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Momentaufnahmen / Instantanés von Stéphane Mosès 1. Auflage Momentaufnahmen / Instantanés – Mosès schnell und portofrei erhältlich bei beck-shop.de DIE FACHBUCHHANDLUNG Suhrkamp Frankfurt;Berlin 2010 Verlag C.H. Beck im Internet: www.beck.de ISBN 978 3 518 42152 9

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Leseprobe

Mosès, Stéphane

Momentaufnahmen / Instantanés

Deutsch und französisch Herausgegeben von Sigrid Weigel

© Suhrkamp Verlag

978-3-518-42152-9

Suhrkamp Verlag

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SV

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St�phane Mos�sMomentaufnahmen

Instantan�sDeutsch und franzçsisch

Herausgegeben und mit einem Vorwortvon Sigrid Weigel

Suhrkamp

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Mit �bersetzungen aus dem Franzçsischenvon Dirk Naguschewski (Momentaufnahmen 1 und 2)

und Clemens H�rle (Momentaufnahmen 2)

� Suhrkamp Verlag Berlin 2010Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der �bersetzung,

des çffentlichen Vortrags sowie der �bertragung durchRundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form

(durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren)ohne schriftliche Genehmigung des Verlags reproduziert

oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet,vervielf�ltigt oder verbreitet werden.

Satz: H�mmer GmbH, Waldb�ttelbrunnDruck: Druckhaus Nomos, Sinzheim

Printed in GermanyErste Auflage 20210

ISBN 978-3-518-42152-9

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Vorwort

Von der Berliner Kindheit in den Anfangsjahren der Nazizeitbis zum Eintritt in die franzçsische Universit�tsausbildungreichen die Erinnerungen von St�phane Mos�s, die er in Formeinzelner Bilder erz�hlt. Der Autor zahlreicher philosophi-scher, literaturkritischer und kulturwissenschaftlicher B�cher,der – wenn es um das Gespr�ch zwischen j�discher Tradi-tion und Moderne geht – sowohl in Deutschland als auchin Frankreich und Israel zu den f�hrenden Intellektuellen ge-hçrt, hat die hier publizierten Texte w�hrend seiner letztenLebensjahre aufgeschrieben. Der grçßte Teil der Szenen ausseiner Kindheit und Jugend spielt im marokkanischen Exil,wohin der Sechsj�hrige zusammen mit seinen Eltern emi-griert war. 1937 war es ihnen gelungen, auf dem Wege �berAmsterdam dorthin zu entkommen; ein Teil der Verwandt-schaft hatte schon 1933 Deutschland verlassen, die Groß-eltern kamen 1939 nach. Als Sohn deutscher Juden war St�-phane Mos�s 1931 in ein Milieu hineingeboren worden, dasnoch den Bildern aus Walter Benjamins Berliner Kindheitum Neunzehnhundert glich. Davon erz�hlt die Szene vomsonnt�glichen Bridge-Nachmittag in der großz�gigen b�r-gerlichen Wohnung der Großmutter in Charlottenburg; mitihr setzt der zweite Teil der Momentaufnahmen ein.Der erste Teil der Momentaufnahmen umfaßt die Zeit von1933 bis in die Nachkriegsjahre in Marokko, er endet beimEintritt des Achtzehnj�hrigen in das Lyzeum von Casablan-ca. Die Momentaufnahmen 2 setzen erneut im Jahr vor derEmigration ein, 1936, dem Jahr der Olympischen Spiele in

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Berlin, und verfolgen den Weg des jungen St�phane, der 1951mit einem Stipendium nach Frankreich aufbrach, bis insJahr 1953, kurz vor die Tore der Rue d’Ulm, des legend�renOrts der ›�cole Normale Sup�rieure‹ (ENS) von Paris; dortwird er in der franzçsischen Kultur angekommen sein. Dennals Eintrittskarte f�r die Zugehçrigkeit zur herrschenden Kul-tur gilt im Frankreich des 20. Jahrhunderts nicht mehr dieTaufe, wie zu Zeiten Heinrich Heines – von ihm stammtder Satz »Der Taufzettel ist das Entr�ebillet zur europ�ischenKultur« –, sondern der Besuch einer Einrichtung des hç-heren Bildungssystems. Selbst seinen Namen hat der Autorder Momentaufnahmen weder durch Taufe, Geburtsurkun-de oder ein religiçses Ritual erhalten; den Namen St�phaneMos�s tr�gt er seit eben dem Augenblick, da er Franzosewurde: noch in Marokko, im April 1944 bei seiner Natura-lisierung, nach dem Ende des Vichy-Regimes.Die Auswirkungen, die der Verlauf des deutschen Krieges ge-gen Europa auf das Leben des Jungen im marokkanischenExil hatte, sind symptomatisch f�r viele aus Deutschlandemigrierte Juden. Im September 1939 (in unmittelbarer Fol-ge der Kriegserkl�rung Frankreichs an Deutschland als Re-aktion auf den Einmarsch in Polen) wurde die Familie vonden Behçrden der franzçsischen Protektoratsregierung ver-haftet und unter polizeiliche Aufsicht gestellt, weil sie zurGruppe der »feindlichen Ausl�nder« z�hlte. Nur zweieinhalbJahre sp�ter wurde dieselbe Familie f�r knapp ein Jahr inter-niert, diesesmal wegen ihrer j�dischen Herkunft – im April1942, nachdem das Vichy-Regime begonnen hatte, dem deut-schen Druck nachzugeben und gegen Juden vorzugehen. An-sonsten sind Mos�s’ marokkanische Kinder- und Jugendjahre

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durch wechselnde Aufenthaltsorte gepr�gt: Rabat, Mazagan,Casablanca, Marrakesch. Wenn beim Klang dieser Ortsna-men den Lesern Bilder aus dem 1942 gedrehten Film Casa-blanca vor dem inneren Auge auftauchen – die Gestaltenvon Humphrey Bogart und Ingrid Bergman oder das Wett-singen zwischen Marseillaise und deutscher Nationalhymnein der Bar von Casablanca –, dann werden diese Filmbilderin Mos�s’ Erinnerungen erg�nzt und konterkariert durch Ein-dr�cke aus einem Alltag, der sich zu gleicher Zeit auf Schau-pl�tzen jenseits der Leinwand abspielte.Obwohl das Judentum im Maghreb traditionell verwurzeltwar und die dortige Kultur seit Jahrhunderten stark gepr�gthatte, mußte der nach Marokko verschlagene Junge lernen,daß er hier vollst�ndig fremd war: nicht nur in der franzç-sischsprachigen Schule und gegen�ber der nicht-j�dischenMehrheit des Landes, in der damals die Angehçrigen derfranzçsischen Verwaltungselite den Ton angaben – der grç-ßere Teil Marokkos war von 1912 bis 1956 franzçsischesProtektorat (ein kleiner Teil spanisches Protektorat). Auchf�r die j�dischen Kinder des Maghreb war der Junge ausDeutschland ein unbekanntes Wesen. Mos�s hat ebenso ein-dringliche wie knappe Bilder gefunden, um diese Erfahrun-gen zu schildern. So den ersten Schultag, den der Sieben-j�hrige in einer franzçsischen Schule in Rabat erlebt: »AlleKinder stehen. Die Lehrerin sagt etwas, was ich nicht ver-stehe; alle setzen sich, ich bleibe stehen.« Oder den erstenSchultag des Elfj�hrigen, f�nf Jahre sp�ter in der j�dischenPrimarschule ›Alliance Isra�lite‹ des kleinen K�stenortes Ma-zagan, wo ihm alle marokkanisch-j�dischen Mitsch�ler hin-terherlaufen: »Wenn ich stehenbleibe, bleiben sie stehen; so-

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bald ich weitergehe, gehen sie mir nach. Mir wird klar, daßich f�r sie ein Unikum bin: das erste nicht-marokkanischej�dische Kind, dem sie je begegnet sind.« Und doch solltedie Geschichte nicht wenige dieser maghrebinischen Judenan denselben Ort bringen, zu dem auch Mos�s sp�ter aufge-brochen ist, 1969, als er mit seiner Frau, der Malerin LilianeKlapisch, und den drei Kindern nach Jerusalem �bersiedelte,dorthin, wohin nach der Staatsgr�ndung Israels auch vieleJuden aus Marokko gegangen waren.Dazwischen lagen die Jahre in Paris, von denen die Erinne-rungen nicht mehr erz�hlen. Dennoch sind die Momentauf-nahmen in Ton und Gestus merklich von dem intellektuel-len Zusammenhang dieser Zeit gepr�gt: dem Studium ander ENS und an der Sorbonne, der dortigen T�tigkeit als Ger-manistikdozent, den Positionen als Matre-Assistent an derUniversit� Paris X Nanterre und als Leiter der �cole d’Or-say, eines Zentrums franzçsisch-j�discher Kultur. Mit vie-len der bedeutendsten Vertreter der j�dischen Intellektuel-len in Paris – u. a. mit den Philosophen Jacques Derridaund Emmanuel L�vinas, der Psychoanalytikerin Julia Kri-steva, dem Autor Edmond Jab�s und dem Biologen HenriAtlan – stand Mos�s zeitlebens im Gespr�ch. Zu gleicherZeit hat er sich der Tradition der deutsch-j�dischen Lite-ratur und Philosophie gewidmet (Franz Rosenzweig, Her-mann Cohen, Gershom Scholem, Walter Benjamin und Sig-mund Freud ebenso wie Heinrich Heine, Franz Kafka undPaul Celan) – dies neben der Auseinandersetzung mit denKlassikern der deutschsprachigen Literatur (vor allem JeanPaul, Goethe, Schiller, Thomas Mann) und neben dem Stu-dium der Quellen des Judentums, das einen immer wichti-

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geren Platz in seinem Leben und seinen Schriften einneh-men sollte.Die Momentaufnahmen stehen mit ihren eindr�cklichen Er-innerungsbildern aus dem 20. Jahrhundert als literarischesZeugnis f�r sich. Sie erhellen aber auch den Erfahrungshori-zont eines Intellektuellen, dem eine einzigartige Mittlerstel-lung zwischen j�dischem Denken, franzçsischer Philosophieund deutschsprachiger Literatur zukommt. Durch den Auf-bau einer Germanistikabteilung an der ›Hebr�ischen Univer-sit�t in Jerusalem‹ in den siebziger Jahren und durch die dor-tige Gr�ndung des ›Franz Rosenzweig Forschungszentrumsf�r deutsch-j�dische Literatur und Kulturgeschichte‹ 1990hat Mos�s eine systematische Auseinandersetzung mit derdeutschsprachigen Tradition in Israel begr�ndet. Den Fran-zosen hat er in seinen Pariser Seminaren das deutsch-j�di-sche Denken n�hergebracht, vor allem die Schriften vonScholem – in Jerusalem sein Nachbar, Kollege und Freund –,Benjamin und Rosenzweig. Diesem Denken sind auch seinewichtigsten B�cher gewidmet.Ging es in der Dissertation 1970 noch um die literarischeWahlverwandtschaft zwischen Jean Paul und Thomas Mann(Une affinit� litt�raire, 1972), so formuliert das folgendeBuch �ber Franz Rosenzweigs Stern der Erlçsung bereits eineaus der j�dischen Tradition gewonnene Position der Moder-ne, die sich mit dem Namen von St�phane Mos�s verbindet,ein J�disches Denken in einer Welt ohne Gott (2001) – so dasMotto der Festschrift, die er zum siebzigsten Geburtstag er-halten hat. Der Titel seines Buches �ber die Philosophie Ro-senzweigs, Syst�me et R�v�lation (1982, dt. 1985: System undOffenbarung), schl�gt eine Br�cke zwischen zwei entgegen-

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gesetzten Erkenntnisweisen, wenn er eine der Religion ent-stammende Haltung mit einem Moment von RosenzweigsHegelrezeption, dem Systemdenken, verkn�pft – worin einsp�tes Echo des einf lußreichsten franzçsischen Hegel-Inter-preten Jean Hyppolite deutlich wird, den Mos�s zu seinenwichtigsten Lehrern z�hlte. In den Spuren der Schrift. Von Goe-the bis Celan (1987) erl�utert Mos�s seinen Begriff von Mo-derne: »Der andauernde S�kularisierungsprozeß hat die vonder j�disch-christlichen Tradition �berlieferten Grundbegrif-fe – wie Schçpfung, Offenbarung und Erlçsung – derartig inFrage gestellt, daß ihre urspr�ngliche Bedeutung heutzutagegar nicht mehr faßbar ist. Aber gerade ihr Verschwinden hateinen leeren Raum geschaffen, in dem der Geist der Moder-nit�t sich entwickelt hat.« Nicht nur in diesem Geist erweistder Autor der Momentaufnahmen sich als Erbe Walter Ben-jamins.Dessen dialektisches Bild vom ›Engel der Geschichte‹, dasin der Benjamin-Rezeption zu einer – der Geschichte ent-hobenen – Metapher zu gerinnen drohte, hat St�phane Mo-s�s’ Untersuchung �ber die Figurationen des Engels im Ge-schichtsverst�ndnis von Rosenzweig, Benjamin und Scholem,Der Engel der Geschichte (1994), in einen soliden religionsge-schichtlichen und erkenntnistheoretischen Zusammenhanggestellt. Das Buch betreibt zugleich eine Auseinandersetzungmit der S�kularisierung im Horizont der Sprache, die denLeitfaden f�r sein Denken darstellt – darin vielen anderen j�-dischen Intellektuellen in der Moderne verwandt. Eine derZehn Lekt�ren der Bibel (1999, dt. 2004), das Kapitel �berdie Un�bersetzbarkeit der Namen in der hebr�ischen Bibel,zuvçrderst der Gottesnamen, enth�lt einen Schl�sseltext f�r

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diese Art Sprachdenken. Mos�s zeigt, wie deren Vieldeutig-keit in den �bersetzungen jeweils auf einen Aspekt reduziertwird, je nachdem, ob Klang oder Bedeutung favorisiert wer-den, und leitet daraus eine unhintergehbare Grenze ab, dieunterschiedliche Sprach- und Denkwelten trennt: »Die eine –und zwar die hebr�ische Konzeption – privilegiert das freieSpiel der Signifikanten, w�hrend die andere – n�mlich die grie-chische Konzeption – auf der Logik der Signifikate insistiert.«Aus der Faszination f�r diese Grenze ist St�phane Mos�s’�bersetzungsarbeit zwischen den Kulturen entstanden.

Den Beginn seiner babylonischen Lekt�ren erhellen einigeSzenen der Momentaufnahmen, vor allem die schçne Be-schreibung der h�uslichen Bibliothek mit ihrem Grundbe-stand an deutschsprachigen B�chern, die die Eltern ins Exilgerettet hatten, und den hinzugekommenen Titeln franzç-sischer Literatur, die f�r den Adoleszenten besonders ver-f�hrerisch waren. Noch vor dem b�rokratischen Akt derNaturalisierung zum Franzosen hatte sich die sprachlicheUmb�rgerung des j�dischen Emigranten aus Deutschlandvollzogen. W�hrend zu Hause Hochdeutsch gesprochen wur-de, w�hlte der Junge, dem das Franzçsische in Marokko zurMuttersprache geworden war, in der Schule das Deutscheals erste Fremdsprache. Die Zweisprachigkeit der vorliegen-den Erinnerungen von St�phane Mos�s spiegelt insofern sei-nen intellektuellen Ort: stets zwischen und in mehreren Spra-chen und Kulturen zugleich. Da es nicht die eine Sprachegibt, die sein ganzes Leben und Denken bestimmt hat, ge-hçrt die Zweisprachigkeit seines R�ckblicks zu dieser Lebens-geschichte selbst. Sie ist Ausdruck und Gegenstand seiner

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Erinnerungen zugleich und gibt den Momentaufnahmen ih-ren ganz eigenen Charakter.Mos�s hat seine autobiographischen Erinnerungen in deut-scher Sprache aufzuschreiben begonnen, der ersten Mutter-sprache und ersten Fremdsprache seiner Kinderjahre. Als erdiese Momentaufnahmen auch seinen franzçsischen Lesernvorstellen wollte, hat er den eigenen Text selbst ins Franzçsi-sche �bersetzt, in seine zweite Muttersprache. Dabei wurdemanches weiter ausgef�hrt, erg�nzt und hinzugef�gt, so daßdie franzçsische �bersetzung, unter dem Titel Instantan�s,das deutsche Original – vom Umfang her – hinter sich ge-lassen hat. Als Mos�s dann, ermuntert durch Freunde undLeser, aber auch bedr�ngt durch seine Krankheit, sich daranmachte, seine Erinnerungen fortzusetzen, schrieb er diesenzweiten Teil in franzçsischer Sprache.Obwohl die Momentaufnahmen beim Tod von St�phaneMos�s im Dezember 2007 nicht abgeschlossen waren, sindsie dennoch kein Fragment. Die Gattung, die er f�r seineAutobiographie gew�hlt hat, eine Serie von einzelnen Augen-blicken und Schaupl�tzen, hat es ihm erlaubt, jeweils Zyklenvon Erinnerungsbildern aufzuschreiben und diese abzuschlie-ßen. Das wird deutlich am zweiten, an seine franzçsischenLeser adressierten Teil, den er noch einmal mit der BerlinerKindheit beginnen l�ßt und bis zur Ankunft in Paris fort-schreibt – erg�nzt um eine viel sp�tere Szene aus dem PariserMai 1968. Sie ist dem Freund Paul Celan gewidmet. Diesesletzte St�ck der vorliegenden Momentaufnahmen gibt eineAhnung davon, wie die Erinnerungen h�tten fortgesetzt wer-den kçnnen, wenn es Mos�s mçglich gewesen w�re, daranweiterzuschreiben.

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Was uns mit diesem Buch vorliegt, ist eine zweistr�ngige Per-lenkette von Augenblicken aus der Kindheit und Jugend imExil. Was uns fehlt, ist ihre Anreicherung um weitere Str�n-ge mit Szenen eines Lebens und Schreibens zwischen Litera-tur und Philosophie, zwischen Jerusalem, Paris und vielenanderen Orten dieser Welt – wie etwa Berlin, wohin er imletzten Jahrzehnt seines Lebens immer h�ufiger kam: Bildereiner Existenz, die unter dem Motto eines ›j�dischen Den-kens in einer Welt ohne Gott‹ stand.

Sigrid Weigel, Oktober 2009

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MomentaufnahmenInstantan�s

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Berlin 1933*: Onkel Lino und Tante Vobi (das sind nat�rlichnur Spitznamen) nehmen vor ihrer Auswanderung von unsAbschied. Beide sind Zahn�rzte. Mein Onkel war der Leitereiner Gewerkschaftsklinik, und als solcher ist er unmittelbargef�hrdet. Sie fahren mit ihrem achtj�hrigen Sohn nach Spa-nisch-Marokko. Davon weiß ich damals nichts, als ich inder Albrecht-Achilles-Straße in meinem Kinderbett liege unddie Schwester meiner Mutter mich zum Abschied k�ßt.

Berlin 1936: Vom Balkon meiner Großeltern, Ecke Wilmers-dorfer Straße/Kurf�rstendamm, sehe ich der Erçffnungs-parade der Olympischen Spiele zu. Ein Mann in braunerUniform steht in einem offenen Wagen und gr�ßt die lautjubelnde Menge mit ausgestrecktem Arm. Ich frage meineMutter: »Wer ist der Mann?« Sie zieht mich vom Balkonweg und sagt mir nur: »Das ist nichts f�r dich.«

Berlin 1937: Ich marschiere mit einer Gruppe von anderenj�dischen Kindern in der zentralen Allee der Fasanenstra-ße-Synagoge auf und ab und schwinge eine kleine Fahne,auf deren Mast ein Apfel steckt. Mein Vater sitzt auf einerHolzbank und l�chelt mir jedesmal zu, wenn ich an ihm vor-beigehe.

* Im dt.Text u. der franz. �bersetzung abweichende Jahreszahlen

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Berlin 1934*: J’ai trois ans. La sœur de ma m�re prend cong�de nous la veille de son �migration. Son mari �tait parti entoute h�te un an plus t�t. Tous deux sont dentistes. Mononcle dirigeait une clinique syndicale, et de ce fait se trouvaitdirectement menac�. Ma tante se pr�pare le rejoindre auMaroc espagnol en compagnie de leur petit garÅon �g� dehuit ans. Je ne sais rien de tout cela, lorsque, couch� dansmon lit d’enfant, je vois ma tante m’embrasser et me direadieu.

Berlin 1936: Du balcon de mes grands-parents, angle Kur-f�rstendamm et Wilmersdorferstrasse, j’assiste la paraded’ouverture des jeux olympiques. Debout dans une voitured�couverte, un personnage en uniforme brun salue, le brastendu, la foule enthousiaste qui l’acclame. Je demande ma m�re: »Qui est cet homme?« Elle me tire par le bras versle fond de l’appartement et me dit seulement: »Viens, cen’est pas pour toi.«

Berlin, 1937: Je d�file, en compagnie d’autres enfants, dansl’all�e centrale de la synagogue de la Fasanenstrasse en agi-tant un petit drapeau en papier sur la hampe duquel est plan-t�e une pomme en sucre d’orge. Mon p�re est assis sur undes bancs en bois et me sourit chaque fois que je passe de-vant lui.

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Amsterdam 1937: Mein Vater erwartet uns (meine Mutter,meinen kleinen Bruder und mich) am Bahnsteig bei der An-kunft des Zuges aus Berlin. Ich erkenne ihn nicht wieder.(Er war drei Monate fr�her nach Holland gefahren, um un-sere Emigration vorzubereiten.)

Wir wohnen in einer kleinen Pension, die von einem polnisch-j�dischen Ehepaar gef�hrt wird. Ihre Tochter Rita ist 16 Jahrealt. Ich sehe sie noch vor mir, wie sie oben auf der Treppe steht,die zu unserer Etage f�hrt, und »Bei mir bist du schein« vorsich hin singt, einen damals sehr beliebten jiddischen Schlager.(Seither kann ich dieses Lied nicht mehr hçren, ohne an Ritazu denken und daran, was aus ihr zweifellos geworden ist.)

Wir sind in eine weniger zentral gelegene, billigere Unterkunftumgezogen. Meine Mutter leidet an Typhus, man bringt sie inein Krankenhaus. Ich sitze auf einer Treppenstufe, w�hrend diebeiden Pfleger sie auf einer Trage mitnehmen. Ich denke, daßich sie nie wiedersehen werde.

W�hrend meine Mutter im Krankenhaus liegt, schlafe ich ausAngst vor einer mçglichen Ansteckung auf dem H�ngeboden.Mein Vater kommt jeden Abend, um mir gute Nacht zu sagenund mit mir das Abendgebet zu sprechen: »Zu meiner RechtenMichael, zu meiner Linken Gabriel, vor mir Uriel, hinter mirRaphael und �ber meinem Haupte die Gegenwart Gottes.«

1937: In einem Amsterdamer Kindergarten beschimpfenmich holl�ndische Kinder als »schmutzigen Deutschen«. Ichspreche deutsch und holl�ndisch.

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Amsterdam, 1937: Mon p�re nous attend, ma m�re, monfr�re et moi, sur le quai de la gare l’arriv�e du train venantde Berlin. Je ne le reconnais pas. (Il �tait parti en Hollandetrois mois avant nous pour pr�parer notre �migration.)

Nous logeons dans une pension de famille tenue par un cou-ple de juifs polonais. Leur fille, Rita, a 16 ans. Je la revois, auhaut de l’escalier menant l’�tage, fredonnant »Bei mir bistdu schein« (»Pour moi, tu es belle«), une rengaine yiddishen vogue l’�poque. (Depuis, je ne peux plus entendre cettechanson sans penser Rita, et ce qu’elle est sans doute de-venue.)

Nous avons d�m�nag� pour un logement moins central etmoins cher. Ma m�re a la typhode, on la transporte l’h�-pital. Je suis assis sur une marche de l’escalier pendant quedeux infirmiers l’emm�nent sur un brancard. Je pense queje ne la reverrai jamais.

Pendant que ma m�re est l’h�pital, je dors dans une sou-pente, de peur d’une contagion possible. Tous les soirs, monp�re vient me dire bonne nuit et r�cite avec moi la pri�redu soir: »� ma droite Micha�l, ma gauche Gabriel, devantmoi Uriel, derri�re moi Rapha�l, et au-dessus de moi la pr�-sence de Dieu.«

1937: Dans une �cole d’Amsterdam des enfants hollandaisme traitent de »sale boche«. Je parle n�erlandais et allemand.

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Sommer 1938: Das Schiff aus Rotterdam landet in Casa-blanca. Es ist unertr�glich heiß, Fliegenschw�rme umwir-beln uns. Wir steigen aus und suchen auf gut Gl�ck ein Re-staurant. Plçtzlich legt sich mein zweij�hriger Bruder aufden B�rgersteig und will nicht mehr weiter.

Herbst 1938, Rabat: mein erster Schultag in einer franzçsi-schen Schule. Alle Kinder stehen. Die Lehrerin sagt etwas,was ich nicht verstehe; alle setzen sich, ich bleibe stehen.

Einige Wochen sp�ter: Die Lehrerin bringt uns ein Lied bei,das wir auswendig lernen sollen. Ich erinnere mich noch andie ersten beiden Zeilen:»Großmutters schçne M�rchen,die man sich am Kamin erz�hlt . . .«Stolz sage ich sie zuhause auf. Aber ich habe �berhaupt keineAhnung, was sie bedeuten sollen. Meine Großmutter, die ichsehr verehrte, hatte mir nie M�rchen erz�hlt; und ich hattenicht die leiseste Ahnung, was ein »Kamin« sein sollte.

Auf dem Schulweg kommt ein Kind auf mich zu, das kaum �l-ter ist als ich, und fragt mich unvermittelt: »Kleiner, bist duein Jude?« Offenbar zufrieden mit meiner Antwort, entferntsich der unbekannte Junge wieder. Ich habe ihn niemals wie-dergesehen.

In unserer mçblierten Wohnung in der Rue Paul Tirard throntein großes Radio von TSF. Wenn das marokkanische Haus-m�dchen, das einmal die Woche kommt, um den Haushalt

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