11
31 forum erwachsenenbildung 1/10 Zur Diskussion In „Dichtung und Wahrheit“ berichtet Johann Wolfgang Goethe von seiner Beschäftigung mit den Geschichten des Buches Genesis als kleiner Knabe in Frankfurt. Be- sonders die Josephsgeschichte hat es dem Buben ange- tan. Handelt sie doch von einer Gestalt, „die der Jugend mit Hoffnungen und Einbildungen gar artig schmeicheln kann“ 1 . Unnachahmlich und auch mit kühler Distanz hat der Weise aus Weimar so die Projektionsfähigkeit der Gestalt des Joseph auf den Punkt gebracht. „Höchst an- mutig“, schreibt der alte Goethe, „ist diese natürliche Erzählung, nur scheint sie zu kurz, und man fühlt sich berufen, sie ins einzelne auszumalen“. Es sind die Leer- flächen der Geschichte, die, neben der Verlockung zur Identifikation, zur Bearbeitung des Stoffes herausfordern. Der Goethe, der seine Lebensgeschichte erzählt, weiß von literarischen Versuchen, die zumal die Geschichten des Alten Testaments ausgemalt haben 2 und gesteht, dass er die Geschichte Josephs damals als Kind auch „bearbeitet“ habe: „Ein so großes Werk als jenes bibli- sche prosaisch-epische Gedicht hatte ich noch nicht un- ternommen ... nichts rief meine Einbildungskraft aus Pa- lästina und Ägypten zurück. So quoll mein Manuskript täglich um so mehr auf ...“. Johann Wolfgangs „Joseph“ ist nicht erhalten geblieben. 3 Die Josephsgeschichte der hebräischen Bibel enthält alles, was es für eine spannende Geschichte braucht: Bru- derhass, Vaterliebe, Mordversuch, Todesnot und Rettung, fremde Länder, eine verführerische Frau, unschuldiges Leiden, kluges Ergreifen der günstigen Gelegenheit, Ver- kleidung und Tränen, märchenhafter Aufstieg aus hoff- nungsloser Situation und endliche Versöhnung. Sie spielt im „Kinderzimmer“ und im Königspalast, sie verwebt menschliche Grunderfahrungen, Sehnsüchte und Ängste. Sie bietet Identifikationsmuster und erzählt von Reifung und Bewährung. Es ist kein Wunder, dass sie zu den be- liebtesten und bekanntesten Geschichten der Bibel ge- hört – nicht nur, aber gerade auch im Religionsunterricht. Im Folgenden soll weniger der theologiegeschichtli- chen Wirkungsgeschichte der Josephserzählung in christ- licher Lehre, Predigt und Katechese nachgegangen wer- den, sondern der säkularen. An einigen markanten Sta- tionen sollen Muster und Profil der weltlichen Rezeptio- nen des biblischen Stoffes charakterisiert werden. 4 1. Der Primat der Voraussage Gottes – Joseph im Koran Die Josephsgeschichte gleicht einem Bild, auf dem ge- nau Gezeichnetes und eigentümlich offen Gelassenes zu sehen ist. Claus Westermann vermerkt in seinem großen Genesiskommentar am Schluss der Auslegung von Gn 37–50: „Für das gesamte Nachleben der Josephserzäh- lung ist bezeichnend, daß nicht eigentlich die Geschich- te Josephs in den späteren Erwähnungen weiterlebt, son- dern die Gestalt, und zwar in der Deutung, die der jewei- ligen Zeit und dem jeweiligen Denken entspricht. Im jü- dischen, christlichen und islamischen Nachleben ist Jo- seph die hervorragende Persönlichkeit, sehr oft als Vor- bild gesehen, ob nun als Ernährer, als kluger Regen oder als Muster der Keuschheit“ 5 . Fast klingt ein wenig Be- dauern in dieser Feststellung des Alttestamentlers. Der Bogen der Geschichte, die Proportionen und Komposi- tionen des Erzählverlaufs, scheinen in der Wirkungsge- schichte weniger zur Geltung zu kommen als die Haupt- figur selber. Aber die jeweilige Zeit und das jeweilige Denken rücken wie ein Scheinwerfer ganz unterschiedli- che Aspekte der Figur und damit auch der Geschichte ins Licht. Im Koran ist die Sure 12 mit „Joseph“ überschrieben. In anschaulicher Ergänzungen gegenüber der Bibel be- richtet der Koran von Josephs Ergehen im Haus des Poti- phar, der im Koran bloß der Ägypter heißt. Der Koran kennt die hübsche Episode, dass die Freundinnen der Frau, als sie den anmutigen Joseph vorgeführt bekom- men, sich vor Schreck über die Schönheit des Jünglings mit ihrem Obstmesser schneiden. Aufgrund der Position des Risses in Josephs Gewand wird entdeckt, dass die Frau des Ägypters den Joseph zu Unrecht der Vergewalti- gung beschuldigt. „Das ist (wieder einmal) eine List von euch (Weibern). Ihr seid voller List und Tücke ... Und (du, Frau) bitte Gott um Vergebung für deine Schuld“ (Sure 12, 28). Sonst geschieht die Wiedergabe der Geschichte frei- lich viel knapper und konzentrierter als in der hebräi- schen Bibel. Sie ist formal als eine Art belehrende und zum Glauben rufende Rede gestaltet. Gibt es theolo- gische Differenzen in der Zielrichtung der beiden Fas- sungen? Karl-Josef Kuschel sieht die Gemeinsamkeiten der biblischen und der koranischen Josephsgeschich- te bei allen Unterschieden im Formalen und Stilisti- schen im zentralen theologischen Gehalt: „Beide Er- zählungen sind theozentrisch ausgerichtete Glücksge- schichten. Entscheidend ist auf beiden Seiten die Er- kenntnis, dass Gott das Geschehen durch alle Verbre- chen und alle Schuld des Menschen hindurch ins Gelingen wendet ... Josef ist in beiden Erzählungen der Gegen-Hiob. Seine Katastrophen führen nicht zu Zwei- feln an Gott, zum Hadern, zum Rechtsstreit, sondern lassen das Gottvertrauen unerschüttert. Der biblische und der koranische Josef haben auch in Momenten Michael Nüchtern: Eine „der Jugend schmeichelnde Geschichte“ Beobachtungen zur Wirkungsgeschichte der biblischen Josephserzählung vom Koran bis zu Andrew Lloyd Webber

Michael Nüchtern: Eine „der Jugend schmeichelnde Geschichte“...de Voraussagen, wie es der alte Jakob gleich erkannt hat. Er warnt desw egen auch seinen Sohn vor sei-nen Brüdern

  • Upload
    others

  • View
    3

  • Download
    0

Embed Size (px)

Citation preview

  • 31

    forum erwachsenenbildung 1/10

    Zur Diskussion

    In „Dichtung und Wahrheit“ berichtet Johann WolfgangGoethe von seiner Beschäftigung mit den Geschichtendes Buches Genesis als kleiner Knabe in Frankfurt. Be-sonders die Josephsgeschichte hat es dem Buben ange-tan. Handelt sie doch von einer Gestalt, „die der Jugendmit Hoffnungen und Einbildungen gar artig schmeichelnkann“1. Unnachahmlich und auch mit kühler Distanz hatder Weise aus Weimar so die Projektionsfähigkeit derGestalt des Joseph auf den Punkt gebracht. „Höchst an-mutig“, schreibt der alte Goethe, „ist diese natürlicheErzählung, nur scheint sie zu kurz, und man fühlt sichberufen, sie ins einzelne auszumalen“. Es sind die Leer-flächen der Geschichte, die, neben der Verlockung zurIdentifikation, zur Bearbeitung des Stoffes herausfordern.

    Der Goethe, der seine Lebensgeschichte erzählt, weißvon literarischen Versuchen, die zumal die Geschichtendes Alten Testaments ausgemalt haben2 und gesteht,dass er die Geschichte Josephs damals als Kind auch„bearbeitet“ habe: „Ein so großes Werk als jenes bibli-sche prosaisch-epische Gedicht hatte ich noch nicht un-ternommen ... nichts rief meine Einbildungskraft aus Pa-lästina und Ägypten zurück. So quoll mein Manuskripttäglich um so mehr auf ...“. Johann Wolfgangs „Joseph“ist nicht erhalten geblieben.3

    Die Josephsgeschichte der hebräischen Bibel enthältalles, was es für eine spannende Geschichte braucht: Bru-derhass, Vaterliebe, Mordversuch, Todesnot und Rettung,fremde Länder, eine verführerische Frau, unschuldigesLeiden, kluges Ergreifen der günstigen Gelegenheit, Ver-kleidung und Tränen, märchenhafter Aufstieg aus hoff-nungsloser Situation und endliche Versöhnung. Sie spieltim „Kinderzimmer“ und im Königspalast, sie verwebtmenschliche Grunderfahrungen, Sehnsüchte und Ängste.Sie bietet Identifikationsmuster und erzählt von Reifungund Bewährung. Es ist kein Wunder, dass sie zu den be-liebtesten und bekanntesten Geschichten der Bibel ge-hört – nicht nur, aber gerade auch im Religionsunterricht.

    Im Folgenden soll weniger der theologiegeschichtli-chen Wirkungsgeschichte der Josephserzählung in christ-licher Lehre, Predigt und Katechese nachgegangen wer-den, sondern der säkularen. An einigen markanten Sta-tionen sollen Muster und Profil der weltlichen Rezeptio-nen des biblischen Stoffes charakterisiert werden.4

    1. Der Primat der Voraussage Gottes – Joseph

    im Koran

    Die Josephsgeschichte gleicht einem Bild, auf dem ge-nau Gezeichnetes und eigentümlich offen Gelassenes zu

    sehen ist. Claus Westermann vermerkt in seinem großenGenesiskommentar am Schluss der Auslegung von Gn37–50: „Für das gesamte Nachleben der Josephserzäh-lung ist bezeichnend, daß nicht eigentlich die Geschich-te Josephs in den späteren Erwähnungen weiterlebt, son-dern die Gestalt, und zwar in der Deutung, die der jewei-ligen Zeit und dem jeweiligen Denken entspricht. Im jü-dischen, christlichen und islamischen Nachleben ist Jo-seph die hervorragende Persönlichkeit, sehr oft als Vor-bild gesehen, ob nun als Ernährer, als kluger Regen oderals Muster der Keuschheit“5. Fast klingt ein wenig Be-dauern in dieser Feststellung des Alttestamentlers. DerBogen der Geschichte, die Proportionen und Komposi-tionen des Erzählverlaufs, scheinen in der Wirkungsge-schichte weniger zur Geltung zu kommen als die Haupt-figur selber. Aber die jeweilige Zeit und das jeweiligeDenken rücken wie ein Scheinwerfer ganz unterschiedli-che Aspekte der Figur und damit auch der Geschichte insLicht.

    Im Koran ist die Sure 12 mit „Joseph“ überschrieben.In anschaulicher Ergänzungen gegenüber der Bibel be-richtet der Koran von Josephs Ergehen im Haus des Poti-phar, der im Koran bloß der Ägypter heißt. Der Korankennt die hübsche Episode, dass die Freundinnen derFrau, als sie den anmutigen Joseph vorgeführt bekom-men, sich vor Schreck über die Schönheit des Jünglingsmit ihrem Obstmesser schneiden. Aufgrund der Positiondes Risses in Josephs Gewand wird entdeckt, dass dieFrau des Ägypters den Joseph zu Unrecht der Vergewalti-gung beschuldigt. „Das ist (wieder einmal) eine List voneuch (Weibern). Ihr seid voller List und Tücke ... Und (du,Frau) bitte Gott um Vergebung für deine Schuld“ (Sure12, 28).

    Sonst geschieht die Wiedergabe der Geschichte frei-lich viel knapper und konzentrierter als in der hebräi-schen Bibel. Sie ist formal als eine Art belehrende undzum Glauben rufende Rede gestaltet. Gibt es theolo-gische Differenzen in der Zielrichtung der beiden Fas-sungen? Karl-Josef Kuschel sieht die Gemeinsamkeitender biblischen und der koranischen Josephsgeschich-te bei allen Unterschieden im Formalen und Stilisti-schen im zentralen theologischen Gehalt: „Beide Er-zählungen sind theozentrisch ausgerichtete Glücksge-schichten. Entscheidend ist auf beiden Seiten die Er-kenntnis, dass Gott das Geschehen durch alle Verbre-chen und alle Schuld des Menschen hindurch insGelingen wendet ... Josef ist in beiden Erzählungen derGegen-Hiob. Seine Katastrophen führen nicht zu Zwei-feln an Gott, zum Hadern, zum Rechtsstreit, sondernlassen das Gottvertrauen unerschüttert. Der biblischeund der koranische Josef haben auch in Momenten

    Michael Nüchtern: Eine „der Jugend schmeichelnde Geschichte“

    Beobachtungen zur Wirkungsgeschichte der biblischen Josephserzählung

    vom Koran bis zu Andrew Lloyd Webber

    klHervorheben

  • 32

    forum erwachsenenbildung 1/10

    Zur Diskussion

    ihres tiefsten Falls (als Unschuldige!) keine Hiob-Fra-gen. Im Gegenteil: Ihre Geschichten werden erzählt,um im und trotz allem Negativen das Vertrauen inGottes Führung und Fügung zu stabilisieren“6.

    Diese Interpretation ist m. E. nur zum Teil richtig. Sieberücksichtigt zu wenig Form und Grundperspektive desKorantextes. Vielleicht ist sie zu sehr von einem interre-ligiösen Harmoniebedürfnis geprägt. In Sure 12 wird dieJosephsgeschichte auf die Erfüllung einer Weissagunghin fokussiert. Als dieBrüder am Schluss inÄgypten vor ihm nie-derfallen, sagt Jo-seph: „Das ist dieDeutung meinesTraumgesichts. MeinHerr hat es wahr wer-den lassen“ (Sure12,100). Im Koran wirdvon Anfang an durchJakobs Deutung desÄhrentraums seinesSohnes kein Zweifeldaran gelassen, wiedie Geschichte endenwird. Die Träume desJoseph erweisen sicham Ende als zutreffen-de Voraussagen, wiees der alte Jakobgleich erkannt hat. Erwarnt deswegen auchseinen Sohn vor sei-nen Brüdern (12,4–6):„Dein Herr weiß Be-scheid und ist weise“.Es erfüllt sich, wasdurch Gott vorherge-sagt ist. So stehenNot und Gefahrgleichsam in derKlammer der göttli-chen Vorsehung, diealles zum Guten wen-den wird. Der Koranerzählt sozusagenvon der Position des allwissenden Erzählers aus. Es gibtauch Personen, die an der Allwissenheit des Erzählersteilhaben. Der Koran kennt daher weder die Tränen undden Gram des um den totgeglaubten Sohn trauerndenJakob noch die Verborgenheit seines Schicksals bei Jo-seph. Nicht Not und überraschende Hilfe, sondern Wahr-heit und Unwahrheit, nicht Gefahr und unverhoffte Ret-tung, sondern richtige oder falsche Voraussage ist dieSpannung, in der sich die Geschichte im Koran abspielt.Gewiss: Auch die Wahrheit der Voraussage soll Vertrau-en ermöglichen, aber die Koranüberlieferung lässt weni-ger existenzielle Lebensnot auf der Seite der Menschenzu, wenn nur richtig an die Voraussagen geglaubt wird.

    Anders in der Bibel: Leser und Hörer der Geschichte

    befinden sich nicht in einer Position über dem Gesche-hen, die es ihnen erlaubt, das Ganze zu durchschauen.Sie sind mit dem Verlauf der Geschichte gleichzeitig. Diebiblische Überlieferung bewahrt die Spannung; sie er-zählt von unten, nicht von oben. Sie lässt offen, ob derLeser den Traum als eine Voraussage oder als infantilenHochmut deuten soll. Sie schweigt über die innere Hal-tung des Joseph zu seinem Geschick. Gottes Plan – wennman denn überhaupt davon reden kann – wird erst am

    Ende staunend er-kannt („wie es jetztam Tage ist“). Er bleibtwährend des Verlaufsder Geschichte ver-borgen. Die korani-sche Überlieferungerweist sich damit alsein frühes Beispiel fürdas, was in der Wir-kungsgeschichte derJosephsgeschichteimmer wieder ge-schieht: Es wird aus-gefüllt, wo die Bibeleine Lücke lässt. Dertheologische Sinn er-gibt sich nicht als Be-kenntnis am Schluss,sondern wird als Vor-aussetzung des Dra-mas und göttliche Be-lehrung schon am An-fang kund getan.

    Es gehört zu denEigenarten der bibli-schen Josephsge-schichte, dass sieauf den ersten Blickeine geradezu weltli-che Geschichte ist.Gott kommt auch an-ders als in den son-stigen Überlieferun-gen, die im BuchGenesis oder Exodus

    im Umfeld der Erzählung stehen, nicht als direkt re-dend oder handelnd vor. Von Gott ist in ihr ausschließ-lich an den ganz wenigen Stellen die Rede, wo dasGeschehen knapp kommentiert (Gn 38,3ff ) und amSchluss auch pointiert gedeutet wird (Gn 50,20). Siesagt nicht, dass Gott rettet und bewahrt, sondern er-zählt, dass und wie ein Einzelner wunderbar und über-raschend gerettet wird und dadurch auch ein großesVolk bewahrt. Martin Luthers Deutung der Josephser-zählung hat dies fast zu einer Lehre verallgemeinertund die Spannung von Verborgenheit Gottes und Glau-be betont. Er hält dabei aber besonders die betont„irdische“ Erzählperspektive von unten fest: „Wo manmeynet, es sey der teufel und tod, da ist er (Gott) am

  • 33

    forum erwachsenenbildung 1/10

    nehisten, Er (Joseph) meynet, er sey verlassen vonGott und der welt, so wartet sein Gott und hat einAuge auff yhn, lest yhn wol verkaufft unf gefangenwerden, als sey kein Gott bey yhm, Aber da die zeitkömpt, setzt er yhn zun hohisten ehren ... Also dasdis exempel ein recht furbild und grosse reitzung istzum glauben, wo ich hyn kome, yns vaters hauseodder yns elend und frmbde land, das ich wisse, Gottsey au da daheymme, sonderlich, wo ich keinen trostund zuversicht zun leuten haben kann und gantz ver-lassen bin“ (WA 24, 632f Predigten zum 1. BuchMose).

    Solche Ausssagen über die Paradoxie des Verlas-senseins und des Vertrauens wären als Deutung derkoranischen Fassung der Josephgeschichte kaum mög-lich.

    2. Grimmelshausen – Joseph als sittliches

    Vorbild und Gottes Vorsehung

    Mit Grimmelshausens Werk wird der Joseph-Stoffzum ersten Mal zum Roman. Hans Jakob Christoph vonGrimmelshausens Roman ist zuerst 1666 und in zwei-ter Auflage 16717 erschienen. Sein Titel ist bezeich-nend:

    „Des vortrefflich Keuschen Josephs in Egypten Erbau-liche recht außführliche und viel-vermehrte Lebens-Be-schreibung zum Augenscheinlichen Exempel der unver-änderten Vorsehung Gottes so wohl aus heiliger Schrifftals anderen der Hebreer, Perser und Araber Büchern undhergebrachter Sage auf das deutlichste vorgestellet understesmals mit grosser und unverdroßner Mühe zusam-men getragen“.

    Die ausführliche Titulatur8 hebt nicht nur auf die Er-weiterungen des biblischen Stoffes und ihre Quellen ab,sie nennt auch die Absicht des Erzählers. Der Roman fo-kussiert das moralische Verhalten des Helden und dieVorsehung Gottes. Dass Grimmelshausen das Motiv derKeuschheit Josephs genauso wichtig wie das Motiv derVorsehung Gottes ist, zeigt das Motto, das er dem Ro-man voran stellt:

    Die Keuschheit krönet den / der sich ihr gantz ergiebet /Die Keuschheit machet reich / den / der sie brünstig liebet /Die Keuschheit macht bey Gott und Menschen hoch und wehrt /Die Keuschheit bringet Glück dort / und auch hier auf Erd.

    Wo der biblische Text wertfrei die Träume des Rahel-sohnes berichtet, lassen schon die ersten Seiten des Ro-mans beim Leser keinen Zweifel an der Vortrefflichkeitdes Joseph aufkommen:

    „Aber über diese hohe Gabe der Schönheit / hat Gottden Joseph noch weit reichlicher gesegnet; So / daß man

    ihn wegen seiner Vortrefflichkeit wol den Edelsten Kö-nig: und wegen seiner Schönheit daß er in dem herrlich-sten Pallast wohnete / vergleichen mögen; Er hatte voll-kommene Schönheit von der Mutter / und eben so vielVerstand von seinem Vatter auff sich geerbt; ..../ daß manihn billich ein Vorbild des weisen Salomonis nennen mag;Er war ein guter Astronomus und Mathematicus, undverstunde die Magia oder vielmehr die Philosophia na-turalis vollkommen neben dem Ackerbau. Der Menschenund Thier Eigenschafften wuste er / und konte dersel-ben Gebrechen durch Artzneymittel leichtlich wenden“(S.9f ).

    Erkennbar wird die Schwerpunktsetzung des Autorsda, wo er Erweiterungen des biblischen Stoffes vor-nimmt. Dies geschieht vor allem im Haus des Potipharund hier besonders in den Verführungsszenen durchPotiphars Gattin, die bei Grimmelshausen – die arabi-sche Suleika-Überlieferung aufnehmend – Selichaheißt. Diese Szene umfassen im Textbestand des Ro-mans die Seiten 41–65 und damit etwa 1/5 des Ro-mans, während die Episode in der Bibel nur 13 Verseeinnimmt. Der Roman lässt auch Josephs spätere Ehe-frau Asaneth in Potiphars Haus auftreten. Asaneth wirdZeugin, wie Selicha wütet und zürnt, dass Joseph ih-ren Verführungen widersteht. Sie weiß von daher vonvornherein um Josephs Unschuld, als er im Gefängnissitzt. Sie spielt als Kontrastfigur zu Selicha in ihrerKlugheit und Besonnenheit eine wichtige Rolle. Heim-lich, gewissermaßen als verlängerter Arm der göttli-chen Vorsehung, sorgt sie für Joseph im Gefängnis. IhrWissen um Josephs Unschuld behält sie kontrolliert fürsich, um den Plan Gottes nicht zu stören. Sie ist inihrer Besonnenheit das weibliche Pendant zum Titel-helden.

    Joseph wird im Roman schon für Potiphar bei Selichaals Brautwerber tätig. Dies gibt Gelegenheit zu berich-ten, dass die Braut sich sofort in den Werber verliebt:

    „Allein die Braut selbsten wolte sich mit einem secht-zigjährigen Herrn schwerlich vermählen lassen / als dieviel mehr einen Jungen verlangte.“ (39).

    Es ist nicht nur die Schilderung der moralischenVorbildlichkeit Josephs, die die Ausschmückung der Se-lichaepisoden motiviert, sondern auch die Lust am ero-tischen Stoff und seiner anschaulichen Wiedergabe.Zur Freude der Lesenden und wegen der Unbekannt-heit des Romans sei darum auch hier etwas ausgiebi-ger zitiert.

    In vier klimaktisch aufgebauten und immer länger wer-denden Szenen versucht Selicha Joseph zu gewinnen.Zunächst verrät sie ihm bei einer scheinbar zufälligenBegegnung im Garten nur ihre Neigung, um herauszube-kommen, ob er an ihr Gefallen findet (43). In der zweitenSzene bittet sie schon unter Tränen, er möge ihre Lei-denschaft erwidern (44). Joseph wehrt ab: Sie meine esnicht ernst und wolle nur seine Treue gegenüber seinemHerrn auf die Probe stellen. In der dritten Szene kehrtSelicha die Herrin heraus, die Joseph Befehle geben kann.Sie droht ihm und schwört gleichzeitig heiß ihre Liebe.

    „Joseph: sagte sie / du must mich / als deine Gebie-terin / reden hören / wann du mir deine Ohren nicht / als

    Zur Diskussion

  • 34

    forum erwachsenenbildung 1/10

    einer Liebhaberin / gönst; du weist / daß ich Gewalt hab/ dich lebendig oder todt zu lassen / wann ich deren einsvon meinem Mann nur mit einem Winck begehre; auchdu selbst must bekennen / daß du mir zu gehorsammenschuldig bist; warum solte dann nicht dein Schuldigkeitseyn / wenigst zu vernehmen / was ich zu befehlen hab/ oder auf das jenig zu antworten / was ich dich fragte;sag mir derowegen zu vorderst / liebster Joseph / bist duvon Stein oder Stahl / oder von der Art eines wildenThiers? daß du dich eines schwachen Weibsbildes nichterbarmen kanst / welches du selbst / durch deine Schön-heit und herrliche Tugenden / in die äuserste Noth hastgebracht / ... und mein Begehren (wiewohl ich dir be-fehlen könte) ist hingegen / daß du mich mit gleicherLieb und Treu hinwider zu meynen versprechest“ (50f ).

    Joseph ist ratlos, was er antworten soll:„Joseph stunde gantz verstummt da / und wünschte /

    daß er noch in seiner Wolffsgruben gesessen wäre /worinn er zwar keinen andern Trost gehabt / als Hungerszu sterben; er konte in der Selicha Angesicht wohl sehen/ wie Zorn und Lieb in ihrem Gemüt rumorten / er wusteaber nicht so gleich Mittel zu finden / wie er diesen bey-den auf einmahl entgehen möchte; er sahe wohl / wanner ihrem Zorn entrinnen wolte / daß er sich ihrer Liebunterwerffen müste / solches aber zu thun / war ihmungelegen; dann er ehe hundert Töd gelitten hätte / alssolche Sünd wider Gott: und solche Untreu wider seinenHerren zu begehen“ (51).

    Er erwidert dann etwas sophistisch, dass seine Tu-gend, die sie liebe, ihm doch gerade verbiete, sie zu lie-ben. Die Szene schließt wie die zweite mit einer Liebes-klage Selichas:

    „Aber / ach allerliebster Joseph; wie gehets aber mir ar-men Weib in dessen? Ach! gedencke doch / daß diß keinLob der Tugend seyn wird / wann man von dir sagt / duhabest ein schwaches Weibsbild getödtet! Aber doch willich lieber sterben / dieweil du es so haben wilst / als ohneGeniessung deiner Lieb noch länger leben; Kaum hatte siediese Meinung geredt / da kame sie wieder auf ein andernSchrod / was! Tugenden? sagte sie / gehorsam solt seingröste Tugend seyn / damit er mir verbunden ist; ... O ihrGötter / warum habt ihr ihm nicht seine Schönheit genom-men / ehe ich ihn gesehen / oder sein Hertz von himmli-schen Tugenden ausgelehrt / damit sein HimmlischeSchönheit auch zu geniessen gewest wäre?“ (54).

    Die vierte und entscheidende Szene bereitet Selichastrategisch vor:

    „ ... spintisirte sie Tag und Nacht / und machte aller-hand Garn und Strick zum Vorrath fertig / ihn damit end-lich zu berücken; sie hatte sich ihm zu Gefallen vielmahlaufs herrlichst gebutzt / und darbey weder der Schminck/ (so sie zwar noch nicht bedorffte /) noch des gutenGeruchs / oder etwas anders vergessen / so zum Wol-lust anreitzen konte; weil aber solches alles nichts ge-fruchtet / wolte sie es einmal auch nackend mit ihm pro-bieren“ (55).

    Aber auch Joseph bereitet sich auf die Begegnung vor,und zwar – wie es seiner Tugendhaftigkeit entspricht –mit einem Gebet:

    „Ach du Gott meiner Vätter / Abraham / Isaac undJacobs / ich bitte dich hertzlich / lasse mich diesen Tagnicht zu Trümmern gehen; Sihe Herr! Ich setze mir ve-stiglich vor / ehe tausendmahl zu sterben / als dich zuerzörnen; diesen meinen gerechten Vorsatz / Herr! er-halte und stärcke in mir / damit ich deinetwegen dapfferkämpffe / und mit deinem Beystand meine Feind / diemich deiner Gnad / durch die Sünde / berauben wollen /ritterlich überwinden möge“ (56).

    Mit Freude am Detail beschreibt Grimmelshausen so-dann, wie die schöne Ägypterin den tugendsamen Jo-seph empfängt: Er

    „fand die Selicha auf einem Bette liegen / in solcherPostur / wie man die Venus selbst bey uns zu mahlenpflegt; Nur ihr Kopf war mit etlichen Kleinodien: Der Halssamt den Armen mit Perlen: und die Finger mit köstli-chen Ringen geziert / sonst aber war ihr gantzer Leibnackent / und mit einem leibfarben seidenen Teppichbedeckt / der so dünn und durchsichtig war / daß manihre Schneeweisse Haut / und alle Gliedmassen eigent-lich dardurch sehen konte; der Busen war nur so weitbloß; daß man ihre harte Brüste / die so weiß / als Ala-baster schienen / eben halber nackend in die Höhe start-zen sahe / und damit diese annemliche Augenweid de-sto Lustreitzender wäre / waren die Umhäng zierlich auf-gebunden / der gantze Lufft mit lieblichem Geruch er-füllt / und um und um alles mit Rosenblättern und an-dern wohlrichenden / so Blumen als Zweigen bestreuet;also / daß alles zusammen einen anmuthigen Anblickund Augenlust abgabe“ (56).

    Grimmelshausen wendet sich an den Leser, um dieaußergewöhnliche Tugendhaftigkeit Josephs besondersherauszustreichen: „Ich kan mir auch wohl einbilden/ daß mancher / der diß list / bey sich selbst ge-denckt; diß wäre ein stattlich Fressen vor mich gewe-sen“ (59).

    Selicha lockt Joseph nicht nur mit körperlichen Rei-zen, sondern auch mit dem Versprechen der Freiheit. Aberder Held bleibt standhaft. Er verweist auf sein Gewissen,das ihm einen Ehebruch verbietet. Als die Schöne vonihm süßes Marzipan gereicht haben will, ergreift sie nichtdas Naschwerk, sondern den Geliebten und es folgendie dramatischen Szenen, die man auch aus der Bibelkennt.

    Bei der Schilderung der Tugend Josephs geht es inGrimmelshausens Roman nicht nur um individualethi-sches Verhalten! Man kann und muss die Triebkontrollegegenüber Selicha im Privaten als ein Vorspiel der Ratio-nierung sehen, die der Staatsmann Joseph in den gutenJahren den Ägyptern für die Hungersnot verordnet. Grim-melshausens Roman verbindet eine individualethischemit einer sozialethisch-politischen Perspektive. DieterBremer betont im Grimmelshausen Handbuch9, dassGrimmelshausen in seinem Roman auch einen Beitragzu der seit Macchiavelli umstrittenen Frage des Verhält-nisses von Politik und Moral leiste. „Er stellt zwei For-men monarchischer Herrschaft gegenüber, die ihm undseinen Zeitgenossen durchaus vertraut waren. Das alteRegime, repräsentiert durch Pharao, „einen abgelebten

    Zur Diskussion

  • 35

    forum erwachsenenbildung 1/10

    eyfersüchtigen Herrn“, seine unzuverlässigen Hofbeam-ten und seine buhlerische Nichte Selicha, ist gekenn-zeichnet durch Willkür, Eigennutz, Standesdünkel, man-gelnde Affektkontrolle. Berufung auf Vernunft und über-geordnete moralische Normen bewahren Joseph nicht vorVerleumdung, Gefängnishaft, Morddrohung ... Im neuenRegime des jungen Königs Tmaus zeichnet er ganz imSinne der frühabsolutistischen Staatslehrer das Bild ei-nes Staates, der auf pietas, das heißt demütige Unter-werfung unter die göttliche, und prudentia, das heißt vor-ausschauende ratio, gegründet ist, das Gemeinwohl alsoberstes Staatsziel durch Stärkung der Zentralgewalt ge-genüber den Privile-gien der Stände zuerreichen sucht undsich dazu der Institu-tion des von denStänden unabhängi-gen Beraters be-dient. Der AufstiegJosephs zum Beraterund Vizekönig ent-spricht der Möglich-keit des sozialen Auf-stiegs des Tugend-haften im Rahmender frühabsolutisti-schen Staatsformdes siebzehntenJahrhunderts“.

    Theologisch istGrimmelshausensRoman wie die Suredes Koran aus derPerspektive des Wis-sens um die Vorse-hung Gottes ge-schrieben. Sie, dieauf Erhaltung des er-wählten Volkes zielt,wird schon am An-fang genannt:

    „Demnach Gottder Allmächtig inseinem allerweise-sten Rat beschlos-sen ....Damit aberJacob und seineKinder zu ihrer An-kunfft auch Unter-schleiff und Lebens=Mittel finden möchten / hat die Göttliche ohnverän-derliche Vorsehung Jacobs liebsten / weisesten undschönsten Sohn Joseph / den seine Brüder verkauff-ten / vor ihm her gesandt / und demselben Mittel andie Hand gegeben / dardurch Er den Jacob: seineKinder / Kindes=Kinder und sich selbsten versorgenkönnen“(8).

    Immer wieder wird im Roman ausdrücklich auf dieseVorsehung Gottes verwiesen, um das Geschehen zu kom-

    mentieren.10 Die Leerstellen der Bibel werden fast einbisschen penetrant ausgefüllt. Kein Leser soll im Zweifelsein. Schon bei der Rettung der Kaufleute mit Joseph vorden Räubern auf dem Weg nach Ägypten, betont der Er-zähler: „Hieraus siehet man des gütigen Gottes Vorse-hung und Sorg vor die jenige / so er beschirmen will“(35).

    Für Joseph kommt es darauf an, der göttlichen Vor-sehung zu folgen. Er handelt aus der Gewissheit undim Vertrauen auf Gottes Vorsehung. Diese Gewissheitbewahrt ihn vor der Versuchung, mit Selicha Ehebruchzu begehen. Ein Nachgeben gegenüber den Reizen der

    Frau des Potipharswäre nämlich Verratan seiner Berufung.Die Gewissheit derVorsehung Gotteslässt ihn auch ge-genüber Brüdernweise und besonnenauf Rache verzich-ten. Sie bringt ihndazu, vorausschau-end und klug ratio-nierend die Wirt-schaft des Nillandeszu lenken. JosephsHandeln ist in Got-tes Plan begründeteSittlichkeit. Als sol-che wird sie vonGrimmelshausen ge-priesen.

    Doch: Ist es dieSittlichkeit oder ein-fach nur die Vorse-hung Gottes, diezum guten Ende desRomans führt? Be-sonders die Se-lichaepisode undhier Josephs Gebetum Kraft, der Versu-chung zu widerste-hen, verhindern,dass Joseph beiGrimmelshausen alsMarionette der Vor-sehung Gottes er-scheinen könnte

    und damit nicht als Vorbild taugt. Die Betonung derVorsehung Gottes bringt es aber mit sich, dass dieBrüder nicht eigentlich böse sind. Sie sind Agentendes Planes des Allmächtigen. Die kluge Asenath be-greift dies und

    „machte sie den Schluß bey ihr selbsten / daß sievon der Göttlichen Vorsehung hierzu gemüssigt wordenwären / damit Josephs Tugenden der gantzen Welt offen-bahr: und so wol sie / als das Egyptische Königreich durchihn erhalten würden“ (106).

    Zur Diskussion

  • 36

    forum erwachsenenbildung 1/10

    Das zentrale biblische Deutungswort (Gen 50,20) vonden Brüdern, die es gedachten, böse zu machen, wäh-rend es Gott gedachte, gut zu machen, erscheint deswe-gen so bei Grimmelshausen nicht. Die Betonung der Vor-sehung Gottes von Anfang an erlaubt offenbar solcheSpannung zwischen menschlichem und göttlichem Han-deln nicht:

    „Joseph fiel ihm in die Rede / und sagte: In den sie-benzehen Jahren werdet ihr nichts anders als meine Brü-derliche Lieb und Treu gegeneuch verspührt haben / unddaß ich vorlängst alles / wasgeschehen ist / der Göttli-chen Vorsehung / und nichteiniger Boßheit / die in euchstecken möchte / zuge-schrieben habe; ... dann al-les / was ihr genossen habt/ ist aus Güte und VorsehungGottes geschehen; Wir wol-len derowegen darvon nichtreden / sondern ihr müst dißhören und wissen / daß wireinander jetzt näher als hie-bevor verbunden und zu-gethan seynd!“ (123)

    Wo in der Wirkungsge-schichte der Josephserzäh-lung die Geschichte im Sin-ne eines göttlichen Planesgedeutet wird, geht dieSpannung zwischen dersichtbaren und spürbarenBosheit der Menschen aufder einen Seite und der Ver-borgenheit Gottes auf deranderen verloren. Aus derPerspektive der Betroffen-heit „von unten“ sieht Gn50,20 menschliches und göttliches Handeln auf einerEbene. Erst vom Ende her, wenn das göttliche Handelndem menschlichen machtvoll entgegen getreten ist, kannwomöglich bekannt werden, dass das göttliche „Denken“die menschliche Bosheit auch umgreift. Die theologi-schen Vereindeutigungen der Josephsgeschichte im Sin-ne des Vorsehungsgedankens haben da ihre Probleme,wo die Bibel die Realität des Bösen und das GeheimnisGottes und seine Verborgenheit im Weltlauf lange ne-beneinander stehen lässt.

    3. Thomas Manns Roman – Gottesbewusstsein

    als Selbstbewusstsein

    Thomas Mann hat seinen Josephroman, die Tetra-logie „Joseph und seine Brüder“ 1924 zu schreiben be-gonnen, aber erst 1943 im amerikanischen Exil voll-endet.11 Dass er den biblischen Stoff auf seine Weise„ins einzelne ausgemalt“ (Goethe) hat, macht schon

    die etwa Verhundertfachung des Umfangs im Verhält-nis zur biblischen Geschichte deutlich. Ein theologi-scher Betrachter12 dieses Romans vermerkt darüberhinaus, dass die Figuren des Josephromans – oder derJosephromane – im Gegensatz zur biblischen Geschich-te weniger weltlich gezeichnet sind. Das ganze Gesche-hen ist von Anfang an – und nicht erst durch einzelneknappe Kommentare wie in der Bibel – mit theologi-scher, ja mythischer Bedeutung aufgeladen. Thomas

    Mann lässt in seiner Jo-sephsgeschichte den Tamuz-Osiris-Mythos vom sterben-den und auferstehendenGott zu dem bestimmendenMuster der epischen Hand-lung werden. So gehört derRoman seinerseits zur Wir-kungsgeschichte der chri-stustypologischen Ausle-gung der Josephsgeschichte.

    Als Joseph nach der langenGefängniszeit in die prächti-ge Königsstadt On vor denPharao gebracht wird, schil-dert das Thomas Mann so:

    „Jakobs Sohn, der so lan-ge nichts als die Mauern sei-nes Gefängnisses gesehen,hatte kein Muße, seine Augenzu brauchen und sich am Bildder geschäftigen Stadt undihrer Leute zu ergötzen ...Einst war es Peteprê gewe-sen, vor dem ihm zu reden ge-währt gewesen war ... Nunwar es Pharao selbst, der Al-lerhöchste hier unten, vordem er reden sollte, und innoch höherem Maße galt es

    diesmal. Was es aber galt, das war, dem Herrn behilflichzu sein bei seinen Plänen und sie nicht linkisch zu durch-kreuzen, was eine große Narrheit gewesen wäre und eineSchimpfierung des Weltganges aus Mangel an Glauben.Nur schwankender Glaube daran, daß Gott hoch hinauswollte mit ihm, würde die Ursache der Ungeschicklich-keit und schlechten Wahrnehmung der herbeigeführtenGelegenheit sein können; und darum war Joseph zwargespannt auf das Kommende und hatte nicht Blick fürden Handel und Wandel der Stadt, aber seine Erwartungwar Zuversicht, und Furcht war nicht in ihr, denn jenesGlaubens, der Ursach war aller frommen Geschicklich-keit, dass nämlich Gott es heiter, liebvoll und bedeutendmeinte mit ihm, war er gewiß“ (1049f ).

    Der Erzähler teilt nuanciert das innere Empfinden desJoseph vor der entscheidenden Begegnung mit. Die Er-weiterung gegenüber dem biblischen Stoff betrifft dasSelbstbewusstsein Josephs von seiner Sendung. Dadurcherscheint Joseph eigentümlich herausgehoben über seinGeschick. Der Joseph Thomas Manns lebt und handeltaus der Einheit von Gottesbewusstsein und Ichbewusst-

    Zur Diskussion

  • 37

    forum erwachsenenbildung 1/10

    sein. Josephs Gottesglaube ist identisch mit dem Glau-ben an seine eigene Erwählung. Gottvertrauen undSelbst- und Weltvertrauen fallen in der Konzeption Tho-mas Manns zusammen:

    „Sein eigentlichstes und allgemeines Vertrauen aberging, wie es bei Segensleuten zu sein pflegt, nicht ihm hin-aus in die Welt, sondern auf ihn selbst zurück und auf dieglücklichen Geheimnisse seiner Natur. Nicht dass er nochauf der knabenhaften Stufe blinder Zumutung verharrtwäre, wo er geglaubt hatte, daß alle Menschen ihn mehrlieben müssten als sich selbst (scil. beim jungen Josephmit seinen Träumen! M.N.). Was er aber zu glauben fort-fuhr, war, daß es ihm gegeben war, Welt und Menschendazu anzuhalten, ihm ihre beste und lichteste Seite zuzu-kehren, – was wie man sieht, ein Vertrauen war mehr insich selbst als in die Welt. Allerdings waren diese beiden,sein Ich und die Welt, nach seiner Einsicht aufeinander zu-geordnet und in gewissem Sinne eines, als daß jene nichteinfach die Welt war, sondern eben seine Welt und dadurcheiner Modelung zum Guten und Freundlichen unterlag. DieUmstände waren mächtig; woran aber Joseph glaubte warihre Bildsamkeit ... Wenn er sich einen Weg-Froh-Men-schen nannte, wie Gilgamesch es getan, so in dem Sinne,dass er die frohe Bestimmung seines Wesens zwar anfäl-lig wusste für vieles Weh, andererseits aber wieder an keinWeh glaubte, schwarz und opak genug, daß es sich für seineigenstes Licht, oder das Licht Gottes in ihm, ganz un-durchlässig hätte erweisen sollen. Dieser Art war JosephsVertrauen. Schlecht und recht benannt, war es Gottver-trauen“ (1306f ).

    Goethe hatte angedeutet, dass die Josephsgeschich-te geeignet ist, „der Jugend ... zu schmeicheln“. Das istihr Charme. Aber hat sie auch einen Schatten? Kann dieEinheit von Gott-, Selbst- und Weltvertrauen nicht aucharrogant und anmaßend sein? Bei Thomas Mann lesenwir:

    „Aber Anmaßung und Ichbezogenheit sind nur vernei-nende Namen für ein denn doch höchst bejahenswertesund fruchtbares Verhalten, dessen schönerer Name Fröm-migkeit lautet. Gibt es eine Tugend, die nicht tadelndenBezeichnungen bloßstünde, und in der sich nicht Wider-sprüche, wie der von Demut und Hoffart vereinigten?Frömmigkeit ist eine Verinnigung der Welt zur Geschich-te des Ich und seines Heils, und ohne die bis zur Anstö-ßigkeit getriebene Überzeugung von Gottes besonderer,ja alleiniger Kümmernis um jenes, ohne die Versetzungdes Ich und seines Heils in den Mittelpunkt aller Dinge,gibt es Frömmigkeit nicht ... Ihr Gegenteil ist die Nicht-achtung des eigenen Selbst und seine Verweisung insGleichgültig-Peripherische, aus welcher für die Weltnichts Gutes kommen kann. Wer sich nicht wichtig nimmt,ist bald verkommen. Wer aber auf sich hält, wie Abrames tat, als er entschied, dass er, und in ihm der Mensch,nur dem Höchsten dienen dürfe, der zeigt sich zwar an-spruchsvoll, wird aber mit seinem Anspruch vielen einSegen sein“(1287/1720f ).

    Aus diesem Zitat wird die ethische Zielrichtung der Kon-zeption Thomas Manns erkennbar. Gottesbewusstsein istnotwendig für die ethische Praxis. Wird bei Thomas Mannso der ethische Aspekt der Frömmigkeit betont, so tritt

    demgegenüber im Roman das, was man den doxologi-schen Aspekt13 der Frömmigkeit nennen könnte, zurück. Inder Bibel wird die Zuneigung der Herzen der Menschen zuJoseph als Tat Gottes erwähnt, Thomas Mann berichtet sieals Lernerfahrung und Tat Josephs. Das ist nicht ganz das-selbe. Gott ist auf diese Weise sowenig für sein Rettungs-handeln zu preisen wie er darum zu bitten ist. Nicht nur derDichter durchschaut das Geschick des Erwählten von An-fang an, weil er natürlich mit der biblischen Geschichtevertraut ist, auch der Erwählte selber kennt den Mythosvom sterbenden und auferstehenden Gott und kann ihnseinem Geschick wie ein Muster zugrunde legen. DieseHaltung, die gleichsam von oben auf das gesamte Gesche-hen schaut, das gute Ende sieht und um es weiß, kennenwir schon von Grimmelshausen. Die Erzählhaltung von bi-blischer Überlieferung und Roman sind durchaus „entge-gengesetzt“14: „Während der Erzähler der biblischen Jo-sephserzählung bemüht ist, nur das Geschehende spre-chen lassen, ist der Dichter Thomas Mann selbst durchge-hend mit Reflexionen, Folgerungen und Weiterführungenbeschäftigt“ (Westermann 289). Der Bibeltext hat Lücken,weiße Flecken. Bei Thomas Mann ist das Gemälde bis insäußerste und innerste Detail ausgefüllt. Daher kommt es,dass der Joseph Thomas Manns durch seine Reflexionenetwas verkörpert, was man eine Form der Gottessicherheitnennen könnte. Die biblische Geschichte schweigt von dersubjektiven Haltung und Frömmigkeit Josephs. Sie gibt dieDeutungen frei und zielt gerade so in der oben zitiertenDeutung Martin Luthers auf das Wachsen im Gottver-trauen.

    Wie schon im Koran und bei Grimmelshausen ist dieWiedergabe des Schlusses der biblischen Erzählung derLackmustest für die Erzählperspektive. Wo die Vorsehungoder das Bewusstsein der Erwählung das Vorzeichen vorder Klammer der Erzählung ist, kann am Schluss nichtdie überraschende Deutung des Geschehens erfolgen.Thomas Mann nimmt am Ende seines Romans die sen-tenzartige Wendung, die in der biblischen Geschichte dieQuintessenz der Geschichte enthält (Gn 50,19ff ) auf. Sieist dort als ein Lobpreis des Handelns Gottes gemeint,menschliches Handeln ist eingeladen, ihm zu entspre-chen. Im Roman sagt Joseph am Schluss zu den Brüdern,als sie ihn um Vergebung bitten:

    „Aber Brüder, ihr alten Brüder! ... Was sagt ihr da auf?Als ob ihr euch fürchtet, ganz so redet ihr und wollt, dassich euch vergebe! Bin ich denn wie Gott? ... Geht ihr michum Vergebung an, so scheint’s, daß ihr die ganze Ge-schichte nicht recht verstanden habt, in der wir sind. Ichschelte euch nicht darum. Man kann sehr wohl in einerGeschichte sein, ohne sie zu verstehen. Vielleicht soll esso sein, und es war sträflich, daß ich immer viel zu gutwußte, was da gespielt wurde ... wenn es um Verzeihunggeht unter uns Menschen, so bin ich’s, der euch darumbitten muß, denn ihr mußtet die Bösen spielen, damitalles so käme“ (1362).

    So hätte der biblische Erzähler Joseph nie sprechenlassen können, weil er eine einmalige, unerhörte Ge-schichte erzählen wollte, die auch hätte ganz anders aus-gehen können. Erst am Ende kann er staunend deuten,was geschehen war.

    Zur Diskussion

  • 38

    forum erwachsenenbildung 1/10

    4. Joseph ohne Happyend – ein Gedicht aus

    Palästina und Anspielungen in einem Roman

    aus Deutschland

    Mahmud DarwishDem 2008 verstorbenen Mahmud Darwish wird die

    Gestalt Josephs transparent für die Gewalt und den Hasszwischen den arabischen bzw. palästinensischen Brü-dern. Das Gedicht ist Joseph in den Mund gelegt. Es hatdie Form der Klage:

    „Ich bin Joseph, mein Vater.Vater, meine Brüder lieben mich nicht.Sie dulden mich nicht unter sich, Vater.Sie sind mir feind und werfen mit Steinen und Worten

    nach mir.Sie wollen, dass ich sterbe, damit sie mich loben kön-

    nen.Sie verriegelten die Tür deines Hauses vor mir.Sie vertrieben mich vom Feld.Vater, sie haben meine Trauben vergiftet.Und sie haben mein Spielzeug kaputtgemacht, Vater.Als sie sahen, wie der Wind mit meinem Haar spielte,

    wurden sie eifersüchtig

    Und lehnten sich auf gegen mich und gegen dichAber was habe ich ihnen getan, Vater?Die Schmetterlinge ließen sich auf meinen Schultern

    nieder,die Ähren verneigten sich vor mir,und ein Vogel landete auf meiner Hand.Was habe ich getan, Vater, und warum ich?Du hast mich Joseph genannt,und sie warfen mich in den Brunnen und gaben dem

    Wolf die Schuld.Doch der Wolf ist barmherziger als meine Brüder, o

    Vater.Habe ich jemandem Unrecht getan, als ich sagte,ich habe elf Sterne gesehen und die Sonne und den

    Mond,habe gesehen, wie sie sich vor mir verbeugten?“15

    Dieser Joseph nennt zunächst, was ihm seine Brüderangetan haben. Die Bezüge zur biblisch-koranischen Jo-sephsgeschichte sind zunächst noch kaum erkennbar.Im Mittelteil schildert Joseph die nichtigen Anlässe, indenen man nur böswillig eine Bevorzugung sehen könn-te. Er beteuert seine Unschuld. Das Verneigen der Ährennimmt Bezug auf den Traum des kleinen Joseph in Bibelund Koran. Die Anspielungen auf die Josephsgeschichtewerden dann deutlicher: der Wurf in den Brunnen, dieLüge über die Todesursache, die Erwähnung des zweitenTraumes mit den Sternen sowie Sonne und Mond. Hierspricht das Kind, das Opfer der Gewalt, das die Welt unddas Böse nicht versteht. Mahmud Darwish erinnert nichtdie politischen Szenen der Josephüberlieferung, um eineethische Wirkung zu erreichen. Die Familienszenen derJosephsüberlieferung werden aktualisiert, um die politi-sche Situation zu deuten. Anders als im Koran ist dasgute Ende des Konfliktes nicht präsent. Die Perspektivedes Gedichts ist eher die der biblischen Geschichte: „vonunten“.

    Lion Feuchtwanger, Jud Süß1925, als Thomas Mann gerade mit seinem „Joseph“

    begonnen hatte, erschien Feuchtwangers Roman „JudSüß“ in der ersten Auflage. Feuchtwanger hatte sichschon über 10 Jahre lang mit dem Stoff beschäftigt16 undauch ein Drama dazu geschrieben, das bereits 1916/17uraufgeführt worden war. Der umfangreiche Roman ent-hält an zwei Stellen eine Anspielung auf den biblischenNamensvetter des Titelhelden Joseph Süß Oppenheimer.Der jüdische Kaufmann stieg in der 1. Hälfte des 18. Jahr-hunderts unter Förderung von Herzog Karl August vonWürttemberg, trotzdem er als Jude verspottet und vonpoltischen Feinden und Neidern gehasst war, zum mäch-tigsten Mann in Württemberg auf. Keineswegs als „keu-scher“ Joseph lebt er assimiliert an die höfischen Kreise.Seine politische Idee ist nicht die Wohlfahrt aller, son-dern die Etablierung absolutistischen Prunks des Her-zogs. Anders als der Aufstieg des biblischen Joseph ander Seite eines Fürsten endet die Karriere von „Jud Süß“tragisch. Feuchtwangers Roman erzählt, wie er sich amHerzog, der für den Freitod seiner Tochter verantwortlichist, rächt. Er will Verantwortung übernehmen für einen

    Zur Diskussion

  • 39

    forum erwachsenenbildung 1/10

    Verfassungsbruch und wird nach demTod des Herzogs hingerichtet. Der pas-sive, leidende Joseph Süß Oppenhei-mer, der nun das Judesein ausdrücklichwählt, gewinnt dabei auch Züge einesOpferlamms: „Besser der Jud wird zuUnrecht erwürgt, ....als er bleibt zuRecht leben und das Land gärt weiter.... Das ist ein seltenes Ereignis, daß einJud für Christenschelmen die Zechezahlt“ (S. 506).

    Die erste Anspielung auf den Jo-seph der Bibel findet sich in derPhantasie von Süß OppenheimersTochter Naemi, die sich den Vater alsidealen Held erträumt: „Nein, ihr Va-ter war herrlich und in großem Glanz,und die Verleumdung der Heiden undPhilister schmutzte ihm nicht die Soh-le ... Er war Simson, der die Philisterschlug, er war Salomo, der weise warüber alle Menschen, er war, und dies glitt immer öf-ter in ihre Träume, er war Josef, der milde, kluge, denPharao setzte über alles Volk und der das Volk zinstefür die künftige Hungersnot. Aber sie waren töricht undsahen seine Weisheit nicht ein“ (S. 224). Der biblischeJoseph als Idealbild für Süß hebt sich aus der Reiheder anderen biblischen Figuren heraus, weil er wie Süßseine Stellung der Einsetzung durch einen andernverdankt, wie Süß politische Macht ausübt. Im Gegen-satz zur biblischen Geschichte wird ein Konflikt ver-merkt zwischen dem Helden und dem Volk. Die Situa-tion des Abbildes prägt die Sicht auf das Urbild.

    Die zweite Anspielung auf den biblischen Joseph stehtin einem inneren Monolog von Süß Oppenheimer selber,der plant, einen unschuldig verfolgten Juden vor dem Todzu retten: „Er klammerte sich an die Idee, sie schmei-chelte ihm, .... Wie? Wenn er nun ausersehen wäre, Isra-el zu rächen an Edom? Das kann doch nicht blinder Zu-fall sein, dass er dasteht wie Josef, den der Pharao er-höht hat“ (S.294).

    Der Vergleichspunkt ist jeweils der Aufstieg einesEinzelnen zu Macht und Einfluss in einer kulturell frem-den Umgebung. Man wird aus den beiden kleinen An-spielungen nicht zu viel herauslesen dürfen. Das ge-fährlich Reizvolle der Josephtypologie wird betont, dasauch Goethe auf seine Art andeutete. Sie „schmei-chelt“ und verführt zum Träumen. Erwählungsbewusst-sein kann blind machen. Es ist bemerkenswert, dassda, wo die Bibel die kulturellen Gegensätze der Her-kunft und der Frömmigkeit nicht achtet, der Romandieses Konfliktpotenzial stark macht. Anders als in derbiblischen Geschichte begründet die Erhöhung desJoseph im Roman kein Happyend, besiegelt nicht eineSegensgeschichte, sondern führt angesichts der rea-len Verhältnisse zum Scheitern und zur realen Schuld-übernahme. Folgt in der biblischen Geschichte auf dieinnerfamiliäre Katastrophe das gute Ende auf der ge-sellschaftlichen Bühne, so im Roman auf die Erhöhungauf der gesellschaftlichen Ebene die familiäre Katastro-

    phe und die selbstgewählte Erniedrigung. Das Bildvom erhöhten Fremdling Joseph in Ägypten erweistsich als naives und gefährliches Wunschbild. Wo Tho-mas Mann die mythisch-humane Überzeitlichkeit desJoseph beschwört, schildert Feuchtwanger den Konflikt,der mehr dumpf in Neid und kultureller Lebensart alsin der Religion begründet ist. Auch ein Vergleich mitMahmud Darwish ist erhellend. Anders als der palä-stinensische Dichter greift Feuchtwanger nicht auf denBruderstreit zurück, um die Josephsgeschichte als Kon-flikttypologie zu nutzen, sondern auf den Teil derGeschichte, wo in der Bibel geradezu „alle MenschenBrüder“ werden. Die Erhöhung des Fremden in einervielfältig spannungsreichen Situation findet kein nach-haltiges Fundament. Dadurch wird der utopisch-ethi-sche Gehalt der Josephsgeschichte angezweifelt, wennsie zu einem Ideal der Assimilation oder des kulturell-religiösen Miteinanders trivialisiert wird. Im Buch Exo-dus erzählt die Bibel realistisch die Fortsetzung derJosephsgeschichte, ohne damit den auf die Völker inihrer Gesamtheit bezogenen Segenswillen Gottes zuwiderrufen.

    5. I have a Dream oder: Joseph in Andrew

    Lloyd Webbers Musical

    Die biblische Josephsgeschichte ist Ende des ver-gangenen Jahrhunderts tief in das weite Land des Un-terhaltungsmilieus vorgedrungen. Die Rede ist vonAndrew Lloyd Webbers Musical von 1996, Joseph andthe Amazing Technicolor Dreamcoat. www.musical-world.de schreibt dazu: „Nette Kinderchöre, die dasHerz jeder Oma höherschlagen läßt, bunte Hippie-Ko-stüme mit rockendem Elvis-Pharao, der jede Mama inihre Sturm-und-Drang-Zeit versetzt, und dem discomä-ßigen Joseph-Megamix, der die Show dann doch aufmehr als kurzweilige 75 min verlängert und die Kids

    Zur Diskussion

  • 40

    forum erwachsenenbildung 1/10

    so richtig abzocken läßt, sind die Kennzeichen deslauten Spektakels. Verstockte Bibelkreise werden sichbei beturnschuhtem Potiphar und den Cheerleaderndes Pharaoh die Haare raufen oder zumindest ver-ständnislos wie die überdimensionale Sphinx mit denAugen rollen. Hier zählt einfach der Spaß an der Freu-de und den hat „Joseph“ im Essener Colusseum wirk-lich zu bieten“.

    Ursprünglich hatte Webber schon 1968 das Stück alskurze Pop-Cantata mit Tim Rice (Text) für eine Knaben-schule in London entwickelt. Erst später wurde es vonden beiden zu einem abendfüllenden Musical ausgebaut.Den ursprünglichen „Sitz im Leben“ merkt man dem Stückdeutlich an. Webbers Musical hat eine schlichte Bot-schaft. Es will Jungen durch die Geschichte des JosephMut machen: „Any dream will do“, singen alle im Finale.Die gigantomane Schmeichelei wird nicht wie beim al-ten Goethe in der Rückschau leise kritisiert. Im Gegen-teil: Die großen Träume bringen weiter. Man soll ihnenfolgen. Die pädagogische Moral der Geschichte wird aus-drücklich angesagt. Der Held der Geschichte ist „wie du“.Die Erzählerin singt gleich im Prolog:

    „Mancher träumt, daß er Wunder vollbringt,Solang das Pendel der Lebensuhr schwingt.Mancher nutzt nie seinen Verstand,steckt lebenslang seinen Kopf in den SandNur Gott weiß, wer das Richtige machtDer Zufall will’s, ihr seid hier heute Nacht.Kommt näher, dann hört ihr von mirDas Märchen eines Träumers wie dir.Träumt nicht jeder oft?Manchmal glückt’s, was man erhofft.

    Denn wenn du tief und ehrlich glaubst an deinGefühl,

    kommst du auch ans Ziel.Drum lauscht und bestaunt, was das alte Gleich-

    nis raunt.Einem Jungen fielen alle Träume zu, und er war

    wie du.“17

    Der bunte Rock der Bibelgeschichte wird imMusical zum Zeichen für eine hoffnungsfrohe Welt-und Lebenssicht. Er hilft wie die Träume – und dieflotte Musik –, das Leben zu meistern. Der Redevon Gott, seiner Begleitung und seinem Segenbedarf es nicht mehr. Der Dreamcoat gehört vonseinem Ursprung her in die Flower-Power-Zeit undbetont als Stück für ein pädagogisches Institutnachdrücklich – die Power! Es gibt schlechtereBeispiele für Edutainment.

    6. Eine Bilanz: Ausmalung, Moralisierung

    und Spannungsverminderung

    Goethe fasst in „Wilhelm Meisters Wanderjah-re“ einen Diskurs über den pädagogischen Stel-

    lenwert von Religion so zusammen: „An dieser Religion(scil. der christlichen) halten wir fest, aber auf eigeneWeise“18. Auf „eigene Weise“ wird sehr unterschiedlichan der biblischen Tradition in den besprochenen Beispie-len festgehalten. Der Stoff der Josephsgeschichte wirdin Auswahl angeeignet (z. B. Webber/Rice), er wird er-gänzt (Mann) und er wird durch Perspektivenänderungumformatiert (Grimmelshausen).

    Überblickt man die hier vorgestellten Beispiele der Wir-kungsgeschichte der Josephsgeschichte – wie wenigkonnte nur gezeigt werden: ganz fehlt die nachmittelal-terliche Wirkungsgeschichte in der bildenden Kunst oderin dramatischen Formen der Gegenwart19! – so lassen sicheinige Beobachtungen festhalten.

    1.Die These Westermanns, dass die Figur mehr alsdie Geschichte erinnert wird, bestätigt sich zunächst.Die Gestalt Josephs ist dabei ausgesprochen „typolo-giefähig“. Joseph eignet sich für die Darstellung derelementaren Herausforderungen der individuellen Le-bensgeschichte – Verhältnis zu Geschwistern, zumVater und zum anderen Geschlecht. Die Gestalt desJoseph ist aber darüber hinaus auch eine Figur despolitischen Lebens. Er ist nicht nur Bruder und Sohn,sondern auch Beamter und Herrscher. In ihm könnenAufgaben des politischen Lebens dargestellt werden.All dies gehört zur Moralisierung des Josephstoffes inder Wirkungsgeschichte.

    2.Der besondere Stil der biblischen Josephserzählungliegt in ihren Leerstellen und in ihrer Erzählperspektive. DieLeerstellen regen Erweiterungen des Stoffes an. Diesebetreffen z. B. die Details der äußeren Geschichte in Ägyp-ten, aber auch die innere Geschichte der Personen. Das

    Zur Diskussion

  • 41

    forum erwachsenenbildung 1/10

    Zur Diskussion

    nicht Erzählte verlockt die Phantasie zur Ausmalung undzur jeweils eigenen Deutung. Die Wirkungsgeschichteführt das Fragmentarische der Geschichte aus. Darin liegtneben allem anderen auch der Reiz des Stoffes begründet,dass er selbst, was seine Deutung betrifft, nicht all zu vielpreisgibt und sich zurückhält. Man will näher verstehen,wie das außergewöhnliche Geschehen von Erniedrigungund Erhöhung, Bruderhass und Rettung, menschlicherBosheit und göttlichem Segen zusammenhängt!

    3. Zur Figur des Joseph gehört deswegen unabding-bar der Geschehensbogen der Geschichte. Mit der Fi-gur kommt immer auch die Geschichte auf den Plan.Die Wirkungsgeschichte arbeitet sich an der Gesamt-deutung der Geschichte ab. Wo die Frage nach derEinheit und dem Sinn der Lebensgeschichte des Josephgestellt wird, kommen theologische Deutungen insSpiel. Die in Gen 50,20 formulierte Spannung lässtnach scheinbar einfacheren und eindeutigen Lösungenfragen, wie sich menschliche Bosheit und Gottes Ret-tungshandeln zueinander verhalten. Die göttliche Vor-sehung wird herausgestrichen (Koran, Grimmelshau-sen) oder das subjektive Erwählungsbewusstsein (Tho-mas Mann) Josephs. Die Geschichte kann gefährlich„schmeicheln“. Dabei wird in der Wirkungsgeschichtedas in der Geschichte Angedeutete in bestimmterWeise „vereindeutigt“. Die Spannung wird dadurchvermindert, dass die Erzählperspektive wechselt: Einallwissender Erzähler gibt das gute Ende schon amAnfang kund. Aber es zeigt sich auch: Die Frage nachder Einheit der Lebensgeschichte des Joseph ist derZusammenhang, in dem – in welcher Weise auch im-mer (z. B. Webber/Rice: Any dream will do!) – religiö-se Antworten zum Zuge kommen. Sogar noch in dereigentümlichen Brechung des Joseph-Motivs beiFeuchtwanger wird die Frage nach der Einheit der Le-bensgeschichte des Joseph Süß Oppenheimer zum Ort,wo Religiöses lebendig wird. Weil der Josephstoff die-se Frage stellen lässt, ist er, wie die Wirkungsgeschich-te zeigt, nicht nur unterhaltend, phantasieanregendund Exempel für die Entwicklung von Ethos, sondernauch immer wieder neu und in unterschiedlicher Wei-se religionsproduktiv.

    Oberkirchenrat Dr. Michael Nüchtern ist zuständig für die theolo-gische Grundsatzarbeit im Evangelischen Oberkirchenrat in Karls-ruhe.

    ö 5AnmerkungenAnmerkungenAnmerkungenAnmerkungenAnmerkungen1 Goethes Werke, Hamburger Ausgabe, Band IX, Sonderausgabe

    München 1998, 140f.2 Die Anmerkungen der Hamburger Ausgabe nennen (ebd 684):

    Johann Jacob Bodmer, Jacob und Joseph, 1751, sowie Joseph undZulika, 1753.

    3 Ebd 684.4 Eine Vorfassung dieser Arbeit erschien unter dem Titel: Im Blick-

    punkt Joseph, in: Manfred Oeming, Walter Boes (Hg.), Alttesta-mentliche Wissenschaft und kirchliche Praxis, FS Jürgen Kegler,Beiträge zum Verstehen der Bibel, Band 18, Berlin, 2009, 67–82.

    5 Biblischer Kommentar Altes Testament I,3, Genesis 37–50, Neu-kirchen 1982, 289.

    6 Nachwort in: Hartmut Bobzin, Josef in Ägypten, Bibel und Koran,München 2008, 121f.

    7 Vgl die Einleitung von Wolfgang Bender zu: Grimmelshausen,Gesammelte Werke in Einzelausgaben, Bd 5, Tübingen 1968, VI-Iff.

    8 Alle Zitate nach: Grimmelshausen, Gesammelte Werke in Einzel-ausgaben, Bd 5, Tübingen 1968. Der Roman ist auch im Internetunter www.gutenberg.spiegel.de leicht zugänglich.

    9 München 1999, 183.10 Vgl. Volker Meid, Grimmelshausen: Epoche – Werk – Wirkung,

    Arbeitsbücher für den literaturgeschichtlichen Unterricht, Mün-chen 1984, 186f; 193.

    11 Zitiert wird im Folgenden nach der vierbändigen Ausgabe, Jo-seph und seine Brüder, Frankfurt 1971.

    12 Gerhard von Rad, Biblische Josephsgeschichte und Josephsro-man: Neue Rundschau 76,1965, 546ff.

    13 vgl. hierzu auch: Dietmar Mieth, Epik und Ethik. Eine theolo-gisch-ethische Interpretation der Josephromane Thomas Manns,Studien zur Deutschen Literatur 47, Tübingen 1976, 202.

    14 Westermann, aaO, BKAT I,3,289.15 Mahmud Darwish, Wir haben ein Land aus Worten. Ausgewählte

    Gedichte 1986–2002, aus dem Arabischen übersetzt und her-ausgegeben von Stefan Weidner, Zürich 2002, 25.

    16 Vgl. Gisela Lüttig, Nachbemerkung zu: Lion Feuchtwanger, JudSüß, aufbau taschenbuch, Berlin 20086, 537ff.

    17 Zitiert nach: Booklet zu Joseph and The Amazing TechnicolorDreamcoat. Deutsche Originalaufnahme, Colosseum Essen, Tex-te Tim Rice, Musik Andrew Lloyd Webber, Polydor 1997.

    18 Werke, Hamburger Ausgabe, Band 8, Sonderausgabe München1998, 405.

    19 Hier ist z. B. die Verfilmung des Stoffes von 1995 mit Starbeset-zung (Ben Kingsley, Monica Bellucci u.a.) zu erwähnen.