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MARIE PHILLIPS Götter ohne Manieren

MARIE PHILLIPS Götter ohne Manieren · Artemis ging, die Köter hinter sich herziehend, zum Baum hinüber. Sie berührte seine Rinde und spürte seinen Atem. Sie legte das Ohr an

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MARIE PHILLIPS

Götter ohne Manieren

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Buch

Es ist nicht einfach, zur griechischen Götterfamilie zu gehören. Beson-

ders, wenn die Familie in einem zu kleinen, heruntergekommenen Haus

mit zu wenig warmem Wasser im Norden von London lebt. Die Göt-

ter sind nach London gezogen, als Immobilien nach dem Ausbruch der

Pest erschwinglich waren und bevor das große Feuer die Preise wieder

in die Höhe trieb. Jetzt, im 21. Jahrhundert, verdingen sie sich mit den

unmöglichsten Beschäftigungen: Aphrodite, die Göttin der Liebe, bietet

Telefonsex an, und Apoll, der Sonnengott, moderiert eine miese Fern-

sehshow. Am härtesten hat es jedoch Artemis getroff en: Die Göttin der

Jagd kann nur noch Hunde ausführen, denn in der Zwischenzeit wur-

de in England sogar die Jagd auf Füchse verboten. Zudem muss Artemis

sich maßlos über ihren Zwillingsbruder Apoll ärgern, der eine Invest-

mentbankerin in einen Baum verwandelt hat, weil sie ihm keine sexuel-

len Gefälligkeiten erweisen wollte. Artemis fi ndet, dass sie dem Treiben

ihres Bruders schnellstmöglich Einhalt gebieten muss, damit er nicht

weiter seine Energie so sinnlos verschwendet. So bringt sie ihren Sohn

Eros dazu, einen Pfeil auf Apoll abzuschießen, damit dieser sich aufrich-

tig verliebt. Doch das Objekt seiner Liebe ist Alice, eine Sterbliche. Und

ausgerechnet Alice fängt im Haus der Götter als Putzfrau an, was die ge-

samte Götterwelt bald Kopf stehen lässt.

Autorin

Marie Phillips, geboren 1976 in London, studierte Anthropologie in

Cambridge. Sie arbeitete für die BBC und als Buchhändlerin, bevor sie

mit 27 Jahren mit dem Schreiben anfi ng. »Götter ohne Manieren«, ihr

erster Roman, wurde in 22 Länder verkauft, und der Hollywood-Schau-

spieler Ben Stiller sicherte sich die Filmrechte. Marie Phillips lebt als freie

Schriftstellerin in London.

Weitere Informationen unter www.mariephillips.co.uk..

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Marie Phillips

Götter ohne Manieren

Roman

Deutsch

von Sabine Herting

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Die Originalausgabe erschien 2007

unter dem Titel »Gods Behaving Badly«

bei Jonathan Cape, London

Verlagsgruppe Random House FSC-DEU-0100

Das FSC-zertifi zierte Papier München Super für dieses Buch

liefert Arctic Paper Mochenwangen GmbH.

1. Aufl age

Taschenbuchausgabe September 2010

Wilhelm Goldmann Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Copyright © der Originalausgabe by Marie Phillips 2007

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2008

by C. Bertelsmann Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München

Umschlagmotiv: © Adam McCauly / Dutch Uncle Agency

IK · Herstellung: Str.

Druck und Bindung: GGP Media GmbH, Pößneck

Printed in Germany

ISBN: 978-3-442-47292-5

www.goldmann-verlag.de

Zert.-Nr. SGS-COC-001940

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Für meine Eltern

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Eins

Als Artemis morgens die Hunde spazieren führte, sah sie ei-nen Baum, wo eigentlich kein Baum sein sollte.

Er stand allein in einer wenig einsehbaren Senke. Für das un-geübte Auge, den zufälligen Spaziergänger, sah er wahrschein-lich wie ein ganz normaler Baum aus. Doch Artemis’ Auge war alles andere als ungeübt, und sie ging jeden Tag durch diesen Teil von Hampstead Heath. Dieser Baum war völlig neu: Ges-tern hatte er noch nicht da gestanden. Und Artemis erkannte auf den ersten Blick, dass er eine gänzlich neue Spezies war, eine Eukalyptusart, die es gestern noch nicht gegeben hatte. Es war ein Baum, den es eigentlich überhaupt nicht geben sollte.

Artemis ging, die Köter hinter sich herziehend, zum Baum hinüber. Sie berührte seine Rinde und spürte seinen Atem. Sie legte das Ohr an den Stamm und lauschte seinem Herzschlag. Dann sah sie sich um. Gut: es war noch früh und niemand in Hörweite. Sie ermahnte sich, den Baum nicht zu beschimp-fen, schließlich traf den Baum keine Schuld, und dann sprach sie ihn an.

»Hallo«, sagte sie.Langes Schweigen.»Hallo«, sagte Artemis noch einmal.»Sprechen Sie mit mir?«, fragte der Baum. Er hatte einen

leichten australischen Akzent. »Ja«, entgegnete Artemis. »Ich bin Artemis.« Sollte der Baum

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irgendeine Erkenntnis daraus gewonnen haben, so zeigte er es nicht. »Ich bin die Göttin der Jagd und der Keuschheit.«

Wieder Schweigen. Schließlich sagte der Baum: »Ich bin Kate. Ich arbeite bei Goldman Sachs, Abteilung Fusionen und Akquisition.«

»Wissen Sie, was mit Ihnen geschehen ist, Kate?«, fragte Artemis.

Längeres Schweigen. Gerade als Artemis ihre Frage wieder-holen wollte, antwortete der Baum: »Ich glaube, ich habe mich in einen Baum verwandelt.«

»Ja«, sagte Artemis. »So ist es.«»Gott sei Dank«, sagte der Baum. »Ich dachte schon, ich

würde verrückt.« Dann schien er über seine Worte nachzu-sinnen. »Eigentlich glaube ich, ich bin schon verrückt.« Dann, mit etwas Hoffnung in der Stimme: »Sind Sie sicher, dass ich nicht verrückt bin?«

»Ja, ganz sicher«, erwiderte Artemis. »Sie sind ein Baum. Ein Eukalyptus. Eine Unterart des Malle-Eukalyptus. Mit gespren-kelten Blättern.«

»Oh«, sagte der Baum.»Tut mir leid«, sagte Artemis. »Aber mit gesprenkelten Blättern?«»Ja«, sagte Artemis. »Grün-gelb.«Der Baum schien erfreut. »Zumindest dafür muss man dank-

bar sein«, sagte er.»Genau die richtige Einstellung«, versicherte ihm Artemis.»Also Sie sind«, sagte der Baum, nunmehr eher im Plauder-

ton, »die Göttin der Jagd und der Keuschheit?«»Ja«, bestätigte Artemis. »Und des Mondes und verschiedener

anderer Dinge. Artemis.« Sie sprach ihren Namen mit ein we-nig Nachdruck aus. Noch immer verletzte es sie, wenn Sterb-liche ihn nicht kannten.

»Ich wusste gar nicht, dass es eine Göttin der Jagd und der Keuschheit und des Mondes gibt«, gestand der Baum. »Ich dachte, es gäbe nur den einen Gott. Für alles. Oder, um ehr-

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lich zu sein, ich dachte, es gäbe gar keinen Gott. Nichts für ungut.«

»Macht nichts«, entgegnete Artemis. Ungläubige waren ihr immer noch lieber als Häretiker.

»Allerdings muss ich sagen, wie eine Göttin sehen Sie nicht aus«, fügte der Baum an.

»Und wie genau sieht eine Göttin aus?«, fragte Artemis mit leichter Schärfe in der Stimme.

»Weiß nicht«, sagte der Baum ein bisschen verunsichert. »Sollten Sie nicht eine Toga oder so was Ähnliches tragen? Oder einen Lorbeerkranz?«

»Sie meinen, keinen Trainingsanzug«, sagte Artemis.»Ganz genau«, gab der Baum zu.»Die Zeiten ändern sich«, sagte Artemis. »Sie sehen auch nicht

aus wie jemand, der bei Goldman Sachs, Abteilung Fusionen und Akquisition, arbeitet.« An ihrer Stimme war zu erkennen, dass hiermit das Thema Kleidung für sie beendet war.

»Ich komme immer noch nicht darüber hinweg, dass Sie eine Göttin sind«, sagte der Baum nach einem weiteren kurzem Schweigen. »Boah. Gestern hätte ich es noch nicht geglaubt. Heute …« Der Baum zuckte kaum merklich, so dass seine Blätter raschelten. Dann schien er einen Moment lang nachzudenken. »Heißt das also«, fragte er, »wenn Sie eine Göt-tin sind, dass Sie mich in einen Menschen zurückverwandeln können?«

Diese Frage hatte Artemis schon erwartet.»Tut mir leid«, sagte sie. »Aber das kann ich nicht.«»Warum denn nicht?«, fragte der Baum. Der Baum klang so verzagt, dass sie es nicht fertigbrachte,

ihm wie beabsichtigt zu entgegnen: »… weil ich keine Lust habe«. Stattdessen erwiderte sie sehr zu ihrer eigenen Über-raschung: »Ein Gott kann nicht rückgängig machen, was ein anderer Gott getan hat.« Es war ihr ein Gräuel, eine Schwäche zugeben zu müssen, ganz besonders gegenüber einem Sterb-lichen.

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»Soll das heißen, dieser Typ war auch ein Gott? Der … das getan hat. Nun ja, es liegt ja auf der Hand. Ich hatte gehofft, er wäre so was wie ein Hypnotiseur.«

»Nein, er ist ein Gott«, sagte Artemis.»Hmm«, machte der Baum. »Könnten Sie wohl irgendwas

mit diesem Irischen Setter machen? Es gefällt mir gar nicht, wie der an mir rumschnüffelt.«

Artemis zog den dummen Hund weg. »Sorry«, sagte sie. »Was ist denn nun genau passiert?«»Ich habe hier gestern einen kleinen Spaziergang gemacht,

da kam dieser Typ auf mich zu und sprach mich an …« »Groß?«, fragte Artemis. »Blond? Unglaublich gut ausse-

hend?«»Genau, das ist er«, bestätigte der Baum.»Was hat er gesagt?«, wollte Artemis wissen.Die Rinde schien sich leicht zu verschieben, so als zöge der

Baum ein Gesicht.»Ich, ähm …«»Was hat er gesagt?«, fragte Artemis noch einmal und ließ

den Hauch eines Befehlstons anklingen. »Er hat gesagt: ›Hallo. Willst du mir einen blasen?‹«Einen blasen. Warum machten die Leute so etwas mitein-

ander? Artemis verspürte leichte Übelkeit.»Ich habe Nein gesagt«, fuhr der Baum fort. »Und dann hat

er gesagt: ›Wirklich nicht? Du siehst so aus, als könntest du das gut, und ich glaube, du hättest großen Spaß dabei.‹«

»Ich bedaure sehr, was mein Bruder getan hat«, sagte Arte-mis. »Wenn es nach mir ginge, dürfte er nicht unbeaufsichtigt draußen herumlaufen.«

»Ihr Bruder?«»Mein Zwillingsbruder. Es ist … bedauerlich.«»Nun ja, egal. Ich bin einfach weitergegangen, und er lief

hinter mir her, und ich bekam Angst und fing an zu rennen, und dann … Tja, hier bin ich.«

Artemis schüttelte den Kopf. »Es ist nicht das erste Mal, dass

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so etwas geschieht. Ich versichere Ihnen, wir werden das nicht auf sich beruhen lassen.«

»Wird er mich dann zurückverwandeln?«»Ganz sicher«, log Artemis. »Dann erübrigt es sich, meine Familie zu verständigen«, sagte

der Baum. »Gut. Doch vielleicht sollte ich mich bei der Ar-beit krankmelden. So kann ich ja wirklich nicht hingehen. Ich hatte mein Handy dabei, es müsste hier irgendwo liegen. Könnten Sie meinen Chef anrufen und das Telefon an den Stamm halten?«

»Ich fürchte, Sterbliche können Sie nicht verstehen«, sagte Artemis. »Nur Götter. Und Pflanzen. Aber ich würde mir nicht die Mühe machen, mit dem Gras zu reden. Es ist nicht allzu helle.«

»Oh«, sagte der Baum. »Okay.« Artemis ließ ihm Zeit, diese Neuigkeit auf sich wirken zu lassen. »Warum bin ich darüber nicht bestürzter?«, fragte er schließlich. »Hätten Sie mir ges-tern erzählt, ich würde in einen Baum verwandelt, wäre ich bestimmt sehr, sehr bestürzt gewesen.«

»Sie sind nun ein Baum, kein Mensch mehr«, erklärte Arte-mis. »Sie haben keine Gefühle. Ich glaube, so werden Sie viel glücklicher sein. Und länger leben, außer es kommt ein starker Sturm.«

»Es sei denn, Ihr Bruder verwandelt mich zurück.«»Natürlich«, sagte Artemis. »Ich gehe mal besser. Ich muss

die se Hunde zurückbringen … zu meinen Freunden.«»Nett, Sie kennengelernt zu haben«, sagte der Baum.»Ebenso«, sagte Artemis. »Tschüs. Bis bald. Vielleicht.«Ihre freundliche Miene verflog, noch bevor sie sich ganz

abgewendet hatte. Als die Hunde ihr Gesicht sahen, winsel-ten sie alle gleichzeitig. Doch von Artemis hatten sie nichts zu befürchten. Es war Zeit, nach Hause zu gehen und Apoll zu suchen.

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Zwei

Es gab Zeiten, dachte Apoll, während er rhythmisch stieß, da war ein diskreter Badezimmerfick mit Aphrodite aufregend gewesen. Er musterte sie eingehend, während sie vor ihm an der abblätternden hinteren Wand lehnte, einen zierlichen Fuß auf der dreckigen Kloschüssel, wobei ihr Nagellack die einzige perfekt aufgetragene Farbe im Raum war. Sie war exquisit. Das konnte er nicht leugnen. Einfach die schönste Frau, die es je gegeben hatte, auch wenn Helena mit dem Gesicht, das einen Krieg heraufbeschworen hatte, ihr ziemlich nahe kam. Die-se Augen (Stoß), dieses Haar (Stoß), dieser Teint (Stoß), diese Brüste (Stoß), diese Beine (Stoß) – nicht einen Quadratzenti-meter an ihr konnte man bekritteln. Allerdings war dies kaum eine große Leistung ihrerseits. Schließlich war sie die Göttin der Schönheit. Aber dennoch, dachte Apoll, auch wenn sie so großartig ist, muss sie denn so … na ja … so gelangweilt drein-schauen? Auch Apoll war von Aphrodite so gelangweilt, dass er hätte schreien mögen. Doch sein Stolz verlangte, dass sie nicht dasselbe empfinden sollte.

»Gut, jetzt andersrum«, kündigte Aphrodite an.»Okay«, sagte Apoll. Zumindest müsste er dann nicht mehr

länger in dieses völlig gleichgültige Gesicht sehen. Aphrodite löste sich von ihm und drehte sich der Wand zu.

Sie beugte sich vor, so dass sie ihrem Neffen ihre makellosen elfenbeinfarbenen, kugeligen Pobacken zuwandte und stützte

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sich mit ihren schmalen eleganten Händen an der Wand ab. Apoll drang wieder in sie ein und stieß weiter. Als er auf ihren Hinterkopf hinabblickte, von dem ihre glänzenden schwarzen Locken über ihre Alabasterschultern herabfielen, konnte er sich beinahe vorstellen, er bumse Catherine Zeta-Jones. Er über-legte, ob er Aphrodite dazu überreden könnte, mit ihm Wali-sisch zu sprechen. Mal was Neues. Irgendwas Neues.

Apoll wollte raus. Raus aus Aphrodite, raus aus diesem Bade-zimmer, raus aus diesem Haus und raus aus seinem Leben. Er hatte London vollkommen satt. Die Familie war 1665 hier-her gezogen, als wegen der Pest die Immobilienpreise in den Keller gefallen waren und kurz bevor die Zerstörung durch das Große Feuer sie wieder in die Höhe schnellen ließ. Das war ein typischer pfiffiger Schachzug in Sachen Finanzma-nagement seiner Schwester Athene, der Göttin der Weisheit, gewesen. Allerdings hatte er schon damals vorausgesehen, dass sie dieses Haus, das sie so günstig gekauft hatten, niemals wie-der loswürden, und er hatte versucht, die Familie zu warnen, doch sie hatte nicht auf ihn gehört. Er war zwar in der Tat da-für bekannt, bei seinen Prophezeiungen bisweilen zu mogeln, um seinen Kopf durchzusetzen, und alle hatten gewusst, dass er auf gar keinen Fall nach London ziehen wollte, aber dieses Mal hatte er recht behalten, und er hatte es von Anfang an gewusst. Dass der Besitz auf Zeus’ Namen eingetragen wurde: Das war das Problem. Denn selbst er hatte nicht voraussehen können, was mit Zeus geschehen würde.

»Ich habe überlegt, mein Zimmer neu zu dekorieren«, sagte Aphrodite und unterbrach seine Gedankengänge.

»Schon wieder?«, fragte Apoll.»Eine Veränderung würde mir guttun. Ich bin sicher, Heppy

hat nichts dagegen.«Heppy war Hephaistos, der Gott der Schmiede und Aphro-

dites Ehemann, und genauso scheußlich wie sie schön war. Obwohl ihn die Familie mit verächtlicher Herablassung be-handelte, kümmerte er sich um alle Modernisierungen und

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Reparaturen im Haus. Da sie nun schon seit über dreihundert Jahren im selben Haus wohnten, fielen laufend Modernisie-rungen und Reparaturen an. Trotzdem hätte er Apolls Ansicht nach mehr Zeit darauf verwenden können, etwa dieses feuchte, bröckelnde, leckende Badezimmer auf Vordermann zu brin-gen, was der gesamten Familie zugutekäme, statt ihr Schlaf-zimmer mit weiterem Luxus auszustatten, wenn Aphrodite mal wieder einen ihrer zunehmend wunderlichen Einfälle hatte.

»Was soll’s denn diesmal sein?«, fragte er sie. »Noch mehr Blattgold? Diamantenbesetzte Lüster? Endlich alle Rosen raus?«

Aphrodite sah ihn über die Schulter streng an. Sogar ihr wü-tender Blick war gezielt sexy.

»Rosen sind doch nicht schlecht«, schnaubte sie. »Nein, ich dachte nur gerade, ich hätte statt roter lieber wieder roséfarbe-ne.« Sie drehte sich wieder zur Wand, fing eine vorbeilaufende Kakerlake und zerquetschte sie zwischen Daumen und Zeige-finger. »Nicht so schnell«, sagte sie.

Gehorsam änderte Apoll das Tempo. Er dachte an die aber-tausende Jahre, die er mit Aphrodite zusammenlebte, an tau-sende in der Vergangenheit und tausende, die ihm noch be-vorstünden – und das war das Best-Case-Szenario. Und sie veränderte sich nie. Niemals. Doch Sex mit Aphrodite war nun mal besser als gar kein Sex. Und keiner der anderen Götter wollte mit ihm schlafen. Könnte er doch nur eine anständige Geliebte unter den Sterblichen finden, eine wie seine früheren Geliebten in Griechenland oder Rom, die ihn und alles, was er tat, anbeteten … doch er ließ seinen Gedanken nicht wei-ter in die se Richtung schweifen. Es war zu niederschmetternd. In den Jahren, die sie heute als die Zeit vor Jesus Christus be-zeichnen mussten, war alles so viel einfacher gewesen.

Es pochte an der Tür, ein unverkennbares donnerndes Klop-fen, als fielen Bomben in der Ferne. Das konnte nur Ares sein, der Kriegsgott: Apolls Halbbruder, Zimmergenosse und är-gerlicherweise Aphrodites Lieblingslover. Apoll hielt mitten in einem Stoß inne.

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»Könntet ihr da drin einen Zacken zulegen?«, tönte Ares’ Stimme. »Ich habe heute Morgen eine Start-the-War-Demo und muss mich rasieren.«

»Verzieh dich!«, schnauzte Apoll und nahm seine Tätigkeit wieder auf. »Ich war zuerst hier, du musst warten.«

»Ach, lass ihn doch rein.« Aphrodite unter ihm dehnte lust-voll die Vokale. »Er kann doch mitmachen. Das wird lustig.«

»Hast du nicht gehört, was er gesagt hat?«, entgegnete Apoll. »Er muss weg. Er hat keine Zeit für dich.«

»Alle haben Zeit für mich«, säuselte Aphrodite.Das entsprach mit ziemlicher Sicherheit der Wahrheit. Doch

Apoll hatte keinen Bedarf, sich von seinem Bruder sexuell de-klassieren zu lassen.

»Wer zuerst kommt, mahlt zuerst in diesem Badezimmer«, sagte Apoll gereizt. »Und wenn das Ares nicht gefällt, soll er Hephaistos dazu bringen, dass er noch eines baut. Das hätte er schon vor verdammt langer Zeit tun sollen. Und deine ver-dammte neue Tapete kann warten.«

»Okay, ich komme.« Aphrodite hatte einen schnellen, or-dentlichen Orgasmus und löste sich von Apoll.

»Ich war noch nicht fertig«, protestierte er. »Tja, wärest du netter zu mir gewesen ...« Aphrodite ging hinüber zu der alten emaillierten Badewan-

ne und drehte die Brause auf, während Apoll zusah, wie seine Erektion schwand. Er humpelte zum Waschbecken und spritz-te kaltes Wasser auf seine Genitalien. Aphrodite hatte keinerlei Respekt vor ihm. Als er sich im halb blinden Spiegel über dem Becken betrachtete, fragte er sich, ob sie mehr von ihm hielte, wenn er ein Tattoo hätte.

»Ich glaube nicht«, sagte Aphrodite. »Ich habe doch nur darüber nachgedacht«, sagte Apoll. »Ich

wollte doch nicht wirklich …«Aphrodite schrie auf: »Schon wieder! Kein warmes Wasser!«Sie ging zur Tür, riss sie auf und streckte den Kopf in das

kalte leere Treppenhaus. »Wer hat das ganze warme Wasser ver-

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braucht?«, brüllte sie. Keine Antwort. Sie zog den Kopf wieder zurück und donnerte die Tür zu.

»Ich hasse diese Familie«, sagte sie. »Dieses Gefühl beruht auf Gegenseitigkeit«, erwiderte

Apoll. Aphrodite schnellte herum. Apoll fürchtete schon, sie könnte

ihm – womöglich buchstäblich – den Kopf abreißen, doch stattdessen zeigte sie völlig überraschend ihr schönstes Lächeln, eines, das einem Ertrinkenden wie fester Boden erschien, dem Durstigen wie Wasser in der Wüste, und das sie sich für ganz besondere Gelegenheiten aufsparte oder aber, was noch sel-tener vorkam, für Momente, in denen sie aufrichtig glücklich war. Da sie es seit Jahrhunderten vervollkommnte, war es un-widerstehlich. Sie will etwas, dachte Apoll benommen, doch die Worte wollten in seinem Kopf keinen Sinn ergeben.

»Apoll, Liebling«, sagte Aphrodite, und in ihren Augen schimmerte etwas auf, das Apoll unweigerlich für ungeheu-chelte Herzenswärme hielt, »… da wir es doch gerade so nett mitein ander hatten, könntest du da nicht eine klitzekleine Winzigkeit deiner Kraft einsetzen, um ein ganz klein biss-chen Wasser für mich zu erhitzen? Nur gerade eben für eine ganz, ganz schnelle Dusche. Du hast mich so …«, und sie fuhr mit zartem Finger zwischen ihren Brüsten hinab, »… so ins Schwitzen gebracht.«

Apoll blinzelte etwas und schluckte. Streng befahl er seinem Penis, zu bleiben, wo er war. Er wartete, bis er ganz sicher war, dass Körper und Mund seinem Gehirn gehorchten, und sagte dann mit all der Nonchalance, zu der er fähig war: »Nein, tut mir leid.«

»Bitte, Liebling«, gurrte Aphrodite. »Ich könnte es ja selbst tun, aber du hast mich so ausgepowert. Wir können zusammen duschen, wenn du willst …« Sie drängte sich näher an ihn und blinkerte ihn von unten durch ihre langen, schwarzen Wim-pern an.

Apoll sah zu Boden. »Die Antwort ist immer noch Nein«,

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zwang er sich zu sagen. »Wenn du warmes Wasser willst, dann nutz doch deine eigene Kraft.«

»Du mit deinem beschissenen Ego«, sagte Aphrodite, deren Lächeln wie ein kalter, toter Fisch herabfiel. Sie stellte sich un-ter den eiskalten Wasserstrahl und zog den Vorhang mit dem scharfen Rasseln einer Klapperschlange hinter sich zu.

Das war ein Fehler gewesen, und Apoll wusste es. Auch, dass eine verschmähte Frau es mit jeder Furie aufnehmen kann. Und dennoch fühlte er sich eine Spur aufgemuntert. Ihre Ra-che würde schnell und bestimmt grausam sein, aber das zumin-dest wäre ein Zeitvertreib.

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Drei

Nachdem Artemis die Hunde ihren undankbaren Besitzern zurückgebracht und ihre lächerliche Bezahlung entgegen-genommen hatte, kehrte sie nicht wie sonst in den Park zu-rück, um Eichhörnchen zu jagen. Stattdessen ging sie schnur-stracks nach Hause.

Vor der Haustür blieb sie eine Weile stehen. Die einstmals glänzend schwarze Farbe blätterte in langen, schartigen Strei-fen ab, und der wie ein Lorbeerkranz geformte Türklopfer war so angelaufen, dass man unmöglich erkennen konnte, aus wel-chem Metall er eigentlich war. Artemis hielt immer eine Weile vor der Tür inne, bevor sie ins Haus trat, um die verachtens-werte Welt abzuschütteln und zu ihrer wahren Größe zurück-zufinden. Und auch, weil sie das auf absehbare Zeit letzte Mo-mentchen Ruhe und Stille genießen wollte.

Noch bevor sie diesesmal die Tür überhaupt öffnete, spürte sie schon das elefantöse Stampfen eines schweren Beats in ih-rer Brust. Sie stemmte sich gegen eine musikalische Flutwelle ins Haus und drängte durch den Flur in die Küche, die auf der Rückseite des Hauses lag. Ihr Halbbruder Dionysos hatte seine Decks auf dem Küchentisch aufgebaut. Neben ihm auf dem Boden befand sich ein Stapel Platten, vor ihm eine leere Weinflasche und noch eine, die so gut wie leer war. Dionysos, mit Kopfhörern und verklärtem Lächeln auf seinem Ziegen-gesicht, suchte gerade den Einsatz auf einer anderen Platte.

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Hinter ihm schrie Athene. Sie war kaum zu hören, so laut war die Musik.

»Hast du auch nur das geringste Verständnis für die Pflich-ten, die andere Familienmitglieder zu dieser Stunde erfüllen?«, brüllte sie. »Ich habe gerade in den oberen Räumen eine bahn-brechende Forschungsinitiative eingeleitet! Dieser Wahnsinns-lärm, den du hier veranstaltest, macht mir diese Aufgabe un-möglich! Ich möchte feststellen, dass dein sogenannter Hedo-nismus bloß eine Tarnung für größten Egoismus ist!« Athene regte sich so auf, dass ihre Brillengläser beschlugen. Obwohl sie eigentlich keine Brille brauchte, trug sie eine aus Fensterglas, um ihre Ernsthaftigkeit zu unterstreichen.

»Hat einer von euch Apoll gesehen?«, fragte Artemis.Dionysos mixte weiter (vielleicht scratchte er auch – Arte-

mis kannte den Unterschied nicht). Und Athene schrie immer noch.

»Ich mache meine Forschungen doch nicht zum Spaß! Sie dienen dem Wohl der gesamten Göttergemeinschaft! Ein-schließlich deinem, du besoffenes Aas!«

Artemis überließ die beiden sich selbst und glitt auf den Beat-Wellen zurück in den Flur und hinein in das Wohnzim-mer auf der Vorderseite des Hauses. Da alle Sofas und Sessel zerschlissen oder zusammengebrochen waren, hockte Ares mit einem Zirkel in der Hand auf einem Kissen vor dem wack-ligen Couchtisch, auf dem er seine Karten und Grafiken aus-gebreitet hatte. Er runzelte die Stirn: Offenbar führte er gera-de eine komplizierte Berechnung durch. Er sah nicht auf, als Artemis den Raum betrat.

»Du musst dich rasieren«, sagte Artemis, die im Türrahmen stand.

»Mmm«, machte Ares, ohne sich umzudrehen. »Dieser Krieg gegen den Terror produziert nicht genügend Opfer. Iran in den Konflikt zu verwickeln, ist das Nächstliegende, aber ich glau-be, sie verfügen noch nicht über ausreichend Waffen. Ich frage mich, ob ich Japan irgendwie verärgern könnte.«

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»Hast du Apoll gesehen?«, fragte Artemis.»Badezimmer«, sagte Ares. »Sag’ ihm, er soll sich beeilen. Ich

muss mich rasieren.«»Genau das sagte ich gerade«, entgegnete Artemis. »Da gibt’s immer noch Russland. Doch seit Ende des Kalten

Krieges sind sie nur noch schwer zu provozieren. Warum hän-gen die Sterblichen nur so am Frieden?« Er schob seine Kar-ten hin und her. »Oder ist es vielleicht an der Zeit, einen der Bürgerkriege in Afrika eskalieren zu lassen?«

Artemis warf die Tür zu und lief in den ersten Stock, wo Hephaistos das Badezimmer in den Raum eingebaut hatte, der früher Athenas Arbeitszimmer gewesen war – eine Entschei-dung, die Athene nur widerwillig akzeptiert hatte. Artemis klopfte nicht. Artemis klopfte nie. Sie stieß lediglich die Tür auf und stürmte hinein.

Der splitternackte Apoll saß − zum Glück mit übereinan-dergeschlagenen Beinen − auf dem Klodeckel und überzog seine Fingernägel mit Klarlack. Ehe Artemis jedoch etwas sa-gen konnte, wurde der Duschvorhang beiseitegerissen, und Aphrodite erschien, nass glitzernd und mit schlangengleichem Lächeln.

»Könntest du die Tür zumachen?«, sagte sie. »Es zieht fürch-terlich. Sieh doch, meine Brustwarzen sind ganz hart.« Und sie befingerte eine, als prüfte sie die Reife einer Kirsche.

Artemis verweigerte den Köder. Sie wusste, dass Aphrodite immer mit größtem Vergnügen versuchte, sie zu schockieren. Stattdessen nahm sie ein Badetuch von der Stange und warf es ihrer Tante zu.

»Dann wickle dich ein«, sagte sie.Aphrodite fing das Handtuch auf und schlang es sich um den

Kopf. Artemis kehrte sich von ihr ab und wandte sich ihrem Zwillingsbruder zu.

»Ich muss mit dir reden, Apoll«, sagte sie. »Ist jetzt ein guter Zeitpunkt dafür?«

»Nein«, knurrte Apoll.

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»Gut«, sagte Artemis. »Ich bin heute im Heath-Park gelaufen, und rate mal, was ich da entdeckt habe?«

»Zwei Männer, die hinterm Busch vögeln?«, meinte Aphro-dite, die nun auf dem Badewannenrand saß.

Artemis unterdrückte ein Schaudern. »Mir ist nicht bewusst, dass ich dich gebeten habe, an diesem Gespräch teilzunehmen«, sagte sie.

»Hast du nicht«, erwiderte Aphrodite. »Apoll«, sagte Artemis. »Irgendwelche Vorschläge deiner-

seits?«»Keine Ahnung«, antwortete Apoll, doch er sah ein bisschen

bleich aus. Er wusste, was kommen würde, und er hoffte sehr, er möge sich irren.

»Erlaube mir, dein Gedächtnis aufzufrischen«, meinte Arte-mis. »Sagt dir der Name Kate etwas?«

Apoll war ernsthaft überrascht. »Nein«, sagte er.»Typisch«, meinte Artemis. »Das macht es noch schlimmer.

Kate ist die australische Sterbliche, die du gestern in einen Baum verwandelt hast.«

Apolls Gesicht wechselte die Farbe von bleich zu weiß. Er sah aus wie sein eigenes Standbild.

»Was hast du getan?«, fragte Aphrodite und stand auf. Sie klang noch wütender, als sich Artemis fühlte.

»Ich …«, sagte Apoll. »Ich …«»Du willst nicht mal ein Tässchen Wasser für mich warm ma-

chen, bist aber bereit, Gallonen deiner Kraft zu verschleudern, um so eine blöde sterbliche Schlampe gänzlich umzumodeln?«

»Sie war keine Schlampe«, sagte Artemis. »Zumindest nicht mit ihm. Ich glaube, genau das war das Problem.«

Artemis und Aphrodite brachen zusammen in ein seltenes, komplizenhaftes Gelächter aus. Es war der letzte Strohhalm für Apoll, der nun aufsprang.

»Es geht euch nichts an, was ich mit meiner Kraft mache!«»Und wie uns das etwas angeht«, sagte Artemis. »Es geht uns

alle etwas an.« Sie pirschte zum Badezimmerfenster und stieß

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den Laden auf. »Ist die Sonne heute aufgegangen?«, fragte sie und blinzelte hinaus. »Ah ja, doch. Zum Glück für dich.« Sie schloss den Laden wieder und drehte sich um. »Ist sie zur rich-tigen Zeit aufgegangen, oder kam sie vielleicht ein bisschen spät? Scheint sie so hell wie sonst? Ist es so warm, wie es sein sollte? Da bin ich mir nicht so sicher. Vielleicht wird die Son-ne blasser. Vielleicht verschwindet sie. Weil der Gott, der für sie verantwortlich sein sollte, zu sehr damit beschäftigt ist, das, was von seiner Kraft noch übrig ist, zu verschleudern und eine humanoide Spezies eines Eukalyptus zu erfinden, statt seine Arbeit zu erledigen.«

»Du Heuchlerin«, sagte Apoll. »Was ist denn mit dir? Gerade ist, wie du weißt, in diesem Land die Jagd verboten worden. Und die Keuschheit? Was ist das denn für ein überholtes Kon-zept? Es kommt mir nicht so vor, als setztest du deine Macht da ein, wo du es tun solltest. Oder vielleicht bist du die eine, die keinen mehr abbekommen hat.«

»Das ist nicht fair«, sagte Artemis und flehte Aphrodite mit den Augen an, sie zu unterstützen.

»Zwei Wörter«, sagte Aphrodite zu ihrem Neffen. »Globale Erwärmung.«

»Fang du nicht auch noch an«, sagte Apoll und wirbelte herum, um ihr ins Gesicht zu sehen. »Göttin der Schönheit? Läuft doch gut, oder? Ist dir nicht klar, dass gerade eine Fett-sucht-Epidemie über diesen Planeten fegt? Und das nennst du schön?«

»Der Unterschied zwischen uns ist«, sagte Artemis, »dass Aphrodite und ich nicht herumstrolchen und unsere Kraft absichtlich mit überflüssigen Handlungen verschleudern, nur weil eine Sterbliche nicht bereit ist, uns … uns …«

»… ihn in sich hineinstecken zu lassen«, kam ihr Aphrodite zu Hilfe.

»Ihr meint, ihr seid nicht erwischt worden«, konterte Apoll.»Du«, sagte Artemis und ignorierte seinen Kommentar, »du

wirst schwören, dass du so etwas nie mehr wieder tust. Kein

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Verplempern mehr deiner Kraft, indem du Sterbliche in Bäu-me oder Ähnliches verwandelst!«

»Einen Eid bei Styx«, ergänzte Aphrodite. Ein Eid bei der Flussgöttin Styx war absolut bindend für Götter, darum leis-teten sie ihn nur so ungern.

»Das ist nicht fair«, sagte Apoll. »Ihr habt kein Recht, mich einen Eid schwören zu lassen. Ich werde das nicht tun.«

»Gut«, sagte Artemis. »Ich werde hier die gesamte Familie zusammentrommeln und erzählen, wozu du fähig bist. Dann können wir demokratisch entscheiden, was geschehen soll. Wenn du wirklich glaubst, du kommst damit besser weg …«

»Nein, nein«, sagte Apoll. »Bitte nicht. Es ist wirklich nicht nötig, dass die anderen davon erfahren.«

»Dann schwöre«, sagte Artemis.»Warte, nein«, sagte Apoll. »Das ergibt doch keinen Sinn. Du

kannst mich doch nicht so einen Schwur ablegen lassen. Kei-ner von uns weiß, was in der Zukunft passiert.«

»Nicht einmal du?«, fragte Aphrodite.»Athene könnte sich etwas ausdenken, was uns wieder mäch-

tig macht«, fuhr Apoll fort. »Und was hat man von der Macht, wenn man sie nicht für das einsetzen kann, was man will?«

»Bis Athene einen Weg findet, die Zeit zurückzudrehen, krauchen wir mit der Macht herum, die wir bekommen ha-ben, und wenn sie aufgebraucht ist …«, sagte Artemis.

Aphrodites liebliches Gesicht wurde aschfahl bei dem Ge-danken.

»Finde dich damit ab, Apoll, wir werden älter«, sagte Arte-mis. »Du kannst nicht umherstreifen und deine ganze Kraft für Frivolitäten verschwenden. Dir bleibt bald nichts mehr übrig. Und wir brauchen dich. Ohne Sonne können wir die Erde nicht in Gang halten. Du musst mit uns zusammenarbeiten.«

»Dann arbeite ich eben mit euch zusammen«, sagte Apoll. Er machte Anstalten zu gehen.

»Das reicht nicht«, sagte Artemis. »Ich brauche eine Garan-tie.«

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UNVERKÄUFLICHE LESEPROBE

Marie Phillips

Götter ohne ManierenRoman

Taschenbuch, Broschur, 320 Seiten, 11,8 x 18,7 cmISBN: 978-3-442-47292-5

Goldmann

Erscheinungstermin: August 2010

Unsterblich zu sein ist schwer. Vor allem für die griechischen Götter im 21. Jahrhundert: Siewohnen im Norden Londons unter einem Dach mit zu vielen Geschwistern und zu wenigwarmem Wasser und verdingen sich mit den unmöglichsten Beschäftigungen. Artemis, dieGöttin der Jagd, führt Hunde aus, Aphrodite, die Göttin der Liebe, bietet Telefonsex an, undApoll, der Sonnengott, moderiert eine Fernsehshow. Da kann einem die Ewigkeit schon langwerden! Doch dann holt Artemis eine Putzfrau ins Haus, und plötzlich steht die Götterwelt Kopf.