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Momigliano, Ausgewählte Schriften, Band 3

Momigliano, Ausgewählte Schriften, Band 3978-3-476-03684-1/1.pdf · Arnaldo Momigliano Ausgewählte Schriften zur Geschichte und Geschichtsschreibung Band3 Die moderne Geschichtsschreibung

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Momigliano, Ausgewählte Schriften, Band 3

Arnaldo Momigliano

Ausgewählte Schriften zur Geschichte

und Geschichtsschreibung

Herausgegeben von Glenn W Most unter Mitwirkung von

Wilfried Nippel und Anthony Grafton

Verlag J. B. Metzler Stuttgart · Weimar

Arnaldo Momigliano

Ausgewählte Schriften zur Geschichte

und Geschichtsschreibung

Band3 Die moderne Geschichtsschreibung

der Alten Welt

Herausgegeben von Glenn W Most

Übersetzt von Kai Brodersen und Andreas Wittenburg

Verlag J. B. Metzler Stuttgart · Weimar

Die Texte 3, 5, 8, 11, 13-18, 20 und 21 hat Andreas Wittenburg, die restli­chen Texte hat Kai Brodersen übersetzt.

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme

Momigliano, Arnaldo: Ausgewählte Schriften zur Geschichte und Geschichtsschreibung/

Arnaldo Momigliano. Hrsg. von Glenn W Most unter Mitw. von Wilfried Nippel und Anthony Grafton. - Stuttgart ; Weimar : Metzler

ISBN 978-3-476-01514-3

Bd. 3. Die moderne Geschichtsschreibung der Alten Welt/ hrsg. von Glenn W Most.

Übers. von Kai Brodersen und Andreas Wittenburg. - 2000 ISBN 978-3-476-01513-6

ISBN 978-3-476-01514-3 (Gesamtwerk) ISBN 978-3-476-01513-6

ISBN 978-3-476-03684-1 (eBook) DOI 10.1007/978-3-476-03684-1

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere

für Vervielfaltigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

© 2000 Springer-Verlag GmbH Deutschland

Ursprünglich erschienen bei J. B. Metzlersehe Verlagsbuchhandlung

und Carl Ernst Poeschel Verlag GmbH in Stuttgart 2000

© Edizioni di Storia e Letteratura, Rom, für die italienischen/englischen Originaltexte in der Ausgabe der »Contributi«

www.metzlerverlag.de [email protected]

Inhalt

Einleitung von Glenn W Most VII

1. Eine piemontesische Sicht der Ideengeschichte 2. Deutsche Romantik und italienische Altertumswissenschaft 9 3. Warum es im 19. Jahrhundert in der Klassischen Philologie

in Italien keine romantische Schule gab 25 4. Friedrich Creuzer und die griechische Geschichtsschreibung 41 5. Der Beginn des Interesses für das archaische Rom: Niebuhr

und Indien 57 6. George Grote und das Studium der griechischen Geschichte 75 7. Karl Otfried Müllers Prolegomena zu einer wissenschaftlichen

Afythologie und die Bedeutung von »Mythos« 95 8. Die Geschichte der Entstehung und die heutige Funktion

des Begriffs des Hellenismus 113 9. Johann Gustav Droysen zwischen Griechen und Juden 143

10. Von Bachofen bis Cumont 161 11. Einleitung zu Jacob Burckhardts Griechischer Kulturgeschichte 181 12. Jacob Bernays 203 13. Die antike Stadt bei Pustel de Coulanges 233 14. Vorbemerkungen zu einer Diskussion über Eduard Meyer 255 15. Max Weber und die Althistoriker 273 16. Und nach Max Weber? 283 17. Nachruf auf Gaetano De Sanctis (1870-1957) 303 18. Beobachtungen zu Michael Rostovtzeff 327 19. Rostovtzeffs zweigeteilte Geschichte der Hellenistischen Welt 339 20. Rezension zu H. Berve, Storia Greca, Vorwort v. P. Meloni,

übers. v. F. Codino, Bari (Laterza) 1959 347 21. Vorwort zuM. I. Finley, Problemi e metodi di storia antica 361 22. Prolog in Deutschland 367

Anmerkungen

Verzeichnis der Erstpublikationen

Namenregister für die Bände I-III

393

435

439

9

Einleitung

Der dritte Band der Ausgabe der Ausgewählten Schriften Arnaldo Mo­miglianos vereinigt 22 Aufsätze zur modernen Historiographie der antiken Welt, zu demjenigen Gebiet also, »mit dem«, in den Worten Karl Christs, »Momiglianos Name stets verbunden bleiben wird.«l Die behandelten Themen erstrecken sich über eine Zeitspanne, die vom Anfang des 19. Jahrhunderts (Texte 2-4) bis zur zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts (Text 21) reicht; die älteste der hier aufgenom­menen Arbeiten (Text 18) wurde 1933 vom damals Fünfundzwanzig­jährigen erstmalig veröffentlicht, der jüngste (Text 21) stammt aus dem Todesjahr des Autors, 1987. Wiewohl aus unterschiedlichen An­lässen geschrieben, liefern die Artikel doch einen kontinuierlichen Überblick über die Entwicklung der modernen wissenschaftlichen Beschäftigung mit der griechisch-römischen Antike, der mit der deut­schen und italienischen Romantik Anfang des 19. Jahrhunderts einsetzt und bis zum Glanz und Elend der europäischen Geschichtsschreibung (und der europäischen Geschichte) in der Mitte des 20. Jahrhunderts reicht.

Die hier zusammengestellten Arbeiten stammen aus einem Zeit­raum von mehr als einem halben Jahrhundert. Daß sie aber vor allem die Sorgen und Interessen der letzten Jahre des großen Historikers der Geschichte und der Geschichtsschreibung widerspiegeln, zeigt schon rein quantitativ ihre zeitliche Konzentration: Denn fast zwei Drittel dieser Texte wurden nach 1970 verfasst, d. h. nachdem Momigliano schon 62 Jahre alt war.2 Zum Vergleich: Fast zwei Drittel der im ersten Band dieser Ausgabe vereinigten Aufsätze erschienen zum ersten Mal nach 1970,3 ein beredtes Zeugnis für Momiglianos zeitlebens gleich lei­denschaftliche Hingabe an die Geschichte der alten Welt; dagegen fal­len die Erstveröffentlichungen von mehr als der Hälfte der in den zwei­ten Band aufgenommenen Aufsätze in die fünfziger Jahre,4 was sein intensiviertes Studium des Mittelalters und der Renaissance in den Jah­ren nach seiner Emigration nach England, vor allem in Zusammen­hang mit dem Anfang seines wissenschaftlichen Austausches mit dem Warburg Institute in London, belegt.

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Die Erforschung der Geschichte der neuzeitlichen Geschichts­schreibung ist besonders charakteristisch für Momiglianos letzte Schaf­fensperiode, aber in keiner Weise auf diese beschränkt. Einerseits hatte sich Momigliano schon in seinen frühesten wissenschaftlichen Arbei­ten intensiv mit der Geschichte sowohl der antiken als auch der mo­dernen Geschichtsschreibung auseinandergesetzt - es ist kein Zufall, daß seine Turiner Tesi di laurea den Aufbau von Thukydides' Ge­schichtswerk behandelteS oder daß der Einundzwanzigjährige Arbeiten zu Polybios und Flavius Josephus sowie zu Machiavelli in seinem Ver­hältnis zu Livius veröffentlichte.6 Insofern ist seine Beschäftigung mit klassischen und neuzeitlichen Historikern von großer Kontinuität über alle Schaffensperioden hinweg bis an sein Lebensende gekennzeichnet. So sind seine frühen Untersuchungen- etwa seine frühe Beschäftigung mit dem Ursprung und der Entwicklung des Begriffs »Hellenismus« im Zusammenhang mit seinen eigenen Studien zum Hellenismus (fext 8 in diesem Band) -mit den späten- etwa den berühmten, 1962 an der University of California, Berkeley, abgehaltenen, aber erst aus dem Nachlaß herausgegebenen »Sather Classical Lectures« über die klassi­schen Grundlagen der modernen Geschichtsschreibung7 - verbunden. Ein Grund für die Faszination, die die Geschichtsschreibung auf Mo­migliano ausübte, liegt sicherlich in seiner eigenen wissenschaftlichen Biographie: Niemand, der so früh und so tief von Benedetto Croce be­einflußt worden war, wie dies bekanntlich bei Momigliano der Fall war,s konnte ignorieren, daß Geschichtsschreibung eine eigene Ge­schichte hat und daß die Erforschung der Geschichte und die Erfor­schung der Geschichtsschreibung sich gegenseitig bedingen.9 Diese Lektion drückte sich beim jungen Momigliano zum Beispiel in seinem nie nachlassenden Eifer aus, die für all die von ihm behandelten und weit verstreuten historischen Probleme relevante Sekundärliteratur er­schöpfend kennenzulernen. Er führte diese nicht nur im Kontext der jeweiligen Untersuchung in klar gegliederten und unbeirrbar urteilen­den Berichten zur Fragestellung bzw. zur Einzelfrage sachgemäß an, sondern steuerte auch schon in frühen Jahren verschiedene eigenstän­dige Forschungsberichte über die neueren Studien in der Altertums­wissenschaft mit erstaunlich souveränem Überblick bei.lO

Aber in dieser Hinsicht war Momigliano nicht qualitativ, sondern nur quantitativ den meisten seiner Zunftgenossen überlegen. Ergiebi­ger für die Charakterisierung seiner Eigenart als Historiker und Ge­schichtshistoriker ist das auch in seinen frühen Arbeiten überall er­kennbare Vorhaben, eine Verbindung oder gar Synthese der beiden

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Ansätze - sowohl der Geschichtsschreibung der antiken Ereignisse als auch der Geschichtsschreibung der Geschichtsschreibung selbst - zu verwirklichen. Bezeichnend in dieser Hinsicht ist zunächst einmal das Nebeneinander von eigenständigen Arbeiten zur antiken Ereignisge­schichte und solchen zu den antiken Geschichtsschreibern, das seine wissenschaftliche Produktion seit seiner Jugend bestimmt. Bei letzte­ren handelt es sich nicht ausschließlich um diejenigen Historiker, die Quellen zu den in seinen Arbeiten untersuchten Ereignissen lieferten­z. B. neben seiner Monographie zu Philipp von Makedonien und der Entstehung des Hellenismus!! auch Untersuchungen zu den einschlä­gigen Historikern, Ephoros und Theopomp12 -,sondern auch um von der eigenen geschichtsschreiberischen Tätigkeit unabhängige Arbeiten, die sich ganz dezidiert der Geschichte der Geschichtsschreibung zu­wenden - z. B. seine schon erwähnte Tesi di laurea zu Thukydides. Schon diese Parallelität der Ansätze zeugt von Momiglianos Grund­auffassung, daß authentisches historisches Verstehen nur aus der ge­genseitigen Durchdringung einer objektiven Seite (den Ereignissen) und einer subjektiven Seite (den Quellen, dem Historiker) entstehen kann.

Noch ungewöhnlicher und erst wirklich ausschlaggebend in dieser Hinsicht war Momiglianos auch in seinen frühen Arbeiten wiederhol­tes Bemühen, an exemplarischen Beispielen zu zeigen, daß das histori­sche Wissen nicht so sehr als tote Sammlung objektiver Tatsachen, sondern als eine wirkende Kraft innerhalb des historischen Prozesses selbst verstanden werden könne. Dieses Bestreben bestimmt implizit auch Momiglianos frühe Monographie zu Kaiser Claudius, insofern sie die zentralisierende Verwaltungspolitik des Kaisers, die Momigliano als gegen den Senat gerichtet versteht, zum Teil als direkte Folge der Stu­dien des Claudius zur früheren römischen Geschichte erscheinen läßt.13 Momigliano stellte die skurrilen Details des angeblichen Privat­lebens des Claudius, mit denen die Historiographie sich in alten wie in neuen Zeiten hauptsächlich beschäftigt hatte, hintan, um Platz für sein Bild eines gelehrten Herrschers zu schaffen, der auch in seiner Rede für das ius honorum der Gallier seine genaue Kenntnis von Livius' Ge­schichtswerk an den Tag legte - der englische Althistoriker Ronald Syme meinte ironisch, das Buch sei ein Beispiel der natürlichen und un­vermeidlichen Sympathie eines modernen Pedanten für einen antiken Pedanten.14 In seinen beiden anderen frühen Monographien kommt dieselbe Auffassung, wenngleich an weniger exponierter Stelle, zum Ausdruck: Seine Untersuchung der beiden Makkabäer-Bücher er-

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forschte nicht nur quellenkritisch und philologisch deren Chronologie und Komposition, sondern auch ideologiehistorisch die Konsequen­zen des darin zu Tage tretenden historischen Selbstverständnisses der Juden für ihr politisches Verhalten.JS Seine Untersuchung von Philipp von Makedonien hatte zum Zweck, die Wurzel des für den Hellenis­mus typischen kosmopolitischen Staates nicht erst auf persischen Ein­fluß zurückzuführen, sondern auf die panhellenistischen Ideen vor allem des Isokrates, die auf historischen Theorien über die Entwick­lung und Eigenart der Griechen basierten.J6

Andererseits aber markieren die in diesem Band aufgenommenen Studien zur modernen Historiographie der Antike eine unverkennbare Akzentverschiebung in Momiglianos Entwicklung; um 1946 herum soll er seinen bestürzten Oxforder Freunden von seinem Beschluß be­richtet haben, in Zukunft seine Forschungen auf die Geschichte der Geschichtsschreibung zu beschränken- eine nachvollziehbare, wenn auch vielleicht etwas überspitzte Bemerkung.J7 Dieses veränderte Inter­esse läßt sich wiederum schon quantitativ messen: Während die mehr als zweihundert Artikel, die Momigliano für die Enciclopedia italiana während der dreißiger Jahre verfaßte, überwiegend antike Personen und Themen behandeln (diejenigen über Eduard Meyer und Niebuhr stellten eher Ausnahmen dar), widmet sich die Mehrzahl der Artikel, die er nach dem Zweiten Weltkrieg zur Enciclopedia beisteuerte, zeit­genössischen Historikern und Philologen.lS Diese quantitative Ver­schiebung geht mit einem tiefgreifenden Wandel in Momiglianos Auf­fassung von den Methoden der Wissenschaftsgeschichte einher.

Um es pointiert auszudrücken: Momiglianos frühe Arbeiten wer­den unterschwellig von einer Art idealistischem Wissenschaftsoptimis­mus getragen, der sich unter anderem in einem anscheinend ungebro­chenen Glauben an die Erklärungskraft von ideengeschichtlichen Kategorien ausdrückt. Die Weltgeschichte wird als ein in allen Einzel­heiten und Details letztlich lückenlos verständlicher Prozeß aufgefaßt, dessen Verstehbarkeit darauf beruht, daß sich große, absolut gedachte Ideen wie diejenige der Freiheit über Generationen hinweg in mehr oder weniger bewußten historischen Handlungen entfalten. Genauso wie die Erklärung historischer Ereignisse auf der Annahme weltge­schichtlicher Ideen fußt, wenn sie die ihnen gebührende Dignität er­halten sollen, verfährt auch die Erläuterung wissenschaftshistorischer Werke und Persönlichkeiten primär durch die kausale Bezugnahme auf Schulen, Bewegungen, Perioden, Ideen usw. Momiglianos 1935 veröf­fentlichter Aufsatz über die Entstehung und Funktion des Begriffs

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»Hellenismus« (Text 8 in diesem Band) belegt auf beeindruckende Weise, wie ergiebig sich ein solcher Ansatz in den Händen eines genia­len und belesenen Fünfundzwanzigjährigen einsetzen ließ. Die Struk­tur der europäischen, vor allem der deutschen Geistesgeschichte vom späten 18. bis zum späten 19. Jahrhundert liefert ein stabiles Begriffs­gerüst, in das sich die einzelnen Forscher und Ideen mühelos und über­zeugend einreihen lassen. Aber bei näherem Hinsehen wirken diese Gestalten merkwürdig blutleer: Die Individuen, die die Träger der Wis­senschaftsgeschichte sein sollen, werden weitgehend auf ihre Schriften und Begriffe reduziert; die Ideen scheinen ein Eigenleben zu besitzen, fast so, als benützten sie die Menschen, die sie dachten, lediglich als Werkzeuge der eigenen Realisierung; politische, wirtschaftliche, soziale Hintergründe der Forscherpersönlichkeiten werden weitgehend ausge­blendet.

Vergleicht man diesen frühen Aufsatz mit dem Artikel »J. G. Droy­sen zwischen Griechen und Juden« aus dem Jahr 1970 (Text 9 in die­sem Band), springen die Unterschiede im wissenschaftshistorischen Ansatz ins Auge. Auch hier geht es Momigliano darum, den frühen Droysen von dem späteren zu scheiden, d. h. zu erklären, warum die fruchtbaren kulturhistorischen Ansätze der ersten Ausgabe der Ge­schichte des Hellenismus (1836-43) in der zweiten, eher staatspolitisch aus­gerichteten Ausgabe des Werks (1877 -78) nicht weitergeführt wurden. In Momiglianos früherem Aufsatz war der Rückzug Droysens ein Rät­sel geblieben, das auf der ideenhistorischen Ebene bestenfalls und nicht ganz befriedigend durch den Hinweis auf die hellenozentrische Tendenz der deutschen Tradition und die Schwierigkeit, das römische Reich in ein solches Konzept zu integrieren, beleuchtet werden konnte. Dagegen wendet sich Momigliano in seinem späteren Aufsatz vor allem dem Menschen Droysen zu, in dessen unmittelbarem Familien­kreis er eine große Anzahl konvertierter Juden entdeckt; vor dem Hin­tergrund der damals in Deutschland herrschenden Tabuisierung jüdi­scher Themen wird Droysens Entscheidung, die eigene Beschäftigung mit dem historischen Verhältnis zwischen Judentum und Christentum und damit mit den religiösen und kulturellen Dimensionen des Helle­nismus vorzeitig abzubrechen, unmittelbar nachvollziehbar. Diesmal geht Momigliano nicht so sehr von einer Begriffskonstruktion, son­dern vielmehr von einem historisch detailliert georteten und psycholo­gisch einfühlsam analysierten Individuum aus, dessen Ideen als Reak­tionen nicht nur auf die Ideen anderer entstanden, sondern auch auf die Zwänge und Chancen des eigenen sozialen Lebens.

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Man darf die Unterschiede des späteren Droysen-Aufsatzes zum früheren nicht überbetonen; dennoch ist die Verschiebung in Ansatz und Ausrichtung unverkennbar. Für diese Veränderung lassen sich mindestens zwei Gründe anführen. Erstens hatte Momigliano offen­sichtlich nach seiner eigenen Vertreibung ins Ausland durch den italie­nischen Faschismus, nach der rassistisch motivierten Ermordung von Verwandten und Freunden durch die Hand der Deutschen, nach dem Erlebnis der Katastrophen des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkriegs einigermaßen das Vertrauen in die Haltung eines optimisti­schen Geschichtsidealismus verloren - zumal dieser Idealismus für ihn untrennbar mit seinen Wurzeln in der deutschen Philosophie des frühen 19.Jahrhunderts verbunden blieb.19 Zweitens aber kam hinzu, daß Momigliano durch die Emigration gezwungen wurde, sich in eine ihm fremde Kultur einzufinden, die englische, die eine lange Tradition des wachen (und, wie viele meinen, durchaus gesunden) Skeptizismus gegenüber großen Geschichtsideen (und, wie viele meinen, gegenüber Ideen überhaupt) hegte. So schreibt Momigliano am Anfang seines Aufsatzes »Eine piemontesische Sicht der Ideengeschichte« (Text 1 in diesem Band): »Als ich im Jahre 1939 in Oxford ankam, genügte die Er­wähnung des Begriffs >Idee<, um die Anschrift des Warburg-Instituts zu erhalten.«20 Dieser geänderten geistigen Atmosphäre und diesem neuen Publikum mußte er sich anpassen, wollte er seine Arbeit fortset­zen: Er nahm dies schließlich als geistige Herausforderung und nutzte zumindest teilweise die Chance, sich eine neue eigene Sicht der Welt anzueignen.

Momiglianos Droysen-Aufsatz ist charakteristisch für eine auffal­lige Eigenschaft seiner späteren Praxis der Wissenschaftsgeschichte, nämlich ihre ausgesprochen biographische Tendenz. Immer wieder weist Momigliano nach, inwiefern die tiefgreifenden, nicht immer be­wußten politischen und kulturellen Interessen und Vorurteile der ein­zelnen Forscher der Erforschung der Antike nicht nur unüberwind­liche, mitunter peinliche, Grenzen setzten, sondern auch Ziel und Energie verschafften, ohne die jene wohl gar nicht möglich gewesen wäre. Biographie war eine bevorzugte wissenschaftliche Gattung Mo­miglianos mindestens seit seinen frühen Beiträgen für die Enciclopedia italiana gewesen und wurde zu einem privilegierten Gegenstand seiner theoretischen Reflexion spätestens in den sechziger Jahren mit seinen 1968 an der Harvard University abgehaltenen, 1971 als Buch veröf­fentlichten Vorlesungen zur Entstehung und Entwicklung der griechi­schen Biographie und zu deren Verhältnis zur antiken Historiogra-

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phie.21 In einem gewissen Sinne läßt sich sogar seine Tesi di laurea, in der er versuchte, das Geschichtswerk des Thukydides in verschiedene Schichten zu zerlegen und ihr zeitliches Verhältnis zueinander zu be­stimmen,22 nicht nur als eine gewissermaßen schulmäßige Übernahme der entwicklungsgeschichtlichen Methode verstehen, die Werner Jaeger mit scheinbar großem Erfolg einige Jahre zuvor auf Aristoteles ange­wendet hatte,23 sondern auch als ein erster Versuch, allein mit den nicht immer tauglichen Mitteln der zeitgenössischen Philologie, zum Kern der Persönlichkeit des Thukydides vorzudringen. Bowersock hat mit Recht darauf hingewiesen, daß Momiglianos Interesse an der Kategorie der Person mit zunehmendem Alter immer intensiver und vielschichtiger wurde, bis es in seinen letzten Jahren zu einem (wohl nicht immer ganz bewußten) Medium öffentlicher Selbstanalyse wer­den konnte.24 Dieses verstärkte biographische Interesse des späteren Momigliano verband sich mit einer intensiveren Beschäftigung mit der modernen Wissenschaftsgeschichte in derselben Periode, so daß den in diesem Band vereinigten Studien zur Wissenschaftsgeschichte eine starke biographische Färbung zukommt. Hinzu kommt Momiglianos in seinen letzten Jahrzehnten besonders waches, sehr persönliches Inter­esse an der Religion,25 das nicht nur unter seinen althistorischen Arbei­ten eine Reihe wichtiger Beiträge zur antiken, vor allem zur spätantiken Religiosität (vgl. z.B. in Band 1, TextelO und 12) hervorbrachte, son­dern sich auch in seinen wissenschaftshistorischen Studien derselben Zeit in einer häufig anzutreffenden Betonung der religiösen Dimension der von ihm untersuchten Gelehrtenbiographien niederschlug.

Biographie ist nicht die einzige Weise, Wissenschaftsgeschichte zu praktizieren. Andere Ansätze wurden in den letzten Jahrzehnten mit unterschiedlichem Erfolg ausprobiert: Man kann die Geschichte einer Wissenschaft nicht nur nach einzelnen Wissenschaftlern ordnen, son­dern auch nach Institutionen, Orten, Gruppierungen, Methoden, Pro­blemlösungsstrategien, Gattungen, literarischen Aspekten und ande­ren Gesichtspunkten. Jede dieser Methoden hat Vor- und Nachteile, jede läßt einige Eigenschaften der Phänomene besonders klar hervor­treten und andere dafür im Dunkeln. Momiglianos Beharren auf der Einzelpersönlichkeit als Kriterium seiner Version der Wissenschaftsge­schichte ist jedenfalls keine unreflektierte Fortsetzung älterer hagiogra­phischer Tendenzen der Wissenschaftsgeschichtsschreibung. Es geht vielmehr zum einen auf seine moralische, ja religiöse Auffassung der Bedeutung und der Beschaffenheit einer Kulturtradition zurück (dieser Auffassung werden wir uns am Ende der Einleitung zuwenden); zum

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andern hat Momigliano den Weg der Biographie gerade in bewußter Auseinandersetzung mit modischen Tendenzen polemisch gewählt, namentlich mit Michel Foucaults Verdrängung der Einzelpersönlich­keit aus der Wissenschaftsgeschichte und mit Hayden Whites Beto­nung der literarischen Aspekte der Geschichtsschreibung.26 Jedenfalls gab ihm der biographische Ansatz ein literarisches Modell in die Hand, das, wenn man es beherrschte, eine Reihe nicht zu vernachlässigender erzählerischer Vorzüge brachte: Beständigkeit der bleibenden Charak­tereigenschaften konnte gegen die Veränderung im Zuge der Persön­lichkeitsentwicklung ausgespielt werden; innere Faktoren der angebo­renen Anlage konnten auf vielfältige Weise mit äußeren Einflüssen wie Land, Zeit, Klasse und Konfession in Verbindung treten; die Dynamik eines Lebenslaufs ließ sich durch Ahnen vorbereiten, durch Lehrer ein­leiten, durch wissenschaftliche Werke skandieren, durch Rezeption be­messen und durch den Tod abschließen.

Dabei zeigte sich Momigliano immer auch interessiert am Anekdo­tenhaften, ja Skurrilen, wenn derartige Berichte ihm als Zugang zur komplexen Persönlichkeit eines Wissenschaftlers tauglich erschienen. Er nahm gern in sein Bild eines Gelehrten nicht nur Lehrer, Familie und Eheverhältnisse auf, sondern auch Aussehen und persönliche Schwächen, z. B. Trinkgewohnheiten.27 Dennoch läßt sich Momiglia­nos Ansatz in keiner Weise mit dem haltlosen Gerede über Persönlich­keiten gleichsetzen, der manchmal mit echter Wissenschaftsgeschichte verwechselt wird und den Momigliano zu Recht als unwissenschaftlich verwarf. So schrieb er: »In unserer Zeit besteht die große Gefahr, daß diejenigen, die am geläufigsten über Historiker und Gelehrte reden, nicht gerade viel von Geschichte oder Gelehrsamkeit verstehen. Hous­mans Homosexualität oder Wilamowitz' merkwürdiger Umgang mit seinem Schwiegervater Mommsen ist leichter zu beschreiben als Haus­mans Leistung als Herausgeber des Manilius oder Wilamowitz' Ver­ständnis des Aischylos. Ebenso ist es einfacher, Eduard Meyers politi­sche Streitschriften während des Ersten Weltkriegs zu kritisieren als seine Untersuchung der Papyri von Elephantine oder der ägyptischen Zeitrechnung. Obwohl es schade wäre, wenn man jene unwägbaren Elemente einer Gelehrtenpersönlichkeit vergäße, die ihre verborgene Stärke oder Schwäche ausmachen, müssen wir die Debatte auf die wis­senschaftlichen Leistungen lenken, wenn wir der Gefahr oberflächli­cher und parteiischer Wertungen entgehen wollen.«28

An den Gelehrtenbiographien, die er erforschte, faszinierten Mo­migliano insbesondere die Spuren derjenigen Spannungen und Rei-

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bungen, Hindernisse und Fluchtwege, Mißverständnisse und Verstän­digungen, die sich aus dem Aufeinanderprallen verschiedener Kulturen ergaben. Die unaufhebbaren, manchmal schmerzhaft empfundenen Differenzen von Nation, Region, Zeit, Abkunft, Politik und vor allem Religion setzten die untersuchten Wissenschaftler den Notwendigkei­ten von Entscheidung, Treue oder Verrat aus und eröffneten dadurch dem Wissenschaftshistoriker eine tiefe Einsicht in die jeweilige indivi­duelle Wesensart. Mit einer spannungslosen, friedsamen Wissenschaft­lerpersönlichkeit ohne Widersprüche (vorausgesetzt, so etwas könnte es überhaupt geben) hätte Momigliano vermutlich gar nichts anfangen können - oder er hätte immer weiter geforscht, bis er endlich das Ske­lett einer verschwiegenen Kulturdifferenz im Schrank entdeckt hätte. Die Motive und Folgen, die Chancen und Schwierigkeiten interkultu­rellen Zusammenlebens hatten ihn seit seinen frühesten Arbeiten fas­ziniert- es ist kein Zufall, daß zwei seiner drei frühen Monographien, diejenigen über Philipp von Makedonien29 und über die Makkabäer,30 diesem Thema gewidmet waren. Er selbst führte dieses wissenschaft­liche Interesse auf seine eigene Herkunft zurück: »In einem gewissen Sinne habe ich in meinem Gelehrtenleben nichts anderes getan, als zu verstehen zu suchen, was ich beiden schulde, dem jüdischen Haus, in dem ich erzogen, und dem christlich-römisch-keltischen Dorf, in dem ich geboren wurde.«31 Das heißt aber nicht nur, daß er letzten Endes vornehmlich daran interessiert war - und wer ist das nicht? -, die Widersprüche der eigenen Person zu eruieren,32 sondern auch, daß er dieselben Erkenntnismittel für Autobiographie wie für die Biographie einsetzte- die Komplexität seines eigenen Charakters machte ihn ohne Zweifel für die Komplexitäten anderer besonders empfindlich.

So gesehen ist Interkulturalität das eigentliche Grundthema des ganzen Oeuvres Momiglianos - und zwar nicht nur die synchrone In­terkulturalität der orientalischen, griechischen, römischen, keltischen, jüdischen und christlichen »Hochkulturen im Hellenismus« um »[d]as Dreieck Griechenland-Rom-Judäa«33, die in der Neuzeit besonders in der nie geheilten Wunde der deutsch-jüdischen Beziehung eine tragi­sche Dimension erlangte, sondern auch eine diachrone, die Kulturen aus verschiedenen Epochen miteinander in einem komplizierten Über­lieferungs- und Deutungszusammenhang verbindet, für den die klassi­sche Tradition, die Rezeption der Antike, das historisch wichtigste und facettenreichste Beispiel darstellt. Vielleicht ist dies ein Grund für das allmähliche Hervortreten der Spätantike als Momiglianos Lieblingsge­biet, denn gerade die Spätantike ist sowohl durch die synchrone Inter-

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kulturalität der vielen Völker und Religionen innerhalb des römischen Reichs als auch durch die diachronen des immer größer werdenden hi­storischen Abstands zu der eigenen klassischen Zeit gekennzeichnet­in dieser Hinsicht (und nicht nur in dieser) trägt die Spätantike verblüf­fend moderne Züge.

Gerade dieses Grundthema verleiht Momiglianos Werk eine Ak­tualität und Brisanz unabhängig von den besonderen Themen und Fra­gestellungen, die er behandelte. So wird die Geschichte der Geschichte der Antike in seinen Händen zu einem erstaunlich sensiblen Seismo­graphen, an dem sich die kleinsten wie die größten Erschütterungen im Selbstbild Europas ablesen lassen. Die grundsätzliche Frage, die allen diesen Einzeluntersuchungen meist stillschweigend zugrundeliegt, ist diese: Wie konnte es dazu kommen, daß die europäische Geschichte in unserer Zeit die Ideale der europäischen Geschichtsschreibung auf so furchtbare Weise verriet?

Auf die Katastrophen der europäischen Geschichte des 20. Jahr­hunderts reagierte Momigliano nicht mit Resignation oder Verzweif­lung, sondern mit einer vertieften Überzeugung von der Möglichkeit und Notwendigkeit einer Standortbestimmung der europäischen Kul­tur; und da er in jeder Faser seines Wesens ein überzeugter Historiker war, lag ihm nichts näher, als die eigene Standortbestimmung anhand der Historisierung der eigenen Wissenschaft durchzuführen. Das per­sönliche Thema aller in diesem Band gesammelten Aufsätze ist die Identitätstindung Momiglianos als eines Italieners und eines Juden mit Blick auf die deutsche Wissenschaft, denn er hatte Wurzeln in allen drei Kulturen. Meist wird dieses Thema so allgemein gehalten, daß die Per­son Momiglianos nicht aus den inhaltlichen Einzelheiten, sondern nur aus dem unverkennbaren Tonfall und dem imponierenden Wissen her­vortritt - so die Texte 2 und 3 in diesem Band zum deutsch-italieni­schen Verhältnis, oder die Texte 9 und 12 zum deutsch-jüdischen. Aber hinter dem objektivierenden, leidenschaftlichen aber unpathetischen Stil stand ein Mensch, der gelitten hatte, der hochempfindlich war, und der auch verstand, unter Umständen seine eigene Person direkt und wirksam auf die Bühne zu stellen. Wenige Stellen in Momiglianos Werk vermögen den Leser so zu berühren wie der Schluß seiner Rezension zu der italienischen Übersetzung von Helmut Berves Griechischer Ge­schichte (Text 20 in diesem Band).34 Als Momiglianos langjähriger Geg­ner Piero Treves ihm in diesem Zusammenhang Heuchlerei und Un­redlichkeit vorwarf, reagierte dieser mit einer »Klarstellung« in der er mit der ihn auszeichnenden Würde und Schärfe, aber mit ungewöhnli-

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ehern Pathos unter anderem schrieb: »Dankbarkeit empfinde ich für alle, die mich irgendetwas gelehrt haben: also auch für Professor Piero Treves, auch für Professor Helmut Berve. Aber die Dankbarkeit hat ihre Grenzen. Im Fall Berves sind die Grenzen durch zwei Fakten mar­kiert, ein persönliches und ein allgemeines: a) Das persönliche Faktum ist, daß als Folge der Tätigkeit der Partei, der Berve angehörte, mein Vater, meine Mutter, zwei Onkel und drei junge Cousinen (eine zu­sammen mit einer kleinen Tochter von nur wenigen Jahren) in den Gaskammern von Auschwitz ermordet wurden- um innerhalb meines engsten Familienkreises zu bleiben und nicht von denjenigen zu reden, die zwar überlebten, aber dafür in Körper und Geist ein unauslöschli­ches Leiden tragen. b) Das allgemeine Faktum ist, daß der Aufstand des Warschauer Ghettos für zivilisierte Menschen eines jener Ereignisse darstellt wie die Schlacht von Marathon oder die Einnahme der Ba­stille, hinter die man nicht mehr zurück kann: der heroische Aufstand einer winzigen Minderheit, verachtet, mundtot gemacht, gefoltert, ohne Hoffnung gegenüber denjenigen, die, wie Professor Berve, die Über­legenheit der Folterer theorisierten. >Das zweite Masada wird nicht fal­len<, hat ein jüdischer Dichter unserer Zeit geschrieben.«35

Auf alle Schriften Momiglianos nach dem Zweiten Weltkrieg fällt, direkt oder indirekt, der Schatten von Auschwitz. Da aber die Ge­schichte der modernen Geschichtsschreibung über die Antike seit dem Anfang des 19. Jahrhunderts weitgehend eine deutsche Geschichte ist - Momigliano behauptete einst, in seiner Jugend hätte die Regel gegol­ten, um persische Geschichte zu studieren, müsse man griechisch kön­nen, aber um griechische Geschichte zu studieren, müsse man deutsch lernen36 -, könnte man vielleicht erwarten, daß dieser Schatten auch Momiglianos Grundeinstellung zur deutschen Wissenschaft verfin­stern würde. Aber es wäre nicht nur vordergründig, sondern einfach falsch, in diesen Arbeiten die Absicht oder gar den Vollzug der De­struierung der deutschen Wissenschaftstradition zu sehen. Im Gegen­teil: Momigliano ist immer darum bemüht, den von ihm behandelten Gelehrten Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, und da er in jedem Fall die großen Figuren der historischen Wissenschaft zum Thema ausge­wählt hat, bedeutet Gerechtigkeit, im Einzelfall nicht nur die Grenzen der jeweiligen Leistung herauszustellen, sondern vor allem deren Größe. Wenn die Historie im allgemeinen das Geschehene aus der Ver­gangenheit des Vergessens in die Gegenwart einer erneuerten Wirk­samkeit zurückholen will, dann leistet auch Momiglianos Historie der Geschichtsschreibung eine rettende Vergegenwärtigung: »[ ... ] in der

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Scuola Normale in Pisa wurde Usener plötzlich für uns alle wieder le­bendig; wir waren gute sechzig oder siebzig Leute im Hörsaal und spra­chen vier Tage über ihn. Wir hatten das Gefühl, daß U seners besondere Anwendung der Philologie zur Klärung von Problemen der Religion und der Gebräuche- und insbesondere Probleme des Übergangs vom Heidentum zum Christentum - uns etwas sagte. Der alte Banner Pro­fessor, der 1905 gestorben war, war plötzlich zu einem wirklichen Leh­rer an der Scuola Normale in Pisa geworden[ ... ].«37

Momigliano sah sich als Glied einer jahrtausendelangen Kette, die aus Generationen von Gelehrten bestand, die sich alle um historische Kenntnis bemühten38. Eines Platzes in dieser Kette würdig zu sein, hieße, in dankbarer Erinnerung das den Vorgängern Geschuldete ge­genwärtig zu halten und es denN achfolgern ehrlich und einprägsam zu vermitteln. Seine Worte über den verstorbenen deutsch-jüdischen klas­sischen Philologen Eduard Fraenkellassen sich auch auf Momigliano selbst anwenden: »Seinen Lehrern bewies er eine ehrerbietige Anhäng­lichkeit und zeigte sich stolz auf das, was er von ihnen gelernt hatte. [ ... ] Sein wichtigstes Anliegen war weiterzugeben, was er selbst emp­fangen hatte. Er wollte nicht mehr als ein Glied in der Kette von Über­mitdem sein.«39 Deshalb geht auch jede dieser Arbeiten über die Schil­derung eines Einzelschicksals in eine programmatische Dimension über: Aus jeder lernen wir nicht nur, wie ein Mensch lebte und arbei­tete, sondern auch, wie wir als Menschen leben und arbeiten sollen. Es ist dieser moralische, fast religiöse Ernst, der erklärt, warum für Mo­migliano die Wissenschaftsgeschichte viel zu wichtig war, um als Bob­bybeschäftigung für gelangweilte Mußestunden oder als eine Alterna­tive zur eigentlichen wissenschaftlichen Arbeit nur nebenbei ausgeübt zu werden.40 Gleichzeitig verleiht er seiner lapidaren Feststellung, daß »die einzige Rechtfertigung für die Geschichte der Gelehrsamkeit [ ... ] die Förderung der Gelehrsamkeit selbst<(l1 sei, erst ihre wirkliche Tiefe. Daß dabei das Moralische Momiglianos niemals ins Moralisierende ab­gleitet, liegt an seiner Ehrlichkeit als Mensch, an seiner Unbestechlich­keit als Wissenschaftler und an seiner Brillanz als Schriftsteller.

Daher wohl auch ist der Eindruck, der bei der Lektüre dieses Bands bleibt, weniger der eines abstrakten geistesgeschichtlichen Kontinuums als vielmehr der einer farbigen Folge von brillanten, selbstaufopfernden, manchmal exzentrischen, gelegentlich verschro­benen Individuen- Individuen, in denen sich vieles von dem Besten, was die europäische Kultur der letzten beiden Jahrhunderten anzu­bieten hatte, verdichtet hat - Individuen wie Creuzer, Niebuhr und

Einleitung XIX

Grate; wie Droysen, Bernays und Burckhardt; wie Pustel de Coulan­ges, Max Weber und Michael Rostovtzeff; wie Momigliano selbst.

Die Essays in diesem Band sind nach den in den Contributi gedruckten Texten übersetzt worden. Die Übersetzer haben die Zitierweisen der antiken Quellen nach der Liste der Autoren und Werktitel im »Neuen Pauly« weitgehend vereinheitlicht, wobei sie offensichtliche Fehler still­schweigend verbessert und unvollständige Literaturangaben ergänzt haben. Die den Aufsätzen vorangestellten knappen Einführungen stammen vom Herausgeber dieses Bandes. Die mühselige Erstellung des Namenregisters für alle drei Bände, das sich am Ende dieses Ban­des befindet, wurde durch Christian Kässer, Julia Ostertag und Seba­stian Zerhoch nach Vorarbeiten in Berlin von Vera Ziegeldorf und Prof. Dr. Wilfried Nippel, der auch viele Detailfragen klären half, in Heidelberg durchgeführt; Christian Kässer und Sebastian Zerhoch ver­besserten nicht nur den deutschen Stil, sondern auch die Gedanken­führung der knappen Einführungen in die Aufsätze sowie der Einlei­tung in diesen Band. Allen Genannten, sowie dem zuständigen Lektor beim Metzler-Verlag, Dr. Oliver Schütze, gebührt mein herzlicher Dank.

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