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FÜR SIE 20/2008 173 Reportage Mit der Zukunft im Rücken In der Hochebene Boliviens tickt die Zeit anders als im Rest der Welt: Das Volk der Aymara denkt, die Vergangenheit liege vor, die Zukunft hinter ihnen FOTOS: LUKAS COCH · TEXT: TONI KEPPELER Tradition & Moderne Die Aymara sind nur eine von rund einem Dutzend indianischer Ethnien, die in Bolivien die Mehrheit der Bevölkerung ausmachen. Sie leben fast noch so einfach wie vor 100 Jahren. In El Alto, einer Stadt oberhalb von La Paz, dagegen zeigt sich das moderne Bolivien 172 FÜR SIE 20/2008

Mit der Zukunft im Ruecken

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FUER SIE 20/2008

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FÜR SIE 20/2008 173

Reportage

Mit der Zukunft im RückenIn der Hochebene Boliviens tickt die Zeit anders als im Rest der Welt: Das

Volk der Aymara denkt, die Vergangenheit liege vor, die Zukunft hinter ihnenFOTOS: LUKAS COCH · TEXT: TONI KEPPELER

Tradition & Moderne Die Aymara sind nureine von rund einemDutzend indianischerEthnien, die inBolivien die Mehrheitder Bevölkerungausmachen. Sie lebenfast noch so einfachwie vor 100 Jahren. In El Alto, einer Stadtoberhalb von La Paz,dagegen zeigt sichdas moderne Bolivien

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Reportage

Anderes Zeitgefühl Ein Sohn beobachtet seinen Vater, wie er gemächlich auf den Titicacasee hinausfährt

sie einem Esel auf den Rücken und zer-ren das störrische Vieh an seinemStrick nach Hause. Das Leben in Compi spielt sich ab wievor tausend Jahren. Natürlich mit einpaar Einsprengseln der Moderne: DasDorf liegt an einer der wenigen durch-gehend geteerten Straßen Boliviens.Alle halbe Stunde kommt ein Kleinbusvorbei, der in die gut zwei Stunden ent-fernte Hauptstadt fährt. In EmamanisHaus dudelt ein Radio, und er besitztsogar ein Handy. Doch wenn er erzählt,redet er nur von der Vergangenheit.Dass sein Vater glücklich war, wenn er Tiere hatte – einen Esel, vielleichteine Kuh, ein paar Schweine und einpaar Hühner; und wenn das Haus nachder Ernte voller Vorräte war. „Das warfür ihn ein gutes Leben.“ Für den Sohngilt dasselbe noch heute. „Mein Vaterwollte nicht glauben, dass es Autosgibt, die sich von selbst bewegen“, er-zählt er. „Er musste erst eines fahrensehen.“ Emamani kennt Autos von Kin-desbeinen an. Er hat auch schon Flug-zeuge fliegen sehen und weiß deshalb,dass so etwas existiert.

Aber sonst ist in Compi alles so, wie esimmer war. Man spricht kein Spa-nisch, sondern Aymara, die Sprachedes gleichnamigen Volkes, zu dem dieEinwohner des Dorfes und rund einViertel der neun Millionen Bolivianergehören. Gibt es Streit, spricht ein Frie-densrichter Recht nach den traditio- π

angsam, fast im Zeitlu-pentempo, rudert Silve-rino Emamani durchsSchilf. Vor ihm liegt Com-pi, ein Dorf mit gerade

einmal 50 Häuschen, einer Kirche undeinem Friedhof. In seinem Rücken dieWeite des Titicacasees. Die Sonnesticht, aber sie wärmt nicht. VierzehnMinuten könne man sich heute auf derHochebene Boliviens ihrer UV-Strah-lung aussetzen, ohne Schaden zu neh-men, stand am Morgen in den Zeitun-gen in der Hauptstadt La Paz. Silveri-no Emamani ist den ganzen Tag in derSonne. Hier draußen am Titicacaseetickt die Zeit anders.

Man bewegt sich langsamer, um nicht außer Atem zu kommen. In fast4000 Meter Höhe ist die Luft sehrdünn. Emamani rudert gemächlich.Am Ufer, auf den winzigen Feldern,klauben die Frauen in aller Seelen-ruhe mit kurzstieligen Hacken die Kartoffeln aus der Erde. Wenn amAbend ein großer Sack voll zusammen-gekommen ist, reicht das. Den binden

Blick in die VergangenheitJorge Miranda, Abteilungsleiter

im Justizministerium, ist Aymara.Und ein Yatichiri – ein Weiser

L

Aymarische ErfolgsknolleDie Kartoffeln, die die Aymara-Bauern

auf ihren Äckern rund um den Titicacaseeernten, haben die Welt erobert. Rund

3000 Sorten, schwarze, braune, gelbe und sogar violette, gibt es

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nellen Gesetzen. Polizei, Richter undStaatsanwälte, Verhandlungen oderGesetzbücher hat man in diesem Dorfnoch nie gebraucht.

Was von den Vorfahren stammt, hat sich als gut und richtig erwiesen. Fast scheint es so, als sei Compi eine nach rückwärts gewandte Idylle,in der die Menschen arm, aberzufrieden sind. Doch das täuscht.Die Aymara blicken nach vorn. Nur se-hen sie dort etwas ganz anderes als alle anderen Völker dieser Erde. Für unsist es selbstverständlich, dass wir ausder Vergangenheit kommen und in dieZukunft gehen. Für die Aymara ist esgerade andersherum: Die Zukunft, den-ken sie, liegt hinter ihnen. Dort, wo siekeine Augen haben. Sie können sienicht sehen, sie kennen sie nicht. Vorihnen aber ist die Vergangenheit. Sieist bekannt, sicher, bewiesen. Sie liegtoffen vor aller Augen. Das Denken derAymara ist so tief in ihrem Unter-bewusstsein verwurzelt, dass es sichselbst in ihren Gesten widerspiegelt:Erzählen sie von der Vergangenheit,dann zeigen sie intuitiv nach vorn. Vonder Zukunft reden sie nicht sehr viel,und wenn, dann machen sie dabei ei-ne fast wegwerfende Handbewegungnach hinten, über die Schulter.Zurück in der Hauptstadt La Paz, imJustizministerium, im Büro von JorgeMiranda, dem Abteilungsleiter für in-

dianische Rechtsfragen. Der weiß, wases heißt, wie ein Aymara zu denken.Er ist selbst einer, und dazu ein Yati-chiri – ein Weiser, der das Geheimnisdes Lebens lehrt. Er ist klein und rund-lich und hat sein schulterlanges, pech-schwarzes Haar zu einem Zopf gefloch-ten. Man sieht, dass er viel Zeit für diePflege seines Salvador-Dalí-Bärtchensaufwendet. Bevor er mit seinen Besu-chern spricht, bietet er ihnen Koka-Blätter zum Kauen an. Er hat immereinen kleinen Vorrat auf seinemSchreibtisch liegen, eingeschlagen inein handgewebtes Tuch. In Europa wä-re so etwas eine Straftat. Für Miranda

ist es der Beginn eines Gesprächs. „Ko-ka ist ein Kommunikationsmedium“,erklärt er. Erst wenn man gemeinsamKoka gekaut hat, könne man richtigmiteinander reden.Miranda redet gern von der Vergangen-heit. „Sie ist der Schatz der Mensch-heit“, sagt er. „Alles, was wir sicherwissen, liegt in der Vergangenheit.“ Ermalt große Kringel auf ein Blatt Papier:der Schatz der Vergangenheit. „Aberwir leben in der Gegenwart“, dozierter weiter und malt ein Kreuz neben dieKringel: die Gegenwart. „Bei jeder Ent-scheidung, die wir treffen, wenden wirunser Wissen aus der Vergangenheitan.“ Er verbindet die Kringel und dasKreuz mit einem Pfeil. „Bei allem, waswir tun, wird unser Wissen aus der Vergangenheit in der Gegenwart prä-sent“, erklärt er. „Gegenwart ist stän-dige Veränderung mit dem Blick aufdie Vergangenheit. Und die Gegenwartwird, kaum ist sie gelebt, in diesemProzess selbst zur Vergangenheit.“ Ermalt vom Kreuz einen Pfeil zurück zuden Kringeln, fragt fast triumphie-rend: „Und was sehen wir nun?“ SeineAntwort: „Die Geschichte ist keinepfeilgerade Linie; sie bewegt sich zy-klisch, spiralig!“ Doch wo bleibt in diesem Denken die Zukunft? „Ach, dieZukunft“, sagt Miranda matt undmacht jene für Aymara typische weg-werfende Handbewegung nach hintenüber die Schulter. „Niemand hat sie jegesehen. Die Zukunft erübrigt sich.“ π

La Paz erinnert sich Statue des bolivianischen Nationalhelden Eduardo Avaroa

gesehen oder erlebt? Oder wurde esihm erzählt? Wenn ja, von wem? Wievertrauenswürdig ist das? Je nachdem,wie die jeweilige Quelle eingeschätztwird, ist eine Aussage mehr oder we-niger sicher. Falsch und richtig sinddann bloß noch zwei von unendlichvielen Möglichkeiten. Dazwischen tutsich ein weites Feld aus Wäg- und Un-wägbarkeiten auf. Man muss mit der Sprache und Logikdieses Volkes aufgewachsen sein, umsich in diesem Gestrüpp zurechtzu-finden. Die allermeisten Weißen tundas nicht, und entsprechend heißt daserste Kapitel des Buches: „550 Jahre destiefen Missverständnisses“.

Habe man aber erst einmal die beson-dere Logik dieses Volkes begriffen, sagtGuzmán de Rojas, dann werde allesganz einfach. „Für einen Aymara gibtes nicht nur Ja oder Nein. Er bewegtsich ständig dazwischen.“ Wer ledig-lich die Vergangenheit sehen kannund nicht in die Zukunft planen will,der brauche diesen Schwebezustand.Nur dann könne er handeln, abwägenund ausprobieren. „Aymara können inunseren Augen sogar eine glatte Kehrt-wende vollziehen, ohne dabei das Ge-fühl zu haben, sich in logische Wider-sprüche zu verwickeln.“Sie haben es mit dieser Methode durch-aus zu etwas gebracht. Die Gegendrund um den Titicacasee gilt als dieWiege der Kartoffel. Die Aymara ken-nen diese Pflanze schon seit Jahrtau-senden. Sie haben damit experimen-tiert, haben sie gekreuzt und verfei-nert. Heute gibt es rund 3000 Sorten.Die Frauen auf den Feldern bei Compiklauben schwarze, braune, gelbe undsogar violette Knollen aus dem Boden.Als die Spanier nach Amerika kamenund später die Engländer, brachten sieein paar Pflanzen zurück auf den al-ten Kontinent. Lange war die Kartoffeldort nur als Zierpflanze bekannt, inden Gärten von Fürsten und Bischöfen.Es dauerte Generationen, bis die Euro-päer begriffen, dass man die Wurzel-knollen der Stauden auch essen kann.Hätten sie die Vergangenheit der Kar-toffel gesehen, dann hätten sie dasschneller gelernt.

Bolivien heute 2005 wurde mit Evo Moraleszum ersten Mal ein Aymara ins Präsidenten-

amt gewählt. Bis dahin dominierte die weiße Minderheit das ärmste und export-

schwächste Land Lateinamerikas. Unten: In La Paz bilden sich vor den Verteil-

stationen für Gas oft lange Schlangen

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Eben weil sie sich nicht mit der Zukunftbefassen, lasse sich mit den Aymarakein Staat machen, behauptet die an europäischem Denken orientierteweiße Minderheit, die Bolivien regiert hat, seit das Land existiert. Bis Mitte des vergangenen Jahrhun-derts hatte die indianische Mehrheit –neben den Aymara gibt es in Bolivienrund ein Dutzend weiterer Ethnien –bei Wahlen kein Stimmrecht. Erst2006 wurde mit Evo Morales zum ers-ten Mal ein Aymara ins Präsidenten-amt gewählt. Man wirft diesem Volkoft vor, es könne nicht planen, würdeziellos durch die Geschichte irren,ohne Logik und Verstand.„Alles Quatsch“, sagt Iván Guzmán deRojas, der selbst kein Aymara ist, son-dern zur weißen Oberschicht des Lan-des gehört und zehn Jahre lang Präsi-dent des obersten Wahlgerichts war.Mit seinem wirren weißen Haar undseinem wilden Adlerblick sieht er auswie eine Kreuzung aus Sigmund Freudund Albert Einstein, und er hat von beiden ein bisschen. Von Beruf ist Guz-mán de Rojas Mathematiker, und erglaubt, die Seele der Aymara zu ver-stehen. Er hat ein dickes Buch über siegeschrieben, ein kompliziertes Werk.Guzmán de Rojas hat festgestellt, dassein Aymara nicht nur Geschichten erzählt, sondern immer auch sagt, woher er sie kennt: Hat er selbst etwas

Reportage

Erntetransport Eine Aymara-Bäuerin auf dem Heimweg vom Kartoffelfeld

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