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Sndor MraiDie Glut
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Sndor Mrai
DIE GLUT
Roman
Aus dem Ungarischen und miteinem Nachwort von Christina Viragh
Bchergilde Gutenberg
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Die Originalausgabe erschien 1942 unter dem TitelA gyertyk csonkig gnek in Budapest. Eine Neuausgabe
erschien 1990 im Verlag Helikon Kiad, Budapest.
Der Verlag dankt der Stiftung Ungarisches Buch fr dieUntersttzung der bersetzung.
Lizenzausgabe fr die Bchergilde Gutenberg,Frankfurt am Main, Wien,
mit freundlicher Genehmigung derPiper Verlags GmbH, Mnchen
Nachla Sndor Mrai 1998Vrsvry-Weller Publishing Toronto
Deutsche Ausgabe: Piper Verlag GmbH, Mnchen 1999
Umschlaggestaltung: Angelika Richter, HeidesheimGesetzt aus Stempel-Garamond
Satz: Uwe Steffen, MnchenDruck und Bindung: Clausen & Bosse, Leck
Printed in Germany
ISBN 3 7632 4989 3scan by prduc 2002
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Am Vormittag hielt sich der General lange in seinenKellereien auf. Er war in der Morgenfrhe mit seinemWinzer hingegangen, um nach zwei Fssern zu sehen,in denen der Wein zu gren begonnen hatte. Als er mitdem Abfllen fertig war und nach Hause kam, war esschon elf Uhr vorbei. Zwischen den Sulen der Ve-randa, die von den feuchten Steinplatten moderigroch, stand sein Jger und berreichte ihm einen Brief.
Was willst du? fragte der General unwirsch. Erschob sich den Strohhut, dessen breite Krempe sein
rotes Gesicht beschattete, aus der Stirn. Schon seitetlichen Jahren ffnete und las er keine Briefe mehr.Die Post wurde im Bro des Gutsverwalters von einemder Angestellten aufgemacht und sortiert.
Das hat ein Bote gebracht, sagte der Jger undstand stramm.
Der General erkannte die Schrift, nahm den Brief
und steckte ihn in die Tasche. Er trat in die khle Vor-halle und reichte dem Jger wortlos Stock und Hut.Aus seiner Zigarrentasche holte er eine Brille hervor,
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stellte sich ans Fenster und begann im Licht, das durchdie Ritzen der Rollden hereinsickerte, den Brief zulesen.
Warte, sagte er ber die Schulter hinweg, als derJger mit Stock und Hut gehen wollte.
Den Brief stopfte er sich in die Tasche.Kaiman soll auf sechs Uhr anspannen. Den Lan-
dauer, denn es gibt Regen. Und er soll die Paradelivreeanlegen. Du auch, sagte er mit unerwartetem Nach-druck, als htte ihn pltzlich etwas erbost. Und allesauf Hochglanz. Wagen und Geschirr sollen unverzg-lich geputzt werden. Die Livree anlegen, hast du ver-
standen? Und dann setzt du dich neben Kaiman aufden Bock.
Jawohl, gndiger Herr, sagte der Jger undschaute seinem Herrn gerade in die Augen. Auf sechsUhr.
Um halb sieben fahrt ihr los, sagte der Generalund bewegte lautlos die Lippen, als zhlte er. Du mel-dest dich beim Weien Adler und sagst nur, ich httedich geschickt, und der Wagen fr den Herrn Haupt-mann sei da. Wiederhole.
Der Jger wiederholte. Daraufhin hob der Generaldie Hand, als wre ihm noch etwas eingefallen, und
blickte zur Decke. Doch dann sagte er nichts, sondern
ging in den ersten Stock hinauf. Der Jger, in Hab-achtstellung erstarrt, sah ihm glasigen Blickes nachund wartete, bis die untersetzte, breitschultrige Ge-
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stalt hinter der Kehre der steinernen Balustrade ver-schwunden war.
Der General ging in sein Zimmer, wusch sich dieHnde und trat an sein schmales, hohes Stehpult, dasmit tintenfleckigem grnen Filz bezogen war und auf
dem Federn, Tinte und, millimetergenau aufeinander-gestapelt, Hefte lagen, wachstuchbezogene mit Pe-
pitamuster, wie sie die Schler fr ihre Aufgaben ver-wenden. In der Mitte des Pults stand eine Lampe mitgrnem Schirm, die der General anschaltete, da es imZimmer dunkel war. Hinter den geschlossenen L-den, im vertrockneten, verdorrten, versengten Gar-
ten, tobte der Sommer in einem letzten Auflodern, wieein Brandstifter, der in sinnloser Wut die Felder anzn-det, bevor er sich davonmacht. Der General nahm denBrief hervor, glttete das Blatt sorglich und las im star-ken Licht, die Brille auf der Nase, die geraden kurzenZeilen mit den spitzen Buchstaben. Die Arme ver-schrnkte er auf dem Rcken.
An der Wand hing ein Kalender mit faustgroenDatumsziffern. Vierzehnter August. Der General
blickte zur Decke und rechnete. Vierzehnter August.Zweiter Juli. Er rechnete aus, wieviel Zeit seit einemlangverflossenen Tag und dem heutigen vergangenwar. Einundvierzig Jahre, sagte er schlielich halblaut.
In letzter Zeit sprach er laut, auch wenn er allein imZimmer war. Vierzig Jahre, sagte er dann verwirrt.Einem Schler gleich, der ber einer schwierigen Lek-
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tion durcheinandergert, errtete er, legte den Kopf inden Nacken und schlo die trnenden Augen. SeinHals ber dem maisgelben Jackenkragen schwoll rotan. Zweiter Juli achtzehnhundertneunundneunzig, dawar die Jagd, murmelte er und verstummte. Wie ein
bffelnder Student sttzte er die Ellenbogen auf dasPult und starrte wieder sorgenvoll auf den Brief, aufdiese paar handgeschriebenen Zeilen. Einundvierzig,wiederholte er heiser. Und dreiundvierzig Tage. Ja,ganz genau.
Er schien jetzt ruhiger und begann auf und ab zugehen. Das Zimmer hatte eine gewlbte Decke, in der
Mitte eine Sule als Sttze. Einst waren da zwei Zim-mer gewesen, ein Schlafzimmer und ein Ankleide-raum. Vor vielen Jahren er dachte nur noch in Jahr-zehnten, genaue Zahlen mochte er nicht, als erinner-ten die ihn an etwas, das man besser vergit hatte erdie Wand zwischen den beiden Zimmern einreien las-sen. Nur die Sule, die den mittleren Deckenbogentrug, blieb stehen. Das Schlo war zweihundert Jahrezuvor gebaut worden, von einem Heereslieferanten,der den sterreichischen Kavalleristen Hafer verkaufteund spter geadelt wurde. Der General war hier zurWelt gekommen, in diesem Zimmer. Damals war dashintere, dunklere Zimmer, dessen Fenster auf den
Garten und die Betriebsgebude gingen, das Zimmerseiner Mutter, whrend dieses hellere, luftigere alsAnkleideraum diente. Seit einigen Jahrzehnten nun,
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nachdem er die Zwischenwand hatte einreien lassenund diesen Flgel des Gebudes bezogen hatte, warda anstelle der beiden Zimmer der groe, dmmrigeRaum. Siebzehn Schritte betrug der Weg von der Trzum Bett. Und achtzehn Schritte von der gartenseiti-
gen Wand zum Balkon. Genau abgezhlte Schritte.Wie ein Kranker, der sich an eine bestimmte Raum-
einteilung gewhnt hat, so lebte er hier. Als wre ihmdas Zimmer auf den Leib geschnitten. Es vergingenJahre, ohne da er den anderen Flgel des Schlosses
betrat, wo ein Salon dem anderen folgte, grne, blaue,rote Salons mit goldenen Lstern. Und wo die Fenster
auf den Park gingen, auf die Kastanien, die sich imFrhling ber die Balkongelnder neigten und mitrosaroten Kerzen und in dunkelgrner Pracht imHalbkreis die geschwungenen Balustraden umstan-den, die ausladende Umfassung des Sdflgels, die vondicken Engeln gesttzt wurde. Er machte seine Gngezu den Kellereien oder in den Wald, oder jeden Mor-gen, auch im Winter, auch wenn es regnete zumForellenteich. Und wenn er nach Hause kam, ging erdurch die Vorhalle in sein Zimmer hinauf, und hiernahm er auch die Mahlzeiten ein.
Er ist also zurckgekommen, sagte er jetzt laut,in der Zimmermitte stehend. Einundvierzig Jahre.
Und dreiundvierzig Tage.Diese Wrter schienen ihn auf einmal zu ermden,als begriffe er erst jetzt, was fr eine lange Zeit ein-
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undvierzig Jahre und dreiundvierzig Tage sind. Erschwankte und setzte sich in den Ledersessel mit derabgewetzten Lehne. Auf dem Tischchen in Reichweitelag eine silberne Glocke, mit der er klingelte.
Nini soll heraufkommen, sagte er zum Diener.
Und dann, hflich: Ich lasse bitten.
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Nini war einundneunzig Jahre alt. Sie kam unverzg-lich. In diesem Zimmer hatte sie den General gewiegt.In diesem Zimmer hatte sie gestanden, als der Generalgeboren wurde. Sechzehn war sie gewesen und sehrschn. Kleingewachsen, aber so muskuls und ruhig,als wte ihr Krper um ein Geheimnis. Als wre inihren Knochen, ihrem Blut, ihrem Fleisch etwas ver-
borgen, das Geheimnis der Zeit oder des Lebens, dasniemandem gesagt, das in keine Sprache bersetztwerden kann, weil Wrter ein solches Geheimnis nicht
fassen. Sie war die Tochter des Postbeamten vom Dorf,mit sechzehn bekam sie ein Kind, und nie erfuhrjemand, von wem es war. Als ihr Vater sie aus demHaus prgelte, kam sie zum Schlo und stillte das
Neugeborene, denn sie hatte viel Milch. Sie besanichts auer dem Kleid, das sie am Leibe trug, und eineHaarlocke ihres toten Kindes in einem Briefumschlag.
So stellte sie sich im Schlo ein. Sie war zur Geburtgekommen. Seinen ersten Schluck Milch hatte derGeneral aus Ninis Brust gesogen.
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So lebte sie im Schlo, fnfundsiebzig Jahre lang,schweigend. Und lchelnd. Ihr Name flog durch dieZimmer, als machten die Schlobewohner einanderauf etwas aufmerksam. Nini, sagten sie. Als meintensie: Wie seltsam, da es auf der Welt noch etwas an-
deres als Selbstsucht, Leidenschaft, Eitelkeit gibt,Nini... Und da sie stets am rechten Ort war, sah mansie nie. Und da sie stets guter Laune war, fragte man sienie, wie sie guter Laune sein konnte, wenn doch derMann, den sie geliebt hatte, weggegangen und dasKind, das ihre Milch htte trinken sollen, gestorbenwar. Sie stillte den General und zog ihn auf, und dann
vergingen fnfundsiebzig Jahre. Zuweilen schien dieSonne ber dem Schlo und der Familie, und in diesenAugenblicken allgemeinen Strahlens stellte man ber-rascht fest, da Nini ja lchelte. Dann starb die Grfin,die Mutter des Generals, und Nini wusch mit einemessiggetrnkten Lappen die kalte, weie, schweiver-klebte Stirn der Toten. Und eines Tages brachten sieden Vater des Generals auf einer Bahre nach Hause,denn er war vom Pferd gefallen. Er lebte noch fnfJahre lang, und Nini pflegte ihn. Sie las ihm franzsi-sche Bcher vor, las die Buchstaben einzeln, weil sie dieSprache nicht konnte, und so reihte sie eben ganz lang-sam Buchstaben an Buchstaben. Aber auch so verstand
es der Kranke. Dann heiratete der General, und als dasPaar von der Hochzeitsreise heimkehrte, stand Niniam Tor und erwartete sie. Sie kte der neuen gn-
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digen Frau die Hand und berreichte ihr Rosen. Wie-der lchelnd. Dieser Moment kam dem Generalmanchmal in den Sinn. Dann starb die Frau, nachzwlf Jahren, und Nini pflegte das Grab und die Klei-der der Toten.
Im Haus hatte sie weder Rang noch Titel. Mansprte nur, da sie Kraft hatte. Auer dem Generalwute niemand, da Nini ber neunzig war. Mansprach nicht darber. Ninis Kraft durchstrmte dasHaus, die Menschen, die Wnde, die Gegenstnde, sowie die verborgene Elektrizitt auf der kleinen Bhnedes wandernden Puppenspielers die Figuren bewegt,
den Jnos Vitez und den Tod. Manchmal hatte man dasGefhl, das Haus und die Dinge knnten, hnlich wieuralte Stoffe, unter einer Berhrung pltzlich zerfal-len, sich auflsen, wenn Nini sie nicht mit ihrer Kraftzusammenhielt. Als seine Frau gestorben war, ging derGeneral auf Reisen. Er kehrte nach einem Jahr zurckund bezog sogleich im alten Flgel des Schlosses dasZimmer seiner Mutter. Den neuen Flgel, in dem ermit seiner Frau gelebt hatte, die farbigen Salons mitden schon rissigen franzsischen Seidentapeten, dasgroe Herrschaftszimmer mit dem Kamin und denBchern, das Treppenhaus mit den Hirschgeweihen,ausgestopften Auerhhnen und prparierten Gams-
kpfen, den groen Speisesaal, durch dessen Fensterman das Tal und das Stdtchen und in der Ferne diesilbrig-blulichen Berge sah, die Zimmer seiner Frau
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und nebenan sein eigenes Schlafzimmer lie er alle ver-schlieen. Seit zweiunddreiig Jahren, seit dem Todseiner Frau, seit seiner Rckkehr aus dem Ausland,
betraten nur Nini und das Gesinde diese Zimmer, umsie alle zwei Monate zu putzen.
Setz dich, Nini, sagte der General.Die Amme setzte sich. Im letzten Jahr war sie alt
geworden. Nach neunzig altert man anders als nachfnfzig oder sechzig. Man altert ohne Verbitterung.
Ninis Gesicht war rosarot und runzelig edle Stoffealtern so, jahrhundertealte Seide, in die eine Familieihre ganze Handfertigkeit und alle ihre Trume hin-
eingewoben hat. Im Jahr zuvor war eins ihrer Augenvom Star befallen worden, und das war jetzt grau undtraurig. Das andere Auge war blau geblieben, so blauund zeitlos wie ein Bergsee im August. Ein lchelndesAuge. Nini war wie immer dunkelblau gekleidet, ineinen dunkelblauen Filzrock und eine schlichte Bluse.Als htte sie sich whrend fnfundsiebzig Jahren nieKleider machen lassen.
Konrd hat geschrieben, sagte der General undhielt nebenbei den Brief hoch. Erinnerst du dich?
Ja, sagte Nini. Sie erinnerte sich an alles.Er ist hier, in der Stadt, sagte der General so leise,
wie man eine hochwichtige und streng vertrauliche
Nachricht weitergibt. Er ist im Weien Adler abge-stiegen. Er kommt am Abend hierher, ich lasse ihnabholen. Er wird bei uns essen.
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Wo bei uns? fragte Nini ruhig. Sie lie ihrenblauen Blick, den lebendigen und lchelnden, durchdas Zimmer schweifen.
Seit zwei Jahrzehnten empfingen sie keine Gstemehr. Die Besucher, die mitunter zum Mittagessen
eintrafen, die Herren vom Komitat und von der Stadt-verwaltung sowie die Gste der groen Treibjagdenwurden vom Verwalter im Waldhaus empfangen, daszu jeder Jahreszeit bereitstand; Tag und Nacht waralles fr den Empfang von Gsten gerstet, die Schlaf-gemcher, die Badezimmer, die Kche, die groeJgerstube, die offene Veranda, die rustikalen Tische.
Bei solchen Gelegenheiten sa der Verwalter am Tisch-ende und bewirtete die Jger und die offiziellen Herr-schaften im Namen des Generals. Niemand war dar-ber beleidigt, man wute, da sich der Hausherrnicht blicken lie. Ins Schlo kam nur der Pfarrer, ein-mal im Jahr, winters, um am Eingang die Anfangs-
buchstaben von Kaspar, Melchior und Balthasar mitKreide auf den Trsturz zu schreiben. Der Pfarrer,der die Hausbewohner beerdigt hatte. Sonst niemand,nie.
Drben, sagte der General. Geht das?Wir haben vor einem Monat saubergemacht,
sagte die Amme. Es mte gehen.
Auf acht Uhr, Geht das?... fragte er aufgeregtund irgendwie kindlich gespannt, wobei er sich im Ses-sel vorbeugte. Im groen Saal. Jetzt ist es Mittag.
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Mittag, sagte die Amme. Dann will ich Bescheidsagen. Bis sechs sollen sie lften, dann den Tisch dek-ken. Sie bewegte lautlos die Lippen, als berechne siedie Zeit und die Menge der zu erledigenden Dinge.Ja, sagte sie dann ruhig und bestimmt.
Vorgebeugt betrachtete der General sie aufmerk-sam. Ihrer beider Leben wlzten sich gemeinsam vor-wrts, im langsam holpernden Rhythmus sehr alterMenschen. Sie wuten alles voneinander, mehr alsMutter und Kind, mehr als ein Ehepaar. Die Gemein-samkeit, die sie verband, war vertrauter als jede Artkrperlicher Nhe. Vielleicht lag es an der Mutter-
milch. Vielleicht weil Nini der erste Mensch gewesenwar, der den General bei seiner Geburt gesehen hatte,im Augenblick des Geborenwerdens, in Blut und Kot,so wie die Menschen zur Welt kommen. Vielleichtwegen der fnfundsiebzig Jahre, die sie gemeinsamverlebt hatten, unter demselben Dach, dieselben Spei-sen essend, dieselbe Luft atmend. Die Muffigkeit desHauses, die Bume vor den Fenstern, alles war ihnengemeinsam. Und das alles war nicht zu benennen. Siewaren nicht Geschwister, nicht Liebende. Es gibt auchnoch anderes, und das wuten sie unbestimmt. Esgibt ein Verwandtsein, das strker und enger ist alsdie Verbindung von Zwillingen im Mutterleib. Das
Leben hatte ihre Tage und Nchte vermischt, sie wu-ten um den Krper des anderen, und auch um seineTrume.
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Die Amme sagte: Willst du, da es so ist wiefrher?
Ja, sagte der General. Genau so. Wie beim letz-ten Mal.
Gut, sagte sie kurz.
Sie ging zu ihm, beugte sich hinunter und kteseine beringte Greisenhand mit den Leberflecken undden dicken Adern.
Versprich mir, da du dich nicht aufregen wirst,sagte sie.
Ich verspreche es, sagte der General leise undgehorsam.
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Bis fnf kam aus seinem Zimmer kein Lebenszeichen.Dann klingelte er nach dem Diener und verlangte einkaltes Bad. Das Mittagessen hatte er zurckgeschicktund nur eine Tasse kalten Tee getrunken. Er lag imhalbdunklen Zimmer auf dem Diwan, jenseits derkhlen Wnde sirrte und grte der Sommer. Erlauschte auf das heie Brodeln des Lichts, auf das Rau-schen des warmen Winds im ermatteten Laub, auf dieGerusche des Schlosses.
Jetzt, nach der ersten berraschung, fhlte er sich
mit einemmal mde. Man bereitet sich ein Leben langauf etwas vor. Ist zunchst betroffen. Sinnt dann aufRache. Wartet. Er wartete schon lange. Er wute garnicht mehr, wann sich die Betroffenheit in ein Bedrf-nis nach Rache und in ein Warten verwandelt hatte.Die Zeit bewahrt alles auf, doch es wird farblos, wie dieganz alten, noch auf Metallplatten fixierten Photogra-
phien. Das Licht, die Zeit verwischen auf den Plattendie scharfen und typischen Schattierungen der Gesich-ter. Man mu das Bild hin und her drehen, denn es
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braucht eine bestimmte Lichtbrechung, damit man aufder blinden Platte denjenigen erkennt, dessen Merk-male das Metall einst in sich aufgenommen hatte. Soverblat mit der Zeit jede menschliche Erinnerung.Eines Tages aber kommt von irgendwoher Licht, und
man erkennt wieder ein Gesicht. In einer Schubladehatte der General solche alten Photographien. DasBild seines Vaters. In der Uniform eines Gardehaupt-manns, das Haar in dichten Locken, wie ein Mdchen.Um seine Schultern der weie Umhang des Gardisten,den er sich mit einer beringten Hand auf der Brustzusammenhlt. Den Kopf stolz und beleidigt seitwrts
geneigt. Er hatte nie gesagt, wo und warum er beleidigtworden war. Wenn er von Wien nach Hause kam, ginger auf die Jagd. Tag fr Tag Jagd, zu jeder Jahreszeit;gab es kein Rotwild oder war Schonzeit, jagte erFchse und Krhen. Als ob er jemanden umbringenwollte und sich stndig auf diesen Racheakt vorberei-tete. Die Mutter des Generals, die Grfin, verbot denJgern das Schlo, ja, sie verbot und entfernte alles,was an die Jagd erinnerte, die Gewehre, die Patronen-taschen, die alten Pfeile, die ausgestopften Vgel undHirschkpfe, die Geweihe. Damals lie der Garde-offizier das Jagdhaus bauen. Dort war dann alles bei-sammen: Vor dem Kamin lagen groe Brenfelle, an
den Wnden hingen braungerahmte, mit weiem Filzbezogene Tafeln mit den Gewehren. Belgische undsterreichische Flinten. Englische Messer, russische
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Bchsen. Fr jede Art von Wild. Und in der Nhe desJagdhauses waren die Hunde untergebracht, das viel-kpfige Rudel, die Sprhunde und die Vizslas, undauch der Falkner wohnte hier, mit den drei Falken mitder Falkenhaube. Hier, im Jagdhaus, verbrachte der
Vater des Generals seine Zeit. Die Schlobewohnersahen ihn nur beim Essen. Im Schlo waren die Wndein Pastell gehalten, von hellblauen, hellgrnen, blaro-ten goldgestreiften Seidentapeten bedeckt, wie sie inden Webereien in der Umgebung von Paris hergestelltwurden. Jedes Jahr whlte die Grfin in den franzsi-schen Fabriken und Geschften persnlich Tapeten
und Mbel aus jeden Herbst, wenn sie auf Familien-besuch in ihre Heimat fuhr. Nie lie sie diese Reise aus.Sie hatte ein Recht darauf, es war im Ehevertrag fest-gelegt worden, als sie den fremden Gardeoffizier hei-ratete.
Vielleicht war es wegen der Reisen, dachte derGeneral.
Er dachte es, weil sich die Eltern nicht verstandenhatten. Der Gardeoffizier ging auf die Jagd, und da erdie Welt, in der es auch noch anderes und andere gab fremde Stdte, Paris, Schlsser, fremde Sprachen undSitten , nicht ausrotten konnte, so ttete er eben dieBren, die Rehe und Hirsche. Ja, vielleicht war es
wegen der Reisen. Er stand auf und stellte sich vor denbauchigen weien Porzellanofen, der einst das Schlaf-zimmer seiner Mutter beheizt hatte. Es war ein groer
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hundertjhriger Ofen, aus dem die Wrme strmte wiedie Gutmtigkeit aus einem dicken, trgen Menschen,der seinen Egoismus mit einer wohlfeilen guten Tatmildern mchte. Es war eindeutig, da die Mutter hiergefroren hatte. Dieses Schlo mitten im Wald, mit sei-
nen gewlbten Zimmern, war ihr zu dunkel: daher diehellen Tapeten an den Wnden. Und sie fror, weil es imWald immer windig war, auch sommers, ein Wind, derwie die Bergbche roch, wenn sie im Frhling von derSchneeschmelze anschwellen und ber die Ufer treten.Sie fror, und man mute fortwhrend den weienOfen heizen. Sie wartete auf ein Wunder. Sie war nach
Osteuropa gekommen, weil die Leidenschaft, von dersie angerhrt war, sich als strker erwiesen hatte alsihre Vernunft. Der Gardeoffizier hatte sie whrendseines diplomatischen Dienstes kennengelernt. Er warin den fnfziger Jahren bei der Pariser GesandtschaftKurier gewesen. Sie lernten sich auf einem Ball ken-nen, und irgendwie war diese Begegnung unvermeid-lich. Die Musik spielte, und der Gardeoffizier sagte auffranzsisch zu der Grafentochter: Bei uns sind dieGefhle strker, endgltiger. Es war der Gesandt-schaftsball. Drauen war die Strae wei, es schneite.In diesem Augenblick hielt der Knig Einzug im Saal.Alle verneigten sich. Der Knig trug einen blauen
Frack mit weier Weste und hob sein goldenes Lor-gnon mit einer langsamen Geste vor die Augen. Alssich die beiden aus dem tiefen Hofknicks aufrichteten,
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blickten sie einander in die Augen. Da wuten sieschon, da sie miteinander leben muten. Sie lchel-ten bla und verlegen. Im Nebenzimmer spielte dieMusik. Die junge Franzsin sagte: Bei Ihnen, wo istdas?... und lchelte kurzsichtig. Der Gardeoffizier
nannte seine Heimat. Das erste vertrauliche Wort, dazwischen ihnen fiel, war der Name der Heimat.
Sie kamen im Herbst zu Hause an, fast ein ganzesJahr spter. Die fremde Frau sa unter Schleiern undDecken ganz tief drinnen in der Kutsche. Sie fuhrenber die Berge, durch die Schweiz und Tirol. In Wienwurden sie von Kaiser und Kaiserin empfangen. Der
Kaiser war wohlwollend wie in den Schulbchern. Ersprach: Nehmen Sie sich in acht! Im Wald, wohin ersie mitnimmt, gibt es Bren. Auch er ist ein Br. Under lchelte. Alle lchelten. Es war ein groer Gunst-
beweis, da der Kaiser mit der franzsischen Frau desungarischen Gardeoffiziers scherzte. Sie erwiderte:Ich werde ihn mit Musik zhmen, Majestt, so wieOrpheus die wilden Tiere gezhmt hat. Sie fuhrendurch obstduftende Wiesen und Wlder. Als sie dieGrenze passierten, verschwanden Berge und Stdte,und die Frau begann zu weinen. Cheri, sagte sie,mir ist schwindlig. Da ist ja alles endlos. Die Putamachte sie schwindeln, diese von der schwebend-
schweren Herbstluft benommene Einde, wo dieErnte schon vorbei war, wo sie stundenlang berschlechte Wege fuhren, wo am Himmel nur Kraniche
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zogen und am Straenrand die Maisfelder so gepln-dert dalagen wie nach einem Krieg, wenn die verletzteLandschaft dem abziehenden Heer nachstirbt. DerGardeoffizier sa mit verschrnkten Armen wortlosim Wagen. Zuweilen verlangte er ein Pferd und ritt
ber lange Strecken neben dem Wagen her. Er blickteauf die Heimat, als she er sie zum ersten Mal. Er
betrachtete die niedrigen Huser mit grnen Fenster-lden und weier Veranda, in denen sie bernachteten,die Huser der Menschen seines Volks, von dichtenGrten umgeben, die khlen Zimmer, in denen ihm
jedes Mbelstck, ja, sogar der Geruch in den Schrn-
ken vertraut war. Und die Landschaft, deren Ein-samkeit und Melancholie sein Herz anrhrten wie niezuvor: Mit den Augen der Frau sah er die Zieh-
brunnen, die trockenen Felder, die Birkenwlder, dierosa Wolken am Abendhimmel ber der Ebene. DieHeimat ffnete sich vor ihnen, und der Gardeoffiziersprte mit Herzklopfen, da die Landschaft, die sieempfing, auch ihr Schicksal war. Die Frau sa in derKutsche und schwieg. Manchmal hob sie das Taschen-tuch ans Gesicht. Bei solchen Gelegenheiten beugtesich ihr Mann vom Sattel herunter und blickte fragendin die trnennassen Augen. Doch die Frau bedeuteteihm, da sie weiterfahren wollte. Sie waren einander
verbunden.In der ersten Zeit war ihr das Schlo ein Trost. Eswar so gro, der Wald und die Berge schlssen es so
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eindeutig gegen die Ebene ab, da sie es als Heim in derfremden Heimat empfand. Und es trafen Transport-wagen ein, jeden Monat einer, aus Paris, aus Wien.Wagen mit Mbeln, Leinen, Damast, Stichen undeinem Spinett, denn die Frau wollte ja mit Musik die
wilden Tiere zhmen. Der erste Schnee lag schon aufden Bergen, als sie eingerichtet waren und das Lebenhier aufnahmen. Der Schnee riegelte das Schlo abwie ein dsteres nordisches Heer die belagerte Burg.
Nachts traten Rehe und Hirsche aus dem Wald, blie-ben im Schnee im Mondlicht stehen und beobachtetendie beleuchteten Fenster mit schief gelegtem Kopf und
mit ernsten Tieraugen, die wundersam blau schimmer-ten, whrend sie der Musik lauschten, die aus demSchlo sickerte. Siehst du?... sagte die Frau am Kla-vier und lachte. Im Februar jagte der Frost die Wlfevon den Bergen herunter, die Bediensteten und dieJger machten im Park Reisigfeuer, in deren Bann dieWlfe heulend kreisten. Der Gardeoffizier ging mitdem Messer auf sie los; die Frau schaute vom Fensteraus zu. Es gab etwas, das sie miteinander nicht aus-machen konnten. Aber sie liebten sich.
Der General trat vor das Bild seiner Mutter. Es wardas Werk eines Wiener Malers, der auch die Kaiserin
portrtiert hatte, mit herabhngendem, geflochtenem
Haar. Das Portrt hatte der Gardeoffizier im Arbeits-zimmer des Kaisers in der Burg gesehen. Die Grfintrug auf dem Bild einen rosaroten Strohhut mit Blu-
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men wie die Florentiner Mdchen im Sommer. Dasgoldgerahmte Bild hing ber der Kirschbaumkom-mode mit den vielen Schubladen. Die Kommode hattenoch seiner Mutter gehrt. Der General sttzte sichmit beiden Hnden darauf, um zu dem Bild des Wie-
ner Malers hinaufzublicken. Die junge Frau hielt denKopf schrg und schaute ernsten und zrtlichen Blik-kes ins Leere, als fragte sie: Warum? Das war dieBedeutung des Bildes. Die Gesichtszge waren edel,Hals, Hnde und die Unterarme, die in gehkeltenHandschuhen steckten, waren genauso sinnlich wiedie weien Schultern und der Busen im Dekollete. Sie
war eine Fremde. Wortlos rangen sie miteinander, ihreWaffen waren die Musik, die Jagd, die Reisen und dieAbendgesellschaften, wenn das Schlo so erleuchtetwar, als reite der Rote Hahn durch die Rume, wh-rend die Stlle mit Pferden und Wagen vollgestopftwaren und auf jeder vierten Stufe der groen Treppesteife Heiducken wie Wachspuppen aus dem Panopti-kum standen und zwlfarmige silberne Kandelaberhielten und die Musik, das Licht, die Stimmen und derDuft der Krper durch die Rume wirbelten, als sei dasLeben ein verzweifeltes Fest, eine tragische, erhabeneFeier, die damit endet, da die Hornblser ihre In-strumente erklingen lassen, um den Teilnehmern der
Soiree einen unheilvollen Befehl zu verknden. DerGeneral konnte sich noch an solche Gesellschaftenerinnern. Manchmal muten die Pferde und die Kut-
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scher im verschneiten Park um Reisigfeuer lagern, weilin den Stllen kein Platz mehr war. Und einmal kamauch der Kaiser, der hierzulande Knig hie. Er kamim Wagen, in Begleitung von Reitern mit weiemFederbusch. Er blieb zwei Tage, ging im Wald auf die
Jagd, wohnte im anderen Flgel des Schlosses, schliefin einem Eisenbett und tanzte mit der Dame des Hau-ses. Beim Tanzen redeten sie miteinander, und dieAugen der Frau fllten sich mit Trnen. Der Knighrte auf zu tanzen, verneigte sich, kte der Damedie Hand und fhrte sie in den Nebenraum, wo seineBegleitung im Halbkreis herumstand. Er fhrte die
Frau zum Gardeoffizier und kte ihr noch einmal dieHand.
Wovon habt ihr geredet? fragte der Gardeoffizierseine Frau spter, viel spter.
Doch die Frau sagte es nicht. Nie erfuhr jemand,was der Knig zu der Frau gesagt hatte, die aus derFremde kam und beim Tanzen weinte. Was in derGegend noch lange zu reden gab.
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Das Haus schlo alles ein, wie ein groes steinernesPrunkgrab, in dem die Knochen von Generationenmodern, von Frauen und Mnnern frherer Zeiten inTotengewndern aus allmhlich zerfallender grauerSeide oder schwarzem Tuch. Es schlo auch die Stilleein wie einen wegen seines Glaubens verfolgten Hft-ling, der benommen, brtig und zerlumpt im Keller-verlies schmachtet, auf schimmligem, verrottetemStroh. Es schlo auch die Erinnerungen ein, die Totengalten. Die Erinnerungen lauerten in den muffigen
Winkeln der Rume, so wie in den feuchten Kellernalter Huser Pilze, Fledermuse, Ratten und Kfer zufinden sind. An den Trklinken war das Zittern einerHand, die Erregung eines lang vergangenen Augen-
blicks zu spren, und die eigene Hand zgerte, dieKlinke hinunterzudrcken. Jedes Haus, in dem dieLeidenschaft die Menschen mit voller Wucht gepackt
hat, ist mit solchen unfabaren Wesen gefllt.Der General betrachtete das Bild seiner Mutter. Erkannte jeden einzelnen Zug des schmalen Gesichts.
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fernher kam, aus dem Wald mit den Bren. Die fran-zsischen Wrter sprach er mit Bedacht aus, vorsich-tig und sorgfltig. Er wute, da er jetzt auch im
Namen seines Vaters, des Schlosses, der Hunde, desWaldes und der zurckgelassenen Heimat sprach. Ein
Tor ging auf, der Wagen fuhr in einen groen Hof ein,vor breiten Treppen verbeugten sich franzsische Die-ner. All das schien ein bichen feindselig. Er wurdedurch Rume gefhrt, in denen alles peinlich genauund bedrohlich an seinem Platz stand. Im groen Saaldes ersten Stocks empfing ihn die franzsische Gro-mutter. Sie hatte graue Augen und schwarzen Flaum
auf der Oberlippe; ihr Haar, das einst rot gewesen warund jetzt in eine Schmutzfarbe spielte, als htte dieZeit vergessen, es zu waschen, trug sie hochgesteckt.Sie kte das Kind und bog mit ihren knochigen wei-en Hnden seinen Kopf etwas nach hinten, um seinGesicht von oben zu betrachten. Tout de mme,sagte sie zu seiner Mutter, die besorgt neben ihmstand, als wre er im Examen, als wrde sich jetztgleich etwas herausstellen. Spter wurde Linden-
bltentee gebracht. Alles roch so seltsam, dem Kindwurde es schwindlig. Gegen Mitternacht begann es zuweinen und zu erbrechen. Ich will Nini haben, sagteder kleine Junge trnenerstickt. Totenbleich lag er im
Bett.Anderntags hatte er hohes Fieber und redete wirr.Feierliche rzte trafen ein, in schwarzem Gehrock,
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mit einer Uhrkette im mittleren Knopfloch der wei-en Weste; sie beugten sich ber das Kind, und ausihren Brten und Kleidern strmte der gleiche Geruchwie aus den Gegenstnden des Schlosses und aus demHaar und dem Mund der Gromutter. Das Kind
meinte sterben zu mssen, wenn der Geruch nicht auf-hrte. Bis zum Wochenende war das Fieber nochimmer nicht zurckgegangen, der Puls setzte immerwieder aus. Da telegraphierten sie Nini. Vier Tage ver-gingen, bis die Amme in Paris eintraf. Der backen-
brtige Majordomus erkannte sie am Bahnhof nicht,Nini stellte sich zu Fu im Palais ein, in der Hand eine
gehkelte Tasche. Sie kam wie ein Zugvogel. Franz-sisch sprach sie nicht, die Straen kannte sie nicht, undnie konnte sie die Frage beantworten, wie sie in derfremden Stadt das Palais gefunden hatte, in dem daskranke Kind lag. Sie trat ins Zimmer, hob den sterben-den Jungen aus dem Bett; er war schon ganz still, nurseine Augen glnzten. Sie nahm ihn auf den Scho,umarmte ihn fest und begann ihn leise zu wiegen. Amdritten Tag erhielt das Kind die Letzte lung. AmAbend kam Nini aus dem Krankenzimmer und sagteauf ungarisch zur Grfin: Ich glaube, er kommtdurch.
Sie weinte nicht, sie war nur sehr mde, weil sie
sechs Tage nicht geschlafen hatte; sie holte aus dergehkelten Tasche Speisen aus der Heimat hervor undbegann zu essen. Sechs Tage lang hielt sie mit ihrem
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Atem das Kind am Leben. Die Grfin kniete weinendund betend vor der Tr. Alle waren sie da, die franz-sische Gromutter, die Dienerschaft, ein junger Prie-ster mit schrgen Augenbrauen, der zu jeder Tageszeitim Haus ein und aus ging. Die rzte kamen immer sel-
tener. Zusammen mit Nini fuhren sie in die Bretagne;die franzsische Gromutter blieb betroffen und be-leidigt in Paris zurck. Es wird doch wohl niemandausgesprochen haben, warum das Kind krank gewor-den war? Natrlich nicht, aber man wute es doch:Der Junge brauchte Liebe, und als sich die Fremdenber ihn gebeugt hatten und als von berallher der
unertrgliche Geruch gestrmt war, da hatte es zu ster-ben beschlossen. In der Bretagne sang der Wind, undzwischen altem Gestein rauschte die Flut. Rote Felsenragten aus dem Meer. Nini war ruhig, sie betrachtetedas Meer und den Himmel lchelnd, als sei sie mit alle-dem schon vertraut. An den vier Ecken des Schlossesstanden uralte runde Trme aus unbehauenem Ge-stein, vor langer Zeit hatten die Ahnen der Grfin hiernach Surcouf, dem Piraten, Ausschau gehalten. DerJunge war bald sonnengebrunt, und er lachte viel.Jetzt hatte er keine Angst mehr, er wute, da sie
beide, Nini und er, die Strkeren waren. Sie saen amStrand, die Rschen an Ninis dunkelblauem Kleid flat-
terten im Wind, alles roch nach Salz, nicht nur die Luft,sondern auch die Blumen. Morgens, wenn sich die Flutzurckzog, sah man in den Vertiefungen des roten
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Ufergesteins Meerspinnen mit haarigen Beinen, rot-buchige Krebse, gallertartige Sterne. Im Schlohofstand ein jahrhundertealter Feigenbaum, einem fern-stlichen Weisen gleich, der nur noch ganz einfacheGeschichten erzhlt. Unter seinem dichten Laub lag
se, duftende Khle. In den Mittagsstunden, da dasMeer dumpf grollte, saen hier schweigend die Ammeund das Kind.
Ich will Dichter werden, sagte der Junge einmalund blickte schrg auf.
Er schaute auf das Meer, seine blonden Locken flat-terten im warmen Wind, er blickte mit halbgeschlos-
senen Augen forschend in die Ferne. Die Amme um-armte ihn und prete seinen Kopf an ihre Brust.Nein, du wirst Soldat.
Wie Vater? Das Kind schttelte den Kopf. Vaterist auch Dichter, weit du das nicht? Er denkt immeran anderes.
Das stimmt, sagte die Amme seufzend. Gehnicht an die Sonne, mein Engel, du bekommst sonstKopfschmerzen.
Lange saen sie so unter dem Feigenbaum. Sielauschten auf das Meer: ein vertrautes Rauschen. Sorauschte zu Hause der Wald. Das Kind und die Ammedachten daran, da auf der Welt alles zusammen-
gehrt.
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So etwas kommt den Menschen erst spter in den Sinn.Jahrzehnte vergehen, man durchquert ein dunklesZimmer, in dem jemand gestorben ist, und auf einmalvernimmt man lang verklungene Worte und das Rau-schen des Meeres. Als ob jene paar Worte den Sinndes Lebens ausgedrckt htten. Spter dann hat manimmer von anderem geredet.
Als sie im Herbst von der Bretagne nach Hausefuhren, erwartete der Gardeoffizier seine Familie inWien. Das Kind wurde zu den Kadetten gegeben. Es
bekam einen kleinen Degen, lange Hosen, einenTschako. Es wurde mit dem Degen gegrtet undzusammen mit den anderen Zglingen im dunkel-
blauen Waffenrock sonntags auf dem Graben spazie-rengefhrt. Sie waren wie Kinder, die Soldaten spielen.Sie trugen weie Handschuhe und salutierten grazis.
Die Kadettenanstalt befand sich in der Nhe von
Wien, auf einem Hgel. Es war ein gelbes Gebude,aus den Fenstern des zweiten Stocks konnte man diealte Stadt mit ihren schnurgeraden Straen sehen und
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auch den Sommersitz des Kaisers, die Hausdcher vonSchnbrunn und die zwischen gestutzten Bumen an-gelegten Spazierwege. In den weien Gngen mit dengewlbten Decken, in den Unterrichtsrumen, imSpeisesaal und in den Schlafslen hatte alles auf so
beruhigende Weise seinen Platz, als wre das der ein-zige Ort auf der Welt, wo alles, was im Leben verwor-ren und berflssig ist, endlich in Ordnung gebrachtund versorgt worden wre. Die Erzieher waren alteOffiziere. Alles roch nach Salpeter. In den Schlafslenschliefen jeweils dreiig Kinder, dreiig gleichaltrigeKinder, in schmalen Eisenbetten wie der Kaiser. ber
der Tr hing ein Kruzifix mit einem geweihten Wei-denzweig. Nachts brannte in den Lampen ein blauesLicht. Morgens wurden sie mit Hrnerklang geweckt;im Winter gefror manchmal in den blechernen Wasch-schsseln das Wasser. Dann brachten die Adjutantenwarmes Wasser in Kannen aus der Kche.
Sie lernten Griechisch und Ballistik und das Ver-halten vor dem Feind und Geschichte. Das Kind war
bla und hustete. Im Herbst ging der Geistliche mitihm jeden Nachmittag in Schnbrunn spazieren. Sieschlenderten durch die Alleen. In einem Springbrun-nen aus moosigem, schimmlig verfallendem Gesteinflo das Wasser golden, weil die Sonne darauf schien.
Sie spazierten zwischen den Reihen der gestutztenBume, das Kind nahm Haltung an und salutierte mitweibehandschuhter Hand steif und vorschriftsge-
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ma vor den Veteranen, die hier in Paradeuniform um-herwanderten, als wre jeder Tag der Geburtstag desKaisers. Eine Frau kam ber den Weg, unbedecktenKopfes, den weien Spitzensonnenschirm auf derSchulter; sie ging rasch an ihnen vorbei, whrend sich
der Geistliche tief verneigte.Die Kaiserin, flsterte er dem Kind zu.Die Frau war sehr bleich, ihr dichtes schwarzes
Haar trug sie in einem dreifachen Zopf um den Kopfgewunden. Auf drei Schritte Entfernung folgte ihreine schwarzgekleidete Frau, ein wenig gekrmmt, alswre sie vom raschen Gehen ermdet.
Die Kaiserin, sagte der Geistliche noch einmalmit tiefer Ehrfurcht.
Das Kind blickte der hohen Frau nach, die in derAllee des groen Gartens fast rannte, als sei sie auf derFlucht.
Sie gleicht der Mama, sagte das Kind, denn dasBild, das im Arbeitszimmer seines Vaters ber demTisch hing, war ihm in den Sinn gekommen.
So etwas darf man nicht sagen, erwiderte derGeistliche ernst.
Sie lernten von morgens bis abends, was man sagendarf und was nicht. In der Anstalt, wo vierhundertKinder erzogen wurden, war eine Stille wie im Innern
einer Hllenmaschine kurz vor der Explosion. Allewaren sie hierhergekommen, die Rotblonden, Stumpf-nsigen mit den mden weien Hnden aus den tsche-
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chischen Schlssern, die aus den mhrischen Guts-hfen, die aus den Tiroler Burgen und den steirischenJagdschlssern, die aus den Wiener Stadtpalais mit dengeschlossenen Fensterlden, die von den ungarischenLandsitzen. Alle hatten lange Namen mit vielen Kon-
sonanten und Vornamen, Titeln und Rangbezeichnun-gen, die hier in der Anstalt an der Garderobe abgegebenwerden muten, zusammen mit der feinen, in Wienund London genhten brgerlichen Kleidung und derhollndischen Unterwsche. Von alledem blieben nurein Name und ein Kind, das zu dem Namen gehrteund jetzt lernte, was man sagen darf und was nicht. Da
waren slawische Jungen mit enger Stirn, in ihrem Blutsmtliche menschlichen Eigenschaften des Reichs, dawaren blauugige, sehr mde zehnjhrige Aristokra-ten, die ms Leere blickten, als htten ihre Ahnen anihrer Stelle schon alles gesehen, und da war ein TirolerHerzog, der sich mit zwlf Jahren erscho, weil er ineine Kusine verliebt war.
Konrd schlief im Nebenbett. Sie waren zehn Jahrealt, als sie sich kennenlernten.
Er war untersetzt und doch mager, wie das bei sehralten Rassen der Fall ist, bei denen der Knochenbauber das Fleisch gesiegt hat. Er war langsam, aber nichtfaul, er hatte seinen eigenen, bewut eingehaltenen
Rhythmus. Sein Vater war Beamter in Galizien, zumBaron geadelt, seine Mutter war Polin. Wenn er lachte,erschien um seinen Mund ein breiter, kindlicher, sla-
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wischer Zug. Er lachte selten. Er schwieg und gabacht.
Vom ersten Augenblick an lebten sie zusammen wieeineiige Zwillinge im Mutterleib. Dafr brauchten sienicht, wie das sonst unter Gleichaltrigen Sitte ist,
Freundschaft zu schlieen, mit lcherlichen, feier-lichen Ritualen, mit wichtigtuerischer Leidenschaft-lichkeit, wie Menschen es tun, wenn sich in ihnen zumersten Mal in unbewuter und entstellter Form das Be-drfnis regt, einen anderen Menschen mit Krper undSeele der Welt wegzunehmen, ihn sich ganz zu eigen zumachen. Denn das ist es, was Liebe und Freundschaft
wollen. Ihre Freundschaft war so ernst und so wortloswie alle groen Gefhle, die fr ein Leben gelten. Undwie alle groen Gefhle enthielt auch dieses Scham undSchuldbewutsein. Man nimmt einen Menschen denanderen nicht ungestraft weg.
Sie wuten vom ersten Augenblick an, da siediese Begegnung fr das ganze Leben verpflichtete.Der ungarische Junge war in dieser Zeit lang, dnn undzerbrechlich und wurde wchentlich vom Arzt unter-sucht. Man war um seine Lungen besorgt. Auf Bittendes Anstaltsleiters, eines mhrischen Obersten, kamder Gardeoffizier nach Wien und hatte mit den rztenein langes Gesprch. Von all dem, was sie sagten, ver-
stand er nur ein Wort: Gefahr. Der Junge ist nichtwirklich krank, sagten sie, er hat nur eine Neigung zurKrankheit. Gefahr so allgemein sagten sie es. Der
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Gardeoffizier war in einer dunklen Seitenstrae imSchatten des Stefansdoms abgestiegen, im Hotel K-nig von Ungarn, wo schon sein Grovater logierthatte. Im Gang hingen Hirschgeweihe an der Wand.Der Lohndiener begrte den Gardeoffizier mit einem
K die Hand. Er bewohnte hier zwei Zimmer, zweimit gelben, seidenbezogenen Mbeln vollgestopftedunkle Zimmer mit gewlbter Decke. Das Kind holteer fr diese Tage zu sich, sie wohnten zusammen im Ho-tel, wo ber jeder Tr die Namen von lieben Stamm-gsten zu lesen waren, als wre das Haus ein weltlichesKloster fr die einsamen Herren der Monarchie.
Vormittags nahmen sie den Wagen und fuhren inden Prater hinaus. Es war schon khl, Anfang Novem-
ber. Abends gingen sie ins Theater, auf der Bhnestrzten sich gestikulierende Helden rchelnd in ihrSchwert. Danach aen sie im Restaurant, im Separee,
bedient von zahllosen Kellnern. Das Kind sa wortlosund mit altkluger Hflichkeit neben seinem Vater, alsob es etwas ertragen und verzeihen mte.
Sie sprechen von Gefahr, sagte sein Vater nachdem Essen eher zu sich selbst, und er zndete sich einedicke schwarze Zigarre an. Wenn du willst, kannst dunach Hause kommen. Aber mir wre es lieber, wenndu dich vor keiner Gefahr frchtetest.
Ich frchte mich nicht, Vater, sagte das Kind.Aber Konrd soll immer bei uns bleiben. Sie sind arm.Ich mchte, da er im Sommer zu uns kommt.
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Ist er dein Freund? fragte sein Vater.Ja.Dann ist er auch mein Freund, sagte der Vater
ernst.Er trug Frack und Rschenhemd, die Uniform legte
er in letzter Zeit nicht mehr an. Der Junge schwieg er-leichtert. Dem Wort des Vaters konnte man vertrauen.Wohin sie in Wien auch gingen, berall, in allen Ge-schften kannte man ihn, beim Herrenschneider, beimHandschuhmacher, beim Hemdenschneider, in denGasthusern, wo feierliche Oberkellner ber die Tischeregierten, und auch auf der Strae, wo ihnen Frauen
und Mnner aus ihren Wagen freudig zuwinkten.Gehst du zum Kaiser? fragte das Kind an einem
Tag kurz vor der Abreise des Vaters.Knig, wies ihn der Vater streng zurecht.Dann sagte er: Ich gehe nicht mehr zu ihm.Der Junge begriff, da zwischen den beiden etwas
vorgefallen war. Am Tag der Abreise stellte er seinemVater Konrd vor. Am Vorabend war er mit Herzklop-fen eingeschlafen: Das Ganze war wie eine Verlobung.Man darf den Knig vor ihm nicht erwhnen, warnteer seinen Freund. Doch der Vater war wohlwollend,herzlich, ganz der groe Herr. Er nahm Konrd miteinem einzigen Hndedruck in die Familie auf.
Von dem Tag an hustete der Junge weniger. Er warnicht mehr allein. Er ertrug die Einsamkeit unter denMenschen nicht.
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Die Anlage, die er von zu Hause, vom Wald, vonParis und vom Temperament der Mutter her im Bluthatte, gebot ihm, von Schmerzen niemals zu sprechen,sondern sie schweigend zu ertragen. Am besten ist es,gar nicht zu reden, so hatte er es gelernt. Aber ohne
Liebe konnte er auch nicht leben, und auch das warein Erbe. Vielleicht hatte die franzsische Mutter dieSehnsucht mitgebracht, wenigstens einem MenschenGefhle zu zeigen. In der Familie des Vaters wurde vonso etwas nicht gesprochen. Der Junge brauchte jeman-den, den er lieben konnte: Nini oder Konrd. Dannhatte er kein Fieber, hustete nicht, und das blasse,
magere Kindergesicht fllte sich mit rosaroter Begei-sterung und mit Vertrauen. Sie waren in einem Alter, dadie Jungen noch kein ausgeprgtes Geschlecht haben:als htten sie das noch nicht entschieden. Sein weiches
blondes Haar, das er hate, weil er es als mdchenhaftempfand, wurde ihm vom Barbier alle zwei Wochenweggeschoren. Konrd war mnnlicher, ruhiger. Jetztverlor die Kindheit ihre Enge, sie hatten keine Angstmehr davor, denn sie waren nicht mehr allein.
Am Ende des ersten Sommers, als die Jungen inden Wagen stiegen, um nach Wien zurckzufahren,schaute ihnen die franzsische Mutter vom Schlotornach. Dann sagte sie lchelnd zu Nini: Endlich eine
gute Ehe.Nini aber lchelte nicht. Die Jungen kamen jedenSommer gemeinsam hierher, spter verbrachten sie
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auch Weihnachten im Schlo. Sie hatten alles gemein-sam, Kleider, Unterwsche, man richtete ihnen eineigenes Zimmer ein, sie lasen gemeinsam dasselbeBuch, sie entdeckten gemeinsam Wien und den Wald,die Bcher und die Jagd, das Reiten und die Soldaten-
tugenden, das Gesellschaftsleben und die Liebe. Ninihatte Angst, und vielleicht war sie auch ein bicheneiferschtig. Schon vier Jahre dauerte die Freund-schaft, die Jungen begannen sich einzukapseln, hattenGeheimnisse. Die Beziehung wurde immer tiefer undauch immer krampfhafter. Der Junge gab mit Konrdan, er htte ihn am liebsten allen als seine Schpfung,
sein Meisterwerk gezeigt, whrend er ihn andererseitseiferschtig htete in seiner Angst, man knnte ihmden, den er liebte, wegnehmen.
Das ist zuviel, sagte Nini zur Mutter. EinesTages wird Konrd ihn verlassen. Dann wird er sehrleiden.
Das ist des Menschen Los, sagte seine Mutter. Siesa vor dem Spiegel und starrte auf ihre verwelkendeSchnheit. Eines Tages verliert man den, den manliebt. Wer das nicht aushlt, um den ist es nicht schade,der ist kein ganzer Mensch.
In der Anstalt machten sie sich ber diese Freund-schaft nicht lange lustig; sie gewhnten sich daran wie
an ein Naturphnomen. Man nannte sie nur noch beieinem einzigen Namen, wie ein Ehepaar: Die Hen-riks, aber man lachte nicht ber diese Beziehung. Es
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war etwas darin, eine Zrtlichkeit, ein Ernst, eineBedingungslosigkeit, etwas Endgltiges, das mit sei-ner Ausstrahlung die Sptter zum Schweigen brachte.In jeder menschlichen Gemeinschaft hat man einGespr fr solche Beziehungen und ist eiferschtig.
Nach nichts sehnen sich die Menschen so sehr wienach uneigenntziger Freundschaft. Meist sehnt mansich vergeblich. Die Jungen in der Anstalt flchtetensich in den Stolz auf ihre Herkunft oder in die Studien,in frhreife Ausschweifungen, in krperliche Gro-taten, in verfrhte, verwirrte und schmerzliche Lieb-schaften. In diesem menschlichen Durcheinander
leuchtete die Freundschaft zwischen Konrd undHenrik wie das Licht, in dem sich der sanfte Rituseines mittelalterlichen Treueschwurs vollzieht. Zwi-schen jungen Leuten ist nichts so selten wie die un-eigenntzige Anziehung, die vom anderen wederHilfe noch Opfer fordert. Die Jungen wollen immerein Opfer von denen, die ihre Hoffnungstrger sind.Die beiden Freunde sprten, da sie in einem namen-losen, wunderbaren Gnadenzustand lebten.
Nichts ist so zart wie eine solche Beziehung. Alles,was das Leben spter gibt, feine oder rohe Sehnschte,starke Gefhle, die endgltigen Bindungen der Lei-denschaft, alles ist grber, unmenschlicher. Konrd
war ernst und taktvoll wie jeder wirkliche Mann, undsei er zehnjhrig. Als die Jungen grer und wacherwurden und mit trauriger Grospurigkeit die Geheim-
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nisse der Erwachsenen zu lften suchten, da nahmKonrd seinem Freund den Schwur ab, da sie keusch
bleiben wrden. Dieses Gelbde hielten sie lange Zeitein. Leicht war es nicht. Alle zwei Wochen gingen siezur Beichte und erstellten die Sndenliste gemeinsam.
Die Begierden machten sich im Blut und in den Ner-ven bemerkbar, die Jungen waren bla, hatten beimWechsel der Jahreszeiten Schwindelgefhle. Aber sie
blieben keusch, als sei ihnen die Freundschaft, derenZaubermantel ber ihrem jungen Leben lag, ein Ersatzfr alles, was die anderen, die Neugierigen und Un-ruhigen, schaudervoll qulte und auf die dunkleren
unteren Regionen des Lebens zutrieb.Sie lebten in einer tiefverwurzelten Ordnung, wie
sie jahrhundertealte bung und Erfahrung vorschrie-ben. Jeden Morgen fochten sie eine Stunde lang in derTurnhalle der Anstalt, mit Helm, Bandagen und nack-tem Oberkrper. Dann gingen sie reiten. Henrik warein guter Reiter, Konrd kmpfte auf dem Pferde-rcken verzweifelt um Gleichgewicht und Sicherheit,seinem Krper fehlte die ererbte Erinnerung an dieseFertigkeit. Henrik lernte leicht, Konrd mit Mhe,doch was er gelernt hatte, htete er mit krampfhaftemEifer, er schien zu wissen, da er auf der Welt nichtsanderes besa. Auch in der Gesellschaft bewegte sich
Henrik mit Leichtigkeit, Nonchalance und Hochmut,wie einer, den nichts mehr berrascht; Konrd warsteif und berkorrekt. Eines Sommers reisten sie nach
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Galizien, zu Konrds Eltern. Da waren sie schon jungeOffiziere. Der Baron ein glatzkpfiger, unterwrfi-ger alter Mann, der vom vierzigjhrigen Dienst in Ga-lizien und von den unbefriedigten gesellschaftlichenAmbitionen seiner adeligen polnischen Frau ver-
braucht war bemhte sich verwirrt und diensteifrig,die jungen Herren zu unterhalten. Die Stadt war er-drckend mit ihren alten Trmen, dem Brunnen in derMitte des viereckigen Hauptplatzes, den dunklen, ge-wlbten Zimmern. Und die Menschen, die Ukrainer,die Deutschen, die Juden, die Russen, lebten hier ineiner Art behrdlich zurckgedrngtem, gedmpftem
Trubel, etwas schien in der Stadt, in den dmmrigen,ungelfteten Wohnungen fortwhrend zu gren, einAufruhr oder vielleicht blo eine armselige, geschwt-zige Unzufriedenheit, oder nicht einmal das: dieschwle Hektik und der Wartezustand einer Kara-wanserei. Es war in den Husern, auf den Pltzen, imLeben der Stadt berall zu spren. Nur die Kathedralemit ihrem starken Turm und ihren breiten Bgen ber-ragte gelassen dieses Geschrei, Gekreisch und Ge-flster, als wre in der Stadt ein einziges Mal mit allem
Nachdruck etwas Unumstliches, Unverbrchlichesund Endgltiges ausgesprochen worden. Die Jungenwohnten im Gasthaus, denn die Wohnung des Barons
bestand aus drei kleinen Zimmern. Am ersten Abend,nach dem reichhaltigen Essen, den fettigen Fleisch-gerichten und den schweren blumigen Weinen die
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Konrds Vater, der alte Beamte, und seine verwelkte,mit lila und roter Schminke kakaduhaft aufgedonnertetraurige polnische Frau in der rmlichen Wohnung mitrhrendem Eifer auftragen lieen, als hinge das Glckdes selten heimkehrenden Sohnes von der Qualitt der
Speisen ab , saen die jungen Offiziere noch lange inihrem galizischen Gasthaus, in einer dunklen Eckedes mit staubigen Palmen geschmckten Speisesaals.Sie tranken einen schweren ungarischen Wein ausHegyalja, rauchten und schwiegen.
Jetzt hast du sie gesehen, sagte Konrd.Ja, sagte der Sohn des Gardeoffiziers schuld-
bewut.Jetzt weit du es also, sagte der andere ernst und
sanft. Jetzt kannst du dir vorstellen, was hier seitzweiundzwanzig Jahren um meinetwillen geschieht.
Ja, sagte der Sohn des Gardeoffiziers, und etwasschnrte ihm die Kehle zusammen.
Jedes Paar Handschuhe, sagte Konrd, das ichhaben mu, wenn wir alle zusammen ins Burgtheatergehen, kommt von hier. Brauche ich neues Zaumzeug,essen sie drei Tage lang kein Fleisch. Gebe ich in einerAbendgesellschaft ein Trinkgeld, verzichtet meinVater eine Woche lang auf seine Zigarren. So geht dasseit zweiundzwanzig Jahren. Und ich habe immer alles
gehabt. Irgendwo weit weg, in Polen, hatten wir einGehft. Ich habe es nie gesehen. Es gehrte meinerMutter. Von da kam alles: die Uniform, das Schulgeld,
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das Geld fr die Theaterkarten, der Blumenstrau, denich deiner Mutter geschickt habe, als sie in Wien vor-
beikam, die Examensgebhren, die Ausgaben fr dasDuell, als ich mich mit dem Kerl aus Bayern schlagenmute. Seit zweiundzwanzig Jahren, alles. Zuerst
haben sie die Mbel verkauft, dann den Garten, danndas Land, dann das Haus. Dann haben sie ihre Gesund-heit geopfert, ihre Bequemlichkeit, ihre Ruhe, ihrAlter und die gesellschaftlichen Ambitionen meinerMutter, nmlich das zustzliche Zimmer in dieser ver-lausten Stadt, ein Zimmer mit anstndigen Mbeln,wo man hin und wieder Gste empfangen knnte. Ver-
stehst du?Verzeih mir, sagte Henrik aufgeregt und bleich.Ich bin dir nicht bse, sagte sein Freund uerst
ernst. Ich wollte nur, da du es einmal gesehen hastund weit. Als der Bayer mit gezogenem Degen aufmich losging und wie ein Verrckter um sich schlug,wobei er sich bestens amsierte, als wre es ein tollerScherz, da wir uns aus Eitelkeit zu Krppeln hacken,da ist mir das Gesicht meiner Mutter eingefallen, wiesie jeden Morgen selbst zum Markt geht, damit dieKchin sie nicht um zwei Filier betrgt, denn diesezwei Filier sind Ende des Jahres fnf Forint, und diekann sie mir dann in einem Umschlag schicken... Und
da htte ich den Bayern tatschlich umbringen mgen,der mir aus Eitelkeit Schaden zufgen wollte und nichtwute, da alles, was er mir antut, ein tdliches Ver-
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stck, nie ein Sommerausflug, weil aus mir ein Mei-sterwerk geschaffen werden mu, wie sie selbst es ausSchwche nicht werden konnten. Manchmal, wenn ichetwas tun will, stockt mir die Hand in der Luft. Immerdiese Verantwortung. Ich habe ihnen auch schon den
Tod gewnscht, sagte er ganz leise.Ja, sagte Henrik.Vier Tage blieben sie in der Stadt. Als sie abreisten,
hatten sie zum ersten Mal im Leben das Gefhl, zwi-schen ihnen sei etwas geschehen. Als ob der eine demanderen etwas schulde. Es war nicht in Worte zufassen.
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Doch Konrd hatte eine Zuflucht, wohin ihm seinFreund nicht folgen konnte: die Musik. Sie war wie eingeheimer Unterschlupf, in dem die Welt ihn nichterreichen konnte. Henrik war unmusikalisch, fr ihntaten es auch Zigeunermusik und Wiener Walzer.
Von Musik sprach man in der Anstalt nicht, Musikwurde, von Erziehern und Schlern, eher nur als eineArt Jugendsnde geduldet und verziehen. Ein jederhat ja seine Schwchen. Der eine zchtet Hunde, kostees, was es wolle, der andere ist aufs Reiten versessen.
Immer noch besser als das Kartenspiel, dachte man.Ungefhrlicher als die Frauen, dachte man.Doch Henrik kam allmhlich der Verdacht, da die
Musik gar kein so harmloses Vergngen war. In derAnstalt wurde die wirkliche Musik, die aufbegehrendeund aufwallende, selbstverstndlich nicht geduldet.Zur Ausbildung gehrte zwar auch Musikunterricht,
aber nur in allgemeinen Begriffen. Von der Musikwuten sie gerade so viel, da es Blechblser dazubrauchte, da vorn der Tambourmajor marschierte
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und von Zeit zu Zeit seinen silbernen Stab in die Hhehob. Hinter den Musikanten zog ein Pony die Pauke.Das war eine rechte Musik, laut und regelmig, dieden Schritt der Truppe regulierte, die brgerliche Ein-wohnerschaft auf die Strae lockte und die unabding-
bare Zier einer jeden Parade war. Man schritt stram-mer, wenn man Musik hrte, und das war alles.Manchmal war sie lustig, manchmal schwlstig und
pomps. Im weiteren kmmerte sich niemand darum.Konrd aber wurde ganz bla, wenn er Musikhrte. Jede Art von Musik, auch die einfachste, be-rhrte ihn so stark wie ein physischer Angriff. Er er-
bleichte, seine Lippen bebten. Die Musik sagte ihmetwas, das die anderen nicht nachvollziehen konnten.Wahrscheinlich sprachen die Melodien nicht zu sei-nem Verstand. Die Disziplin, die er sich abverlangte,mit deren Hilfe er sich in der Welt einen Rang ver-schafft hatte und die er wie eine Strafe und eine Bueauf sich nahm, lockerte sich in solchen Augenblicken,als gbe auch die krampfhaft starre Haltung seinesKrpers nach. Wie bei den Paraden, wenn nach lan-gem, ermdendem Strammstehen pltzlich Ruhen!
befohlen wurde. Seine Lippen aber zitterten, als wollteer etwas sagen. Bei solchen Gelegenheiten verga er,wo er war, seine Augen lchelten, er blickte ins Leere,
nahm um sich herum nichts wahr, weder die Vor-gesetzten noch die Kameraden, noch die schnenDamen, noch das Theaterpublikum. Er hrte mit dem
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ganzen Krper Musik, so begierig wie der Verurteiltein seiner Zelle, der auf den Klang ferner, vielleichtBefreiung bedeutender Schritte horcht. Wenn man zuihm sprach, reagierte er nicht. Die Musik lste die Weltum ihn herum und die Gesetze der knstlichen Einig-
keit auf, und in diesen Augenblicken war Konrd nichtmehr Soldat.
Eines Abends im Sommer, als er mit Henriks Mut-ter vierhndig spielte, geschah etwas. Es war vor demAbendessen, sie saen im groen Saal, der Garde-offizier und sein Sohn hrten in einer Ecke des Saalssitzend hflich zu, auf die Art bereitwillig und ge-
duldig, wie wenn man sagt: Das Leben besteht ausPflichten, auch die Musik mu ertragen werden.Damen darf man nicht widersprechen. Die Mutterspielte leidenschaftlich: Sie spielten Chopins Polo-naise-fantaisie. Alles im Zimmer schien in Bewegungzu geraten. In ihrer Ecke, bei ihrem geduldigen, hf-lichen Ausharren, sprten Vater und Sohn, da in den
beiden Krpern, in dem der Mutter und in dem vonKonrd, jetzt etwas geschah. Als hbe die Musik her-ausfordernd die Mbel in die Hhe, als liee eine Kraftdie schweren Seidenvorhnge vor den Fenstern flat-tern, als wrde alles, was in den Herzen vergrabenwar, das Verkncherte und Verschimmelte, auf einmal
lebendig, als wre im Herzen eines jeden Menschenein tdlicher Rhythmus verborgen, der in einem be-stimmten Augenblick des Lebens stark und Schicksal-
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haft zu klopfen beginnt. Die hflichen Zuhrer begrif-fen, da die Musik gefhrlich ist. Aber die beiden amKlavier, die Mutter und Konrd, achteten nicht mehrauf die Gefahr. Die Polonaise-fantaisie war nur nochein Vorwand, die Krfte auf die Welt loszulassen, die
alles verrcken und sprengen, was die menschlicheOrdnung so sorglich verborgen hlt. Sie saen steifaufgerichtet am Klavier, etwas nach hinten geneigt undso angespannt, als jage die Musik ein unsichtbares,sagenhaftes Gespann feuriger Rosse im Sturm ber dieWelt, als hielten sie mit versteiften Krpern und har-ten Hnden die Zgel im rasenden Lauf der freigewor-
denen Krfte. Und dann hrten sie mit einem einzigenTon auf. Durch die groen Fenster fiel die Abend-sonne herein, im Lichtstrahl kreisten Goldpartikeln,als habe das berirdische Gespann bei seinem Galoppdurch den Himmel Staub aufgewirbelt, auf seinemWeg ins Verderben, ms Nichts.
Chopin, sagte schwer atmend die franzsischeFrau. Sein Vater war Franzose.
Seine Mutter Polin, sagte Konrd und blickte mitseitwrts geneigtem Kopf zum Fenster hinaus. Er warmit meiner Mutter verwandt, sagte er beilufig, alsschmte er sich dieser Verbindung.
Sie horchten alle auf, denn in seiner Stimme klang
eine Traurigkeit mit, wie in der Stimme von Verbann-ten, wenn sie von der Heimat und ihrem Heimwehsprechen. Der Gardeoffizier blickte uerst aufmerk-
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sam, den Oberkrper etwas vorgeneigt, auf denFreund seines Sohnes, als she er ihn zum ersten Mal.Als er am Abend mit seinem Sohn allein im Rauch-zimmer war, sagte er zu ihm: Aus Konrd wird nie einrichtiger Soldat.
Warum? fragte der Sohn erschrocken.Aber er wute, da sein Vater recht hatte. Der Gar-
deoffizier zuckte mit den Schultern. Er rauchte eineZigarre, sa mit langgestreckten Beinen vor demKamin, blickte dem Rauch nach. Und sagte mit derRuhe und der berlegenheit des Kenners: Weil ereine andere Art Mensch ist.
Der Vater war nicht mehr am Leben, es waren vieleJahre vergangen, als der General diesen Satz verstand.
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Man kennt die Wahrheit immer, jene andere Wahrheit,die von den Rollen, den Kostmen, den Situationendes Lebens verdeckt wird. Die beiden Jungen wuchsenzusammen auf, gemeinsam legten sie den Fahneneid
ab, und sie wohnten whrend der Wiener Jahre zusam-men, denn der Gardeoffizier hatte dafr gesorgt, dasein Sohn und Konrd ihre ersten Dienstjahre im Um-kreis des Hofes absolvieren konnten. Sie mieteten inder Nhe des Schnbrunner Parks drei Zimmer, imersten Stock eines schmalen Hauses mit grauer Fas-sade. Die Fenster gingen auf einen langen, schmalen,zu dicht bewachsenen Garten voller Ringlottenbume.Sie waren Mieter bei der tauben Witwe eines Regi-mentsarztes. Konrd mietete ein Klavier, spielte aberselten; er schien die Musik zu frchten. Hier lebten siewie Geschwister, aber Henrik sprte manchmal mitBeunruhigung, da der Freund ein Geheimnis hatte.
Konrd war eine andere Art Mensch, und mitFragen kam man seinem Geheimnis nicht auf die Spur.Er war immer ruhig, immer friedfertig. Er versah sei-
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nen Dienst und verkehrte mit den Kameraden und inder Gesellschaft so, als endete der militrische Dienstnie, als wre das Leben eine einzige, ganz und gar gere-gelte Dienstzeit, und das nicht nur tagsber, sondernauch nachts. Sie waren junge Offiziere, und der Sohn
des Gardeoffiziers fhlte mit einer gewissen Besorg-nis, da Konrd wie ein Mnch lebte. Als wre er garnicht von dieser Welt. Als begnne fr ihn nach denDienststunden ein anderer Dienst, einer, der kompli-zierter und verantwortungsvoller war, so wie fr einen
jungen Mnch nicht nur die Gebete und die Riten denDienst bedeuten, sondern auch das Alleinsein, die Ein-
kehr, ja, auch der Traum. Konrd frchtete sich vor derMusik, mit der er ein geheimnisvolles Verhltnis hatte,das nicht nur sein Bewutsein beeinflute, sondernauch seinen Krper: als sei auf dem Grunde der Musikein schicksalhafter Befehl verborgen, der ihn aus derBahn werfen, in ihm etwas zerbrechen wrde. Mor-gens gingen die Freunde zusammen reiten, im Prateroder in der Reitschule, dann versah Konrd seinenDienst, kehrte in die Hietzinger Wohnung zurck,und manchmal vergingen Wochen, ohne da er abendsetwas unternommen htte. Das alte Haus wurde nochmit Petroleumlampen und Kerzen beleuchtet; derSohn des Gardeoffiziers kehrte fast immer erst nach
Mitternacht heim, vom Ball oder von einer Gesell-schaft, und schon von der Strae, vom Fiaker aus saher im Fenster seines Freundes das mutlose, vorwurfs-
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volle Licht der flackernden schwachen Beleuchtung.Das helle Fenster sandte irgendwie ein anklagendesZeichen. Der Sohn des Gardeoffiziers reichte demKutscher ein Geldstck, blieb auf der stillen Strae vordem alten Tor stehen, zog die Handschuhe aus, holte
die Hausschlssel hervor und hatte ein bichen dasGefhl, seinen Freund auch an diesem Abend wiederverraten zu haben. Er kam aus der Welt, wo leise Musikdurch Ezimmer und Ballsle und Salons schwebte:aber anders, als sein Freund es mochte. Es wurdeMusik gemacht, damit das Leben angenehmer undfestlicher sei, damit die Augen der Frauen blitzten und
die Eitelkeit der Mnner Funken sprhte. Das war derZweck, zu dem in der Stadt, an den Orten, wo derSohn des Gardeoffiziers die Nchte seiner Jugend ver-
brachte, Musik gemacht wurde. Die Musik hingegen,die Konrd liebte, bot nicht das Vergessen an, sondern
berhrte in den Menschen die Leidenschaften und dasSchuldgefhl, sie wollte, da das Leben in den Herzenund im Bewutsein der Menschen wahrer sei. SolcheMusik ist bengstigend, dachte der Sohn des Garde-offiziers und begann leise und trotzig einen Walzer zu
pfeifen. In jenem Jahr pfiff ganz Wien die Walzer einesKomponisten, der in Mode war, nmlich die des jn-geren Strau. Er nahm den Schlssel und ffnete das
uralte Tor, das langsam und schwerfllig aufging,durchquerte die weite Vorhalle des moderig riechen-den gewlbten Treppenhauses, beleuchtet von l-
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lichtem hinter blasigem Glas, blieb einen Augenblickstehen und schaute kurz auf den Garten, der im Mond-licht verschneit dalag, als sei er mit Kreide zwischen diedunklen Umrisse der Dinge gezeichnet. Es war allesfriedlich. Wien schlief schon. Lag in tiefem Schlaf,
whrend es schneite. Auch der Kaiser in der Burgschlief, und in den Lndern des Kaisers schliefen fnf-zig Millionen Menschen. Der Sohn des Gardistensprte, da diese Stille auch ihn anging, da auch erber den Schlaf und die Sicherheit des Kaisers und derfnfzig Millionen wachte, auch dann, wenn er nichtsanderes tat als seine Uniform mit Ehre tragen, abends
in die Gesellschaft gehen, sich Walzer anhren, fran-zsischen Rotwein trinken und den Damen und Her-ren genau das sagen, was sie von ihm hren wollten. Ersprte, da er sehr energischen Befehlen gehorchte,geschriebenen und ungeschriebenen, und da dieserGehorsam ein Dienst war, den er in den Salons ge-nauso versah wie in der Kaserne und auf dem bungs-
platz. Fr fnfzig Millionen Menschen bestand dieSicherheit aus diesem Gefhl: da der Kaiser vor Mit-ternacht zu Bett geht und schon vor fnf Uhr aufstehtund bei Kerzenlicht in einem amerikanischen Schilf-rohrstuhl an seinem Schreibtisch sitzt, whrend dieanderen, die den Eid auf seinen Namen abgelegt ha-
ben, alle die Gesetze und Gebruche befolgen. Natr-lich mute man auch in einem tieferen Sinn gehorchen,als es die Gesetze vorschrieben. Man mute den
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Gehorsam im Herzen tragen, darauf kam es an. Manmute berzeugt sein, da alles an seinem Ort war. Indiesem Jahr waren sie zweiundzwanzig Jahre alt, derSohn des Gardeoffiziers und sein Freund.
Sie, die jungen Offiziere in Wien. Der Sohn des
Gardeoffiziers ging ber die morschen Stufen nachoben und pfiff leise seinen Walzer. Alles in diesemHaus roch ein bichen moderig, die Treppe, die Zim-mer, es roch aber auch irgendwie angenehm, als httesich in den Zimmern der se Sirupduft von Einge-machtem verbreitet. In jenem Winter brach in Wiender Karneval wie eine leichte, lustige Epidemie aus.
Jeden Abend wurde in wei-goldenen Rumen imflackernden Falterlicht der Gasleuchter getanzt. Es fielviel Schnee, und die Kutscher fuhren die Verliebtenlautlos durch die Flocken. Wien tanzte im Schneefall,der Sohn des Gardeoffiziers ging jeden Vormittag indie alte Reithalle und schaute den bungen der spani-schen Reiter und der weien Lipizzaner zu. In denKrpern von Reitern und Pferden war etwas, eineArt Vornehmheit und Adel, eine Art schuldbewuterWohligkeit, ein Rhythmusgefhl, wie es allen edlenSeelen und vornehmen Krpern eingeschrieben ist.Dann ging er spazieren, denn er war jung. Er stand vorden Geschften der Innenstadt herum, zusammen mit
anderen Flaneuren, und hin und wieder erkannte ihnein alter Fiakerkutscher oder ein Kellner, weil er sei-nem Vater glich. Eine groe Familie war das, Wien
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hzys Stadtpalais heimlich die Liebhaber des feurigenWeins, bei Sacher wurden im Separee schon die Tischefr die Erzherzge gedeckt, und in den rauchigen,schwlen Rumen des Klosterkellers beim Stefans-dom tranken polnische Herren aufgeregt und traurig
harte Schnpse, denn um Polen stand es schlecht.Doch es gab Stunden in diesem Winter in Wien, da esaussah, als seien alle glcklich. Daran dachte der Sohndes Gardeoffiziers, als er vergngt und leise pfiff. ImFlur berhrte ihn die Wrme des Kachelofens wie einvertrauter Hndedruck. Alles war so weitrumig an-gelegt in dieser Stadt, und alles war so genau an sei-
nem Platz: Wenn die Erzherzge ihrerseits ein bi-chen ungehobelt waren, so waren andererseits dieHauswarte Reprsentanten und heimliche Nutznieereiner Rangordnung, jener, die alle Menschen umfat.
Neben dem Ofen sprang der Bursche auf, nahm vonseinem Herrn Mantel, Tschako und Handschuhe ent-gegen, whrend er mit der anderen Hand schon nachdem franzsischen Rotwein griff, der in der Wrme-nische des weien Kachelofens stand und von dem derSohn des Gardeoffiziers jeden Abend vor dem Zubett-gehen ein Glas mit bedchtigen Schlucken trank, alswollte er sich mit den gewichtigen Worten des schwe-ren Burgunders von den leichten Erinnerungen des
Tages und des Abends verabschieden. Auch jetzt trugder Bursche die Flasche auf einem Silbertablett hinterihm her, in Konrds dmmriges Zimmer.
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Manchmal saen sie bis zum Morgen dort undplauderten, whrend der Ofen kalt wurde und derSohn des Gardeoffiziers die Burgunderflasche bis zumletzten Tropfen leerte. Konrd sprach von seinen Lek-tren, Henrik vom Leben. Konrd hatte kein Geld fr
das Leben, fr ihn war das Militr ein Beruf, der miteinem Rang, einer Uniform und den verschiedenstenkomplizierten und raffinierten Konsequenzen einher-ging. Der Sohn des Gardeoffiziers sprte, da sie ihrenFreundschaftsbund, zerbrechlich und vielfltig wie
jede schicksalhafte zwischenmenschliche Beziehung,vor dem Einflu des Geldes retten, vor jedem Anflug
von Neid oder Taktlosigkeit bewahren muten. Daswar nicht leicht. Der Sohn des Gardeoffiziers flehteKonrd an, etwas von seinem Vermgen anzunehmen,da er wirklich nicht wisse, was er damit anfangen solle.Konrd erklrte ihm, er knne keinen einzigen Filierannehmen. Und beide wuten, da es stimmte: DerSohn des Gardeoffiziers durfte Konrd kein Geldgeben, und man mute es akzeptieren, da jener in dieGesellschaft ging und seinem Rang und Namen gemlebte, whrend Konrd zu Hause in Hietzing an fnfAbenden in der Woche ein Rhrei a und die aus derWscherei zurckkommende Unterwsche eigenhn-dig abzhlte. Aber nicht das war wichtig. Bengstigen-
der war, da diese Freundschaft trotz der Geldfragefr ein Leben bewahrt werden mute.Konrd alterte rasch. Mit fnfundzwanzig brauchte
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einem leicht spttischen, leicht verchtlichen unddoch auch auf hilflose Art wibegierigen Ton von derWelt, als knnten die Geschehnisse, die man drben,am anderen Ufer, vermutet, nur fr Kinder und nochahnungslosere Wesen von Interesse sein. Seine Stimme
aber lie dennoch ein Heimweh spren: Die Jugendsehnt sich immer und fortwhrend nach einer ver-dchtigen, gleichgltigen und bengstigenden Hei-mat, deren Name Welt ist. Und wenn Konrd berausfreundschaftlich und scherzhaft, aber auch berheb-lich und beilufig den Sohn des Gardeoffiziers wegenseiner Erlebnisse in der Welt hnselte, klang in seiner
Stimme das durstig-leere Schlucken des Sehnschti-gen mit.
So lebten sie im blendenden Lichtflimmern derJugend, in einer Rolle, die auch ein Beruf war, dochdem Leben gleichzeitig echte Spannung und innerenHalt verlieh. Und es gab auch Frauenhnde, die zart,gerhrt und gutgelaunt an die Tr der HietzingerWohnung klopften. So klopfte eines Tages Veronikaan, die Tnzerin in Erinnerung an diesen Namenreibt sich jetzt der General die Augen, als wre er austiefem Schlaf aufgeschreckt, im Kopf noch Erinne-rungsfetzen. Ja, Veronika. Und dann Angela, die jungeWitwe eines Stabsarztes, die auf Pferderennen ver-
sessen war. Nein, doch eher Veronika, die Tnzerin.Sie lebte in der Dachwohnung eines uralten Hauses inder Dreihufeisengasse, in einem Atelier, das man nie
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bestimmt ist als fr Kneipenlieder, so htete sie ihreBeine, diese Kunstwerke, deren einzige Bestimmungnur der Tanz sein konnte, die Aufhebung der irdischenBeschwerlichkeiten, der traurigen Beschrnkungendes Krpers. Sie aen im Hof eines mit wildem Wein
bewachsenen einfachen Landhauses, bei glasgeschtz-tem Kerzenlicht. Tranken leichten Rotwein dazu, unddie junge Frau lachte viel. Als sie auf der Rckfahrtdurch die mondbeschienene Nacht von einem Hgelaus die im weien Licht schimmernde Stadt erblickten,fiel ihnen Veronika selbstvergessen um den Hals. Eswar der Augenblick des Glcks, des unbeschwerten
Seins. Stumm begleiteten sie die Tnzerin nach Hause,und im Tor des muffigen Innenstadthauses verab-schiedeten sie sich mit Handku. Veronika. UndAngela mit den Pferden. Und all die anderen, mit Blu-men im Haar, in einem langen Reigen vorbeitanzend,Blumen, Bltter, Bnder und lange Handschuhe hin-terlassend. Diese Frauen hatten den Rausch der erstenLiebesabenteuer in ihr Leben gebracht und all das, wasdie Liebe bedeutet: Sehnsucht, Eifersucht und dasHadern mit der Einsamkeit. Doch hinter den Frauen,den Rollen, dem Gesellschaftsleben schwebte ein Ge-fhl, das strker war als alles andere. Ein Gefhl, dasnur die Mnner kennen: Freundschaft ist sein Name.
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unsicheren, ltlich zitternden Hand einen winzigenSchlssel aus seiner Brieftasche und ffnete damit einelange, tiefe Schublade. Einem Geheimfach entnahmer verschiedene Gegenstnde: einen belgischen Re-volver, einen Packen Briefe, zusammengehalten von
einem blauen Band, und ein in gelben Samt gebunde-nes Buch, auf dessen Deckel in Goldbuchstaben Sou-venir geprgt war. Auch das Buch war mit einem
blauen Band versehen und zustzlich mit einem Siegelverschlossen; der General hielt es lange in der Hand.Dann untersuchte er die Waffe, eingehend und mitSachkenntnis. Es war ein alter Revolver mit sechs
Kugeln. Alle sechs Kugeln an ihrem Platz. Mit einerbeilufigen Bewegung warf er die Waffe in die Schub-lade zurck und zuckte mit den Schultern. Das in gel-
ben Samt gebundene Buch lie er in die tiefe Seiten-tasche seiner Jacke gleiten.
Er trat ans Fenster und ffnete die Lden. Whrender geschlafen hatte, war ein Platzregen gefallen. Zwi-schen den Bumen ging ein khler Wind, die feuchtenPlatanenbltter glnzten fettig. Es dmmerte schon.Er stand reglos am Fenster, die Arme auf der Brust ver-schrnkt. Er betrachtete die Landschaft, das Tal, denWald, den gelben Weg weit unten, die Silhouette derStadt. Seine an groe Entfernungen gewhnten Augen
erkannten auf dem Weg den gleichmig daher-rollenden Wagen. Der Gast war schon zum Schlounterwegs.
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Er folgte dem sich rasch bewegenden Zielpunktmit ausdruckslosem Gesicht, reglos, und er kniff einAuge zu wie ein Jger, der angelegt hat.
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Es war schon sieben Uhr vorbei, als der General ausseinem Zimmer trat. Gesttzt auf seinen Spazierstockmit Elfenbeinknauf, ging er mit langsamen, gleich-migen Schritten den langen Gang entlang, der die-sen Flgel des Schlosses, die Wohnrume, mit den gro-en Slen, mit dem Empfangssaal, dem Musikzimmerund den Salons verband. An den Wnden des Gangshingen goldgerahmte alte Portrts: von Ahnen, vonUrgrovtern und -mttern, von Bekannten, von fr-
heren Angestellten, von Regimentskameraden undberhmten Gsten des Schlosses. Es war eine Tradi-tion in der Familie des Generals, auch einen Haus-maler zu beschftigen: vorbeikommende Wander-
portrtisten, aber auch bekanntere Maler wie etwa S.aus Prag, der zur Zeit des Grovaters des Generalsacht Jahre hier verbracht und jeden gemalt hatte, der
ihm vor den Pinsel geriet, den Majordomus ebenso wiedie erfolgreichen Pferde. Die Urgrovter und -mt-ter waren dem Pinsel vagabundierender Gelegenheits-knstler zum Opfer gefallen: Glasigen Blickes schau-
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ten sie in ihren Prunkgewndern von der Wand herab.Dann folgten ein paar ruhige, ernste Mnnergesichter,Zeitgenossen des Gardeoffiziers, mit Ungarnschnurr-
bart und geringelter Stirnlocke, im schwarzen Feier-tagsgewand oder in Paradeuniform. Das war eine gute
Generation, dachte der General, whrend er die Por-trts der Verwandten, Freunde und Dienstkameradenseines Vaters betrachtete. Eine gute Generation, ein
bichen eigenbrtlerisch, ungeeignet fr den Umgangmit den Menschen, hochmtig, dafr aber im festenGlauben: an die Ehre, die Mnnertugenden, dasSchweigen, das Alleinsein, das gegebene Wort, und
auch an die Frauen. Und wenn sie enttuscht wurden,verstummten sie. Die meisten schwiegen ein Lebenlang, der Pflicht und dem Schweigen wie einem Ge-lbde ergeben. Am Ende des Gangs kamen die franz-sischen Portrts, franzsische Damen mit gepuderterHaartracht, dicke, perckentragende fremde Herrenmit genieerischen Lippen, die entferntere Verwandt-schaft seiner Mutter, aus blauem, rosarotem, tauben-grauem Hintergrund hervordmmernde menschlicheGesichter. Fremde. Dann das Bild seines Vaters in derUniform des Gardeoffiziers. Und eines der Portrtsseiner Mutter, mit einem federnbesteckten Hut, in derHand die Peitsche wie eine Zirkusreiterin. Dann eine
quadratmetergroe leere Flche: von feinen grauenLinien eingerahmt, was bedeutete, da auch da ein Bildgehangen hatte. Der General ging mit reglosem Ge-
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sieht an dem leeren Viereck vorber. Jetzt kamenschon die Landschaftsbilder.
Am Ende des Gangs stand die Amme im schwar-zen Kleid, eine frischgestrkte weie Haube auf demKopf.
Was schaust du an? Die Bilder? fragte sie.Ja.Willst du nicht, da wir das Bild zurckhngen?
fragte sie und zeigte unbeirrt, mit der Unverblmtheitalter Leute, auf die Wand. Auf die leere Stelle.
Ist es noch vorhanden? fragte der General.Die Amme nickte.Nein, sagte er nach einer kurzen Pause. Dann,
leiser: Ich habe nicht gewut, da du es aufbewahrthast. Ich dachte, du httest es verbrannt.
Es hat berhaupt keinen Sinn, sagte die Ammemit dnner, hoher Stimme, Bilder zu verbrennen.
Nein, sagte der General vertrauensvoll, wie mannur zu seiner Amme sprechen kann. Darauf kommtes nicht an.
Sie bogen zur groen Treppe ab und blickten in dieVorhalle hinunter, wo ein Diener und das Zimmer-mdchen Blumen in die Kristallvasen stellten.
In den vergangenen Stunden hatte das Schlo zuleben begonnen wie eine aufgezogene Apparatur.
Nicht nur die Mbel, die von ihren Leinenhllenbefreiten Sessel und Sofas lebten auf, sondern auch dieBilder an den Wnden, die groen schmiedeeisernen
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Kerzenhalter, die Ziergegenstnde in den Vitrinen undauf dem Kaminsims. Im Kamin waren Holzscheite frein Feuer vorbereitet, denn am Ende des Sommersberzog der khle Dunst der Stunden nach Mitter-nacht die Zimmer mit einem feuchten, klebrigen
Belag. Auf einmal schienen die Gegenstnde einenSinn zu haben, schienen beweisen zu wollen, da allesauf der Welt nur dann einen Sinn hat, wenn es die Men-schen angeht, wenn es am menschlichen Tun und ammenschlichen Schicksal teilnimmt. Der General be-trachtete die groe Vorhalle, die Blumen auf demTisch, den man vor den Kamin gestellt hatte, die An-
ordnung der Lehnsthle.Der Lederstuhl da, sagte er, hat rechts gestan-
den.Weit du das noch so gut? fragte die Amme blin-
zelnd.Ja, sagte er. Da hat Konrd gesessen, unter der
Uhr, beim Feuer. In der Mitte, dem Kamin gegenber,sa ich im Florentiner Stuhl. Mir gegenber Krisztinaim Lehnstuhl, den einst meine Mutter mitgebrachthatte.
Wie genau du das weit, sagte die Amme.Ja. Der General lehnte sich ans Treppengelnder,
m die Tiefe blickend. In der blauen Kristallvase stan-
den Dahlien. Vor einundvierzig Jahren.Du erinnerst dich, das kann man wohl sagen. DieAmme seufzte.
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Ich erinnere mich, sagte er ruhig. Ist der Tischmit dem franzsischen Porzellan gedeckt?
Ja, mit dem geblmten, sagte Nini.Gut. Er nickte beruhigt. Jetzt betrachteten sie
eine Zeitlang wortlos das sich ihnen bietende Bild,
das groe Empfangszimmer da unten, die mchtigenMbel, die eine Erinnerung aufbewahrten, die Be-deutung einer Stunde, eines Augenblicks, als httendiese toten Gegenstnde bis zu jenem Augenblicknur nach den Gesetzen von Holz, Metall und Ge-webe existiert, um dann, vor einundvierzig Jahren,an einem einzigen Abend mit lebendigem Sinn er-
fllt zu werden und eine neue Bedeutung zu erhalten.Und jetzt, da sie wie aufgezogene Apparate wiederzum Leben kamen, erinnerten sich die Gegenstndedaran.
Was servierst du dem Gast?Forelle, sagte Nini. Suppe und Forelle. Steaks
und Salat. Perlhuhn. Und flambiertes Eis. Der Kochhat das schon zehn Jahre nicht mehr gemacht. Abervielleicht wird es gut, sagte sie besorgt.
Sorge dafr, da es gut wird. Damals gab es auchKrebse, sagte er leise und schien in die Tiefe hinun-terzusprechen.
Ja, sagte die Amme ruhig. Krisztina mochte
Krebse. In jeder Zubereitung. Damals gab es nochKrebse im Bach. Jetzt nicht mehr. Abends kann ich ausder Stadt keine holen lassen.
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Gib acht auf die Weine, sagte der General in ver-schwrerischem Ton. Die Amme trat unwillkrlichnher und senkte den Kopf, um besser zu hren, sovertraulich, wie es nur alte Angestellte und Familien-mitglieder tun. La vom sechsundachtziger Pom-
mard heraufholen. Und vom Chablis, zum Fisch. Undeine Flasche vom alten Mumm, eine Magnum. Er-innerst du dich?
Ja. Die Amme dachte nach. Davon haben wirnur noch die trockene Sorte. Krisztina trank den halb-trockenen.
Einen Schluck. Immer nur einen Schluck zum
Braten. Sie mochte den Champagner nicht.Was willst du von diesem Menschen? fragte die
Amme.Die Wahrheit, sagte der General.Du kennst sie genau.Ich kenne sie nicht, sagte er laut und unbekm-
mert darum, da der Diener und das Zimmermdchendas Ordnen der Blumen unterbrachen und herauf-
blickten. Dann aber schlugen sie die Augen gleich wie-der nieder und arbeiteten mechanisch weiter. Geradedie Wahrheit kenne ich nicht.
Aber die Wirklichkeit kennst du, sagte dieAmme scharf.
Die Wirklichkeit ist nicht die Wahrheit, erwi-derte der General. Die Wirklichkeit ist nur ein Teil.Auch Krisztina kannte die Wahrheit nicht. Vielleicht
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hat Konrd sie gekannt. Und jetzt nehme ich sie ihmweg, sagte er ruhig.
Was nimmst du ihm weg? fragte die Amme.Die Wahrheit, sagte er kurz. Verstummte dann.Als der Diener und das Zimmermdchen die Halle
verlassen hatten und sie oben allein geblieben waren,sttzte auch die Amme ihre Unterarme auf das Geln-der, als stnden sie auf einem Berg und betrachtetendie Aussicht. Sie sprach es ins Zimmer hinunter, woeinmal drei Menschen vor dem Kamin gesessen hatten:Ich mu dir etwas sagen. Als Krisztina im Sterben lag,hat sie nach dir gerufen.
Ja, sagte der General. Ich war ja da.Du warst da und warst doch nicht da. Du warst so
weit weg, als wrest du verreist. Du warst in deinemZimmer, und sie lag im Sterben. Gegen Morgen, mitmir allein. Und da hat sie nach dir verlangt. Ich sage es,damit du es heute abend weit.
Der General sagte nichts.Ich glaube, er ist da, sagte er und richtete sich
auf. Gib acht auf die Weine und auch sonst auf alles,Nini.
Man hrte das Knirschen der Kiesel in der Einfahrt,dann das Rumpeln der Rder vor dem Portal. DerGeneral lehnte seinen Stock ans Gelnder und begann
die Treppe hinunterzusteigen, dem Gast entgegen. Aufeiner der obersten Stufen blieb er einen Augenblickstehen: Die Kerzen, sagte er. Weit du noch?... Die
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blauen Tafelkerzen. Sind die noch vorhanden? Zndetsie zum Essen an, mgen sie brennen.
Daran habe ich mich nicht mehr erinnert, sagtedie Amme.
Ich schon, erwiderte er trotzig.
ltlich und feierlich in seinem schwarzen Anzug,schritt er in aufrechter Haltung die Treppe hinunter.Die groe Glastr der Halle ging auf, und hinter demDiener erschien ein alter Mann.
Siehst du, ich bin noch einmal gekommen, sagteder Gast leise.
Ich habe nie daran gezweifelt, erwiderte der
General ebenso leise, und er lchelte dazu.Sie drckten sich die Hnde, mit groer Hflich-
keit.
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Sie traten vor den Kamin, und im kalten Schein derWandleuchter unterzogen sie einander blinzelnd eineraufmerksamen und fachgerechten Prfung.
Konrd war ein paar Monate lter als der General;
er hatte im Frhling sein fnfundsiebzigstes Lebens-jahrvollendet. Die beiden Alten betrachteten einandermit dem Sachverstndnis, wie es nur alte Menschen frdie krperlichen Phnomene aufbringen: mit groerAufmerksamkeit, auf das Wesentliche konzentriert,die letzten Anzeichen von Lebenskraft, die schwachenSpuren der Lebensfreude im Gesicht, in der Haltungdes anderen suchend.
Nein, sagte Konrd ernst, man wird nicht jn-ger.
Doch beide sprten mit neidvoller, aber gleichzei-tig freudiger berraschung, da der andere der stren-gen Prfung standhielt: Die vergangenen einundvier-zig Jahre, die Zeit der Ferne, da sie einander nichtsahen und doch tglich und in jeder Stunde um ein-ander wuten, hatten sie nicht gebrochen. Wir haben
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durchgehalten, dachte der General. Und der Gastdachte mit seltsamer Befriedigung, in der sich Enttu-schung und Genugtuung mischten Enttuschung,weil der andere frisch und gesund vor ihm stand, undGenugtuung, weil er selbst im Vollbesitz seiner Krfte
hatte zurckkommen knnen: Er hat auf michgewartet, deshalb ist er so stark.
Beide sprten in diesem Augenblick, da sie in denvergangenen Jahrzehnten ihre Lebenskraft aus demWarten bezogen hatten. So wie man sich ein Leben langauf eine einzige Aufgabe vorbereitet. Konrd hattegewut, da er noch einmal wrde zurckkommen
mssen, und der General hatte gewut, da dieserMoment eintreffen wrde. Dafr hatten sie gelebt.
Konrd war auch jetzt bleich, wie in seiner Jugend,und man sah ihm an, da er noch heute im Zimmer ein-geschlossen lebte und die frische Luft mied. Auch erwar dunkel gekleidet, in nchterne, aber sehr feineStoffe. Offenbar ist er reich, dachte der General. Minu-tenlang schauten sie einander wortlos an. Dan