aber Irdisches,
Terrestrisches, etwas Kreisförmiges, über die beiden Pole in sich
selbst Zurückkehrendes und dabei - heitererweise -. sogar die Tropen Durchkreuzendes '-: ich finde ... einen Meridian.
Mitlhnen und Georg Büchner und dem Lande Hessen habe ich ihn
soeben wieder zu berühren geglaubt.
2°3
(ANSPRACHE VOR DEM HEBRA'ISCHEN
SCHRIFTSTELLER VERBAND )
Ich bin zu Ihnen nach Israel gekommen, weil ich das gebraucht
habe. Wie nur selten eine Empfindung, beherrscht mich, nach allem Ge
sehenen und Gehörten, das Gefühl, das Richtige getan zu haben -
ich hoffe, nicht nur für mich allein. , Ich glaube einen Begriff zu haben von dem, was jüdische Einsam
keit sein kann, und ich verstehe, inmitten von so vielem, auch den dankbaren Stolz auf jedes selbstgepflanzte Grün, das bereitsteht,
jeden, der hier vorbeikommt zu erfrischen; wie ich die Freude be
greife über jedes neuerworbene, selbsterfühlte erfüllte Wort, das
herbeieilt, den ihm Zugewandten zu stärken - ich begreife das in
diesen Zeiten der allenthalben wachsenden Selbstentfremdung und ·Vermassung. Und ich finde hier, in dieser äußeren und inneren
Landschaft, viel von den Wahrheits zwängen, der Selbstevidenz
und der weltoffenen Einmaligkeit großer Poesie. Und ich glaube mich unterredet zu haben mit der gelassen-zuversichtlichen Ent
schlossenheit, sich im Menschlichen zu behaupten.
Ich danke all dem, ich danke Ihnen.
Tel-Aviv,arri 14. Oktober 1969