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Mercator-Professur 2012 Prof. Dr. Dr. h.c. Wolfgang Huber

Mercator-Professur 2012 Prof. Dr. Dr. h.c. Wolfgang Huber · fragen, zur Bioethik, zum Verhältnis von Christentum und Islam sowie zur Ethik des Unternehmertums. Wolfgang Huber wurde

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Mercator-Professur 2012 Prof. Dr. Dr. h.c. Wolfgang Huber

Universität Duisburg-Essen

Mercator-Professur 2012Prof. Dr. Dr. h.c. Wolfgang Huber

Theologe, EKD-Ratsvorsitzender a.D., Autor

Herausgeber: Der Rektor der Universität Duisburg-EssenRedaktion: Ressort Presse in der Stabsstelle des Rektorats, Dr. Alexandra NießenSatz: kasoan, HerzogenrathUmschlag: h2m – Kommunikationsagentur

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Inhalt

Prof. Dr. Ulrich Radtke Einleitung 5

1. Vorlesung, 29. November 2012Prof. Dr. Dr. h.c. Wolfgang Huber Generationengerechtigkeit. Über die Pflichten gegenüber kommenden Generationen 9

Diskussion 25

2. Vorlesung, 16. Januar 2013Prof. Dr. Dr. h.c. Wolfgang Huber Die Energiewende als ethische Herausforderung 37

Diskussion 55

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Prof. Dr. Ulrich Radtke Rektor der Universität Duisburg-Essen

Einleitung

Es ist mittlerweile eine gute Tradition, wenn wir jedes Jahr eine Person eh-ren, die in besonderem Maße die Idee der Mercator-Professur verkörpert, indem sie die gesellschaftliche oder politische Auseinandersetzung mit wichtigen Zeitfragen anregt. Ich freue mich sehr, dass wir in diesem Jahr den ehemaligen Ratsvorsitzenden der evangelischen Kirche in Deutschland und einen unbestreitbar streitbaren Theologen, Prof. Dr. Wolfgang Huber, dafür gewinnen konnten.

Bevor ich Ihnen unseren diesjährigen Mercator-Professor und die Gründe für seine Ernennung näher vorstelle, möchte ich etwas zur Historie der Mercator-Professur sagen. Unsere Leitidee an der Universität Duisburg-Essen lautet „Offen im Denken“. Weltoffenheit und Weitblick – das sind zwei Attribute, mit denen wir uns identifizieren. Und die maßgeblich dar-über entscheiden, ob jemand Inhaber der Mercator-Professur an der UDE werden kann. Seit 1997 hält die Mercator-Professur das Vermächtnis des berühmten Duisburger Kartographen und Universalgelehrten Gerhard Mer-cator aus dem 16. Jahrhundert wach.

Seit Einführung der Mercator-Professur konnte in jedem Wintersemester eine herausragende Persönlichkeit des öffentlichen Lebens für diese viel be-achtete Vortragsreihe gewonnen werden. Bisherige Inhaber waren Bundes-minister a.D. Hans-Dietrich Genscher, Siegfried Lenz, Prof. Dr. Jan Philipp Reemtsma, Prof. Dr. Jutta Limbach, Volker Schlöndorff, Ulrich Wickert, Da-niel Goeudevert, Walter Kempowski, Bundespräsident a.D. Dr. Richard von

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Weizsäcker, Necla Kelek, Prof. Dr. Hannah Ashrawi, die Nobelpreisträgerin Prof. Dr. Christiane Nüsslein-Volhard, Peter Scholl-Latour, Alice Schwarzer und vergangenes Jahr Prof. Dr. Dr. Udo Di Fabio. Wir blicken also auf eine erfolgreiche Reihe zurück und auf außerordentliche Persönlichkeiten.

Nun zur außergewöhnlichen Persönlichkeit Wolfgang Hubers, den Wolfgang Thielman in der ZEIT-Beilage „Christ und Welt“ vom 2. August 2012 als „ethische Instanz“ bezeichnet hat. Wolfgang Huber wurde 1942 in Straß-burg geboren und wuchs in Freiburg/Breisgau auf. Das Familienleben im El-ternhaus gestaltete sich eher „kirchenfern“. Wolfgang Huber fand trotzdem den Zugang zum Glauben und zur Theologie – in einer Familie, in der fünf von sieben Personen in Jura promoviert haben. Und obwohl ihn seine Eltern – als sie von seiner Studienabsicht erfuhren – zu Heidegger schickten, in der Hoffnung, er könne ihren Sohn beraten – oder ihm abraten.

Wolfgang Huber studierte dennoch Theologie in Heidelberg, Göttingen und Tübingen. Auch da waren seine ersten Erfahrungen ernüchternd: Im Hei-delberger Studentenwohnheim ist er der einzige Theologe und bekommt von einem Kommilitonen zu hören: „Was, Du studierst Theologie?! Bisher habe ich Dich für einen vernünftigen Menschen gehalten!“ Doch Huber weiß, was er will und lässt sich nicht irritieren – damals so wenig wie heute.

Der „vernünftige“ Theologe Huber promovierte 1966 und wirkte anschlie-ßend als Vikar bzw. Pfarrer in Württemberg. Seit 1966 ist Wolfgang Huber mit Kara Huber-Kaldrack verheiratet; sie haben drei Kinder und vier Enkel. Kara Huber ist Lehrerin, Buchautorin, Protestantin und Weggefährtin und – wie aus der Biografie hervorgeht – oft eine wichtige Kontrollinstanz und vielleicht auch manchmal Kritikerin.

1972 habilitierte sich Wolfgang Huber und war bis 1980 mit der stellver-tretenden Leitung der Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemein-schaft in Heidelberg betraut. Anschließend folgte er einem Ruf auf die Pro-fessur für Sozialethik an der Universität Marburg. 1984 wechselte er als Professor für Systematische Theologie an die Uni Heidelberg. Seit 2010 ist er Fellow des Stellenbosch Institute for Advanced Study (STIAS) in Südafri-ka. Das ist seine erste Rolle – die des Wissenschaftlers.

Erst in seiner zweiten Rolle ist Wolfgang Huber ein Mann der Kirche: Er war von 1994 bis 2009 Bischof der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg.

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Sechs Jahre lang, von 2003 bis 2009, repräsentierte er als Ratsvorsitzender der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) die 24,5 Mio. Menschen evangelischen Glaubens in der Bundesrepublik. Immer wieder hat er sich in wichtigen gesellschaftlichen Debatten als Vertreter der evangelischen Kirche zu Wort gemeldet, zum Beispiel zur Rolle der Familie, zu Bildungs-fragen, zur Bioethik, zum Verhältnis von Christentum und Islam sowie zur Ethik des Unternehmertums.

Wolfgang Huber wurde unter anderem mit dem Großen Verdienstkreuz mit Stern und Schulterband der Bundesrepublik Deutschland, dem Verdienst-orden des Landes Berlin und dem Europäischen Kulturpreis ausgezeichnet. Die Christliche Akademie Warschau verlieh Prof. Dr. Wolfgang Huber die Ehrendoktorwürde.

Ganz sicher hat Huber auch eine politische Dimension. Von politischen Äm-tern jedoch sah er ab. So hatte er sich 1993 gegen ein Bundestagsmandat für die SPD entschieden und folgte stattdessen der Berufung zum Bischof der Evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg. Huber ist seither parteilos und wurde nach dem Rücktritt Horst Köhlers im Mai 2010 als überpartei-licher Kandidat für das Amt des Bundespräsidenten gehandelt. Heute wid-met sich Wolfgang Huber vor allem der Wertevermittlung in Wirtschaft und Gesellschaft. Er hält Vorträge und berät ausgewählte Institutionen aus Wirt-schaft, Politik, Medien und Gesellschaft sowie Führungskräfte in ethischen, gesellschaftlichen und religiösen Fragen. Seine Schwerpunkte liegen dabei in den Bereichen Wirtschaftsethik, Bildung und Bioethik. Er arbeitet als Publizist und Theologie-Professor. Daneben hat er zahlreiche Ehrenämter inne, so ist er Mitglied im Deutschen Ethikrat.

Wolfgang Huber ist also in vielen Rollen zuhause. Reinhard Bingener schrieb in der FAZ vom 11. August 2012: „Er hat es gleich in drei Rollen zu einer gewissen Perfektion gebracht. In seiner Person verbinden sich die Glaub-würdigkeit des Pastors, die Akribie des Professors sowie der Instinkt und die Entschlossenheit des Politikers.“ Sein Biograph nennt ihn sogar „Super-Huber“.

„Wer die öffentlichen Debatten verfolgt, weiß, dass Wolfgang Huber einer der führenden intellektuellen Köpfe unseres Landes ist.“ Das sagte der frü-here Bundeskanzler Gerhard Schröder in seiner Würdigung zum 70. Ge-burtstag von Wolfgang Huber. Und, dass er ein Mensch sei, mit dem man

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gerne mal ein Glas Wein trinkt, denn er entspräche so gar nicht dem viel-leicht zu Unrecht gezeichneten Bild eines evangelischen Pfarrers.

Und in der Tat findet man in den letzten 20 bis 30 Jahren kaum ein aktuelles, brennendes oder kontroverses Thema, zu dem Wolfgang Huber nicht ent-scheidend mit diskutiert hätte. Huber hält Predigten und Vorträge, schreibt Kolumnen, berät Institutionen und nimmt Stellung – bezieht Position. Die Märkische Allgemeine hat kürzlich geschrieben: „Er ist weltgewandt, ein begnadeter Manager der eigenen Intellektualität, nie um Antworten verle-gen und hat gern zu Ende gedacht, was andere gerade zu begreifen begin-nen.“ Diese Ansicht teilt auch Hubers Nachfolgerin im EKD-Vorsitz Margot Käßmann: „Wenn andere um 22 Uhr schon in den Seilen hingen, war er immer noch glasklar und trennscharf bei der Sache – er hat eine enorme intellektuelle und physische Leistungskraft.“

Neben dieser intellektuellen Leistungsfähigkeit zeichnet ihn auch eine gewisse Zielgerichtetheit aus: Kein Politiker kommt an ihm und seiner kritischen Würdigung vorbei. Das freut naturgemäß den einen mehr als den anderen. Und trotzdem merkt der, der sich mit Wolfgang Huber be-schäftigt, dass die meisten seinen respektvollen Umgangston zu schätzen wissen.

Richard von Weizsäcker, Bundespräsident a.D. und selbst ehemaliger Mer-cator-Professor, sagt über ihn: „Wolfgang Huber und mich verbindet immer das Empfinden eines elementaren Zusammenhanges zwischen christlichem Bekenntnis und politischer Verantwortung. Das klare Bekenntnis zur De-mokratie und einer tätigen Rolle des einzelnen Christen wie der Kirche in ihrer Gesamtheit für unsere Gesellschaft ist ihm zentrale Leitlinie gewesen und geblieben, ob es um die inneren Herausforderungen oder um die Be-ziehungen zu unsern Nachbarn ging. Wolfgang Hubers Beiträge waren und bleiben unersetzlich.“ Auch mit den von Weizsäckers verbindet Huber eine Freundschaft und langjährige Verbundenheit.

Mich persönlich beeindrucken an unserem Mercator-Professor weniger sei-ne vielfältigen Wandlungen, sondern vielmehr die Kontinuität seiner Wan-delbarkeit. Wer nicht nur mit der Zeit geht, und ständig in der ZEIT steht, sondern auch noch immer seiner Zeit voraus ist und wessen Zeit immer da und nie veraltet zu sein scheint, der verkörpert in bestem Maße das zeitlose Erbe Mercators.

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Prof. Dr. Dr. h.c. Wolfgang Huber

GenerationengerechtigkeitÜber die Pflichten gegenüber kommenden Generationen

I.

Dass mir in diesem Mercator-Jahr die Mercator-Professur der Universität Duisburg-Essen übertragen worden ist, empfinde ich als eine große Ehre. Fünfhundert Jahre nach der Geburt des beeindruckenden Universalgelehr-ten Gerhard Mercator hier sprechen zu dürfen, ist zugleich eine Einladung zur Bescheidenheit. Heute würde niemand mehr beanspruchen, Kosmo-graphie und Weltgeschichte, Theologie und Philosophie so miteinander zu verbinden, wie Mercator dies vor einem halben Jahrtausend tat. Auch wenn man die rasante Vervielfachung des wissenschaftlich zugänglichen Wissens in Rechnung stellt, ist die Weite der von Gerhard Mercator bearbeiteten und beherrschten Themen staunenswert.

Dabei hätte er es sich auch leichter machen und das eine oder andere der von ihm bearbeiteten Gebiete auf sich beruhen lassen können. Insbeson-dere seine Beschäftigung mit der Theologie, die mich natürlich besonders interessiert, gereichte ihm nicht nur zur Freude. Wegen „Lutherey“, also als protestantischer Abweichler, wurde er 1544 im heimischen Flandern für viele Monate eingekerkert; umso lieber nahm er die Einladung nach Duis-burg an, um hier in Freiheit zu lehren und zu forschen. Auch wenn es zur Gründung der Universität, an der er Kartographie unterrichten sollte, da-mals noch nicht kam (die alte Universität Duisburg wurde erst einhundert Jahre später gegründet), entfaltete er eine weit reichende wissenschaftliche

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Tätigkeit, die auch weiterhin die Theologie in erstaunlichem Umfang ein-schloss. Deshalb freue ich mich darüber, als Theologe die Mercator-Profes-sur wahrnehmen zu können und dabei nicht fürchten zu müssen, wegen der auch bei mir durchaus vorhandenen „Lutherey“ eingesperrt zu werden.

Aber nicht durch seine Theologie ist Gerhard Mercator berühmt gewor-den, sondern durch seinen Beitrag zur Globalisierung des geographischen und historischen Bewusstseins. Als „Kosmograph“ hat man ihn bezeichnet; er trug maßgeblich dazu bei, dass Erdglobus und Himmelsglobus in ihrer Zusammengehörigkeit gesehen wurden. Insbesondere aber erhöhte er die Präzision, mit der die Erde auf Karten und Globen dargestellt wurde. Er profitierte wissenschaftlich von dem ersten Schub der modernen Globalisie-rung, der mit den Entdeckungen der Kolumbus-Zeit eingeleitet wurde. Zu-gleich erarbeitete er eine möglichst exakte chronologische Weltgeschichte von den Anfängen bis zu seiner eigenen Gegenwart, dem Jahr 1568.

Dieser Verbindung zwischen globaler Geographie und globaler Chronologie eignet eine eigentümliche Modernität. Auch in der heutigen Globalisierung verschränken sich räumliche und zeitliche Dimensionen. Die weltweite Mo-bilität und die den Erdball umspannende digitale Kommunikation machen den Globus zu einem Wirtschafts- und Lebensraum, der alle einschließt. Dieser gemeinsame Lebensraum ist jedoch durch die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen gekennzeichnet; deshalb verlangt die Globalisierung auch nach einer Globalgeschichte, die diese Gleichzeitigkeit des Ungleichzeiti-gen aufzuklären vermag. Es fügt sich deshalb gut, dass eine Universität, an der heute Probleme der Globalisierung eine so gewichtige Rolle spielen, sich auf Gerhard Mercator berufen kann. Beispielhaft will ich das Institut für Entwicklung und Frieden als einen Ort nennen, an dem hier in Duisburg „Globale Trends“ intensiv erforscht und bearbeitet werden, und mich für den Erkenntnisgewinn, den ich selbst aus dieser wissenschaftlichen Arbeit in Duisburg gezogen habe, besonders bedanken.

II.

Ich betrachte die heute mit der Globalisierung aufgeworfenen Fragen aus der Perspektive der Ethik. Dabei orientiere ich mich an einem in der theo-logischen Ethik entwickelten Ansatz, dem zufolge die mit der menschlichen Freiheit gegebene Verantwortung sich nicht nur als Selbstverantwortung

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auf die Gestaltung des eigenen Lebens richtet, sondern in dem Glauben an den einen Gott, vor dem alle Menschen gleich sind, eine Grundlage für eine radikal verstandene Gleichachtung aller und damit eine wichtige Basis für ein inklusives Verständnis der Menschenrechte findet.1 Die offene Frage dieses Ansatzes heißt: Wie weit reicht die Inklusion? Wer gehört zu denen, die in ihrer Würde gleich zu achten sind? Vorrangig werden drei Antworten gegeben: jeder Mensch vom Anfang bis zum Ende seines Lebens, Behinder-te wie Nichtbehinderte, alle lebenden Menschen auf dem Globus.

Die erste Antwort hat mit der Frage zu tun, von wann an dem Menschen Würde zuzusprechen ist und wie weit diese Würde reicht. Der Schutz des vorgeburtlichen Lebens und der Einbezug des Sterbens in ein menschen-würdiges Leben treten dann in den Vordergrund. In der zweiten Antwort wird Inklusion – insbesondere in der pädagogischen Diskussion – darauf bezogen, dass Menschen mit Beeinträchtigungen die gleichen Chancen haben sollen wie andere, deren Grenzen sich nicht in offenkundigen Be-hinderungen zeigen. Schließlich wird drittens die Frage diskutiert, ob die Inklusion sich nur auf die Angehörigen der eigenen Gesellschaft richtet, mit denen wir die gleichen Bürgerrechte teilen, oder ob sie alle auf dem Globus lebenden Menschen einschließt, sich also an den für alle geltenden Menschenrechten ausrichtet.

Doch die Reichweite der Inklusion ist mit diesen drei Perspektiven – Ach-tung der Menschenwürde vom Anfang bis zum Ende des menschlichen Lebens, gleiche Achtung und deshalb möglichst weitgehende Beteiligung von Menschen mit Behinderungen und schließlich Anerkennung der Men-schenrechte aller mit uns zusammen auf dem Globus lebenden Menschen – noch nicht abschließend bestimmt. Eine weitere, vergleichbar dringliche Frage hat es damit zu tun, ob unsere Rücksichtnahme nur denjenigen gilt, die der eigenen Generation angehören, oder ob sie auch diejenigen ein-schließt, die nach uns kommen.

In Deutschland und vergleichbaren Ländern gewinnt diese Frage ihre Dring-lichkeit aus der Art des demographischen Wandels, den unsere Gesellschaft durchläuft. Er ist durch das Phänomen des double aging geprägt. Dank der Fortschritte von Medizin, Hygiene, Arbeitsschutz und Umweltbedingungen werden die Individuen im statistischen Durchschnitt älter; und angesichts

1 Vgl. Wolfgang Huber: Ethik. Die Grundfragen unseres Lebens von der Geburt bis zum Tod, München 2013.

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einer abnehmenden Geburtenrate wird die Gesellschaft im Ganzen älter. Dieser doppelte Alterungsprozess verschärft die Anforderungen an die nachrückenden wie erst recht an die künftigen Generationen.

Das Generationenverhältnis kann man unter zwei Gesichtspunkten betrach-ten. Man kann einerseits auf die verschiedenen Generationen schauen, die gleichzeitig leben – schematisch gesprochen: die jüngere, die mittlere und die ältere Generation. Das Verhältnis dieser drei Generationen zueinander betrachtet die ethische Tradition unter dem Gesichtspunkt der besonderen Verpflichtungen der mittleren Generation: Sie trägt die Verantwortung für das Aufwachsen der Kinder; aber sie hat zugleich eine besondere Verant-wortung für die Lebensbedingungen der älteren Generation. Dieser zweite Aspekt ist in den ethischen Traditionen besonders verankert, wie die zehn Gebote beispielhaft zeigen. Wenn es im vierten Gebot heißt: „Du sollst Vater und Mutter ehren, auf dass du lange lebest in dem Land, das dir der Herr, dein Gott geben wird“, so ist damit das Verhalten der erwachsenen, hand-lungsfähigen Generation gegenüber ihren hilfsbedürftigen Eltern gemeint. Das, was heute mit der Alterung der Gesellschaft immer stärker als zentrale gesellschaftliche Herausforderung in den Blick tritt – der Beistand für pfle-gebedürftige Ältere –, ist hier schon unter ganz anderen gesellschaftlichen Bedingungen vorgezeichnet. Dieser Sinn des vierten Gebots war lange Zeit dadurch verdeckt, dass es – durch die Verwendung der zehn Gebote zur Unterweisung von Kindern und Jugendlichen – im Blick auf eine Gehor-samspflicht der Kinder gegenüber ihren Eltern ausgelegt wurde. Doch es handelt von der Unterstützungspflicht der Handlungsfähigen gegenüber den Hilfsbedürftigen – seien das alt gewordene Eltern oder noch unselbständige Kinder. Betrachtet man das Generationenverhältnis aus der Perspektive der gleichzeitig miteinander lebenden Generationen, so spitzt sich im demo-graphischen Wandel die Frage dahingehend zu, welche Verpflichtungen den jüngeren Generationen gegenüber den älteren zugemutet werden können.

Schon seit Jahren wird dafür der Slogan vom „Methusalem-Komplott“ ver-wendet.2 Das sagenhafte Alter, das der biblische Methusalem erreicht haben soll – die Bedeutung der Zahl von 969 Jahren hängt natürlich ganz von der Frage ab, was in diesem Fall mit einem Jahr gemeint ist –, wird zum Sym-bol für den Herrschaftsanspruch, den die Alten über die Jungen antreten. Deren Versorgung wird zur lebenslangen Belastung für die Jüngeren. Die

2 Vgl. Frank Schirrmacher: Das Methusalem-Komplott, München 2004.

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Altersversorgung, die die ältere Generation sich selbst gesetzlich gesichert hat, mindert den Lebensstandard der jüngeren Generation auf unabsehbare Zeit. In dem Maß, in dem Ältere Parteitage und Parlamente bestimmen, si-chern sie sich eine möglichst hohe Altersversorgung. Die Jüngeren können unter anderem aus diesem Grund nicht damit rechnen, dass sie selbst in ihrer Berufsbiographie einen ähnlichen Zuwachs an Lebensstandard erleben werden, wie er für die Biographie der vorangehenden Generationen cha-rakteristisch war. Obwohl sie häufig von einem höheren Wohlstandsniveau ausgehen können als die vorangehende Generation in der entsprechenden Lebensphase, empfinden sie die veränderte Situation als einen Verlust an Zukunftsperspektiven. Darüber hinaus signalisieren schon die Zeithorizonte derer, die sich selbst hohe Renten genehmigen, was danach passieren wird. Wenn beispielsweise ein kleiner Parteitag der SPD ein Rentenniveau von ungefähr 50 Prozent bis zum Jahr 2020 festschreibt, enthält ein solcher Beschluss für alle Berufstätigen mit einem späteren Renteneintrittsalter die Botschaft, dass sie sich auf ein geringeres Rentenniveau einzustellen haben. Ob sie dies durch einen höheren Anteil an Eigenvorsorge kompen-sieren können, hängt davon ab, ob ihr verbleibendes Arbeitseinkommen an-gesichts steigender Sozialabgaben überhaupt die Möglichkeit zur privaten Vorsorge eröffnet.

Im üblichen demokratischen Prozess werden, insbesondere in Vorwahlzei-ten, also immer solche Entscheidungen nicht unter dem Gesichtspunkt der Generationengerechtigkeit, sondern unter demjenigen der Klientelpolitik getroffen. Beunruhigend ist vor allem, dass im politischen Umgang mit die-sen Fragen das Generationenproblem in aller Regel weiter verschärft wird. Zusätzliche Belastungen durch kollektive oder individuelle Altersvorsorge mindern nämlich zusätzlich die Bereitschaft, Kinder zur Welt zu bringen und für ihr Aufwachsen Verantwortung zu übernehmen. Je stärker die Er-werbsgeneration für die Ruhestandsgeneration in Anspruch genommen wird, desto geringer schätzt sie ihre Möglichkeit ein, einer nachwachsen-den Generation ins Leben zu helfen. Dabei kann man bei der Frage nach den Pflichten gegenüber kommenden Generationen der Feststellung gar nicht ausweichen: Die allererste Pflicht der jetzt Lebenden besteht darin, dass eine nächste Generation ins Leben treten kann.

Unter dem Gesichtspunkt der Gerechtigkeit zwischen den gleichzeitig le-benden Generationen muss vorrangig gefragt werden, wie die Verantwor-tung für die Ruhestandsgeneration mit der Verantwortung für die nachwach-

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sende Generation ausbalanciert werden kann. Dabei muss man wieder Mut zu der Feststellung entwickeln, dass die Verantwortung für das Aufwachsen von Kindern nicht nur ein Beitrag zum individuellen Glück, sondern auch ein Beitrag zur Zukunft der Gesellschaft ist. Dass dies nicht mehr selbstver-ständlich ist, illustriert der inzwischen geläufige Streit zwischen Kollegen über die vermeintliche Bevorzugung derer, die Erziehungsaufgaben wahr-zunehmen haben. Er könne, so wendet ein kinderloser Kollege ein, für sein privates Hobby auch keine Rücksichtnahme des Arbeitgebers erwarten. Wo die Verantwortung für Kinder als „privates Hobby“ betrachtet wird, steht es um die Generationengerechtigkeit nicht zum Besten. Doch diese Gerechtig-keit einzufordern, gilt weithin als Tabu; die Würdigung von Elternarbeit wird in der öffentlichen Debatte häufig als eine Diskriminierung derer gebrand-markt, die – aus welchen Gründen auch immer – keine Kinder haben. Der Respekt vor der Vielfalt der Lebensformen wie vor den unterschiedlichen Gründen dafür, dass die einen Kinder haben und die anderen nicht, schließt jedoch nicht aus, die Leistung von Eltern zu respektieren und sich um einen fairen Familienleistungsausgleich zu bemühen. Für das Familienethos der Gesellschaft ist es von großer Bedeutung, dass Alleinerziehende oder Paare nicht auch noch dafür bestraft werden, dass sie die Verantwortung für das Aufwachsen von Kindern wahrnehmen.

In weiten Bereichen des Globus verschärft sich diese Frage durch ande-re demographische beziehungsweise wirtschaftliche Gegebenheiten. Das fängt in Europa an. Spanien weist derzeit eine Jugendarbeitslosigkeit von fünfzig Prozent aus; in Italien bewerben sich 120.000 Jugendliche um 400 Arbeitsplätze, die von der staatlichen Forstbehörde zu vergeben sind. Noch dramatischer ist das Bild in Schwellenländern. In Südafrika können junge Frauen aus den Townships unter Umständen auch dann, wenn sie einen höheren Schulabschluss geschafft haben, keine weitere Berufsausbildung durchlaufen, weil die Eltern nicht einmal für das Fahrgeld zur Universität aufkommen können. So übernehmen sie Jobs in Hauswirtschaft oder Gas-tronomie, mit denen sie unter Abzug der Fahrkosten auch unterhalb der Ar-mutsgrenzen enden. In denjenigen Regionen der Erde, in denen eine hohe Geburtenrate herrscht, entwickeln sich ebenso hohe Armutsrisiken für die junge Generation.

Zur Generationengerechtigkeit gehört die jeweils erreichbare Balance zwi-schen den Leistungen an die Ruhestandsgeneration und dem Einsatz für die nachrückende Generation. Zu diesen Forderungen gehört darüber hinaus

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ein Bildungssystem, das sich am Maßstab der Befähigungsgerechtigkeit ori-entiert. Die von vielen befürchtete Abwärtsspirale im Verhältnis der Gene-rationen zueinander lässt sich nur in dem Maß aufhalten, in dem die Glie-der der nachrückenden Generation Bildungsmöglichkeiten erhalten, dank deren sie ihre Fähigkeiten in aktive gesellschaftliche Teilhabe umsetzen und so von ihren Gaben einen Gebrauch machen können, der sowohl der individuellen Lebensführung als auch der gesellschaftlichen Entwicklung zu Gute kommt. Eine gute Schulbildung ist dafür genauso wichtig wie die intensive Begleitung im Übergang von der Schule zur Ausbildung oder zum Hochschulstudium – also in der Phase, die unter den Fachleuten aus guten Gründen als „youth at risk“ gekennzeichnet wird.

III.

Das Verhältnis zwischen den Generationen, die gleichzeitig miteinander leben – schematisch gesprochen: der nachwachsenden Generation, der Erwerbsgeneration und der Ruhestandsgeneration –, gibt unter Gesichts-punkten der Generationengerechtigkeit schon genug zu denken. Aber die Probleme stellen sich noch einmal schärfer dar, wenn man das Generati-onenverhältnis nicht synchron, sondern diachron bedenkt. Dann geht es um das Verhältnis zwischen Generationen, die nicht gleichzeitig, sondern nacheinander leben. Dann geht es um die Erinnerung an diejenigen, die schon gestorben sind, aber ebenso an die Verantwortung für diejenigen, die erst noch geboren werden.

Wir stellen diese Frage in einer Epoche, in der das Zeitgefühl in erheblichem Umfang durch das Phänomen der „Gegenwartsschrumpfung“ geprägt ist.3 Durch die technisch verursachte Beschleunigung, die vor allem Hartmut Rosa anschaulich geschildert hat,4 entsteht eine Erlebnis- und Handlungs-dichte in der Gegenwart, vor der Vergangenheit und Zukunft verblassen. Erinnerung und Hoffnung werden gegenüber dem aktuellen Erleben sekun-där. Auch die Beschäftigung mit den Toten und das Nachdenken über das Leben derer, die nach uns kommen, verlieren, so scheint es, an Bedeutung.

3 Hermann Lübbe: Gegenwartsschrumpfung und zivilisatorische Selbsthistorisierung, in: Frithjof Hager/Werner Schenkel (Hg.): Schrumpfungen. Chancen für ein anderes Wachstum. Ein Diskurs der Natur- und Sozialwissenschaften, Heidelberg 2000, 11-20.

4 Vgl. Hartmut Rosa: Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne, Frankfurt/M. 2005.

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Doch die Wirkungen unserer Handlungen stehen in einem umgekehrten Verhältnis zu dieser Gegenwartsschrumpfung. In weit höherem Maß als frü-here Generationen verbrauchen wir durch unser Handeln Vergangenheit; und wir determinieren zugleich Zukunft. Der Vergangenheitsverbrauch zeigt sich vor allem als Destruktion kultureller Bestände. Der technisch induzierte Veränderungssog zehrt kulturelle Lebensformen auf, ohne dass erkennbar wäre, was an deren Stelle treten soll. Vielleicht finden sich Äqui-valente zu der am selben Ort beheimateten Familie, zum gemeinsamen Rhythmus des Tages und der Woche, zu eingelebten Formen, mit den gro-ßen Einschnitten des Lebens zwischen Geburt und Tod umzugehen, oder zur Beheimatung in religiösen Riten und Überzeugungen. Aber ob es zu solchen Äquivalenten kommt, ist ungewiss. Ein solcher Zweifel kann kein Grund dafür sein, dem gesellschaftlichen Wandel eine reaktionäre Verän-derungsabwehr entgegenzusetzen. Aber es gibt gute Gründe dafür, die eingeschlagene Richtung kritisch zu bedenken. Denn eingelebte kulturelle Institutionen lassen sich leicht zerstören, aber nur schwer aufbauen. For-men des gemeinsamen Lebens völlig neu zu institutionalisieren, ist weit schwerer, als sie vom Gegebenen aus weiter zu entwickeln. Deshalb ist das gegenwärtige Tempo des Vergangenheitsverbrauchs mit Risiken verbunden, die für niemanden kalkulierbar sind. Ob der Auflösung kultureller Traditio-nen ein vergleichbares Maß an Kulturproduktivität entspricht, ist ungewiss.

Im Blick auf die diachrone Gerechtigkeit wird vergleichsweise selten ge-fragt, wie wir mit dem umgehen, was wir von vorangehenden Generationen übernommen haben oder übernehmen können. Häufiger ist davon die Rede, wie wir künftigen Generationen Handlungsmöglichkeiten überlassen, die denen vergleichbar sind, die wir für uns selbst in Anspruch nehmen. Deut-licher als der Verzehr überlieferter kultureller Bestände steht uns heute vor Augen, dass Ressourcenverbrauch, Umweltzerstörung und Schuldenpolitik Folgen materieller und immaterieller Art nach sich ziehen, mit denen die gegenwärtigen Akteure künftige Generationen belasten. Der elementare Gerechtigkeitsgrundsatz gleicher Freiheit wird gegenüber den künftigen Generationen sehenden Auges massiv verletzt.

Anschauliche Beispiele bilden die „Ewigkeitslasten“, die im Ruhrgebiet als Preis für den während weniger Generationen forcierten Kohleabbau von vielen kommenden Generationen zu tragen sind. Kommende Generationen bilden eine Haftungsgemeinschaft nicht nur für die Folgen politischer Verbre-chen von Vorgängergenerationen, wie wir in Deutschland aus der Haftung für

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die Folgen der Nazi-Diktatur wissen. Sie bilden ebenso eine Haftungsgemein-schaft für die Folgen von exzessiver Rohstoffnutzung und Umweltbelastung. Wer das durchschaut, kann sein wirtschaftliches Handeln nicht so einrichten, als wüsste er nichts von den Belastungen kommender Generationen.

Doch dass wir Gerechtigkeitspflichten gegenüber kommenden Generatio-nen haben, wird von manchen prinzipiell bestritten. Dafür wird geltend gemacht, dass eine solche Entgrenzung gegenwärtiger Verantwortung der menschlichen Natur widerspricht. Dafür werden häufig soziobiologische Ar-gumente geltend gemacht. Sie besagen, dass Menschen aus der Evolution der Lebewesen nur einen Instinkt dazu geerbt haben, die eigene Brut zu schützen; dieser Instinkt lässt sich nur so weit auf Menschen ausdehnen, zu denen keine verwandtschaftliche oder gruppenmäßige Beziehung besteht, als von ihnen reziproke Handlungen erwartet werden können. Denn die einzige Form von Altruismus, die der Soziobiologie als wahrscheinlich er-scheint, ist der „reziproke Altruismus“, also der Tausch von Leistung und Gegenleistung. Aufgeschobene Reziprozität ist allenfalls in synchronen Generationen, nicht aber in diachronen Generationen vorstellbar: Eltern setzen sich für ihre Kinder ein und verbinden damit die Hoffnung, dass sie im späteren Verlauf des Lebens eine Gegengabe erhalten. Von zukünftigen Generationen kann eine jetzige Generation jedoch keine Gegenleistung er-warten; darum fehlt jedes Motiv zu altruistischem Handeln.

Man kann einwenden, dass diese Argumentation auf einem naturalistischen Fehlschluss beruht. Von einem solchen Fehlschluss ist in der Ethik dann die Rede, wenn man aus dem Sein auf das Sollen schließt und Annahmen über die Natur des Menschen zum Maßstab des für ihn moralisch verpflich-tenden Handelns macht. Eine solche Argumentation verkennt zudem, dass die Regeln für das menschliche Verhalten sich geschichtlich verändern. Sie können also nicht ungeschichtlich definiert werden – sei es durch soziobio-logische Annahmen oder durch den Verweis auf eine vermeintlich unverän-derliche Schöpfungsordnung. Die geschichtlichen Veränderungen, auf die wir uns heute einzustellen haben, betreffen insbesondere die Reichweite gegenwärtigen Handelns. Solange die Meinung vorherrschte, dass das Han-deln einer Generation sich nur auf die Generationen der Kinder und Enkel auswirkt, ließ sich auch die wechselseitige Generationenverantwortung auf drei Generationen – junge, mittlere und ältere Generation – beschränken. Mit der Einsicht, dass die Reichweite heutigen Handelns über diesen Ge-nerationenzusammenhang hinausweist, verbindet sich die Pflicht, die Le-

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bensbedingungen künftiger Generationen angemessen zu berücksichtigen. Nicht eine überdehnte Altruismus-Vorstellung ist bei dieser Überlegung leitend. Es geht vielmehr um die Pflicht, den eigenen Freiheitsgebrauch so zu verantworten, dass die voraussehbaren Folgen dieses Freiheitsgebrauchs unter dem Gesichtspunkt der Gerechtigkeit geprüft werden. Wenn Gerech-tigkeit im Kern auf gleiche Freiheit zielt, müssen wir in unserem Handeln berücksichtigen, dass andere Menschen einen Anspruch auf das gleiche Maß an Freiheit haben, das wir für uns selbst in Anspruch nehmen. Dieses Kriterium ist universalisierbar und betrifft die moralischen Pflichten aller. Die Frage dagegen, welches Ausmaß von Altruismus – also von Zuwendung zu anderen Menschen, die nicht von der Erwartung einer Gegenleistung ab-hängt – ein Mensch aufzubringen bereit ist, gehört dagegen in den Bereich einer Ethik des guten Lebens; auf diese Frage können Menschen im Rah-men der für alle geltenden moralischen Maßstäbe unterschiedliche Antwor-ten geben. Die Nächstenliebe, von der im Sinn des christlichen Glaubens niemand ausgeschlossen ist, bildet nicht eine universale moralische Pflicht, sondern ist ein Maßstab des guten, gelingenden Lebens. Die Einsicht, dass man Nächstenliebe nicht verordnen kann, ändert nichts daran, dass jeder zur angemessenen Berücksichtigung der Freiheit des andern gegenüber je-dermann verpflichtet ist. Dass dies auch für das Verhältnis zu kommenden Generationen gilt, ist ein zentrales Thema jeder zukunftsbezogenen Ethik.

Es gab immer schon menschliche Handlungsbereiche, in denen den Beteilig-ten bewusst war, dass die Folgen des eigenen Handelns noch weit jenseits der eigenen Lebenszeit spürbar sein würden. Zu diesen auf Langfristigkeit an-gelegten Handlungsbereichen gehören Forstwirtschaft und Landwirtschaft. Es ist deshalb kein Wunder, dass in diesen Bereichen zuerst über eine gene-rationenübergreifende Verantwortung nachgedacht wurde. Hier entwickelte sich ein Bewusstsein dafür, dass die Verantwortung für unser Handeln dessen langfristige Folgen einschließt. Für diese Verantwortung wurde zuerst in der Forstwirtschaft das heute so beliebte Wort „Nachhaltigkeit“ geprägt. Ich will der Geschichte dieses Worts nur wenige Bemerkungen widmen.

Im Jahr 1713 sprach der sächsische Oberberghauptmann Hans Carl von Car-lowitz zum ersten Mal von „nachhaltender Nutzung“ als forstwirtschaftli-chem Prinzip. 1804 definiert Georg Ludwig Hartig dieses Prinzip folgender-maßen: „Es lässt sich keine dauerhafte Forstwirtschaft denken und erwarten, wenn die Holzabgabe aus den Wäldern nicht auf Nachhaltigkeit berechnet ist.“ Die Nutzung des Waldes wird deshalb an den Grundsatz gebunden,

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„dass die Nachkommenschaft wenigstens ebenso viel Vorteil daraus ziehen kann, als sich die jetzige Generation zueignet“. In solchen Zusammenhängen wird die Vorstellung von einem Generationenvertrag geprägt, dem zufolge wirtschaftlich effektives Handeln sich nicht nur am eigenen Vorteil, sondern auch am Nutzen für die Nachkommenschaft ausrichtet.5

Angesichts der langfristigen Auswirkungen des technisch verursachten Ressourcenverbrauchs zeigt sich heute die Aktualität eines Ansatzes, der Zukunftsfähigkeit an den Grundsätzen der Nachhaltigkeit und des Genera-tionenvertrags misst. Zukunftsfähiges Handeln zeigt sich an den Freiheits-möglichkeiten, die es kommenden Generationen eröffnet oder hinterlässt. Die Würde und das Lebensrecht künftiger Generationen sind genauso zu respektieren wie Würde und Lebensrecht heutiger Generationen. Auch wenn die Angehörigen künftiger Generationen als noch nicht Geborene nicht Träger personaler Würde sein können, so haben sie doch dergestalt Anteil an der menschlichen Würde, dass sie, wenn sie geboren werden, nicht in Verhältnisse hineinwachsen sollen, die mit der Menschenwürde unvereinbar sind.

Dieser an der menschlichen Würde orientierte Aspekt der Nachhaltigkeit verbindet sich, soweit er sich auf ökologische Nachhaltigkeit bezieht, mit der Einsicht, dass auch die Natur nicht nur ein Instrument zur Steigerung menschlicher Machtentfaltung ist, sondern einen Eigenwert hat, um des-sentwillen sie nicht nur zu nutzen, sondern auch zu bewahren ist. Deshalb ist die Natur nicht nur im Blick auf die Nutzungsmöglichkeiten künftiger Ge-nerationen, sondern auch um ihres intrinsischen Werts willen zu bewahren.

IV.

Diesen doppelten Eigenwert anzuerkennen, ist eine Pflicht, die sich aus einer Ethik der Verantwortung für das technologische Zeitalter ergibt, wie Hans Jonas sie entwickelt hat. Den Kern dieser Ethik bildet der Kategori-sche Imperativ, so zu handeln, dass die Folgen dieses Handelns vereinbar sind mit der Permanenz echten menschlichen Lebens auf der Erde.6

5 Vgl. Ulrich Grober: Die Entdeckung der Nachhaltigkeit. Kulturgeschichte eines Begriffs, München 2010.

6 Hans Jonas: Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation, Frankfurt/M. 1979.

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Wie begründet Hans Jonas die kategorische Pflicht, zur Permanenz echten menschlichen Lebens auf der Erde beizutragen? Obwohl er sich für seine Ethik der Verantwortung nicht auf religiöse Überzeugungen, sondern auf eine „Philosophie der Natur“ stützen will, beruft er sich gleichwohl auf die „Hei-ligkeit des Lebens“ als entscheidenden Bezugspunkt für seinen Kategorischen Imperativ. Er geht mit einer im Judentum überlieferten Vorstellung davon aus, dass der Schöpfer in einem Akt der Selbstbegrenzung seiner Schöpfung die Freiheit zu ihrer eigenen Entwicklung anvertraut hat. Doch die gleich-wohl bleibende Verbindung des Schöpfers mit seinen Geschöpfen bildet den Grund dafür, dass ihnen nicht nur ein Nutzwert, sondern ein Eigenwert zu-kommt, eine Heiligkeit, die vom Menschen zu achten ist. Daraus ergibt sich die Verpflichtung, das Tötungsverbot nicht nur individuell auf die gleichzeitig mit uns Lebenden zu beziehen, sondern künftige Generationen einzubezie-hen, ja die Menschheit als Gattung in den Blick zu nehmen. Dass Jonas zur Begründung dieser umfassenden Pflicht auf religiöse Quellen zurückgreift, ist ein Hinweis darauf, dass mehr als nur rationales Kalkül notwendig ist, um den Herausforderungen des technologischen Zeitalters standzuhalten.

Die Dringlichkeit der von Jonas geforderten Zukunftsverantwortung ist in den letzten Jahrzehnten zunächst im Blick auf die Vernichtungskraft nukle-arer Waffen bewusst geworden; die Gefahr einer kollektiven Selbstvernich-tung der Menschheit trat in den Blick. Das Ende des Ost-West-Konflikts und des nuklearen Wettrüstens ließ diese Gefahr in den Hintergrund treten. Ein für allemal gebannt ist sie freilich nicht; denn das Wissen um die Instrumen-te massenhaft tötender Gewalt lässt sich nicht auslöschen. Gegenwärtig sehen wir das besonders deutlich an den Sorgen um die Entwicklung im Nahen Osten und der Angst davor, dass der Iran über Atomwaffen verfügen und sie einsetzen könnte. Gleichwohl trat mit der Epochenwende von 1989 die Frage nach den ökologischen Auswirkungen gegenwärtigen Handelns in den Vordergrund. In Verbindung mit dieser neuen Konzentration entwi-ckelte der Begriff der Nachhaltigkeit neue Anziehungskraft. Nun wurde er praktisch mit der Aufgabe gleichgesetzt, eine intakte Umwelt zu bewahren oder wiederherzustellen.

Doch so begrüßenswert die neue Aufmerksamkeit für Umweltfragen ist, so sehr warnt schon die Geschichte des Wortes „Nachhaltigkeit“ davor, sich auf den ökologischen Aspekt zu beschränken. Denn Nachhaltigkeit ist in ihrem ursprünglichen Verständnis ein Prinzip wirtschaftlich vernünfti-gen Verhaltens, das sich mit einem Bewusstsein sozialer Verantwortung

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verbindet. Das legt nahe, den Begriff der Nachhaltigkeit in dem Dreieck zwischen Ökologie, Ökonomie und Sozialem anzusiedeln. Im Anschluss an den Bericht der Weltkommission für Umwelt und Entwicklung von 1987 („Brundtland-Bericht“) wurden deshalb drei Dimensionen der Nachhaltig-keit miteinander verbunden: intakte Umwelt, tragfähige Wirtschaft und soziale Gerechtigkeit. Darüber hinausgehend ist jedoch zu berücksichti-gen, dass, wie wir bereits sahen, auch kulturelle Zukunftsfähigkeit eine unentbehrliche Dimension der Nachhaltigkeit darstellt. Die Weitergabe des „Weltkulturerbes“ an die kommenden Generationen ist dafür ebenso wich-tig wie die Entwicklung neuer kultureller Ausdrucksformen und der Dialog der Kulturen. Diese Dimension von Nachhaltigkeit wird bisher in der Regel nicht ausreichend gewürdigt. Ich halte deshalb eine Ausweitung des ge-läufigen Nachhaltigkeits-Dreiecks zu einem Viereck für notwendig, in dem intakte Umwelt, tragfähige Wirtschaft, soziale Gerechtigkeit und kulturelle Zukunftsfähigkeit miteinander verbunden sind.

Derzeit ist in diesem Viereck das Element der „tragfähigen Wirtschaft“ besonders umstritten. Wenn dafür lediglich das Bruttoinlandsprodukt und dessen Wachstum als Maßstab genommen werden, ist dies offenkundig unzureichend. Denn das durchschnittliche Bruttoinlandsprodukt pro Per-son sagt nichts über die Verteilung von Einkommen und Lebensstandard in einer Gesellschaft, über Lebensqualität und Lebenserwartung. Es wird nicht gesagt, ob dieses Bruttoinlandsprodukt sich aus der Gesundheit oder der Krankheit der Menschen speist und ob die Art, in der es entsteht, Zukunft eröffnet oder gefährdet. Man muss also einen Wohlstandsbegriff entwickeln, der Zukunftsverträglichkeit als ein Element des gegenwärtigen Wohlstands versteht.

Der offenkundige Vorteil der Orientierung am Bruttoinlandsprodukt be-steht darin, dass der Maßstab vergleichsweise einfach ist. Gemeint ist damit der Gesamtwert aller Güter (Produkte und Dienstleistungen), die in einer Volkswirtschaft innerhalb eines Jahres hergestellt werden und dem Endver-brauch dienen. Den Wohlstand nur an einem Faktor zu messen, über dessen Berechnung in der Wissenschaft ein weitgehendes Einvernehmen herrscht, ist leichter, als sich auf mehrere Faktoren einzulassen, deren Auswahl, Be-rechnung und Gewichtung umstritten ist. Dennoch muss das Bruttoinlands-produkt als Wohlstandsindikator um andere Indikatoren ergänzt werden. Das ist in unterschiedlichen Varianten eines „Nationalen Wohlfahrtsindex“ immer wieder versucht worden.

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Beispielhaft will ich das Konzept eines „Wohlstandsquintetts“ nennen, weil es den uns heute besonders interessierenden Zukunftsaspekt einbezieht.7 Es umfasst das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf, die Relation zwischen dem obersten und dem untersten Fünftel der Einkommenspyramide, das Aus-maß gesellschaftlicher Ausgrenzung, den ökologischen Fußabdruck im Ver-hältnis zur globalen Biokapazität und die Schuldenquote der öffentlichen Hand. Wirtschaftliche Leistungskraft, soziale Gerechtigkeit, gesellschaftli-che Integration, ökologische Zukunftsfähigkeit und Verschuldung sind die fünf Dimensionen, in denen nach diesem Vorschlag der Wohlstand einer Gesellschaft gemessen werden soll.

Wie die Betrachtung des Bruttoinlandsprodukts erbringt auch ein solches Vorgehen nur relative Ergebnisse, da bei der Bewertung unterschiedliche Länder beziehungsweise Ländergruppen miteinander verglichen werden. Ein solcher Vergleich führt dazu, dass hoch entwickelte Länder mit ver-gleichsweise nicht zu großen Gegensätzen zwischen Arm und Reich und einem relativ hohen Integrationsgrad als wohlhabend gelten, auch wenn ihr ökologischer Fußabdruck negativ und das Ausmaß ihrer Verschuldung sehr hoch ist. Deshalb kommt es entscheidend darauf an, wie einzelne Faktoren ethisch gewichtet werden.

Unter den fünf Dimensionen des „Wohlstandsquintetts“ kommt aus der Per-spektive der Zukunftsverantwortung dem ökologischen Fußabdruck und der Staatsverschuldung besondere Bedeutung zu.

Der ökologische Fußabdruck wird an den in Anspruch genommenen, bio-logisch produktiven Flächen (z. B. Acker-, Wald und Seeflächen) gemessen, die eine Gesellschaft für die Produktion von Gütern und Dienstleistungen, einschließlich der Importe, in Anspruch nimmt; einbezogen werden dabei beispielsweise die Flächen, die für die Bindung von Kohlendioxid-Emissio-nen benötigt werden. Sowohl global als auch im Blick auf einzelne Gesell-schaften wird diese Inanspruchnahme biologisch produktiver Flächen zu der innerhalb eines Jahres von den Ökosystemen regenerierbaren Bioka-pazität ins Verhältnis gesetzt. Ist dieses Verhältnis negativ, so vermindert sich die mögliche Nutzbarkeit der Erde entsprechend. Das ist gegenwärtig insbesondere in wirtschaftlich hoch entwickelten Ländern der Fall. Dafür

7 Denkwerk Zukunft (Hg.): Das Wohlstandsquintett. Zur Messung des Wohlstands in Deutschland und ande-ren früh industrialisierten Ländern, Bonn 2011.

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ist die Tatsache, dass die globalen Kohlendioxid-Emissionen nicht in ausrei-chendem Maß gebunden werden können, sondern sich in einer globalen Erwärmung auswirken, der deutlichste Beleg. Der unterschiedliche ökologi-sche Fußabdruck einzelner Länder zeigt, in wie unterschiedlichem Maß die-se Länder zu der negativen Bilanz auf globaler Ebene beitragen. Aus dieser Betrachtungsweise ergibt sich die vorrangige Verpflichtung wohlhabender Industriestaaten, einen schnellen und wirksamen Beitrag zur Emissionsmin-derung und damit zur Begrenzung des globalen Klimawandels zu leisten.

Ethisch betrachtet, kommt der Begrenzung des Klimawandels der Vorrang vor der Anpassung an ihn zu. Das gilt insbesondere deshalb, weil die dra-matischsten Auswirkungen des Klimawandels in den Armutsregionen der Erde zu erwarten sind. An diese Auswirkungen, die insbesondere in der Überflutung besiedelter Gebiete durch das Ansteigen des Meeresspiegels bestehen, ist eine Anpassung gar nicht möglich. Die Hauptverursacher des Klimawandels mögen für den eigenen Bereich eine Anpassung an steigende Temperaturen für möglich halten; doch sie tragen die Hauptverantwortung für Auswirkungen, an die es keine Anpassung gibt. Deshalb besteht in Kli-mafragen eine vorrangige Verpflichtung auf der Seite hoch industrialisier-ter Länder, den globalen Temperaturanstieg durch schnelle und wirksame Veränderungen in Energieverbrauch und Energieproduktion zu begrenzen.

Von vergleichbarer Dramatik ist die Herausforderung durch das wachsende Ausmaß öffentlicher Verschuldung. Um die Wende vom 20. zum 21. Jahr-hundert war vor allem die Verschuldung von Entwicklungsländern im Blick. Ein Programm zur Entschuldung der ärmsten Staaten des Globus wurde gefordert. Auch heute sollte die Frage im Zentrum stehen, wie die Staaten im Armutsgürtel der Erde mit ihrer schnell wachsenden Bevölkerung ih-ren elementaren Aufgaben gerecht werden können, ohne in einen neuen Teufelskreis der Verschuldung zu geraten; darin liegt eine zentrale Heraus-forderung nachhaltiger Entwicklung. Doch in Europa steht inzwischen die Verschuldung der Euro-Staaten im Zentrum der Aufmerksamkeit.

Auch für die wachsende Beunruhigung über das Ausmaß öffentlicher Schul-den in hoch entwickelten Staaten gibt es gute Gründe. Denn durch sie werden kommenden Generationen große Lasten aufgebürdet; unter Um-ständen nehmen diese Lasten die Form einer gigantischen Geldentwertung an und wirken sich damit wie eine kollektive Enteignung aus. Deshalb ist es eine Aufgabe von hohem Rang, kommende Generationen nicht mit Schul-

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denbergen zu belasten, die ihre Leistungsfähigkeit überfordern. Auch darin zeigt sich die Aktualität, die dem Grundsatz des Generationenvertrags zu-kommt.

Die Bändigung der Staatsschuldenkrise ist nur vorstellbar, wenn die Staaten sich wieder an die Regeln des Rechts halten. Das Versprechen, die Bürger bei sinkenden Steuern mit wachsenden Leistungen versorgen zu können, hat die Staaten dazu veranlasst, über Jahre gegen elementare Gebote ver-antwortlichen Haushaltens zu verstoßen. Die Notwendigkeit, die Folgen der Finanzmarktkrise einzudämmen, hat Freiheit und Haftung voneinander entkoppelt. Die Staaten der Euro-Zone haben die Pflicht zur Einhaltung von Verschuldungsgrenzen verletzt. Sie haben schließlich unter Berufung auf eine außerordentliche Notsituation das Verbot ignoriert, wechselseitig für die Staatsschulden anderer einzustehen. Ein Weg aus dieser Krise erfor-dert mehr als nur finanzpolitische Maßnahmen. Notwendig ist eine ethi-sche Besinnung auf verantwortliche Haushalterschaft in Verantwortung für künftige Generationen; sie kann sich freilich nicht auf den Verzicht auf Neuverschuldung beschränken, sondern muss die Reduzierung der Gesamt-verschuldung einschließen.

Am Klimawandel und der Staatsverschuldung zeigt sich die Bedeutung dia-chroner Generationengerechtigkeit besonders deutlich. Diese Beispiele er-schließen zugleich die Antwort auf die eingangs gestellte Frage, wie weit die verantwortungsethische Inklusion reicht, die sich aus unserem Respekt vor der gleichen Würde jedes Menschen ergibt. Diese Antwort, mit der ich schließen will, heißt: Die Inklusion, zu der wir verpflichtet sind, reicht so weit wie die für uns erkennbaren Auswirkungen unseres eigenen Han-delns, aber auch unseres eigenen Unterlassens. Die wachsende Reichweite unseres Handelns verträgt sich nicht damit, dass wir uns einer ethischen Gegenwartsschrumpfung ausliefern. Der Zukunftsbedeutung unseres Han-delns muss die Zukunftsfähigkeit unseres Denkens und unserer ethischen Haltungen besser entsprechen, als das in unseren bisherigen Denkweisen und Gewohnheiten angelegt ist. Deshalb muss ethische Reflexion ihren Ort in allen Disziplinen finden, in denen Studierende auf eine zukunftsrelevan-te Verantwortung vorbereitet werden. Nach meiner Überzeugung ist davon kein Studiengang ausgenommen.

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Diskussion

Rektor Radtke: Vielen Dank für Ihren brillanten Vortrag, Herr Huber. Wenn ich mit einer Frage als Einstieg beginnen darf. Bei unserem Pressege-spräch vorhin fragte eine junge Reporterin, sie würde das eigentlich nicht einsehen, dass sie für die anderen Generationen mitzahlen sollte, wo ihre eigene Zukunft doch so unsicher wäre. Warum sollte sie zum Beispiel für die Ewigkeitslasten geradestehen?

Huber: Das war in der Tat ein spannendes Gespräch. Ich glaube, es ist auch ein großes Gesprächsthema in einer Universität. Die Fragestellerin repräsentierte genau die Generation der jetzt Studierenden. Und sie sig-nalisierte eine Haltung (die sie im Lauf des Gesprächs öffnete), die die Zu-kunftsangst mit dem Rückzug in eine überschaubare Privatheit verbindet. Das war, glaube ich, die Botschaft, die sie als eine Generationshaltung zum Ausdruck gebracht hat. Ich will damit gar nicht sagen, dass das für eine ganze Generation kennzeichnend ist. Aber dass es eine solche Haltung in dieser Generation gibt, ist ja auch nachvollziehbar, weil wir in Deutschland, übrigens aus mehreren Gründen, in einer Phase sind, die nicht gerade von großer Zuversicht und Zukunftsgewissheit geprägt ist.

Mir geht dabei immer die Äußerung von Hans-Jochen Vogel durch den Kopf, der allen, mit denen er zu tun bekommt, die kleinmütig in die Zukunft schauen, einen kurzen Text schickt, in dem er schildert, wie es war, als er sich Anfang Mai 1945 in einem Kriegsgefangenenlager befand. Er stellt sich vor, es wäre in dieser Situation jemand zu ihnen gekommen und hätte gesagt: „Seid nicht so ängstlich, in vier Jahren wird eine demokratische Verfassung für dieses Land verabschiedet und in Kraft gesetzt. Und dieses Land wird wirklich eine Demokratie sein, wenige Jahre später wird sich in diesem Land ein Wirtschaftswunder ereignen, das allen ermöglicht, die po-litische Freiheit mit wirtschaftlicher Gestaltungsmöglichkeit, individueller

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Reisemöglichkeit und vor allem mit Zukunftsgewissheit zu verbinden. Man wird unter der Teilung Deutschlands leiden, aber nach 40 Jahren wird diese durch den deutschen Krieg verursachte Teilung auch überwunden sein, und es wird möglich sein, in Einheit, in Freiheit, in Frieden zu leben.“ Vogel kommentiert: Wenn der gekommen wäre und uns das Anfang Mai 1945 ge-sagt hätte, hätte es vielleicht passieren können, dass wir ihn weggeschickt hätten, weil wir das für blanken Unsinn gehalten hätten. Aber das genau ist das Erleben unserer Generation.

Und wenn man das im Rücken hat, kann man eigentlich nicht kleinmütig auf die Zukunft zugehen. Das habe ich versucht, der 23-Jährigen weiter-zugeben, weil mich dieser Text von Hans-Jochen Vogel so beeindruckt hat – zwar nicht mehr im Kriegsgefangenenlager, aber in späteren Phasen auch meine eigene Lebensgeschichte mit einbezieht.

Als Christen haben wir zudem eine Gewissheit im Rücken, die uns dazu führt, dass unsere Hoffnung stärker ist als unsere Angst, dass wir Gott-vertrauen wichtiger nehmen als Ängstlichkeit. Diese Verbindung zwischen einer Glaubensgewissheit und einer historischen Erfahrung kann dazu ver-anlassen, nicht kleinmütig auf die Zukunft zuzugehen, sehr wohl wissend, dass sie ihre eigenen Schwierigkeiten enthält. Das kann auch dabei helfen, dass wir nicht durch den Rückzug von den gemeinsamen Angelegenheiten genau die Entwicklung befördern, die wir überhaupt nicht wollen. Denn ohne aktive Beteiligung vieler Menschen an der öffentlichen Debatte wie am praktischen Engagement an der einen oder anderen Stelle, also ohne – wie heute das Schlagwort dazu heißt – eine lebendige Zivilgesellschaft wird auch die Politik die großen Aufgaben, vor denen wir stehen, nicht meistern können. Es gibt schlechterdings keine Legitimation dafür, sich im Sessel zu-rückzulehnen und gleichzeitig Politikverdrossenheit zu praktizieren. Dann muss man redlicherweise über sich selber verdrossen sein, weil man so verdrossen ist.

Radtke: Ich verstehe auch nicht, dass sich „The German Angst“ weltweit so manifestiert hat und dass ein Land, das so sicher und so wohlhabend ist wie unseres, ein Land der Misanthropen geworden ist.

Huber: Darf ich einen kleinen Einwurf machen? Wir sollten konsequent zwischen Angst und Furcht unterscheiden und uns von der „German Angst“ verabschieden. Aber die Furcht vor konkreten Fehlentwicklungen sollten

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wir als seismographischen Indikator dafür, wo wir dringend etwas besser machen müssen, ernst nehmen. Insofern glaube ich, dass Hans Jonas, den ich vorhin kurz zitiert habe, recht hatte, indem er sagte – ich drücke es mit meinen eigenen Worten aus: Benutzt die Heuristik der Furcht, damit die Hoffnung größere Chancen hat. Nicht alles, was sich politisch geändert hat, war schlecht, weil das, was die anderen „German Angst“ nennen, im Spiel war. Manche Sachen vermeiden wir hoffentlich tatsächlich.

Frage: Ich habe eine Anmerkung zu Ihrer Methode: Wenn wir empirische Forschungsergebnisse haben, die deskriptiv sind, und Sie sie kritisieren auf-grund dessen, was sie normativ bedeuten könnten – dann unterläuft Ihnen ein Methodenfehler. Es ist schade, dass es Ihnen nicht aufgefallen ist, da hätte man sich mehr Genauigkeit gewünscht. Das Gleiche beim Altruis-mus; die Vorstellung, dass wir nicht altruistisch handeln können, kommt ja eigentlich von einer Diesseits- und einer Jenseitsvorstellung: Das gute Han-deln diesseits wird ja deswegen getätigt, weil wir eine Jenseitsvorstellung haben. Das heißt, die Abkehr vom Altruismus kommt eigentlich erst durch das Christentum. Zum anderen haben Sie viele Fehler genauer analysiert, die aber inzwischen Allgemeinplätze sind. Da Sie im Ethikrat sind, möchte ich Sie fragen, ob Sie konkrete Vorschläge dafür hätten, wie man besser in Politik und Wirtschaft handeln könnte, um diese Problemfelder konkret anzugehen?

Huber: Ich zögere ein wenig, weil ich dachte, ich hätte gerade deutlich gemacht, dass es ein naturalistischer Fehlschluss ist, von deskriptiven Be-schreibungen auf normative Folgerungen zu schließen. Was Sie mir vorhal-ten, ist genau das, was ich kritisiert habe. So jedenfalls habe ich mich selber verstanden und habe versucht, mich auch so auszudrücken.

Das Andere ist, dass Sie davon ausgehen, dass meine grundsätzlichen Über-legungen zu dieser doppelten Perspektive auf das Generationenverhältnis bereits Gemeingut, ja sogar Gemeinplatz ist. Ich freue mich, dass Sie das so sehen und ich bei Ihnen offene Türen eingerannt habe. Meine Lektüre bestätigt dies im Übrigen nicht. Ich habe mir heute vorgenommen, dieses Thema hier grundsätzlich zu behandeln, und nicht meine Vorschläge zu einem bestimmten Politikfeld vorgetragen. Das würde erfordern, dass man differierende Lösungen miteinander vergleicht und nicht den Anschein er-weckt, dass sich aus einer ethischen Überlegung in jedem Einzelfall zwin-gend auch nur eine praktische Lösung ergibt. Der pragmatische Gebrauch

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der Vernunft ist nämlich etwas anderes als der ethische oder der moralische Gebrauch der Vernunft. Und die Meinung, dass sich praktische Lösungen einfach deduzieren ließen aus den ethischen Überlegungen, ist genau-so falsch wie die andere Meinung, dass alle möglichen Lösungen ethisch gleichwertig wären.

Der Deutsche Ethikrat, auf den Sie sich mit Ihrer Frage noch bezogen ha-ben, beschränkt ja nach dem ihm zugrunde liegenden Gesetz seine Arbeit auf Fragen, die durch die Entwicklung der modernen Lebenswissenschaften entstehen. Das hat mich dazu veranlasst, einmal beiläufig vorzuschlagen, es müsste einen vergleichbaren Ethikrat auch zu den Herausforderungen geben, die mit der wirtschaftlichen Entwicklung unserer Zeit zusammen-hängen. Diesen Ethikrat gibt es noch nicht; insofern kann ich Ihnen aus Arbeiten des Ethikrats zu diesem Thema leider nichts berichten. Ich wäre froh, wenn es das schon gäbe.

Frage: Sie haben uns im Prinzip gesagt: Wir müssen in Bezug auf zukünftige Generationen starken Altruismus zeigen, ohne Reziprozität, vorausdenkend geben. Wie können wir das schaffen, wenn wir schon Probleme haben, das mit unseren Mitmenschen zu machen, die gleichzeitig mit uns leben?

Die zweite Frage ist: Es gibt empirische Studien, die zeigen, dass starker Al-truismus, also ohne Reziprozität, mit Einkommen zusammenhängt. Menschen mit höheren Einkommen haben eher die Eigenschaft, stark altruistisch zu sein. Das heißt also, Altruismus ist ein Luxusgut. Und wenn wir das jetzt zu-sammennehmen mit einer Gesellschaft wie der unsrigen, wo Arm und Reich immer stärker auseinanderdriften, wie können wir dann normativ jemandem sagen, dem es nicht gut geht: „Hej, Du musst auch noch altruistisch sein.“

Huber: Vielen Dank für die Frage, auch deswegen, weil ich in der vorange-henden Antwort das Stichwort „Altruismus“ übersprungen hatte. Dort ist die Bemerkung gefallen, dass das Christentum den Altruismus abgeschafft habe. Das hat mich irgendwie auch verblüfft, es sei denn, man erinnert sich daran, und dann hat dieser Hinweis einen sehr guten Sinn, dass das sogenannte Doppelgebot der Liebe im Munde Jesu in Wahrheit ein Drei-fachgebot der Liebe ist, weil es nämlich die Liebe zu Gott und die Liebe zum Nächsten mit der Liebe zu sich selbst verbindet. Es hat von daher einen Akzent, der der Sorge des Menschen um sich selbst einen positiven und konstruktiven Ort gibt.

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Das ist für mich als Theologen der Grund dafür, warum ich mich über viele verbreitete Formen, von Altruismus zu sprechen, ärgere. Denn sie folgen einer falschen Auslegungstradition des Gebots der Nächstenliebe, als ob Nächstenliebe mit vollständiger Selbstlosigkeit, ja Selbstverleugnung gepaart sein müsse. Das ist in der christlichen Tradition, wie dieser An-satzpunkt zeigt, nicht der Fall. Die Berücksichtigung der eigenen Situation kommt nicht nur dadurch zustande, dass man auf reziprokes Verhalten des Anderen hofft, sondern dass man unabhängig von dieser Reziprozität auf die Bedingungen des eigenen Lebens genauso achtet wie auf die Bedingungen des Lebens des Anderen.

Das ist – nächster Schritt – auch der Ansatzpunkt dafür, dass es keine gute Interpretation des christlichen Nächstenliebe-Gebotes ist und von daher auch keine gute Interpretation eines starken Altruismus, wenn man ihn so interpretiert, dass hoffnungslose Selbstüberforderung das einzige Resultat ist. Es ist deshalb richtig, einen starken Altruismus zuallererst von denen zu erwarten, die sich ihn auch leisten können. Wir wären ja auch einen erheblichen Schritt weiter, wenn wir von denjenigen in unserer eigenen Gesellschaft einen starken Altruismus erwarten könnten, die sich diesen Altruismus leisten können.

Für vollkommen verkehrt halte ich es auch, ersatzweise den blanken Ego-ismus als Lebensprinzip vorexerziert zu bekommen, vor allem in den stär-keren Regionen der Gesellschaft. Ihn unbeschadet laufen zu lassen und er-satzweise die Schwachen zum Altruismus aufzufordern, ist in der Tat keine Lösung. Und deswegen – das führt jetzt in ein anderes Gelände, das aber für diese Frage doch zentral ist – bin ich der Auffassung, dass es höchste Zeit ist, die Funktions- oder Machteliten der Gesellschaft in die Verantwortung zu nehmen und anzusprechen. Das ist für mich ein zentrales Thema, das in diesen Zusammenhang gehört. Das muss dann natürlich auch die Frage ein-schließen, wie wir mit dem immer weiter auseinanderdriftenden Verhältnis von Reichtum und Armut in unserer Gesellschaft umgehen.

Frage: Ich war mehrere Jahre Mitglied im Rat für Nachhaltige Entwicklung, der ja auch die Bundesregierung berät. Ich stand auf vielen Veranstaltungen genau vor dieser Frage: Wie bekommen wir vor allem die junge Generati-on dazu, die soziale Nachhaltigkeit zu sehen und sich da zu engagieren? Ich glaube, das ist die Schlüsselfrage: Gibt es eigentlich einen Altruismus? Oder wie kann man Egoismus gestalten, dass er mit altruistischen Zielen

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einhergeht? Ich würde die überspitzte These wagen, es gibt keinen Altruis-mus, sondern wir haben unterschiedliche Bedürfnisstrukturen, und das Ziel muss es sein, die nachwachsende Generation so zu erziehen, dass wir ih-nen Werte vermitteln. Es nützt nichts, sich abstrakt mit dem Kategorischen Imperativ von Kant zu beschäftigen – es muss meiner Bedürfnisstruktur entsprechen, dass ich mich so verhalte, dass ich auch einen eigenen Nutzen daraus ziehe, über die Reziprozität hinaus, dass ich etwas für andere tue.

Huber: Ich höre Ihre Frage insofern mit Spannung, als Sie einerseits sagen, es gibt keinen Altruismus, sondern die Menschen folgen ihrer Bedürfnis-struktur, aber andererseits deutlich machen, dass die Bedürfnisstruktur der Menschen nicht etwas natural Vorgegebenes ist, sondern sich geschichtlich entwickelt, vor allem lebensgeschichtlich, aber auch in der kollektiven Ge-schichte.

Die heutige Bedürfnisstruktur ist aus vielen Gründen nicht mehr dieselbe wie vor hundert Jahren. Und ich hänge meinerseits überhaupt nicht an dem Begriff „Altruismus“, ich habe ihn eingeführt in dem Augenblick, als ich eine bestimmte Diskussionslinie charakterisiert habe. Der Begriff „Altru-ismus“ ist für mich in der theologischen Ethik überhaupt kein tragender Begriff, wie es zum Beispiel der Begriff der verantworteten Freiheit ist – für mich ein Grundbegriff einer theologisch geprägten Ethik. Und die Frage der verantworteten Freiheit heißt, wie ich meine Vorstellung davon, was für mich selber gelingendes Leben ist, damit verbinde, dass ich auch das Gelingen des Lebens Anderer im Blick habe und eine Situation überwinde, in der das eine gegen das andere ausgespielt wird.

Dabei – das ist nun das Altmodischste, was ich in meinem ganzen Den-ken leider anbieten muss – gibt es nichts Wichtigeres als das, dass He-ranwachsende anderen Menschen begegnen, die ihnen das glaubwürdig vorleben. Das heißt, Wertebildung passiert nicht nur – das ist vollkommen richtig – durch das Lernen richtiger Formeln, sondern durch das Erleben richtiger Vorbilder. Das macht den Kategorischen Imperativ weder in der Fassung von Kant noch in derjenigen von Jonas überflüssig, weil zum Gelin-gen des Lebens auch, je nach Begabung, ein Stück Reflexion gehört. Aber die ethischen Haltungen, für deren Reflexion dann auch theologische und philosophische Ethiken hilfreich sind, werden auf andere Weise geprägt. Das müssen wir mit viel mehr Aufmerksamkeit sehen, und wir müssen des-wegen über Vorbilder, über Peergroups, über derartige Fragen ganz anders

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nachdenken, als wir das häufig tun. Und noch einmal muss ich sagen: Die Familie gehört halt auch dazu.

Frage: Ich möchte darauf hinweisen, dass die Akzeptanz von Kindern von der nächsten Generation nicht nur allein vom Geld abhängig ist. Wir müs-sen diesen Kindern auch Raum geben. Es gibt viel mehr Parkplätze als Kin-derspielplätze oder Bolzanlagen. Das hat etwas mit der Haltung den Kindern gegenüber zu tun, die sich ja eigentlich frei entfalten können sollten. Das Zweite ist: Luther hat ja ein Bäumchen gepflanzt, auch wenn morgen die Welt unterginge. So wünsche ich mir die Christen, besonders die jungen Christen. Ich bewundere die jungen Menschen, die, obwohl es so mies aussieht, Kinder bekommen. Und davor habe ich ganz, ganz viel Respekt.

Huber: Herzlichen Dank für Ihre Anmerkungen am Schluss, auch im Blick auf die Frage nach der Zukunft von Kindern in unserer Gesellschaft. Viel besser als das Jammern ist das Achten auf die jungen Familien, die – auch im Verhältnis zu meiner Generation – vieles wesentlich überzeugender ma-chen, als wir es gemacht haben. Sie gehen anders um mit der gleichmäßigen Beteiligung von Männern und Frauen an den Aufgaben, die mit dem Auf-wachsen von Kindern verbunden sind. Und sie gehen achtsamer damit um, die biographische Entwicklung der Eltern auch langfristig im Blick zu haben und wenn sie sich auf dieser Basis für Kinder entschließen.

Umso mehr ärgere ich mich, und nur deswegen habe ich das gesagt, dass wir noch heute in unserer deutschen Gesellschaft Beispiele dafür sammeln können – und eine Zeitlang habe ich es gemacht, bis es mir zum Hals he-raushing –, wo jungen Vätern, die Elternzeit nehmen wollten, vom Per-sonalverantwortlichen gesagt wird: „Das werden Sie noch bereuen“. Wo Mitarbeiter, die Kindersitze im Auto haben, aufgefordert werden, dieses Auto doch besser hinter als vor die Firma zu stellen. Wo hervorragende Rechtsanwältinnen die Kanzlei wieder verlassen, weil sie in Arbeitsverhält-nisse gezwungen werden, die mit der Verantwortung für Familie überhaupt nicht vereinbar sind. Das Beispiel mit dem privaten Hobby war nur die Spit-ze eines Eisbergs von Zorn, den ich an dieser Stelle habe, weil damit denje-nigen, die in einer vorbildlichen Weise Beruf und Familie vereinen, einfach Ungerechtigkeit widerfährt.

Eine kleine Bemerkung habe ich zu dem Lutherzitat: Ich will Sie nicht ent-täuschen mit dem Hinweis, dass es sich dabei um das am besten erfundene

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Zitat von Martin Luther handelt. Die Haltung, die aus dem Zitat spricht, ist natürlich ganz und gar Luther – nämlich eine Zuversicht über die Begrenzt-heit unseres Lebens und unserer Möglichkeiten hinaus. Aber Martin Luther hätte nie vom Untergang der Welt gesprochen, weil er das Kommen des Reiches Gottes erwartet hat. Und an dieser Stelle können Sie leicht sehen, warum das Zitat nicht von Martin Luther stammen kann. Bitte nehmen Sie es mir nicht übel.

Radtke: An diesem Punkt ein Wort in eigener Sache: Unsere Universität hat viele Kindereinrichtungen geschaffen, um unseren Jüngsten auch einen Aufenthalt an der Universität mit ihren Eltern zu ermöglichen. Und das Audit familiengerechte Hochschule haben wir erfolgreich durchlaufen. Hier ist die Welt also schon eine andere.

Frage: Professor Huber, Sie sind in vielen Rollen mit maßgeblichen Politi-kern und Regierungsmitgliedern zusammen, Sie sind Ratgeber verschiede-ner Institutionen und Bereiche. Wie kommen denn Ihre Forderungen dort an? Ist man dort schwerhörig, ist man unfähig oder unwillig? Wenn ich das national sehe, in Bezug auf diese Schuldenproblematik, die Sie ja hinrei-chend angesprochen haben, oder international bezogen auf die Klimaerwär-mung, kommen mir doch Zweifel.

Huber: Zunächst bitte ich, das nicht zu überschätzen, was die Gesprächs-kontakte überall hin betrifft. Sie haben meist mit dem jeweiligen Amt, dass man innehat, zu tun. Aber es gibt sie auch heute noch. Ich wollte bloß kei-nem Mythos über die Kontakte von Wolfgang Huber Vorschub leisten. Ich werde die Frage, die Sie stellen, konkret auf die beiden Themen bezogen zu beantworten versuchen, die ich ja auch mit Absicht so herausgehoben habe, auch wenn ich sie nur sehr knapp skizziert habe.

Bei dem Thema Staatsschuldenkrise habe ich mir seit mehreren Jahren vor-genommen, bei jedem Gespräch, das ich darüber führe, ausdrücklich zu sagen, was ich heute auch gesagt habe: Es kann doch nicht genug sein, wenn man sich einbildet, man habe diese Schuldenkrise dann bewältigt, wenn man die Neuverschuldung zurückgeführt hat. Man muss doch Aus-kunft geben, was man mit den alten Schulden macht. Und ich gebe ehrlich zu, ich habe auf diese Fragen bei penetranter Wiederholung noch nie eine Antwort bekommen. Weder eine Antwort, die mich nicht befriedigt hätte, oder die Antwort „Das wissen wir im Moment auch nicht“, sondern einfach

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ein totales Schweigen insbesondere über die Frage, was mit den Altschul-den geschehen soll.

Es ist mir nicht gelungen – ich übertreibe jetzt nicht –, bei einem einzigen Politiker auf diese Frage eine Resonanz zu bekommen. Das könnte mich schwermütig machen, wenn ich dazu eine Neigung hätte. Es erscheint mir umso notwendiger, dass wir als Bürgerinnen und Bürger dokumentieren, dass uns diese Frage nicht egal ist. Und das ist, glaube ich, ein praktischer Prüfstein. Das Thema zu artikulieren, ist eine Aufgabe, die wir künftigen Generationen gegenüber haben, auf deren Rücken das ausgetragen wird. Und damit meine ich nicht die über-, über-, übernächste Generation. Ich bin jetzt in dem Alter, dass ich nicht nur Kinder, sondern auch Enkel habe, und die Enkel sind ganz bestimmt die Generation, an der sich die Folgen der heutigen Schuldenpolitik zeigen werden.

Das andere ist das Klimabeispiel. Wie bei der Finanzmarktregulierung heißt auch hier die Antwort häufig: „Das macht nur Sinn im internationa-len Verbund und da haben wir eben die großen Blockaden.“ Ich habe die Kopenhagen-Konferenz zur Klimafrage zufällig in Südafrika erlebt und habe gesehen, mit welchem Triumphgeheul Präsident Zuma zurückkam, nach-dem er wesentlich dazu beigetragen hatte, dass in Kopenhagen so wenig herausgekommen ist.

Ich kann deswegen auch nachvollziehen, dass deutsche Politiker, die mit gu-ten Absichten in eine solche internationale Konferenz gehen, anschließend resignativ zum Schluss kommen, dass das nur international geht. Genauso wahr ist allerdings auch die Erfahrung, dass ich schon längst vor solchen po-litischen Umsetzungsschwierigkeiten wirtschaftliche Gesprächspartner er-lebt habe, die von vornherein gesagt haben: „Ach ja, das 2-Grad-Ziel, vergiss es, die globale Erwärmung kommt sowieso, und die richtige Reaktion ist, diejenigen Produkte zu entwickeln, mit deren Hilfe wir uns an die globale Erwärmung anpassen.“

In diesen Fällen war die Anpassung mit deutlichem Vorrang vor der Begren-zung die Botschaft. Das ist wieder ein Beispiel, von dem ich zugeben muss, dass es mich hochgradig beunruhigt, und wo die Reaktion im Blick auf die-jenigen, die ich als Verantwortungselite in Anspruch nehmen will, klar ist. Viel deutlicher hätte man diesen Kursschwenk im Bereich der Wirtschaft mit Widerspruch und Widerstand versehen müssen. Man muss es errei-

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chen, dass das 2-Grad-Ziel auch von der Wirtschaft mitgetragen und nicht etwa torpediert wird. Das ist genauso wichtig wie die Frage, was politisch bei diesem Thema passiert.

Frage: Sie haben eben kurz den Iran mit den angeblichen Atomwaffen an-gesprochen, und da sehe ich eine Dichotomie: Iran – böse, weil es ein isla-mischer Staat ist, und Israel sprechen Sie nicht an. Israel droht schon mit dem Atomkrieg, und das ist dann gut, weil es ein jüdischer Staat ist. Ich möchte Sie fragen, ob es diese Dichotomie bei Ihnen gibt oder ob ich das vielleicht projiziert habe, weil die Mercator-Professur in den letzten Jahren eine antimuslimische Tendenz gehabt hat.

Huber: Der letzte Satz scheint irgendwie besonders wichtig gewesen zu sein, und ich bin der Einzige, der ihn nicht verstanden hat. Das tut mir leid, können Sie das vielleicht wiederholen, damit ich auch die Reaktion mit voll-ziehen kann, die das im Saal ausgelöst hat?

Frage: Ihre Vorgängerinnen und Vorgänger – Frau Schwarzer, Frau Kelek oder Herr Scholl-Latour – haben Positionen vertreten, die antimuslimisch sind bzw. waren. Da wollte ich fragen, ob ich das hineinprojiziert habe. Kann ja sein, dass ich mich verhört habe oder Sachen sehen will, die einfach gar nicht da sind.

Huber: Ich fange gerne mit dem letzten Punkt an: Ich glaube, es gibt kei-ne Verpflichtung, die mit der Mercator-Professur verbunden ist, dass man sich jede Äußerung eines anderen Mercator-Professors Wort für Wort zu eigen macht. Das würde auch voraussetzen, dass man alle Vorlesungen aller Mercator-Professoren gelesen hätte, was nicht der Fall ist. Aber diejenigen der von Ihnen genannten Mercator-Professoren habe ich gelesen, und ich halte es für einen Kategorienfehler, die kritische Auseinandersetzung mit bestimmten Entwicklungen im Islam mit dem Etikett antimuslimisch zu ver-sehen.

Das ist genauso falsch wie die Position derjenigen, die innerhalb des Islam nicht differenzieren können und deswegen den Islam im Ganzen, in der Ge-samtheit seiner Geschichte gleichsetzen mit denjenigen Formen eines isla-mistischen Fundamentalismus, wie sie sich spezifisch in den letzten 30, 35 Jahren seit der Iranischen Revolution entwickelt haben. Das sind spezifische Entwicklungen, die man auch spezifisch wahrnehmen muss. Aber sich we-

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gen des Interesses, das wir alle haben müssen an einer guten Entwicklung des Verhältnisses zwischen Christen und Muslimen, zwischen dem Westen und der muslimischen Welt, verbieten zu lassen, kritische Entwicklungen auch beim Namen zu nennen, das ist genau diejenige Betrachtungsweise, mit der man nichts besser macht.

Und deswegen bin ich fest davon überzeugt, dass man eine mögliche Ent-wicklung von Atomwaffen im Iran nicht losgelöst von den Äußerungen des noch immer amtierenden iranischen Präsidenten über die Beseitigung des Staates Israel sehen kann. Das ist miteinander verbunden, und das festzu-stellen, hat nichts zu tun mit einem pauschalen Gutheißen der Politik Isra-els, insbesondere seiner Besetzungspolitik und der Art der Grenzziehung zwischen Israel und Palästina.

Dass ich das, was ich jetzt gesagt habe, nicht auch alles in einem Vortrag gesagt habe, hat damit zu tun, dass er ein anderes Thema hatte und ich nur in der knappest möglichen Form darauf hinweisen wollte, dass die „German Furcht“ bei der Blockkonfrontation in Europa durchaus gute Gründe hatte. Denn wenn das explodiert wäre, wäre das über Deutschland als Zentrum heruntergekommen. Das ist glücklicherweise an uns vorbeigegangen, aber das bedeutet nicht, dass die Atomwaffen aufgehört hätten, eine Realität unserer Welt zu sein. Das war die Stoßrichtung dessen, was ich in meinem Vortrag an einer aktuellen Diskussion versucht habe zu veranschaulichen.

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Prof. Dr. Dr. h.c. Wolfgang Huber

Die Energiewende als ethische Herausforderung

Am 11. März 2011 löste ein starkes Erdbeben auf der japanischen Haupt-insel Honshu einen schweren Tsunami aus. Von den Folgen dieses Naturer-eignisses war insbesondere die Präfektur Fukushima betroffen, in der ein großes Kernkraftwerk liegt. Die Stärke des Erdbebens überstieg das Maß der Naturkatastrophen, auf die das Kernkraftwerk ausgelegt war; vier seiner sechs Reaktorblöcke wurden zerstört. Die Kernschmelze setzte radioaktive Materialien frei, deren Umfang zehn bis zwanzig Prozent der radioaktiven Emissionen des Reaktorunglücks in Tschernobyl 1986 erreicht haben soll. Etwa einhunderttausend bis einhundertundfünfzigtausend Menschen wur-den evakuiert. Die genaue Zahl der durch das Unglück zu Tode gekommenen Menschen ist unbekannt; die Langzeitfolgen lassen sich nicht abschätzen. Hunderttausende Tiere, die in landwirtschaftlichen Betrieben zurückblie-ben, verhungerten. Nach einigem Zögern wurde der Reaktorunfall mit dem höchsten Schweregrad für Nuklearunfälle, nämlich mit der Stufe 7, beur-teilt. Eine Auswertung ergab, dass verschiedene Warnungen auf mögliche Risiken hingewiesen hatten; doch diese Risiken waren von der Betreiberfir-ma Tepco nicht ernst genug genommen worden.

Die Folgerungen, die insbesondere in Deutschland aus der Katastrophe von Fukushima gezogen wurden, will ich heute Abend aus ethischer Perspektive beleuchten. Das liegt in Essen nahe, das als Energiehauptstadt Deutsch-lands, ja auch als Energiehauptstadt Europas bezeichnet wird. Mir ist be-wusst, welch geballter Sachverstand zu dieser Thematik in dieser Stadt, in dieser Universität und in diesem Saal versammelt ist. Mit diesem Sach-

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verstand werde ich nicht konkurrieren. Kein Ethiker kann sich anmaßen, in den Einzelthemen unserer komplexen Lebenswelt es an Fachkompetenz mit den jeweiligen Experten ihres Fachgebiets aufzunehmen. Aber indem er an deren Expertise anknüpft, kann er zugleich Orientierungen anbie-ten und die vielen Einzelheiten in einen Gesamtzusammenhang rücken. Vor allem kann er Kriterien zur Diskussion stellen, die bei der Prüfung von Handlungsalternativen zu berücksichtigen sind. Wenn das aus der Perspek-tive der theologischen Ethik geschieht, soll damit ein Beitrag dazu geleistet werden, dass wir gerade angesichts der Herausforderungen der Gegenwart menschliches Maß bewahren und nicht der Anmaßung erliegen, selbst Her-ren der Schöpfung zu sein. Das halte ich übrigens keineswegs für eine reak-tionäre, sondern gerade heute für eine zeitgemäße Position, die Ansätze zu nachhaltigem Handeln zu stärken vermag.

In diesem Sinn will ich durch eine ethische Perspektive eine Schneise ins Dickicht der vielfältigen Themen schlagen, die mit den Folgerungen aus Fu-kushima verbunden sind. Doch bevor das geschieht, ist eine grundsätzliche Überlegung vonnöten. Ich stelle sie unter die Überschrift: „Die Heuristik des Blicks“.

I. Die Heuristik des Blicks

Zwar war in Japan vor einem Fukushima-artigen Ereignis immer wieder gewarnt worden. Doch die Experten hielten solche Warnungen nicht für zureichend begründet. Deshalb sahen sie keinen Anlass dazu, aus ihnen Konsequenzen zu ziehen. Warnungen beziehen sich immer auf die Zukunft; die Zukunft ist weder notwendig noch bereits wirklich; sie ist der Bereich des Möglichen. Welche Art von Warnungen muss man in der Wissenschaft und im politischen Handeln berücksichtigen? Welche Art von Expertise ist dafür erforderlich?

Elf Tage vor der Katastrophe von Fukushima erlebte ich am Stellenbosch Ins-titute for Advanced Study (STIAS) in Südafrika einen Vortrag der berühmten US-amerikanischen Physikerin und Wissenschaftshistorikerin Evelyn Fox Keller. Ihr Thema hieß: „What is a rational response to catastrophic risks?“. Das wichtigste Risiko, das Evelyn Fox Keller in ihrem Vortrag diskutierte, war der globale Klimawandel. Sie kritisierte, dass viele Experten diese Ent-

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wicklung nicht ernst genug nähmen. Sie sprach in diesem Zusammenhang die Befürchtung aus, dass die Absicht, die globale Erwärmung auf zwei Grad Celsius zu beschränken, bereits illusorisch geworden sei. Viel wahrschein-licher sei das von Nicholas Stern entwickelte Szenario, dass wir noch im 21. Jahrhundert eine Erwärmung im globalen Mittel um 5 Grad erleben – mit schlimmen Verheerungen vor allem in den Ländern des Südens, aber auch mit katastrophischen Wirkungen auf die Wirtschaft des Nordens. Und sie fragte, wie die community der Experten dazu beigetragen hat, dass sich das alles so entwickelt. Kaum hatte sie das vorgetragen, gaben ihr die Vor-gänge in Fukushima mehr Recht, als sie selbst erwartet hatte.8

Ist die Expertise der Experten der einzige Weg, mögliche Ereignisse in der Zukunft zu antizipieren? Gerd Gigerenzer, ein Forscher am Berliner Max-Planck-Institut für menschliche Entwicklung, hat zwei unterschiedliche For-men der Antizipation von Zukunft an einem verblüffenden Beispiel verdeut-licht.9 Sein Beispiel ist ein Ballspieler, der einen Ball zu fangen versucht. Richard Dawkins hat in seinem berühmten Buch „The Selfish Gene“ eine Beschreibung dieses Ballspielers vorgetragen, die folgendermaßen lautet: „Wenn ein Mensch einen Ball in die Luft wirft und wieder auffängt, verhält er sich so, wie wenn er eine Reihe von Differentialgleichungen gelöst hätte, mit deren Hilfe er die Flugbahn des Balls vorausgesagt hat. Es mag sein, dass er Differentialgleichungen weder kennt noch sich um sie kümmert; aber das beeinflusst seine Fähigkeit, mit dem Ball umzugehen, nicht. Auf einer unterbewussten Ebene geht etwas vor sich, was den mathematischen Berechnungen funktional äquivalent ist.“10

Offenkundig folgt Richard Dawkins mit dieser Beschreibung einer monis-tischen, wissenschaftsgläubigen Epistemologie. Deshalb nimmt er an, dass der Ballspieler unterbewusst so etwas wie Differentialgleichungen berech-net; anderenfalls könnte er den Ball nicht fangen. Doch das steht natürlich in einem offenkundigen Gegensatz dazu, wie Ballspieler sich tatsächlich verhalten. Gerd Gigerenzer wendet ein, dass Ballspieler nicht die Flugbahn des Balls berechnen, sondern eine leichtere und effektivere Heuristik ver-wenden. Sie verwenden eine „Heuristik des Blicks“.

8 Vgl. Wolfgang Huber: After Fukushima: The precautionary principle revisited, in: Verbum et Ecclesia 33, 2/2012, Art. 736.

9 Gerd Gigerenzer: Gut Feelings. Short Cuts to Better Decision Making, New York 2007.

10 Richard Dawkins: The Selfish Gene, Oxford/New York 1976, 6 (eigene Übersetzung).

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Es handelt sich um eine erstaunlich simple Faustregel, die den Spieler dazu befähigt, genau dann am richtigen Ort zu sein, wenn der Ball dort landet, und ihn deshalb auch sicher zu fangen. Dazu muss er nur den Ball mit sei-nen Augen in dem Augenblick fixieren, in dem er am höchsten Punkt ist, und in eine Richtung laufen, die einen gleich bleibenden Winkel zwischen der Richtung seines Blicks und dem Boden, auf dem der Ball schließlich landet, aufrecht erhält. Die Heuristik des Blicks erfordert keine Differenti-alrechnungen, sondern bezieht sich allein auf das Faktum der Schwerkraft, das in die Anpassungsfähigkeiten jedes Menschen eingeschrieben ist. Aus der Heuristik des Blicks folgt eine „Bauchentscheidung“, die häufig genauso rational und treffsicher ist wie eine Entscheidung, die zu ihrer Begründung auf mathematische Modelle zurückgreift.

Wie dieses Beispiel zeigt, ist es keineswegs richtig, solche Bauchentschei-dungen emotional und nur die Differentialgleichungen rational zu nennen. Eher hat die Heuristik des Blicks – im wörtlichen wie im übertragenen Sinn – ihre eigene Rationalität. Es handelt sich um eine Rationalität, die mit unse-rer Beteiligung an den Prozessen zu tun hat, in die wir involviert sind. Denn aus dieser Beteiligung heraus fragen wir uns, ob wir rechtzeitig zur Stelle sind, bevor der Ball auf dem Boden landet. Freilich muss man auch diese Ra-tionalität kritischer Prüfung zugänglich machen; man darf sie nicht dogma-tisieren oder zur Ideologie steigern. Aber nicht nur mathematische Modelle sind entscheidungsrelevant; auch die Lebenserfahrung muss in ethische Erwägungen eingehen. Man braucht diese Rationalität der Beteiligung auch nicht, der von Hans Jonas vorgeschlagenen „Heuristik der Furcht“ folgend, nur auf Befürchtungen im Blick auf die Zukunft zu begrenzen; eine sol-che Einseitigkeit würde sich zu Recht den Vorwurf der „German Angst“ zuziehen. Es ist vielmehr ebenso sinnvoll, sich einer Heuristik der Chancen anzuvertrauen, von der immer dann die Rede ist, wenn wir von jemandem sagen, er habe den richtigen Riecher gehabt und dadurch sich bietende Möglichkeiten schneller erkannt als andere. Nur gilt zweifellos: In ethische Abwägungen hat man beides einzubeziehen, Risiken wie Chancen. Bei ihrer Abwägung sollte man sich nicht nur auf mathematische Modelle verlassen, sondern auch dem gesunden Menschenverstand Raum geben.

Wir haben demnach Grund dazu, rationale Antizipationen der Zukunft nicht nur bei Experten, sondern auch bei „gewöhnlichen Menschen“ für mög-lich zu halten. Wenn wir im technologischen Zeitalter die Pflicht haben, die möglichen Auswirkungen unseres jetzigen Handelns auf die Lebensbe-

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dingungen künftiger Generationen zu bedenken, wie ich in meiner ersten Mercator-Vorlesung in Duisburg ausgeführt habe, so sind wir verpflichtet, nicht nur die Expertenverfahren ernst zu nehmen, sondern unsere Überle-gungen auf eine breitere Grundlage zu stellen. Wir wollen das heute an der Frage des Umgangs mit dem Energieproblem erproben.

II. Lehren aus Fukushima

Nach dem Reaktorunglück in Tschernobyl 1986 wurde geltend gemacht, es habe sich in einem Land – der Ukraine – ereignet, das nicht den allgemeinen Sicherheitsstandards entspreche; in fortgeschrittenen Industrienationen sei ein solches Unglück dagegen undenkbar. Die Havarie von Fukushima voll-zog sich jedoch in einem fortgeschrittenen Hochtechnologieland, dazu in dem Land, das nach den USA und Frankreich weltweit am meisten Elektrizi-tät aus Kernenergie produziert. Damit verlor das Argument, in Ländern mit vielen Kernkraftwerken könne sich Vergleichbares wie in Tschernobyl nicht ereignen, an Glaubwürdigkeit. Ein Umdenken erschien als unausweichlich.

Die Debatte über die Kernenergie hält schon seit Jahrzehnten an. Seitdem die Besorgnis über den globalen Klimawandel wuchs, wurde die Kernener-gie von manchen aus klimapolitischen Gründen für unentbehrlich erklärt; denn sie komme ohne Kohlendioxid-Emissionen aus. Aber diese Betrach-tungsweise wurde durch die Ereignisse in Fukushima erschüttert. Für Län-der freilich, die in hohem Umfang in die Kernenergie investieren wie die USA oder die für ihre Stromversorgung in sehr hohem Umfang von Kern-energie abhängen – wie Frankreich mit 78 Prozent oder Japan, das mit 30 Prozent die zweitgrößte Abhängigkeit von der Kernenergie aufweist –, ist es sehr schwer, ihre Energiepolitik zu korrigieren. Ein solcher Paradigmen-wechsel ist wesentlich leichter für Länder, in denen die Kernenergie nur ei-nen vergleichsweise geringeren Beitrag zur Energieversorgung leistet – wie beispielsweise China mit zwei Prozent, Südafrika mit fünf Prozent. Umso bemerkenswerter ist freilich, dass gerade diese beiden Länder neue Atom-kraftwerke planen.

Zwischen beiden Gruppen steht Deutschland, dessen Stromversorgung zur Zeit des Fukushima-Unfalls zu 23 Prozent von Kernenergie abhängig war. Unter dem Titel der „Energiewende“ wurden aus Fukushima schnel-

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le Konsequenzen gezogen; sie lösten weltweit so viel positive wie auch kritische Reaktionen aus, dass „Energiewende“ nun in vielen Sprachen genauso ein deutsches Fremdwort geworden ist wie „Rucksack“ oder „Kin-dergarten“.

Die historische Ironie der deutschen Reaktion im Jahr 2011 bestand darin, dass im Jahr 2000 ein „Atomkonsens“ geschmiedet worden war, dessen Ziel in der Beendigung der Kernenergienutzung zu Beginn der zwanziger Jahre dieses Jahrhunderts lag. Im Jahr 2010 wurde dieser Konsens, auch auf Drängen der Energiewirtschaft, modifiziert; die Laufzeiten für bestehende Reaktoren wurden bis in die dreißiger Jahre verlängert. Doch sechs Monate später ereignete sich die Fukushima-Havarie. In einer schnellen und ent-schlossenen Reaktion entschied Bundeskanzlerin Angela Merkel sich dazu, die älteren Reaktoren sofort vom Netz zu nehmen, einen Stresstest für die jüngeren durchzuführen und ad hoc eine „Ethikkommission Sichere Ener-gieversorgung“ einzusetzen.

Schnell wurden kritische Einwände gegen diese Kommission laut. Die Ge-fahr lag auf der Hand, dass sie die Legitimation für eine Wende „vorwärts zurück“ beschaffen sollte. Eine Entscheidung, für die die Energiewirtschaft starke Lobbyarbeit betrieben hatte, sollte mit dem „Segen“ der Ethik wieder aufgehoben werden; der ältere „Atomkonsens“ sollte erneut an deren Stelle treten. Diente die Ethik als Legitimationsbeschafferin für ein riskantes poli-tisches Manöver, gegen das starke Widerstände zu erwarten waren?

Tatsächlich wurde nach wenigen Wochen ein Ergebnis vorgelegt, das man schon bei der Einsetzung der Kommission voraussehen konnte.11 Die Kom-mission vertrat die Auffassung, dass die Positionen moderater Befürworter und radikaler Kritiker der Kernenergie sich darin treffen könnten, dass die Nutzung dieser Form der Energieerzeugung in den frühen zwanziger Jahren auslaufen solle, also genau zu dem Zeitpunkt, der uns aus dem ursprüngli-chen „Atomkonsens“ schon bekannt ist.

Wie viel Ethik steckte in diesem Rat, der doch eher einen taktischen Cha-rakter zu haben schien? Der Bericht der „Ethikkommission Sichere Ener-gieversorgung“ enthält zumindest zwei wichtige ethische Perspektiven.

11 Ethikkommission Sichere Energieversorgung: Deutschlands Energiewende – Ein Gemeinschaftswerk für die Zukunft, Berlin 2011.

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Die eine hat mit dem Vorrang von Energieeffizienz und sparsamer Ener-gienutzung vor der Debatte über die Energiequellen zu tun. Die andere betrifft den Umgang mit zukünftigen Risiken im Verhältnis zu zukünftigen Chancen.

Beginnen wir mit der zweiten dieser Fragen. Mit ihr stoßen wir auf ein in der ethischen Diskussion noch relativ neues Thema, nämlich auf die Diskus-sion über das Vorsorgeprinzip.

III. Das Vorsorgeprinzip

Wie sind die Risiken und Chancen technologischer Entwicklungen gegen-einander abzuwägen? In welchen Fällen ist ein vorsorgliches Eingreifen geboten? Diese Fragen wurden in der internationalen Diskussion mit der Einführung des „Vorsorgeprinzips“ beantwortet. Es wird bisher in der Ethik nur selten erörtert; es ist jedoch für eine Ethik der Zukunftsverantwortung unerlässlich, sich über die Tragfähigkeit und die Reichweite dieses Prinzips Klarheit zu verschaffen.

Beim Vorsorgeprinzip handelt es sich um eine besondere Form der Ver-meidung von Gefahren. Es gehört zu den elementaren menschlichen Pflichten, für sich und für andere Gefährdungen abzuwehren. Es handelt sich dabei um eine Reaktion, die in der Instinktausstattung der Menschen angelegt ist. Doch diese Reaktionsweise scheint sich auf unmittelbar dro-hende Gefahren zu beschränken. Gefahren, die erst in einer weiteren Zu-kunft liegen, nehmen die meisten Menschen selbst dann weit weniger ernst, wenn sie selbst von diesen Gefahren betroffen sind; die möglichen Auswirkungen auf andere erhöhen den instinktiven Impuls zur Abwehr solcher Gefahren auch nicht. Am Rauchen, am Autofahren nach Alkohol-genuss oder anderen Beispielen lässt sich das verdeutlichen. Schon für solche Gefahren im Nahbereich können sich Menschen nicht auf ihre In-stinkte verlassen, sondern müssen eine ethische Orientierungssicherheit entwickeln. Noch viel mehr gilt das für schädliche Auswirkungen techno-logischer Entwicklungen, die sich erst in der Zukunft, unter Umständen sogar erst in einer entfernten Zukunft zeigen. Das übersteigt nicht nur die Möglichkeiten einer instinktgesteuerten Reaktion, sondern auch die Ka-tegorien der traditionellen Ethik. Um dieses Defizit auszugleichen, wurde

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das Vorsorgeprinzip entwickelt. Es verpflichtet dazu, für die Risiken ge-genwärtiger Handlungen Vorsorge zu treffen. Die rechtzeitige Vermeidung künftiger Schäden gilt auch dann als Pflicht, wenn es über ihr Eintreten keine letzte Gewissheit gibt.

Die moderne Technologie trägt ein Janusgesicht. Doch die beiden Seiten zeigen sich nicht immer gleichzeitig. Die Verführung ist groß, der Natur mehr Rohstoffe zu entnehmen, als in ihr nachwachsen, sie mit mehr Abfäl-len zu belasten, als sie abzubauen vermag, Technologien zu verwenden, die unter Umständen mit hohen Risiken verbunden sind, oder Treibhausgase in die Atmosphäre zu emittieren, die einen gefährlichen Klimawandel zur Folge haben. Angesichts der zukünftigen Schäden, die Menschen einander oder der Biosphäre durch die Möglichkeiten moderner Technologie zufü-gen können, hat Hans Jonas in seiner Ethik für das technologische Zeitalter das Gebot, nicht zu töten, oder allgemeiner: kein Übel zuzufügen, in die Zukunft hinein ausgedehnt. Er hat damit für die Einführung des Vorsorge-prinzips eine entscheidende Vorarbeit geleistet.

Etwas mehr als ein Jahrzehnt nach dem „Prinzip Verantwortung“, dem 1979 erschienenen Hauptwerk von Hans Jonas, wurde das precautionary prin-ciple explizit formuliert. Im Deutschen wird es mit einem Rückgriff auf einen älteren Sprachgebrauch meistens als „Vorsorgeprinzip“, manchmal aber auch als „Vorsichtsprinzip“ bezeichnet. Auf dem „Erdgipfel“ in Rio de Janeiro 1992 fand es Eingang in die Deklaration über Umwelt und Ent-wicklung. Deren Prinzip 15 heißt: „Zum Schutz der Umwelt wenden die Staaten im Rahmen ihrer Möglichkeiten weitgehend den Vorsorgegrundsatz an. Drohen schwerwiegende oder bleibende Schäden, so darf ein Mangel an vollständiger wissenschaftlicher Gewissheit kein Grund dafür sein, kos-tenwirksame Maßnahmen zur Vermeidung von Umweltverschlechterungen aufzuschieben.“

Im selben Jahr 1992 fand das Vorsorgeprinzip auch Eingang in den Maas-tricht-Vertrag, der die Arbeitsweise der Organe der Europäischen Union regelte. Er verband das Vorsorgeprinzip mit dem Verursacherprinzip, das dem Urheber einer umweltschädlichen Aktivität die Folgekosten zu-schreibt.

In diesen frühesten Definitionen des Vorsorgeprinzips wurde hervorgeho-ben, dass mögliche Gefährdungen der Gesundheit von Menschen, Tieren

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oder Pflanzen oder schädliche Folgen für die Umwelt auch dann zum Han-deln verpflichten, wenn über die möglichen Auswirkungen keine letzte wissenschaftliche Gewissheit besteht. Dieser Gesichtspunkt ist nicht nur deshalb von Bedeutung, weil alle Wissenschaft unter dem Vorbehalt bes-serer Erkenntnis steht. Sondern bei Prognosen über die Folgen heutiger Handlungen geht es um Aussagen über die Zukunft. Wissenschaftliche Aussagen über sie sind immer Aussagen über etwas Mögliches, was noch nicht Wirklichkeit ist. Natürlich gibt es gleichwohl wissenschaftliche Aus-sagen über die Zukunft von höherer oder geringerer Wahrscheinlichkeit. Deshalb muss jede Anwendung des Vorsorgeprinzips für Revisionen offen sein. Auch wenn eine „Heuristik der Furcht“ angewandt wird, kann bes-sere Einsicht zur Revision bisheriger Urteile führen. Aber das Gleiche gilt auch für eine „Heuristik der Chancen“. Fortschritte von Wissenschaft und Technik können eine veränderte Einschätzung von Chancen und Risiken zur Folge haben. Deshalb ist das Vorsorgeprinzip in einer revisionsoffenen Weise einzusetzen.

Manche haben das Vorsorgeprinzip so interpretiert, dass es eine bestimm-te Beweislastregel enthält. So erklärte die Kommission der Europäischen Gemeinschaft im Jahr 2000, dass in Fällen, in denen Strahlenbelastungen oder giftige Stoffe an die Biosphäre abgegeben oder großflächige Rodun-gen vorgenommen werden, die Beweislast nicht bei denen liegt, die eine Schädigung von menschlicher Gesundheit und Umwelt befürchten, son-dern bei den Initiatoren einer solchen Aktivität.12 Wenn der schlechten Prognose der Vorrang vor der guten zukommt, dann ist beweispflichtig, wer die schlechte Prognose entkräften will. Doch dadurch entsteht der Ein-druck, dass jeder, der eine neue Technologie oder einen neuen Impfstoff vorschlägt, nachweisen muss, dass dies mit keinerlei Risiken verbunden ist. Das Vorsorgeprinzip würde insofern die Idee einer Null-Risiko-Gesellschaft zur Konsequenz haben; der schlechteste Fall würde unabhängig von sei-ner Wahrscheinlichkeit zum Entscheidungsmaßstab. Es ist aber ohnehin fragwürdig, die aus dem Prozessrecht stammende Vorstellung von einer Beweislast einfach auf solche Entscheidungen zu übertragen. Vielmehr sollten in einem möglichst transparenten Verfahren die Argumente bei-der Seiten ausgetauscht und abgewogen werden. Am Ende muss auf der Grundlage ethischer Überlegungen politisch entschieden werden, welcher Seite das größere Gewicht zukommt.

12 European Commission: Communication on the precautionary principle of February 2, 2000, Brussels 2000.

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Welche Bedeutung kommt in einer solchen Abwägung künftigen Gefah-ren zu? In der Wissenschaft werden künftige Schäden üblicherweise so gewichtet, dass man eine Zahl für das Ausmaß des Schadens mit einer Zahl für die Wahrscheinlichkeit dieses Schadens multipliziert. In neuerer Zeit trat jedoch das eigenständige Gewicht irreversibler Konsequenzen in den Blick. Deshalb wird es heute als rational anerkannt, Handlungen, die möglicherweise mit hohen Risiken verbunden sind, auch dann gemäß dem Vorsorgeprinzip zu behandeln, wenn nur eine geringe Wahrscheinlichkeit für das Eintreten dieser Risiken besteht. Diese Überlegung hat die deut-sche Ethikkommission über „Sichere Energieversorgung“ zum Kernpunkt ihrer Argumentation gemacht. Es ist kein Gebot rationalen Vorgehens, sich in jedem Fall an den Erwartungswert eines Ereignisses zu halten, der sich aus der Multiplikation von Schadensausmaß und Schadenswahrscheinlich-keit ergibt. Es ist vielmehr eine rational begründbare Entscheidung, ein hohes Ausmaß irreversibler Schäden auch dann als Entscheidungsgrund an-zuerkennen, wenn sein Eintreten nur eine geringe Wahrscheinlichkeit hat. Damit war auch gesagt, dass die Einschätzung künftiger Risiken nicht allein in den Händen von Experten liegt, die mathematische Risikomodelle an-wenden, sondern dass sich an ihnen auch eine informierte Öffentlichkeit beteiligen kann und soll. Im technologischen Zeitalter ist es ein zentraler Gegenstand öffentlicher Ethik, welches Risikoniveau eine Gesellschaft auf sich nehmen will. Ebenso muss die Frage, welche Risiken eine Gesellschaft nachfolgenden Generationen aufbürden will, einen Gegenstand öffentli-cher Ethik bilden.

Die Energieversorgung ist dafür ein zentrales Thema. Die Entscheidung, die Nutzung der Kernenergie innerhalb eines Jahrzehnts zu beenden, ist des-halb ethisch gut begründet und rational nachvollziehbar. Das ist zusätzlich auch deshalb der Fall, weil die Frage nach einer auf unabsehbare Zeit siche-ren Endlagerung der radioaktiven Abfälle nicht beantwortet ist. Sie wird vielmehr immer wieder aufgeschoben, wie die Debatte über den Standort Gorleben illustriert. Entscheidungen über die künftige Energieversorgung müssen nicht nur die Sicherheit der Energieversorgung und die Erschwing-barkeit der Preise berücksichtigen. Sie müssen auch die Frage einbeziehen, welche Folgelasten wir mit der Art unserer Energieerzeugung hinterlassen und welche Risiken mit ihnen verbunden sind.

Gelegentlich wird vorgebracht, die Anwendung des Vorsorgeprinzips berge ihre eigenen Gefahren. Max More hat dafür die Formel von den „perils of

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precaution“ geprägt.13 Er präsentiert eine lange Liste der Errungenschaften von Wissenschaft und Technik, die mit dem Flugzeug und mit Aspirin be-ginnt und den Impfstoffen für Tollwut, Masern, Kinderlähmung und Pocken endet. More ist davon überzeugt, dass in all diesen Fällen im Blick auf mög-liche Nebenwirkungen das Vorsorgeprinzip geltend gemacht worden wäre, wenn es zum fraglichen Zeitpunkt schon in Geltung gestanden hätte. Das Prinzip, so folgert er, verhindert Durchbrüche des wissenschaftlichen und technischen Fortschritts; es gefährdet die Menschen genau dadurch, dass es sie im Übermaß zu schützen versucht.

Gewiss gibt es Gründe dazu, vor einem maßlosen Gebrauch des Vorsorge-prinzips zu warnen. Es wird auch immer wieder Kontroversen über seine Anwendung geben. So wird beispielsweise lebhaft diskutiert, ob eine Ab-lehnung der grünen Gentechnologie durch das Vorsorgeprinzip begründet werden kann. Doch eine Kritik an einer übertriebenen Anwendung dieses Prinzips stellt nicht das Prinzip selbst in Frage; worum es geht, ist viel-mehr die Frage seines gut begründeten und argumentativ ausgewiesenen Gebrauchs. Dass der Ausstieg aus der Kernenergie bekräftigt wurde, er-scheint mir als eine besonnene, rational nachvollziehbare Anwendung des Vorsorgeprinzips.

IV. Energiesparen als Energiequelle

Wir kommen damit zu dem anderen ethischen Kriterium, das sich aus den Überlegungen der Ethikkommission „Sichere Energieversorgung“ ableiten lässt. Ich bringe es auf die Formel „Energiesparen als Energiequelle“.

In dem Forschungsinstitut, in dem ich auch in dieser Frage meine ersten Erfahrungen und Erkenntnisse gesammelt habe – der Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft in Heidelberg –, haben wir bereits ge-raume Zeit vor dem Reaktorunglück von Tschernobyl 1986 die These entwi-ckelt, dass ein Abschied von der Nutzung der Kernenergie dann am ehesten zu verwirklichen sei, wenn man Energiesparen als Energiequelle nutzt.14

13 Max More: The Perils of Precaution, 2010 (www.maxmore.com/perils.htm, besucht am 6. April 2012).

14 Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft (Hg.): Alternative Möglichkeiten für die Energie-politik, Heidelberg 1977.

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Daran möchte ich heute anknüpfen. Denn ein Umsteigen auf Erneuerbare Energien allein reicht nicht. Man muss sich nur verdeutlichen, welche Fol-gen es hätte, wenn der Umfang des Energiekonsums in reichen Industrie-staaten auf die ganze Welt übertragen würde. Dass dies zu einem globalen Kollaps führen würde, kann man sich leicht an einigen Vergleichszahlen deutlich machen. Vergleicht man die Pro-Kopf-Emissionen an Kohlendioxid an einigen ausgewählten Ländern, so kommt man auf folgende beispiel-hafte Ergebnisse: Die USA verbrauchen 17 t CO2, Deutschland knapp 10 t, China rund 5 t, der weltweite Durchschnitt sind 4 t, das ökologisch verträgliche Maß wären 2 t. Tansania hat eine Pro-Kopf-Emission von unter 0,2 t. Eine Orientierung am global verträglichen Maß setzt eine weltwei-te Reduzierung und nicht nur einen weltweiten Emissionshandel sowie eine Verstärkung der Erneuerbaren Energien voraus. Die nötige Verrin-gerung muss insbesondere bei den Hauptemittenten ansetzen, also den USA, den Staaten der Europäischen Union und anderen. Dass ein solcher Abbau möglich ist, zeigt die Entwicklung der deutschen Emissionen seit dem Kyoto-Protokoll von 1990. Nach den damals eingegangenen Selbst-verpflichtungen müsste Deutschland bis zum Jahr 2011 21 Prozent der Emissionen abgebaut haben; der tatsächliche Abbau beträgt aber bereits 27 Prozent; die Europäische Union insgesamt liegt bei 18 Prozent. Doch diese Verschiebungen haben in erster Linie mit dem verstärkten Übergang auf Erneuerbare Energien sowie der wirtschaftlichen Umstrukturierung in den neuen Bundesländern und nur in geringerem Maß mit Energieeinspar-maßnahmen zu tun.

Denn weitergehende Maßnahmen und Selbstverpflichtungen in dieser Rich-tung stoßen aus zwei Gründen auf Gegenwehr, zum einen aus der Bindung unseres Wohlstandsmodells an einen undifferenzierten Wachstumsbegriff, der die Zunahme des Energiekonsums unabhängig von dem damit verbun-denen ökologischen Fußabdruck als Wohlstandsindikator ansieht, und zum andern aus der Bindung an ein Zivilisationsmodell, das auch im persönli-chen Verhalten einer Ökonomie des Mehr verpflichtet ist.

Diese Fixierung kann nur dann aufgebrochen werden, wenn neue Initiativen auf vier Ebenen zugleich in Gang kommen: auf der Ebene der politischen Regulierungen und Förderungen, die ebenso stark wie den Erneuerbaren Energien, ja vielleicht sogar mehr noch der Steigerung der Energieeffizienz gewidmet sein müssen; auf der Ebene des individuellen Verhaltens, auf der sich entscheidet, an welchem Zivilisationsmodell wir uns in Zukunft orien-

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tieren wollen; auf der Ebene der Unternehmen, die ihre Partikularinteres-sen gerade beim Thema der Energie klarer und überzeugender als bisher an Gesichtspunkte der Gemeinwohlverträglichkeit zurückbinden müssen; und schließlich auf der Ebene der soziokulturellen Verständigung, auf der eine große Debatte über Maßstäbe verantwortlichen Lebens in der global gewordenen Weltgesellschaft nötig ist.

Erst wenn der Globalisierungsdiskurs diese Ebene erreicht, wird er glaub-würdig geführt. Denn es wirkt wenig überzeugend, wenn wir zwar nach-drücklich über die Chancen der Globalisierung reden, strittig ihre Gefahren erörtern, aber gleichgültig über die Verpflichtungen hinweggehen, die sich aus der Globalisierung ergeben. Zu diesen Verpflichtungen gehört, dass wir unser eigenes Zivilisations- und Wohlstandsmodell daran messen, ob es glo-bal betrachtet nachhaltig ist und ob es Gerechtigkeit im globalen Maßstab zu fördern vermag. Unser Zivilisationsmodell global zuträglich zu gestalten, ist nicht eine Frage der Barmherzigkeit gegenüber den Ärmsten der Armen – also beispielsweise gegenüber Tansania mit seinen CO2-Emissionen von 0,2 Tonnen pro Person –; es ist vielmehr eine Frage der internationalen Gerechtigkeit und einer global betrachteten Nachhaltigkeit.

Damit sich bei Ihnen nicht zu schnell die Furcht ausbreitet, ich wolle Ihnen eine sozialromantische Verzichtsethik empfehlen, rate ich zu fol-gender Zusatzüberlegung: Es gibt unterschiedliche Einschätzungen darü-ber, welche Effizienzreserven in unserem Energiekonsum enthalten sind. Doch vom Standby-Modus vieler Haushalts- und Kommunikationsgeräte über das warme Wasser, das unnötigerweise weiter fließt, spannt sich ein weiter Bogen über Energieverschwendung in Verkehr und Gebäudehei-zung bis zu großtechnischen Anlagen. Doch diese Beispiele enthalten nur Hinweise auf das zentrale Thema. Es besteht darin, dass die Steigerung der Energieeffizienz keine statische Größe ist, sondern im technischen Fortschritt einen dynamischen Charakter trägt. Die Gruppe um Ernst von Weizsäcker hat diese Chancen einer Erhöhung der Energieproduktivität zunächst mit dem Faktor 2, dann mit dem Faktor 4, schließlich seit 2010 mit dem Faktor 5 verdeutlicht.15 Die öffentliche Diskussion bleibt hinter solchen Überlegungen noch immer zurück, indem sie einen statischen Energiebedarf annimmt, dem sie unterstellt, er wachse in vergleichbarer Weise wie das Bruttoinlandsprodukt insgesamt. Doch die Gesellschaft hat

15 Vgl. Ernst Ulrich von Weizsäcker u. a.: Faktor Fünf. Die Formel für nachhaltiges Wachstum, München 2010.

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nicht einen Bedarf an Energie, sondern an Energiedienstleistungen. Ihr Energiebedarf kann infolgedessen sinken, wenn die Energieproduktivität steigt. Steigende Energiekosten werden dann verkraftbar, wenn die Ener-gieproduktivität sich erhöht und dadurch der Energiebedarf abnimmt. In einer solchen Situation die Aufgaben von Energiepolitik allein darin zu sehen, eine stabile Energieversorgung zuverlässig zu sichern und zu-mutbare Energiepreise zu gewährleisten, greift zu kurz. Der Schlüssel besteht darin, die Energieeffizienz zu steigern und die Vergeudung von Energie zu vermeiden. Das gilt unabhängig davon, ob die Energiequelle in fossilen Energieträgern, Kernenergie oder Erneuerbaren Energien be-steht. Nur wenn der Vorrang der Energieeffizienz anerkannt ist, kann die Verschiebung zwischen den Energieträgern einen wirklichen Lösungsbei-trag darstellen.

Eine zurückhaltende Einschätzung – eine „Heuristik des Blicks“ – kommt zu dem Ergebnis, dass in diesem Bereich ebenso wie in anderen vergleich-bar wichtigen Bereichen, zum Beispiel dem Gesundheitswesen, kurzfristig Effizienzreserven von 20 bis 25 Prozent zu heben sind. Das ist weit weni-ger als der von einer „Effizienzrevolution“ erwartete Faktor Fünf. Es han-delt sich um eine Reduzierung des Energieeinsatzes um ein Fünftel, viel-leicht um ein Viertel bei gleich bleibender Energieproduktivität. Nehmen wir die Plausibilität dieser Überlegung an, so lässt sich folgern: Grundsätz-lich könnte der Abschied von der Kernenergie durch die Hebung dieser Effizienzreserven ausgeglichen werden; der weitere Ausbau erneuerbarer Energien könnte folgerichtig dafür eingesetzt werden, fossile Energieträ-ger zu substituieren. Dabei wäre nicht eine Einbuße an Energiedienstleis-tungen vorausgesetzt; sondern erwartet würde lediglich, dass diese Ener-giedienstleistungen sparsamer erbracht würden. Die Verpflichtung, durch technologische Innovationen eine „Effizienzrevolution“ voranzubringen, bliebe weiterhin bestehen.

Die Forderung, die in Anspruch genommene Energiedienstleistung mit ei-nem möglichst geringen Energieeinsatz zu erreichen, kann in einem stren-gen Sinn als moralische Forderung angesehen werden. Moralisch nennen wir Forderungen, die mit guten Gründen für jede und jeden gelten; wir bezeichnen also diejenigen Forderungen als moralisch, die universalisierbar sind. Moralisch ist dasjenige, was für jeden richtig ist. Auf einem Globus, auf dem gegenwärtig sieben Milliarden Menschen leben und um die Mit-te des Jahrhunderts eine Bevölkerungszahl von neun Milliarden Menschen

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erwartet wird, ist es ohne jeden Zweifel richtig, sparsam mit Energie umzu-gehen. Ein Entwicklungsweg, der dabei auf Einbrüche in der Energiedienst-leistung verzichtet, macht diese moralische Forderung mit Gesichtspunkten des Wohlstands und der wirtschaftlichen Stabilität vereinbar.

Manche werden weitergehen und aus ethischen Gründen zu echten Ein-schränkungen und Verzichten bereit sein. Das Wort „ethisch“ verwende ich in diesem Zusammenhang so, dass es sich auf Entscheidungen richtet, die einzelne oder Gruppen für sich treffen, weil sie ihren Überzeugungen da-von entsprechen, was ein gutes Leben ausmacht. Ethische Überzeugungen sind nicht universalisierbar; sie entsprechen einem Lebensentwurf, den sich nicht jeder zu eigen machen wird; sie sind Teil eines gesellschaftlichen Pluralismus, in dem verschiedene Gruppen und einzelne die Frage nach dem guten Leben unterschiedlich beantworten. Doch Gruppen, die sich in diesem Zusammenhang nicht nur zu energieeffizientem Verhalten, sondern zu Energiesparen durch bewussten Verzicht entscheiden, spielen eine wich-tige Rolle beim allmählichen Wandel des gesellschaftlichen Bewusstseins. Sie stehen für eine „Ethik des Genug“, die eine wichtige Vorreiterrolle bei dem Wandel des zivilisatorischen Paradigmas spielt, der gerade in den ver-schwenderischen Industriestaaten Platz greifen muss.

Mit einer Überlegung zu diesem Paradigmenwechsel will ich meine Über-legungen abschließen.

V. Ethik des Genug

Ein Wandel des gesellschaftlichen Bewusstseins und der mit ihm verbunde-nen Handlungsweisen beginnt immer mit Neuorientierungen von Überzeu-gungsgemeinschaften, die von der Soziologie als kognitive Minderheiten bezeichnet werden. Glaubensgemeinschaften spielen in diesem Zusammen-hang eine wichtige Rolle; sie sind aber nicht die einzigen Träger solcher Veränderungen. Ihnen sagt man aus guten Gründen eine wertkonservative Grundhaltung nach; sie bewahren die Erinnerung an Weltdeutungen und Wertorientierungen auch dann auf, wenn diese im Wandel der wissen-schaftlich-technischen Welt von vielen für dysfunktional gehalten werden. Zu diesen überlieferten Weltdeutungen gehört die Überzeugung, dass nicht der Mensch allein als „Krone der Schöpfung“ ausgezeichnet ist, sondern

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seinen Ort in einer Mitwelt hat, für die er Verantwortung trägt. Zu ihnen gehört, dass der Mensch den Sinn seines Lebens nicht nur durch die Art und Weise seiner arbeitenden Bemächtigung der Welt selbst hervorbringt, sondern dass er ihn in der Wahrnehmung dieser Welt erfährt. Der Wechsel von Arbeit und Ruhe, von Gestalten und Wahrnehmen bildet deshalb ein Grundmuster des menschlichen Lebens. Schon diese beiden Einsichten ge-nügen als Gründe dafür, warum eine „Ökonomie für den Menschen“, wie Amartya Sen sie beschrieben hat,16 eine Ökonomie mit menschlichem Maß ist, die der Mitwelt ihr Recht einräumt und den Menschen nicht nur als Tä-tigkeitswesen versteht. Eine „Ethik des Genug“ hat einen doppelten Sinn: Sie richtet sich daran aus, dass alle Menschen in gleicher Weise an den Gütern der Erde teilhaben und genug zum Leben haben können. Sie ver-abschiedet sich deshalb von der Vorstellung, dass ein Teil der Menschheit immer mehr braucht und niemals genug haben kann. Beide Seiten einer solchen „Ethik des Genug“ sind gleich wichtig.

Für solche Einsichten gibt es in den religiösen und kulturellen Überliefe-rungen der Menschheit unterschiedliche Quellen. Doch die Pluralität die-ser Quellen ist kein Grund dafür, sich den Zugang zu ihnen in einem allge-meinen Relativismus zu versperren oder sie mit Gleichgültigkeit – die dann irrtümlich als Toleranz ausgegeben wird – zu übergehen. Solche Einsichten können vielmehr dabei helfen, die Selbstverpflichtungen mutig zu formu-lieren und im eigenen Handeln ernst zu nehmen, die in der gegenwärtigen Weltsituation für die Menschheit und ihre Zukunft von vordringlicher Be-deutung sind.

Persönliches Handeln und politisches Entscheiden gehören in diesem Zu-sammenhang zusammen. Die Energiewende, nimmt man sie ernst, ist genauso persönlich, wie sie politisch ist; sie ist genauso politisch, wie sie persönlich ist. In der öffentlichen Diskussion genießen jedoch bisher die Themen Vorrang, die mit der Frage des Energieangebots zu tun haben: die Verstärkung der Erneuerbaren Energiequellen und die damit zusammenhän-genden technischen, rechtlichen und finanziellen Probleme, der Ausstieg aus der Kernenergie und der Abschied vom fossilen Zeitalter. Immer stär-ker schiebt sich die Frage nach einer leistungsfähigen Netzinfrastruktur für Strom in den Vordergrund; auch hier stellen sich wieder rechtliche Probleme

16 Amartya Sen: Ökonomie für den Menschen. Wege zu Gerechtigkeit und Solidarität in der Marktwirtschaft, München 2000.

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der Planungsbeschleunigung sowie gewaltige Finanzierungsprobleme; wie bei allen anderen energiepolitischen Problemen liegt darin zugleich eine gewaltige Herausforderung zur internationalen, grenzüberschreitenden Zu-sammenarbeit mit ihren spezifischen Stabilitätsproblemen. Neue Energie-speicher werden entwickelt, um zur Erhöhung der Versorgungssicherheit Energie „parken“ zu können; auch hier erfordern Forschung und Entwick-lung einen erheblichen finanziellen Einsatz. Doch all diese Maßnahmen, werden sie für sich selbst betrachtet, erwecken den falschen Anschein, als genüge es, das Energieangebot auf eine neue Grundlage zu stellen, und als ginge es nur um die Steigerung von Angebot und Nachfrage auf dem Gebiet der Energie. Doch das greift zu kurz; deshalb ist der Einspruch einer „Ethik des Genug“ nötig.

Denn von ebenso großer, ja noch größerer Bedeutung ist es, ob der Para-digmenwechsel zur Energieeffizienz gelingt. Wie schnell werden energie-effizientes Bauen und Mobilitätssysteme mit 0 CO2 zu Standards; und in welchem Tempo wird die energetische Gebäudesanierung gelingen? Wie lässt sich erreichen, dass die Versorgung mit einem geringeren Maß effizi-enter eingesetzter Energie im europäischen und internationalen Maßstab besser verankert wird? Das alles ist auf einen großen gesellschaftlichen Dialog angewiesen, der nicht nur an Information und Transparenz, son-dern auch am Austausch von Überzeugungen und am Gespräch über Zu-kunftsbilder ausgerichtet ist. Nur dann wird auch die Haltung, die vor den hohen Kosten zurückscheut, überwindbar sein. Am Beispiel der Fi-nanzmarktkrise und der Staatsschuldenkrise hat sich gezeigt, zu welchen Kraftanstrengungen die internationale Staatengemeinschaft im Stande ist. Entscheidend ist offensichtlich die Frage, welche Dringlichkeit man einer Aufgabe zuerkennt. Die Energiewende ist ein Thema von vergleichbarer Dringlichkeit; sie hat den Vorteil, dass sie auf ein konstruktives Ziel gerich-tet ist: mit weniger Energieeinsatz die Energiedienstleistungen bereitzu-stellen, die für das persönliche Leben wie für wirtschaftliche Produktivität erforderlich sind.

Exemplarische Entscheidungen können dabei von großer Bedeutung sein. So wäre es ein wichtiges Signal, wenn die Europäische Union ihr Klima-ziel aus eigenem Antrieb von 20 auf 30 Prozent bis zum Jahr 2020 erhö-hen würde. Auch andere Signale für eine Weiterentwicklung der Sozialen Marktwirtschaft zu einer Sozialen, Ökologischen und international ver-antworteten Marktwirtschaft können dem zur Seite treten. Wir stehen

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vor der Aufgabe, ein Bild vom gelingenden Leben zu entwerfen, das nicht länger auf der Zerstörung der Erde beruht. Wir müssen an einer Zukunft arbeiten, die jedem Menschen einen gleichen Anteil an den natürlichen Ressourcen ermöglicht. Wenn dabei die natürlichen Lebensgrundlagen bewahrt und nicht zerstört werden sollen, ist dies nur bei einem weit sparsameren und effizienteren Umgang mit ihnen möglich. Die globalisier-te Wirtschaft muss hohe Umweltstandards als verpflichtend anerkennen; dazu müssen die ärmeren Länder – auch durch entsprechende finanzielle Unterstützungen – in Stand gesetzt werden. Sich dieser Verantwortung zu stellen, ergibt sich für die reichen Länder aus der Art und Weise, in der sie zuvor ihr Zivilisationsmodell praktiziert und exportiert haben. Dafür Finanzmittel zu investieren, wird am Ende günstiger sein, als die Kosten des globalen Klimawandels zu bezahlen, die Nicholas Stern, der ehemalige Chefökonom der Weltbank, in seinem berühmten Klimabericht auf rund 5,5 Billionen Euro berechnet hat.

Wir können deshalb gar nicht ehrgeizig genug sein, die ökologische Umori-entierung unserer Gesellschaft voranzubringen. Dafür ist es von zentraler Bedeutung, dass die Energiewende gelingt. Es ist für ein hochindustriali-siertes Land wie Deutschland möglich, eine Energieform zu entwickeln, die sich mit der Bewahrung der Natur vereinbaren lässt. Die besten Ingenieu-rinnen und Ingenieure und die am besten qualifizierten Forscherinnen und Forscher müssen auf das Gelingen dieses Vorhabens angesetzt werden. Die Energiehauptstadt Essen und die Universität Duisburg-Essen leisten dazu wichtige Beiträge. Wenn wir alle die Bereitschaft entwickeln, über die eige-nen Interessen hinauszuschauen und das Ganze in den Blick zu nehmen, kann das Wort „Energiewende“ mit guten Gründen in das Vokabular der internationalen Gemeinschaft eingehen.

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Diskussion

Rektor Radtke: Ich danke Ihnen ganz herzlich für Ihren mahnenden, aber auch richtungsweisenden Vortrag. Am Standort Essen spielt der Umbruch einer Industriegesellschaft naturgemäß eine größere Rolle als der Klima-wandel. Diejenigen, die im Essener Norden wohnen, sehen die Ewigkeits-lasten quasi direkt vor ihrer Haustür. Beim Klimawandel ist ja nicht so ganz klar, ob diese 1 bis 2 Grad Erwärmung überhaupt zu bemerken ist. Sicher, der Sommer ist manchmal heißer und der Winter kälter, aber das können zurzeit nur die Wissenschaftler richtig bewerten. Was ich nicht übersehen kann, ist, dass hier die Keller feucht sind, weil sich der Untergrund 10, 20 Meter abgesenkt hat. Und wenn die Altlasten kamen, ging meist auch die Firma in Insolvenz, auf den Kosten bleibt die Allgemeinheit sitzen. Da stellt sich natürlich die Frage, wer hat den Gewinn, wer trägt die Kosten. Für die Ewigkeitslasten sind die RAG und Evonik zuständig. Da hat man eine langfristige und tragfähige Regelung gefunden, einen Generationen-vertrag. Für den Klimawandel steht das weltweit noch aus.

Frage: Herr Huber, Sie haben heute das Thema „Energie“ in den Mittel-punkt gestellt. Wenn Sie sehen, wie wir heute die Landschaft mit Auto-bahnen zubauen, geht es im Grunde um alle Ressourcen. In den letzten Jahren ist gesetzlich nicht viel passiert, es ist kein richtiger Rückgang er-kennbar. Inwieweit beschäftigt sich die Ethikkommission auch mit diesen grundsätzlichen Problemen?

Huber: Die Ethikkommission beschäftigt sich damit gar nicht, denn die Ethikkommission „Sichere Energieversorgung“ hat damals, wie ich es beschrieben habe, ihren Bericht nach wenigen Wochen abgegeben, und dann hieß es: ‚Der Mohr hat seine Schuldigkeit getan, der Mohr kann gehen.‘ Denn das war eine Ad-hoc-Kommission, die nur die Aufgabe hatte,

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eine ethische Legitimation für eine anstehende politische Entscheidung zu bringen, die eine Revision einer sechs Monate vorher getroffenen Ent-scheidung gewesen war, und für die man deshalb eine externe Legitimati-on haben wollte. Ich werde gelegentlich gefragt, ob der Deutsche Ethikrat, dem aus dieser Universität auch Eckhard Nagel angehört, solche Fragen bearbeiten könnte. Die Antwort heißt „Nein“, denn er ist nach dem Ge-setz über seine Errichtung auf die Fragen beschränkt, die mit der Ent-wicklung der modernen Lebenswissenschaften zusammenhängen. Und die sind in der Tat ja auch gravierend genug.

Ich gebe zu, dass mir neulich einmal in einem Interview herausgerutscht ist, dass ich mir durchaus einen Ethikrat zu diesen Fragen auch vorstellen könnte, die also mit der Wechselwirkung zwischen Wirtschaft und Na-tur, Wirtschaft und Ressourcen, mit Zukunftsfragen der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung zu tun haben. Das hat eine gewisse Wirkung ausgelöst in Gestalt einer Debatte, aber nicht dergestalt, dass es einen solchen Ethikrat schon gäbe. In der Tat gibt es das vielleicht am ehesten im Deutschen Nachhaltigkeitsrat, inzwischen unter dem Vorsitz von Marlehn Thieme, der sich diesen Fragen durchaus mit Beharrlichkeit zuwendet und dabei die Komplexität der Wechselwirkung zwischen den unterschiedlichen Ressourcen, die Sie angesprochen haben, immer wieder in den Blick nimmt.

Es ist natürlich vollkommen richtig, was Sie gesagt haben. Ich bin nur davon überzeugt, dass das Energiethema, das seit 2011 wieder so stark in den Fokus gerückt ist, aus nachvollziehbaren, auch inhaltlichen Gründen im Fokus bleiben sollte. Mein Vorschlag war nur, diesen Fokus so zu ver-ändern, dass er nicht nur von der Frage geleitet ist, was wir tun können, damit das Energienangebot einen immer weiter wachsenden Anteil an Erneuerbaren Energien enthält. Wir sollten dagegen die fundamentalere Frage stärker in den Vordergrund rücken und uns klar machen, dass die Erhöhung der Energieeffizienz der eigentliche Schlüssel zu einer Lösung des Energieproblems ist.

Schlussbemerkung zu diesem Thema: Die Frage, die Sie stellen, läuft da-rauf hinaus, wie diese Thematik in die Art und Weise eingeht, in der wir über Wohlstand und Wachstum reden. In der Tat müssen wir dahin kom-men, dass die alleinige Orientierung unserer Wachstumsvorstellungen am Bruttoinlandsprodukt erweitert wird und dass wir den ökologischen Fuß-

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abdruck der Aktivitäten eines Jahres in die Wohlstandsberechnung hinein-nehmen. Dann haben wir genau die Frage, ob eigentlich die Versiegelung von Grund und Boden durch neue Straßen durch irgendetwas anderes so kompensiert wird, dass die Regeneration von Grund und Boden in dem gleichen Maße vorankommt, wie er durch Bodenverbrauch in Anspruch genommen wurde. Wenn das regelmäßig berichtet würde, könnten wir uns klarmachen, dass wir dem Wohlstand dieses Landes schaden, wenn wir nur das eine tun und nicht auch das andere.

Frage: Bitte erlauben Sie zwei Bemerkungen zu Ihrem hervorragenden Vortrag: Erstens weise ich darauf hin, dass es auch ein Vorsichtsprinzip in der Mathematik gibt, nämlich in der mathematischen Entscheidungs-theorie. Nicht jeder Mathematiker ist bestrebt, den Erwartungswert zu maximieren, es gibt auch das Minimax-Kriterium. Das heißt, der vorsich-tige Mathematiker wählt aus den vielen Alternativen unabhängig von der Wahrscheinlichkeit diejenige, die den maximal möglichen Schaden minimiert. Also Vorsichtsprinzip und Mathematik sind keine Gegensät-ze. Zweite Bemerkung: Sie haben zu recht die Energieeffizienz betont; dagegen ist nichts zu sagen – aber der Begriff erscheint mir etwas zu eng, ein Beispiel: Wenn wir sämtliche Gebäude umfassend sanieren und alle noch funktionierenden Haushaltsgeräte austauschen würden, würden wir Energie einsparen, aber einen enormen Rohstoffverbrauch auslösen. Deshalb bin ich der Meinung, dass der Begriff Ressourceneffizienz etwas überzeugender ist.

Huber: Ich bedanke mich für beide Anregungen, die mir beide einleuch-ten und das, was ich sagen wollte, in einer sehr guten Weise präzisieren. Vielen Dank.

Frage: Der Atomstrom wurde uns damals, als er eingeführt wurde, als Se-gen verkauft. Die Entsorgung der Abfälle war von Anfang an ein Problem, aber man sagte: „Das kommt später, das schaffen wir dann schon.“ Es hat aber nie funktioniert, weil keiner genug Druck ausübte. Warum ist nicht genug Druck ausgeübt worden oder hat sich die Wirtschaft überhaupt nicht mehr gekümmert?

Huber: Vielleicht erinnern Sie sich daran, dass nicht nur Druck ausgeübt worden ist, sondern auch Widerstand geleistet worden ist gegen die Wahl eines bestimmten Standorts, und das sehr wirkungsvoll. Man hat darauf

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verzichtet – das ist die zweite Seite –, andere Möglichkeiten zu erkunden. Aber jeder, der hier im Raum sitzt, möge sich selbst kritisch fragen, ob er die Endlagerung von radioaktiven Abfällen in der unmittelbaren Um-gebung seines eigenen Wohnorts für wünschenswert halten würde. Und dann würden wir, glaube ich, ein ziemlich eindeutiges Meinungsbild be-kommen. Das heißt, die Wahl dieser Energieform war eine Entscheidung, die dem St. Floriansprinzip eine so hohe Plausibilität gibt, dass eine über-zeugende Lösung dieser Frage überhaupt nicht am Horizont erkennbar ist.

Frage: Herr Professor Huber, ich möchte Sie noch mal nach dem Vor-sorgeprinzip und nach der Radikalität der Konsequenz fragen. Sie haben zu Recht Verursacher- und Vorsorgeprinzip gegeneinandergestellt. Muss man nicht, um die praktische Wirklichkeit in der Entwicklung der Zukunft zu werten, die Konsequenz des Verursacherprinzips, verkürzt gesagt, mit 100 Prozent als Zielgröße sehen? Dagegen beim Vorsorgeprinzip erken-nen, dass es in besonderem Maße dazu dient, zukünftige Entwicklungen und Gefahren zu sehen, aber nicht unmittelbar einen Handlungsdruck zu erzeugen?

Ein Beispiel: Wenn Sie die Reinheit des Wassers sehen bezüglich chemi-scher Bestandteile, dann gibt es aufgrund der Fortentwicklung der che-mischen Analyse Erkenntnisse über geringste Mengen, die sogenannte Bestimmungsmenge, die einen Stoff charakterisiert. Unter dem Gesichts-punkt der Vorsorge ist sie zu beachten, für zukünftige Entwicklungen muss sie aber nicht zu unmittelbaren Konsequenzen führen. Wäre es nicht sinnvoll zu sagen, gerade das Vorsorgeprinzip müssen wir konsequent be-achten, aber wir müssen es mit dem Nachhaltigkeitsprinzip kombinieren? Und das Nachhaltigkeitsprinzip ist ja durch Ökologie, Ökonomie und Sozi-ales geprägt. Würden Sie diese Tendenz für vertretbar halten?

Huber: In aller Kürze nur, zum Ersten noch einmal zurückgreifend auf die sehr präzise Intervention von vorhin: Ich hielte es eigentlich auch für richtiger, wenn wir im Deutschen auf die Übersetzung „Vorsichtsprinzip“ übergehen würden. Das hat auch eine ganz komplizierte Begriffsgeschich-te, dass im Deutschen das Wort „Vorsorgeprinzip“ eingeführt worden ist. Ich habe mich dem in diesem Vortrag angeschlossen, weil ich nicht als begrifflicher Rechthaber auftreten wollte. Aber es ist ja klar, dass „precau-tion“ mit „Vorsicht“ besser übersetzt ist als mit „Vorsorge“. Das sage ich deswegen noch einmal, weil das Ihrem Argument nahe kommt.

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Es handelt sich um Vorsicht im Blick auf noch nicht eingetretene Ereig-nisse; das ist der Unterschied zu der Forderung, dass bei Umweltschä-den, wenn sie eingetreten sind, das Verursacherprinzip gelten soll. Das haben Sie, glaube ich, sogar bestätigt mit dem Satz „Das muss zu 100 Prozent gelten“. Beim Vorsichtsprinzip dagegen handelt es sich um die Frage, welcher Einfluss unserer Vorsicht im Hinblick auf ein bestimmtes Vorhaben zuerkannt wird. Wobei diese Vorsicht – das haben wir vorhin auch gemerkt – zu anderen Gesichtspunkten der Ressourcenschonung ins Verhältnis gesetzt werden muss. Dann muss auf der Basis einer Debatte, die ich „öffentliche Ethik“ nenne, eine politische Abwägung erfolgen und eine politische Entscheidung getroffen werden.

Das mit einer Automatik zu versehen, die sozusagen das Risiko einseitig in jedem Fall nur beim Verursacher ablädt, erscheint mir als problema-tisch. Vielmehr muss der Umgang mit eventuellen Folgen – wenn man es politisch entschieden hat, dass man es machen will – bereits ein Teil dieser politischen Überlegungen sein. Deren Ergebnis darf nicht im Vor-hinein durch ein Prinzip festgelegt werden. Deswegen habe ich ganz zart angedeutet, dass ich die Äußerung der Europäischen Kommission aus dem Jahr 2000, die das „precautionary principle“ mit dem Verursacherprinzip sozusagen einlinig verbindet, für problematisch halte.

Das wird noch klarer, wenn man das Nachhaltigkeitsprinzip einführt mit seinen drei klassischen Dimensionen, nämlich Ökologie, Ökonomie, So-ziales. Nach meiner persönlichen Überzeugung muss man dies auf vier Dimensionen erweitern, nämlich Ökologie, Ökonomie, Soziales und Kul-turelles. Dann wird klar, dass man all diese Fragen auch nicht nur materia-listisch anschauen darf, als ob die Ressourcen, aus denen sich unser Leben speist, nur materielle Ressourcen in einem ganz unmittelbar stofflichen Sinn wären.

Frage: Professor Huber, Sie haben als Theologe vorzüglich moralisch Din-ge angeprangert, die katastrophal sind in unserer Demokratie. Ich wun-dere mich, dass Sie als überdurchschnittlich Wissender und Gebildeter nicht das Thema Profitgier gegeißelt haben. Wir Menschen sind ja so kurzsichtig, dass wir nur Dinge unternehmen, die den effektivsten Profit ergaunern. Das ist zutiefst unchristlich. Gerade Sie als Theologe hätten das eigentlich anprangern müssen. Wir Menschen rühren doch nicht die Hand, wenn keine Effektivität dahintersteht.

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Huber: Ich habe in der Tat diesen Vortrag nicht gehalten, um ein Kata-strophenszenario zu malen, das in das Ergebnis mündet, dass die Dinge so unlösbar sind, dass wir gar nicht anfangen müssen, an ihrer Lösung zu arbeiten. Sondern ich habe gedacht, dass ich bei dem spezifischen Thema, das ich heute hatte, Gründe dafür angeben konnte, dass wir vor den großen Aufgaben, die wir haben, nicht zu kapitulieren brauchen. Natürlich brau-chen wir eine Diskussion darüber, in welchem Maß Profit eine notwendige Bedingung für das Funktionieren von Wirtschaft ist und in welchem Maß und aus welchen Gründen Profit maßlos wird und dann ins Selbstzerstöre-rische umschlägt. Das ist ein Thema, zu dem ich gerne reden würde. Jetzt will ich aber nicht mehr sagen, sonst bekomme ich noch eine Einladung, die ich jetzt nicht provozieren wollte.

Aber ich habe nun mit Absicht das spezifische Thema der Energiewende auf-gegriffen. Soweit es mit dem generellen Thema der Wirtschaftsverfassung zusammenhängt, bin ich – es tut mir leid – auch wieder genötigt, ein paar differenzierte Zwischentöne einzubauen. Ich sehe meine Aufgabe als theo-logischer Ethiker nicht darin, nur zu geißeln. Man muss einen ursprüngli-chen guten Sinn des Profitprinzips in der Wirtschaft unterscheiden von der Maßlosigkeit und präziser nach den Gründen dieser Maßlosigkeit fragen, als das der Fall ist, wenn man nur insgesamt sagt, es sei alles schrecklich. Das wäre die Aufgabe, die sich dann stellen würde, aber weil es halt ein biss-chen komplizierter ist, habe ich es nicht auch noch in diesem Vortrag getan.

Frage: Ich würde gerne noch einmal von der Makro- auf die Individualebe-ne kommen. Sie haben ja auch mit Bildungsfragen zu tun, wie Herr Radt-ke einführend berichtet hat. Wir haben an der Universität Duisburg-Essen einen Schwerpunkt in der empirischen Bildungsforschung. Wie kommen wir von diesen moralischen Ansprüchen zu der Bewusstseinswerdung? Wie überzeugen wir unsere Kinder und Jugendlichen davon, gibt es da nicht eine Vermittlungslücke? Als Sportler hat mir das Beispiel der Ballspieler sehr gut gefallen. Gibt es da eine Heuristik des Blickes? Ich habe nämlich den Eindruck, vielleicht müsste man Kindern das rationaler zugänglich machen. Sie gehen eben lieber in die warme Wanne, spielen mit dem Smartphone und gucken sich Filme an. Vielleicht haben Sie eine Idee, wie wir an unsere Heranwachsenden appellieren können?

Huber: Wenn ich höre, Kinder gingen lieber an ihr Smartphone, dann sage ich als Erstes: Ich wünsche mir in der Tat eine Erziehung, in der nicht

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schon die Kinder mit elektronischen Geräten spielen lernen. Ich wünsche mir Orte, an denen Kinder wieder lernen, wie toll es ist, mit Kapla-Steinen zu bauen. Das sage ich jetzt nicht in der Absicht, Werbung für Lego oder sonst etwas zu machen. Ich sage es nur deswegen, weil ich zu Weihnach-ten Kapla-Steine geschenkt bekommen habe und weil ich nun mit meinen Enkeln hingebungsvoll mit Holzbausteinen baue, die alle dieselbe Größe haben. Ich lerne aus der Phantasie meiner 3- und 5-jährigen Enkel, welche für mich vollkommen unerwartbaren Phantasien freigesetzt werden durch 500, in ihren Ausmaßen identische Steine.

Ich wünsche mir einfach nur möglichst viele Orte in diesem Land, an denen Kinder die Chance haben, das so zu machen, meine Enkel zeigen mir nämlich, wie gut das geht. Dann haben die Großväter die Chance, es von ihren Enkeln zu lernen. Und auf die Weise kommen sie überhaupt auf die Idee, den Transfer zu anderen Fragen zu ziehen und sich vielleicht etwas zu überlegen, um beispielsweise mit Kindern den Mechanismus der Erzeugung und Verwendung von Energie an einfachen Modellen auszu-probieren.

Von daher glaube ich, dass die Qualität der Spielkultur in Familien und Kindertageseinrichtungen einer der von Ihnen allen sicher erkannten, aber von anderen vielleicht noch nicht erkannten Schlüssel zur Einwoh-nung des Kindes in einer Welt darstellt, die nicht nur dazu da ist, ge-braucht und verschandelt zu werden. Das ist der Anknüpfungspunkt: Ich bin einfach nicht bereit, deswegen zu kapitulieren, weil ich natürlich auch viele Kinder sehe, die nur noch mit Smartphones oder Gameboys herumlaufen. Was aus meiner Sicht an dieser Stelle verboten ist, ist die Kapitulation.

Radtke: Das ehrt Sie, aber das ist ein sehr elitärer Anspruch.

Huber: Wenn wenigstens die Verantwortungseliten Vorbilder wären, dann wären wir viele Kilometer weiter.

Frage: Es gab in der Menschheit ja immer Zeiten mit Ressourcenknapp-heit. Da wurde dann Verzicht gepredigt und irgendwie hat sich die Menschheit aber doch darüber hinweggesetzt. Sehen Sie eine realistische Chance, dass diese Ethik des Verzichts so chic wird, dass es eine größere Bewegung werden kann?

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Huber: Zunächst liegt mir noch einmal daran, dass wir die zwei Stu-fen, in denen ich argumentiert habe, sorgfältig unterscheiden. Als mo-ralisches Prinzip habe ich keine Ethik des Verzichts gepredigt, sondern ich habe gesagt: Es gibt ein moralisches Prinzip, das darin besteht, dass wir unseren Verbrauch der Ressourcen dieser Welt so organisieren, dass andere an den Ressourcen dieser Welt auch einen fairen Anteil haben können.

Nun sind wir, was das betrifft, in der vollkommen beispiellosen Situation, dass wir innerhalb von 60 Jahren eine Verdreifachung der Zahl der Men-schen auf diesem Globus erlebt haben. Das ist nicht nur ein quantitatives, sondern auch ein qualitatives Problem. Und es gibt auf dieses Problem nur zwei Antworten. Die eine heißt, wir machen unser Ding auf dem Rücken und auf Kosten der anderen – oder wir halten an dem genannten mora-lischen Prinzip fest, beziehungsweise wir machen es uns überhaupt zum ersten Mal klar, weil wir die Welt vorher noch nicht als eine globale Welt gedacht haben.

Das ist die moralische Frage. Die ist schwer, weil sie so analogielos ist. Mir liegt bloß daran, mir auf dieser Ebene nicht sagen zu lassen: Du predigst eine Ethik des Verzichts, und das hat schon früher nicht geklappt. Sondern ich vertrete ein moralisch, jetzt sage ich mal anspruchsvoll: zweifelsfreies Prinzip. Ich lade jeden ein, mir dieses Prinzip in Stücke zu schlagen; dann krieche ich zu Kreuze, aber vorher nicht.

Ich weiß auch, dass etwas, was moralisch richtig ist, den Leuten noch nicht automatisch einleuchtet, weil auch die Moral, wenn sie universali-sierbar ist, nicht nur davon lebt, dass Leute mit kühlem Verstand sagen: So ist es. Sondern dazu muss sozusagen das Herzblut des Motivs und der Bereitschaft kommen, sich die Moral auch etwas kosten zu lassen.

Dazu sind wir auf Vorbilder angewiesen, und diese Vorbilder zeichnen sich gerade dadurch aus, dass sie mehr tun, als moralisch geboten ist. Nur dadurch werden sie für uns zu Vorbildern. Mutter Teresa tat etwas, was nicht für alle moralisch geboten ist, Dietrich Bonhoeffer, Franz von Assisi – wen wollen wir nennen? Sie alle zeichnen sich durch ein spezi-fisches Mehr aus, nämlich eine überzeugende Lebensform, von der sie gerade nicht verlangt haben, dass alle sich diese Lebensform zu eigen machen.

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Das habe ich unter der Ethik des Genug angesprochen, und dann habe ich erklärt, warum wir sogar noch dieses Genug uns ganz gut begreiflich machen können. Deshalb beziehe ich mich auf den Wärmestrom von über-zeugenden Personen, von Überzeugungsgemeinschaften. Das wäre auch eine großartige Chance für Kirchen und christliche Gemeinden, etwas zu tun und einzubringen, wozu die Leute hochschauen und wozu sie nicht nur verächtlich sagen, das sei ja reaktionärer Kram von vorgestern.

Darin liegt eine große Chance. Aber meine Erwartung ist nicht, dass 100 Prozent unserer Gesellschaft eine Ethik des Verzichts praktizieren. Sehr wohl aber erwarte ich, dass alle Leute – teils feiwillig, teils ge-zwungenermaßen – mit der Art von sinnloser Verschwendung aufhören, die wir gegenwärtig praktizieren. Dazu müssen wir Rahmenbedingungen schaffen; denn die Fortsetzung der bisherigen Praxis können wir nicht verantworten.

Frage: Ich möchte einhaken an Ihrem Punkt Effizienz als Quelle für Energie. Eine gute Idee, die ethisch in Ordnung ist, aber wie steht es mit der Umsetzung? Ich erinnere an das Glühlampenproblem, wo wir durch europäische Vorschriften eine Glühlampe bekommen haben, bei der ich abends etwa 20 Minuten warten muss, bis sie die volle Leucht-kraft erreicht, die ich bei der alten Glühlampe sofort hatte. Ich sehe darin einen unglaublichen Verlust. Wie stellen Sie sich die Effizienz in der Praxis vor?

Huber: Ich bin ganz entspannt beim Zuhören, weil ich davon ausgehe, dass es in unserem Haushalt keine EU-verordnungswidrigen Leuchtmittel mehr gibt. Trotzdem habe ich bei uns zu Hause noch in keinem Raum 20 Minuten gewartet, bevor es hell wurde. Ihr Beispiel ist aber trotzdem richtig, denn es zeigt, dass auch solche großen Vorhaben nur durch das übliche Trial-and-Error-Verfahren funktionieren können. Und das Beson-dere ist, dass die Wissenschaftler ja so klug sind, dass sie dieses Trial-and-Error-Experiment vorher machen – und deswegen halte ich mich dann an diejenigen, die mir versprechen, dass das Leuchtmittel relativ bald leuchtet.

Der Punkt, auf den Sie hingewiesen haben, ist, dass die Demokratie die einzige Staatsform ist, die für sich in Anspruch nimmt, auch nach dem Prinzip von Trial and Error zu funktionieren. Wenn Ihre Aussage richtig

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ist, dass diese Verordnung der Europäischen Kommission unveränderlich sei, dann würde dadurch erwiesen, dass diese Verordnung eine undemo-kratische Verordnung ist. Es geht nicht nur um die komplizierte Frage, inwieweit daran eigentlich das Europäische Parlament beteiligt war – die übrigens auch höchst interessant ist –, sondern um den Eindruck, der in Europa entsteht: Wenn die Europäische Kommission die Krümmung der Salatgurke und den Neigungswinkel der Dachdeckerleiter festgelegt hat, dann ist beides für alle Zeiten festgelegt. Dies ist ein Eindruck – das gehört nicht zum Thema „Energie“, ich sage es trotzdem –, der das demokratische Bewusstsein untergräbt. Deswegen muss in Europa drin-gend etwas passieren.