9
Manfred Schneider kbrcn, er kiinnc es nicht als todeswürdiges Verbrechen erkennen, »[z)wci Augen- blicke früher, als befohlen, I [ d ]ie schwedschc Macht in Staub gelegt zu haben.« (1, 669) Homburg handelte ohne den Zeit- und Raumschalter der Augenlider und aus der Rahmung und Scqucnzialisicrung der llandlung heraus. Hier setzt die richterliche und mediale Pädagogik des Kurfürsten an. Unter Todesangst soll der l'rinz die aufkbrerischc Taktik in sich einschreiben und.wieder zum Zablocki regenerieren. Aber gerade im Traum-Tod bestiitigt sich Homburg seine ganze Ima- gination aul\crhalb der Raum-Zeit-Medien. Er wird Recht behalten. Das ist die me- diale Lesart des Ereignisses auf dem Kriegstheater. Theaterstück überspringt nicht ·nur die aristotelischen und Regeln; es widcrsel/'.t sich auch den kiiniglich-kantischcn transzendentalen Geset- zen der Erkenntnis. Homburg ist kein Sammler, sondern ein Totalisierer. Rede, Rhythmus, Zeit und Raum, ja selbst den militärischen Befehl bringt er zum Ver- schwinden. Gegrn diesen genfalcn Eigenwillen ist vieles einzuwenden, und erst ein medienbesessenCI' und strategisch ganz anders orientierter Kaiser wie Wilhelm I L konnte für dieses Stück einen Sinn cntwickeinY' Die Raum-Zeit-Medien bilden für umer AlltagsbewuEtscin überhaupt keine gewalttätige Einschränkung. \Vir denken: Der Krieg.ist schlimmer. Doch in Kleists Werk findet sich keine Anklage der Ge- walt im Alltagssinne, die unser friedfertiges Wünschen aus der Menschenseele, aus der Gesellschaft und aus der Geschichte verbannen möchte. Die Marquise von O ... verliert das Bewul\tsein erst, als sie ein Engel aus der Hiille von hinten ins vermeint- liche Paradies der Rettung geleitet hat. (II, 105f.) Jeronimo sinkt in Ohnmacht, nachdem in sein Auge kein Schreckrn mehr fallt. (II, 14(,) Vielmehr ist diese hagc nach der Gewalt an den Medien und in den Medien von Raum und Zeit die eigene !-'rage Kleists. Sie kiinnte eine aktuelle Lesart der Frage nach Medien und Gewalt überhaupt sein. 4 '• Kittler (wie Anm. 3), S. 21,.J. 22(, 1 L\N<i-ClllZl'iTli\N \'. 1 BEWEGLICHE HEERE Zur Kalkulation des bei Kleist und Clausewitz Zerschellt ward nun d.is g.1111c l{iimcrhecr, Gkich einem Schiff, gewiegt in Klippen, Und nur die Scheitern hültlo' irren Noch, auf dem 01e.111 des Siq;s, umher! !fri1nich /\/„ist: Jlil' I lcm1,i111mch/,"ht l'erncr: jeder Kriq; iq reich .1n individuellen Fr"·heinunhl'll, mithin i,t jeder ein unbef.1hrenes Meer voll Klippen, die der Gci't des Feldherrn .1l111en k.111n, die .lher sein Auge nie gesehen h.u, und die er in dunkler N.1cht u1mchiffen soll. C'arl'uon (,'/irusct.i::it'/: \'01n l\.ric,l.!,C l. Ränke „() Gm\, thy arm was herc; /am\ not to us, but to thy arm alone, I As,cribe wc all!." 1 Nicht dem Pfeilhagel englischer Langbogen, sondern dem Ar111 schreibt Shakespeares Heinrich V. den überw:iltigendcn Sieg der z.1hlcmnäf\1g weil unterle- genen Engländer 1415 bei Agincourt über das fr.1111iisischc Rincrhecr zu.' Nur we- nig früher, tümlich gcgrn Ende des 14. J.1hrhundcrts, spielt d.1s, l le1nr1ch. von Kleist unter dem Titel >Der Zwcika111pf, erzählt. H1er aber stellt sich, w.1s zu1'..1chst als »Urteil Gottes« (11, 253) gilt, schlief\lich als »Unfall·• (II, 2-l'J). her.aus t,ntt der hil"c daf\ für menschliche Augen »Gottes Wille" (11, 2(,t) vom "n1clit1gcn Zut.ill„ (1 I, nicht mehr unterscheidbar ist. Der „Ar111 der Gerechtigkeit" (11, 2(,Q) er- reicht Graf Jakob den Rotbart erst über den Umweg einer katastrnplden Verket- tung von Ereignissen, die den » l'fcilschuf\ aus dem 1 )unke! der Gchiische", dem Herzog Wilhelm von Brcysach zum Opfer fallt, mit der "Feindscha!t" (1 l'.22'J) dn beiden Halbbrüder in Zusanunenhang bringt. Die „R:inke" (II, 25(,) dn K.i111mer- zofc Rosalie, die dem Grafen überzeugend von:iuschrn, er verbringe eine N.1cht · y;v·· · II· · 1 y S · l'!'il \V 8 S 108-11'.:. 1 William Sh. 1 kespe.u-c, Kmg 1 knry ""'"g ernnc 1 „. tutth.111 . " '• · .. - Die Kkist-Zitatc sind im folgenden im 11.1ch der Amh.1be S\\' 1 n11t 11.llld- und Seiten.lll· gahe bzw. mit Versnummer zitiert. 227

Manfred Schneider - TU Berlin · 2019. 5. 10. · Manfred Schneider kbrcn, er kiinnc es nicht als todeswürdiges Verbrechen erkennen, »[z)wci Augen blicke früher, als befohlen,

  • Upload
    others

  • View
    0

  • Download
    0

Embed Size (px)

Citation preview

Page 1: Manfred Schneider - TU Berlin · 2019. 5. 10. · Manfred Schneider kbrcn, er kiinnc es nicht als todeswürdiges Verbrechen erkennen, »[z)wci Augen blicke früher, als befohlen,

Manfred Schneider

kbrcn, er kiinnc es nicht als todeswürdiges Verbrechen erkennen, »[z)wci Augen­blicke früher, als befohlen, I [ d ]ie schwedschc Macht in Staub gelegt zu haben.« (1, 669) Homburg handelte ohne den Zeit- und Raumschalter der Augenlider und

~sprang aus der Rahmung und Scqucnzialisicrung der llandlung heraus. Hier setzt die richterliche und mediale Pädagogik des Kurfürsten an. Unter Todesangst soll der l'rinz die aufkbrerischc Taktik in sich einschreiben und.wieder zum Zablocki regenerieren. Aber gerade im Traum-Tod bestiitigt sich Homburg seine ganze Ima­gination aul\crhalb der Raum-Zeit-Medien. Er wird Recht behalten. Das ist die me­diale Lesart des Ereignisses auf dem Kriegstheater.

Klci~ts Theaterstück überspringt nicht ·nur die aristotelischen und kiini~lichcn Regeln; es widcrsel/'.t sich auch den kiiniglich-kantischcn transzendentalen Geset­zen der Erkenntnis. Homburg ist kein Sammler, sondern ein Totalisierer. Rede, Rhythmus, Zeit und Raum, ja selbst den militärischen Befehl bringt er zum Ver­schwinden. Gegrn diesen genfalcn Eigenwillen ist vieles einzuwenden, und erst ein medienbesessenCI' und strategisch ganz anders orientierter Kaiser wie Wilhelm I L konnte für dieses Stück einen Sinn cntwickeinY' Die Raum-Zeit-Medien bilden für umer AlltagsbewuEtscin überhaupt keine gewalttätige Einschränkung. \Vir denken: Der Krieg.ist schlimmer. Doch in Kleists Werk findet sich keine Anklage der Ge­walt im Alltagssinne, die unser friedfertiges Wünschen aus der Menschenseele, aus der Gesellschaft und aus der Geschichte verbannen möchte. Die Marquise von O ... verliert das Bewul\tsein erst, als sie ein Engel aus der Hiille von hinten ins vermeint­liche Paradies der Rettung geleitet hat. (II, 105f.) Jeronimo sinkt in Ohnmacht, nachdem in sein Auge kein Schreckrn mehr fallt. (II, 14(,) Vielmehr ist diese hagc nach der Gewalt an den Medien und in den Medien von Raum und Zeit die eigene !-'rage Kleists. Sie kiinnte eine aktuelle Lesart der Frage nach Medien und Gewalt überhaupt sein.

4'• Kittler (wie Anm. 3), S. 21,.J.

22(,

1 L\N<i-ClllZl'iTli\N \'. 1 IFRl\~lANN

BEWEGLICHE HEERE

Zur Kalkulation des lrr~gulärcn bei Kleist und Clausewitz

Zerschellt ward nun d.is g.1111c l{iimcrhecr,

Gkich einem Schiff, gewiegt in Klippen,

Und nur die Scheitern hültlo' irren

Noch, auf dem 01e.111 des Siq;s, umher! !fri1nich ~'Oll /\/„ist: Jlil' I lcm1,i111mch/,"ht

l'erncr: jeder Kriq; iq reich .1n individuellen Fr"·heinunhl'll, mithin i,t jeder ein unbef.1hrenes Meer voll Klippen, die der Gci't des Feldherrn .1l111en k.111n, die .lher sein Auge nie gesehen h.u, und die er in dunkler N.1cht u1mchiffen soll.

C'arl'uon (,'/irusct.i::it'/: \'01n l\.ric,l.!,C

l. Ränke

„() Gm\, thy arm was herc; /am\ not to us, but to thy arm alone, I As,cribe wc all!." 1

Nicht dem Pfeilhagel englischer Langbogen, sondern dem Ar111 (,orte~ schreibt Shakespeares Heinrich V. den überw:iltigendcn Sieg der z.1hlcmnäf\1g weil unterle­genen Engländer 1415 bei Agincourt über das fr.1111iisischc Rincrhecr zu.' Nur we­nig früher, tümlich gcgrn Ende des 14. J.1hrhundcrts, spielt d.1s, '~as l le1nr1ch. von Kleist unter dem Titel >Der Zwcika111pf, erzählt. H1er aber stellt sich, w.1s zu1'..1chst als »Urteil Gottes« (11, 253) gilt, schlief\lich als »Unfall·• (II, 2-l'J). her.aus t,ntt der hil"c daf\ für menschliche Augen »Gottes Wille" (11, 2(,t) vom "n1clit1gcn Zut.ill„ (1 I, ;~8) nicht mehr unterscheidbar ist. Der „Ar111 der Gerechtigkeit" (11, 2(,Q) er­reicht Graf Jakob den Rotbart erst über den Umweg einer katastrnplden Verket­tung von Ereignissen, die den » l'fcilschuf\ aus dem 1 )unke! der Gchiische", dem Herzog Wilhelm von Brcysach zum Opfer fallt, mit der "Feindscha!t" (1 l'.22'J) dn beiden Halbbrüder in Zusanunenhang bringt. Die „R:inke" (II, 25(,) dn K.i111mer­zofc Rosalie, die dem Grafen überzeugend von:iuschrn, er verbringe eine N.1cht

· y;v·· · II· · 1 y S · l'!'il \V 8 S 108-11'.:. 1 William Sh.1kespe.u-c, Kmg 1 knry ""'"g ernnc 1 „. tutth.111 . " '• '· · .. - Die Kkist-Zitatc sind im folgenden im Te~t 11.1ch der Amh.1be S\\' 1 n11t 11.llld- und Seiten.lll·

gahe bzw. mit Versnummer zitiert.

227

Page 2: Manfred Schneider - TU Berlin · 2019. 5. 10. · Manfred Schneider kbrcn, er kiinnc es nicht als todeswürdiges Verbrechen erkennen, »[z)wci Augen blicke früher, als befohlen,

nicht mit ihr, sondern mit ihrer Herrin Littegarde von Breda, und die vor allem im

Abfangen fremder und einer gezielten Streuung falscher Nachrichten bestehen, er­

weisen sich dabei als paradigmatische Form der Interaktion, deren Elemente »Ge-

\cimhaltung, Geschwindigkeit und Affekt« 2 sind. Was im ,zwei kam pi« glcichermaf\en der Ambition eines Grafen auf die I-ferzogs­

krone seines 1 Ialbbruders und der Eifersucht eines Mädche11s dient, deren adliger

Liebhaber das Interesse an ihr verloren hat, wird in Kleists ·I·Iermannsschlaclit< zur

Waffe im Kampf eines germanischen Fürsten gegen das römische Expeditionskl>rps

unter (~uintilius Varus. !Unke sind eigentlich sclrnelle Wendungen, die ein.flüch­

tendes Wild amführt, um einem .Jäger zu l!mkommen. Dieses Verlültnis aber kann

sich, wie schon in der übertragenen Bedeutung des Wortes, leicht umkehren, sob.1ld

sich die Ilcwt'gungen des Verfolgten dem lllick des Verfolgers entziehen. Kleists

l lcrmann gelingt dien dies durch Geheimverhandlungen mit seinem Konkurrenten

Marhod sowie durch die von .seinem Vertrauten Eginhardt verbreitete Greuelprn­

paganda, die daratif zielt, »Riimerhaf\« erst »[i]n der Cherusker Herzen« und dann

in »ganz Germanien" zu »entflammen« (Vs: 1486-1488). Vor allem aber triigt der

eigentliche »Kriegsplan«, der in der 'fat »einfach« ist und »sich leicht« »begreift"

(Vs. 7'JI u. 79r1), den K;unpf auf ein Terrain, auf dem Technologie und Organis;ltion

der römischen Truppen ihre Wirksamkeit verlieren. Kleists •T·lcrmannsschlacht< ist

»die griif\tc l'.utisanendichtung ;{llcr Zeiten« 3 in dcn1 doppelten Sinn, daf\ sie nicht

nur »die Inventur der Waffen« macht, »die gegen eine Staatsarmee zu verwenden

sind·<' sondern zudem - in selbstbezüglicher Wendung - der Poesie die Ent;-.ün­

dung des Aufstands im franziisisch besetzten Prcuf\cn übcnr:igt. 5 Da es sich bei der

,J lcrmannsschlacllt< aber auch um ein zur Aufführung bestimmtes Drama handelt,

liegt es nahe, hier nicht nur nach den poetologischen Effekten, sondern auch nach

dem Raumaspekt dieser Kampfweise zu fragen. »Im Partisanenkampf", so Carl

Schmitt,

[. „ [ entsteht ein kompliziert strukturierter neuer Aktionsraum, weil der Partis.rn !licht auf dem offenen Schl.ichtfcld und nicht auf der gleichen Ebene des offenen Frontenkrie­ges lü111pft. .Fr 1.wingt vicl111chr seinen Fei!ld in einen anderen Raum hinein. So fügt er der l;l:iche des rq;ul:ire!l, hcrkiimmlichell Kriepschaupbtns eillc :1ndere, dunklere Di-

c;illes lleleuze und l'elix Guattari, Kapitalismus Ulld Schizophrenie. l:tusend Pl.Heaus, Berlin 1992, S. 488.

1 C.ul Schmitt, Theorie des 1'.1rtisane!l. Zwischenhcmerkullg zum Begriff des Politischell, 3. Aufl., Berli" l'J'J2, S. 15.

4 M.11thieu Carrii-re, l'iir eine Litcr.Hur des Krieges, Kleist, 11.iscl und l'r:rnkfurt a.1\1. l '!8·!, S. 52.

s Vgl. \Volf Kittler, Die Geburt des P.1rtis.rnen aus dem Geist der Poesie. Heinrich von Kki't und die Strategie der Bcfreiullg,Ju·iege, Freiburg i. Br. 1987, S. 250- 254. Die gleiche l loffllu!lg vcrb.rnd Cl.1mewit1. mit seiller >llekenntnisde!lkschrift, von 1812, die selbst Poesie ist, d.1 sie !licht nur die "Spr.1che der ruhige!l Überlegung«, sondern auch die. »Spr.1che des Cemüthes" 'pricht. Vgl. C.1rl von Cl.iusewit1, Schriftcn -Aufs:itze-Studien - Briefe. llokume!lte aus dem Cl.imcwitz-, Scharnhorst- und Gneisen.1u-Nachl.if\ "'wie aus iiffentlichell und priv.llen S,1mI11-lungen, hg. von Werner l l.1hlweg, Giittingcn 19(,(„ Bd. 1, S. (,78-751, hier S. (,90.

228

flc·wcglichc 1 leere

mcll,ion hillzu, eillc Dimemio!l der Tiefe [.„]. Er stiirt, au' eiI1c111 Untergrund her.1m, d.1s konventionelle, rq.;ul:ire Spiel auf der uffelle!l Büh!le.''

Der Partisan, mit anderen Worten, ist 111it dem unwegsamen Gel:inde und der Dun­

kelheit .im llunde, aus deren Schuu. hcram er üherrascht'nd angreifen k.urn. Fiir

Theaterzuschauer muf\ er damit - zumindt'st te11dc111.icll - dit'nso unsichth.1r bki­

ben wie für seine Gegner. »Szc11c: Trnto!mrgcr \Y/irld N,1ch1, /Jo1111cr um! 11/itz« (1, (100) heil\t die entsprcchc1llk Szenenanweisung hei Kleist, die den l'.1rtisanen­

krieg in elementaren Licht- und 'foneffektt'n auf dit' Bühne bringt. Indem lkr l',mi­

san die offene Feldschbcht miiglichst vermeidt't, 1ühcrt er sich wieda jener vor­

st:iatlichen und vorkonvcntiont'llen Kampfweise an, die in Europa durch die

griechische E;·findung der Phalanx beendet worden wa1: Davor k:impftc m.u1

[ ... ]vorsichtig u!ld .1n1 liclisJen .1uf Distanz, verlid\ sich ,wf \Vurfgncho"e und mini den N:1hlumpf, bis 1iuI1 sich des Sieges sicher gl.lllhte. Die Griechen vcrw.1rfcll die"· Beden­ken und schufen eine neue Art des Kriq.;e< bei der die Schl.1ch1 1ur e1Hscheidcnden i\m­ein.rndersctzung wurde: in de!l drei Einheiten von Ort, Zeit und 11.rndlung 1nit dem Ziel ausgetragen, in einem eiI1zigeI1, risikoreichen Aufcin.111derprall von CeschickliL·hkeit und Mut den Sieg 1.u erringell. 7

Mit der Pldanx, die ihn riiumlich und zeitlich zu einen1 t'inzigl'll Schlag verdich­

tete, gewann der Krieg eint' Regularitiit und Theatralitiit, die ih111 nicht nur historio- ·

graphische, sondern - in Form von Botenberichtt'n - auch dramatische l{ep1<isen­

tierbarkeit verlieh. hir die Krit'ge des 17. und des 18. J.1hrhunderts galt diese

Repräsentierbarkcit in besonderer Weise, liel\en doch nun souvt't<inc hirsten ein

»durch Formation und Schlachtqrdnung zu eine111 Automat u111geschaffrnc[s]

Heer« aufmarschieren, »welches, durch das hlof\e Kom111andowort angestoflen,

seine Tüigkeit wie ein Uhrwerk abwickeln« konnte8 und lksscn Aktionen »in

Giinze an Sichtbarkeit gebunden" waren.'1 Der Aktiomraum des P.utis.111l'll eriiff­

nete sich in de111 Mo111ent, in dem sich unter Napoleon die Rt'gularitiit der alten Ex­

erzierreglements mit der „frt'icj n] Gcistest:itigkcit" 1 c dn M asst'nhn·1T des rt'vol u­

tion:irt'n Frankreich zu einem g:inzlich neut'n l\bschint'ntyp verband, der im

Vergleich zu den Heeren des Ancien Regime nicht nur griif\t'rl' llcwcglichkeit lll'­

saf\, sondern diese Bewegungen auch in Abhiingigkeit von den llcwcgungcn dcs

Cegncrs koordinieren konllle, so etwa im 111'11/IJC/11..>ff rn1· /c dcn-ihc, d.1s N.1polcon

auch im Oktober 180(1 vor lkr SchLicln llt'i .Jena und Aut'rstcdt ausflihren lief\. Der

1' Schmitt (wie Anm. J), S. 721.

7 .Jolm Keeg.1n, Die Kultur des Krieges, Rl'illbek l9'J7, S. J)J, ' C.1rl von Cl.!llsewitz, Vom Kriege. Vollst:indige Amg.1he im UrteXI, l'I. Aull., ilolln 1'180,

S. 280. 'J Stefan K.1ufm.111n, Kon1mu11ikationstedrnik und Kriegliihrunh 181)-l'J.l'.i: S1ulc11 telc1m·

di.1lcr l{iistung, Miillchen l'J%, S. 44. Am End" des l8 . .J.1hrlH111dert' :ihneltc d.1' E'L'r1inen in den prcuf\ischell Revuem.rniivl'rn ta":ichlich «cinl'm gut ci11,111diertc!l The.11cr\liick". Vf;I. ( 1>!­m.u v. der Coltz, Von Rof\ll.lch bis JL'n,1 u11d i\ucrsJL'dJ. Eill lleitr.1g 1ur ( ;nchid11e des prrni\i­schell l lccrcs, Berlin 1 'J06, S. 489.

1 ~ Cl.1usewitz (wie Anm. 8), S. 280.

22')

Page 3: Manfred Schneider - TU Berlin · 2019. 5. 10. · Manfred Schneider kbrcn, er kiinnc es nicht als todeswürdiges Verbrechen erkennen, »[z)wci Augen blicke früher, als befohlen,

/!,ms-Christian v. Herrmann

Aufmarsch der h·anzoscn vollzog sich dabei in einer wcitr:iumigcn, bataillon c<1rrc genannten hirmation, in der die getrennt marschierenden ·Armeekorps die Eck­

.,runkte einer Raute bildeten.

The idea was that thc corps .lt thc lcading poi11t of thc lo1.c11gc was thc advanccd gu.ird,

thosc in thc rear thc rcservc, am! thosc 011 the lateral points the flank gturds. Should thc

cncmy bc dctected 011, say, thc right lbnk, thc rigln flank corps_would lllrn in his dircc­

tion, thereby becoming the ;tdvanced gu.trd, the old rcscrve the new right flank gu.trd,

and thc old lcft fl.111k gu.ird the new rcser~e. The lhtt"il/011 u1rrc adv.rnccd bchind a thick

cav.1lry scrccn to prcvcnt thc Clll'lll)' from .1sccrtaining Napolco11's 1novc1ncnts, whik c11-

;1bling him to frei out theirs'. 11

I nde111 sie die eigenen Bewegungen zugleich verbirgt und auf die Bewegungen des

Gegners absti111111t, ist der »Feind« für diese hoch organisierte 111ilitärische Ma­

schine, 111it Carl Schmitt gesprochen, die »eigene Frage als Gcstalt«. 12 Der Partisan,

der ja »erst in« diesen »modernen Organisationsformen, die aus den Kriegcn der

franziisischen Rnolution entstehen, seinen konkreten Gegensatz und damit auch

seinen Begriff« 13 findet, k:ünpft de111gege11ülier auf eine Weise, die alle militärische

Gestalterkennung umerl:iuft.

D~r J>artisan~n- oder Volkskri!;g stellt in verfassungsrechtlicher Hinsicht das Pa­

radox eines „für gesetzlich crktirten Zustand[es] der Anarchie« dar, »der der ge­

setzlichcn Ordnung nach innen ebenso gefährlich« werden kann »wie de111 Feinde

nach aul\en«, 14 seine besondere 111iliürische Bedeutung aber erlangt er gerade als

Element des lrreguLiren. Den regulären Armeen 111it ihrem Prinzip einer »in Zeit

und Raum konzentrierten Wirkung; großer SchLige« setzt er n:imlich eine Kampf­

weisc entgegen, die ihr Modell nach einer For111ulierung von Clausewitz im »Ver­

dampfungspro/.ef\« h;n, 15 also in einem über eine Obcrfbche verteilten ther111ody­

na111ischen Vorgang, den u111 1830 noch keine kinetische Gastheorie berechnete.

Je griil\cr diese [OberlhchcJ ist und der Kontakt, in welchem sie mit dem feindlichen

l leere sich befindet, also je mehr dieses sich ausbreitet, um so );riißer ist die Wirkung der

Volks)>cwaffnung. Sie 1,erstiirt wie eine still schwelende Glut die Grundfesten des feindli­

chen l lcercsY'

1 nJem es der Partisanenkrieg wie »ein nebcl- und wolkcnartigcs Wesen« vcr111cidct,

sich zu einem »widerstehenden Körper [zu] konkrcszicrcn« und sich nur von Zeit

zu Zeit »an gewissen !'unkten zu dichteren Massen zusammenzieh[ t] und drohende

Wolken bilde[t], aus denen einmal ein kr:iftigcr Blitzstrahl herausfahren kann«, 17

, bleibt er für den Feind weitgehend ungreifbar. Kleists ·l·lcrmannsschlacht<, obwohl

11 James E Dunnigan und Albert A. Nofi, Victory and lkceit. Dirty 'fricks at War, New York l 'J95, S. 105 f.

12 Schmitt (wie Anm. 3), S. 87. ll Schmitt (wie Anm. 3), S. 11. 1·1 Clausewitz (wie Anm. 8), S. 799. 15 Clausewit1. (wie A11111. 8), S. 800. 11) c:Llu..,ewitz (wie Anm. 8), S. 800. 17 Clausewitz (wie An111. 8), S. 803.

230

lic«•cglichc l leere

bereits 1808 entstanden, entspricht Clausewit1.' Beschreibung bis in die Metaplw­

rik, denn nachdc111 zun:ichst »ganz Germanien« »[i ]n Waffen« zu „Jodern« begon­

nen hat, wird Hermann im Mo111cnt der Schlacht zu111 llliu- und I-Iagelschlcude­rer.18

11. \Vahrschcinlichkcit

Da!\ er »das Dunkel in einen Ka111pfraum« I'! verwandelt, gilt nicht allein für den

Partisanen, sondern für den 111odernen Krieg überhaupt, insofern sich der patrioti­

sche Soldat dö· Napoleonischen Armeen strategisch 111it ·„den Momenten erhiilne

Geschwindigkeit und expandierende Operationsr:iu111e wie dem Elc111ent der

Massc« 20 und taktisch durch die »militärische Formationsbildung der Kolonne [ ... ]

mit ihrem Komplcmcnürclc111cnt, dem Tirailleur«, immer 111ehr der Siclnbarkeit

entzog. 21 Carl von Clausewitz' Frag111cnt geblichene und l 832 posttt111 erschienene

Abhandlung ,Vom Kriege< setzt dementsprechend mit der Feststellung ein, dal.I auf­

grund der »Unsicherheit und Unvollst:indigkeit aller Nachrichten« im Krieg alle

Beteiligten »unaufhörlich im hnstern tappcn«. 22 Diese nachriclllentechnisch be­

dingte »Schwierigkeit richtig z11 schc11« 23 ist aber nicht allein tbfür verantwortlich,·

daE der moderne Krieg »das Gebiet der U ngewil.lhcit.J1 ist. Er ist n:i111lich auch

[„.] das Gebiet des Zufalls. !11 keiner memchlichcn T:itigkeit 1nul\ diesem hemdline; ein solcher Spiclraurn gcbs~cn werden, weil keine so 1uch .11le11 Seiten hin in lw•.a:indigem Kontakt mit ihm ist. Er vermehrt, die Ungewif\heit .1ller Umst:inde und stiirt den C;rnh der Ereignisse. is '

Da!\ die »militärische Maschine« ,;im Grunde sehr einfach« und »deswegen leicht

zu handhaben« ist, gilt nur »auf dem Papier« der Excrzierreglcments. \\las den

»wirklichen Krieg« davon unterscheidet, ist ein »tmsichtlure[ r] und über.111 wirks;t­

me[r] Fakto1-.,, den Clauscwiu. wicderu111 mit einem der Physik entnommenen Be-

18 So fordert es jcdenf.ilh der Chor der 11.mlcn: »Sei schrecklid1 heut, ein Schlmsell\~ettl'I; I Und Blitze l.if\ dein Antlitz spein!« (Vs. 22(,(,f.)

1'1 Schmitt (wie Anm. J), S. 84. 20 K.lllfm.111n (wie Anm.')), S. (,8. 21 Kaufm.11111 (wie Anm. 9), S. 45. Kleist h.H »,ltlt 1'.1r.ulig1m·nwl'chsel 1u diesl'llt ncul'n l'.l'it­

.1ltcr dl'r Kril'gsführunl-\" sowohl mit sei11e11 milit:irischen l lr.1me11 >l lil' l lcnn.1n11sschl.1cht· und •Prinz l'riedrich von l lomburg• .1ls .lllch mit scinrn Lr1:ihlu11ge11 und :istltl'tisc·hcn Rdlnion,·11

»miq.;eschricben«. Vgl. Wolf Kittkr, 'fodl's.1rtl'11. l.iter.ttur und Kybernetik in Thont.1s l\ern­

hards »jagdgcsellsch.tft„. In: lkrnh.ml J. Dot1lcr (l I).\.), 'Jc·dmop.tthologien, r..liinchl'n 1'1'12,

S. 223-24(„ hier S. 225. 22 Cl.ll!scwitz (wie Anm. 8), S. 774. Vgl. .rnch S. 258: »Ein grnl(er Teil dl'r N.1d11 id11l'n, die

nun im Kriege bekommt, ist widersprechend, l'in noch griil\l'rer ist falsch und bei wl'itl'lll clcr

griilltc einer ziemlichl'n Ungewil(heit u11tl'rworfe11." 2.l Cl.rnsewitz (wie Anm. 8), S. 259. 1·1 CLi.u\cwitz (wie J\11111. 8), S. 233. l'i Cbuscwitz (wie J\11111. 8), S. 23·L

Page 4: Manfred Schneider - TU Berlin · 2019. 5. 10. · Manfred Schneider kbrcn, er kiinnc es nicht als todeswürdiges Verbrechen erkennen, »[z)wci Augen blicke früher, als befohlen,

l l.i11s-Clnis1i,lll v. l lnT111'11111

griff als »h·iktion« 21• oder »Reilnmg« 27 bezeichnet. Sie macht das »Handc;ln im

Kriege" zu einer »Bewegung im erschwerenden Mittel«,28 und ihre Wirkung ist

desh.1lb so besonders verheerend, weil sie »sich nicht wie in der Mechanik" seit Coulomb berechnen und zudem »auf wenig !'unkte konzentrieren lä!\t«, sondern

[ ... J Erscheinungen hcrvor[hrinht J, die sich g.1r nicht berechnen bsscn, eben weil sie zum hl'ot\en Teil dem Zufall .1ngehiircn. Ein solcher Zufall ist '/„ B. d.1s Wetter. 1 lier verhindert der Nebel, da!\ der h·ind 1u gehiiriger Zeit emdeckt wird, daf\ ein Geschütz 1.ur rechten Zeit schiefü, d.if\ eine Meldung den kom111.111dicrenden Offi1ier findet; dort der Regen, d.if\ ein Bataillon anko111111t, d.if\ ein anderes zur rechten Zeit kommt, weil es statt drei vielleicht acht Stunden n1.1rschicrcn mufüc, d.11\ die Kavallerie wirksam einh.1uen k.111n weil sie im tiefen Boden steckenbleibt mw. 2'1 '

Der Einbruch des \'V'etters in die Theorie des Krieges untergr:ibt deren alte hmda-·

mrnte. War Johann Gottfried l loyers >Geschichte der Kriegskunst< wenige Jahre

vor Jena und Auerstedt noch im Rahmen einer »Geschichte der Mathematik« er­

schienen18, bestimmt Clausewitz den Krieg, wie Handel und Politik, als •>Akt

menschlichen Verkehrs" und als »Konflikt gro!\er Interessen«. Zu klären, ob »sol­cher Konflikt des Lebendigen, wie er sich im Kriege bildet und liist, allgemeinen

Gesetzen unterworfen l;leiht«, 11 kann aber nur einer Theorie gelingen, die nicht

\'Oll geometrischen Verh:iltnis~en, sondern vom Irregulären ausgeht.

Von Wi1ikeln und Linien erwartet der l~eser w hiiren und findet statt dieser l.lüq;cr der wi"ensdl.lftlichen Welt nur Leute aus dem gemeinen Leben, die er alle 'Elge auf der Stra!le hq.;egnet. Und doch k.11111 der Vedasser sich nicht elltschliegen, ein l laarbreit m.1-

tl1e111.Hischer 111 werden als ihm sein Gegenstand 1.u sein scheint, und er scheut nicht die Befremdung, welche ihm sein Leser zeigen kiinnte. Im Kriq;e mehr als iq;endwo sonst in der \Veit kommen die Dinhe anders, als m.111 sich es ged.1cht h.ll, und schrn in der N:ihe anders aus als in der Entfernung. Mit welcher Ruhe k.11111 dn lhumeister sein \Verk ;1ufsteigcn und in seine Zeichnung hineinwachsen sehen! Der Arzt, obhlcich viel mehr unerforschlichen Wirkungen und Zufallen preisgegeben als der B.1umeister, kennt doch die \Xlirkun>;cn und hmnen seiner Mittel genau. Im Kriege befindet sich der Führer eines grollen C.111zen im best:indigen Wellenschlag von falschen und w.il11T11 N.1d1richtcn; \'011 l:ehlern, die lwg;rngen werden aus Furcht, aus Nachl:issig­

keit, aus Ubcreiluni;; von Widerspenstigkeiten, die ihm f\ezeigt werden aus wahrer oder fa!,chcr Ansicht, aus üblem Willen, w.1hrem oder falschem Pflichtgefühl, 'li-:if;heit oder Frschiipfunt;, •011 Zufallen, .1n die kein Mensch ged.1cht hat. Kurz, er ist hunderttausend Lind rücken prci"gcgchcn, von denen die 1ncistcn eine besorgliche, die wenigsten eine er­nnnigende Tendenz h.1hrn. 12

2" Clausewitz (wie Anm. 8), S. 2Cil. 27 Clau"cwitz (wie /\11111. 8), S. 2(l5. 1 ~ Cl.n1~cwitz (wie Anm. 8), S. 2()3. 2'} CLnl'~cwitz (wie Anm. 8), S. 2(d f. \c Joh,rnn Cottfried I loyer, Geschichte der Krief\skunst seit der ersten Anwendung des

SchicEpulvers zun1 Kriegsgehrauch his an das Ende des 18 . .Jahrl1underts, 2 Bde., Ciittingen 1797-1800 (Geschichte der Künste und Wissenschaften seit der Wiederherstellung his an d.1s

Ende des aclnzehnten .J.il1rhunderts. 7. Aht. Geschichte der Mathematik 11). 11 Cl.lllsewitz (wie An111. 8), S. 303. 12 Cl.lllscwitz (wie An111. 8), S. 371.

232

fi<"'-''"!!.lichl' l lccrc

Wenn der Krieg so unübersiclnlich und unberechenbar ist wie d.1s \Vetter, d:ts /\leer

oder der Alltag, heiflt das zun:ichst, da!\ eine »positive Lehre" »cln111iiglich" ist. lm

Ernstfall wiire man 1ümlich ständig gezwungen, "tlltj?a dc111 Gnc/Z« 1.u handeln, so daf\ „Jic Theorie ein Gcgemt1tz der \'(!frklicl1~·ci1" würde. 11 Um dies zu vermei­

den, bedarf es einer Theorie, die, statt »eine algebraische Formel liir tbs Schlacht­

feld zu bilden«, sich darauf beschr:it1kt, in den Best:inde11 der Kriegswissensch.1ft

»aufzur:lumen~' und »dem denke11den Geiste mehr die l lauptlinca111e11tc seiner Be­wegungen [zu] .bestimmen als ihm i11 der Ausführung den \Veg gleich Mcl\stangen [zu] bo.eichnen«.34 Den hiermit geforderten Übergang von geometrisch-dis1ipli­

nicrten zu freien Operations- und Bewegungsformen vollzieht Cl.rnsewitz, indem

er die »\'V'ahrscheinlichkeiten des wirklichen Lebens«\) zum ein1.igrn c;c·sctz des

Krieges erhebt und die Kriegführung, als »die Ku11stv, »sich der gegebe11cn Mittel im Kampf zu bedie11ch«,% damit auf de11 lloden eines »Wt1lnsc/;ci11lich!.·citsk,i/kiil[sj nach den gegebenen Verhältnissen,c17 stellt.

l\ereits im Laufe des 18. jcihrhunderts, genauer gesagt im Anschlul\ ;111 Jacques

Bernoullis 1709 erschienene >Ars conjectandi<,' hatte die Wahrschei11lichkcitsrech­

nu11g, die zu1üchst bio!\ ein wenig angesehenes Verfahren zur llesti111111ung der Chancen im Spiel gewesen war, bei der Analyse von Zufallsereignissen Anwendung

in den Bereichen der politischen Verwaltung, der Reclnsprechung, des hn.111z- und

des Versicherungswesens gefunden. Mit Laplaces 1814 erschienenem ·Ess.1i philo­sophique sur les probabilitcs', der seine >Theorie an;1lytique des prob.1bilitcs• von

1812 ergänzte, setzte sich die \'V'ahrscheinlichkeitsrechnung dann endgültig als ein

»System« durch, »in welchem ein Mittel dargeboten wurde, Materien zu eq~ründen, welche Bezug haben auf die wichtigsten Dinge des Lehens, die der Berechnung un­

terworfen zu sehen, keiner je erwarten sqllte«. 18 Clausewitz' Theorie des Krieges

ist demnach auch selbst eine »Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln"''', oder genauer gesagt, die Übertragung eines neuen Dispositi\'s der l\bcht auf das 1:eld der

Militiirwissenschaft. Allerdings erscheint die Wahrscheinlichkeitsrechnung bei Clausewitz ausdrücklich nicht als m;1them;1tischcs, sondern .1ls iisthetisches Kon­

zept, genauer gesagt, sie erscheim im Rahmen eines KP111epts des kriegerischen Ce­

nies. Dem »Spiel der \Vahrscheinlichkeiten und des Zufalls" tritt der h'ldherr n:im-

11 Cl.iusewitz (wie Anm. 8), S. 28'J. 14 Cl.1usewit1. (wie· An111. 8), S. 2'J 1 f. J; Cl.lllsewitz (wie Anm. 8), S. 19').

v, Cbusewitz (wie A111n. 8), S. 270. 17 Cl.1llsewi11. (wie Anm. 8), S. 207. D.1111it weist Cl.iusewiu. eine philosophi,«h hegrilflirhl'

Bestimmung des Krieges n1rück. Vgl. d.1rn S. 195 f. \8 .John F. \XI. l lcrschel, Üher die Lehre von den W.1hrscheinlichkeitcn und il1re A11wc'IHl11n

gen auf die physik.1lischrn und sm.i.1lcn Wissenscll.lften. In: Adolphe (_Juetelet, S<>1i.1k.l'hl'Sik oder Abh,1ndlunf; üher die Emwicklun,; der F:ihif;keiten des 1\lrnschen, 2 Ihle„ Jen.1 l'J l·l 1 'J2 I,

Bd. 1, S. (,-100, hier S. 24. \'! Cl.111sewitz (wie Anm. 8), S. 210.

2.D

Page 5: Manfred Schneider - TU Berlin · 2019. 5. 10. · Manfred Schneider kbrcn, er kiinnc es nicht als todeswürdiges Verbrechen erkennen, »[z)wci Augen blicke früher, als befohlen,

I fctm-Christim1 v. 1 frrnnam1

lieh allein mit seiner »freien Seelentätigkeit« 40 entgegen, weshalb das unverzicht­bare Wissen, auf das auch sie z.urückgreift, zunächst „fast ganz aufhiire.n mu{\, etwas Objektives zu sein«. Statt in »bestaubten Büchern« nachschlagen zu kiinncn, mul\ der Feldherr nun »den ganzen Geistesapparat seines Wissens in sich tragen« und „fähig sein«, »Überall und mit jedem Pulsschlag die erforderliche Entscheidung aus sich selbst zu geben. Das Wissen mul\ sich also durch diese vollkommene Assi­milation mit dem eigenen Geist und Lehen in ein wahres Kiinncn vcrwandcln«41 und damit jenen »hiiheren Kalkül eines Comic oder Friedrich« ermöglichen, der den mechanischen Gleichungen eines »Newton oder Euler« übedcgcn ist.42 Was das hci!lt, wird gerade am Deispiel des »Ortssinn[s]« deutlich, jener »Geistesan­lage«, die den Feldherrn, Clausewitz zufolge, zu einem Verwandten des Dichters und Malers m;1cl1t und es ihm crmi;glicht, »das Werk seiner T:üigkcit einem mitwir­kenden Raume [zu] übergeben, den seine Augen nicht überblicken, den der regste Eifer nicht immer erforschen kann, und mit dem er bei dem best:indigcn Wechsc:I auch selten in eigemliche Bekanntschaft kommt«. 4·1 Der Ortssinn, der sich also gru1'.dlegcnd vom barocken Ortsgedächtnis eines Simplicissimus unterscheidet, das nur die vom Vagabund<.;n bereits durchlaufenen Wege spcichert, 44 ist

[ ... ] das Verrniigen, sich vo11 jeder Gegend sclmell dine richtige geometrische Vorstel!img· zu macho1 und .1\s Folge davon sich in ihr jedesmal leicht zurechtzufinden. Offenbar ist dies eir1 Akt der Phantasie. Zw.1r heschieht das Auffassen dabei teils durch d.1s kiirperli­che Auf;e, teils dui'ch den Verstand, &r mit seinen aus Wissenschaft und Erfahrung f;e­schiipftcn Einsichten d.is Fehlende eq;:inzt und aus den Bruchs!Licken des kiirperlichen Blicks ein (;,1n1es macht; aber d.1ß dies Ganze nun lebhaft vor die Seele trete, ein Bild, eine innerlich go.eichnete Karte werde, daß dies Bild bleibend sei, die einzelnen Züge nicht immer wieder auseinanderfallen, das vermag nur die Gcistcskr<1fi zu hcu·irA.·01, die 1;:/r Phan/,lsie nc1n1en.«4 1

Auch wenn »Nachrichten aller Art, Karten, Bücher, Memoiren, und für die Ein­. zclnhciten der Beistand seiner Umgehungen« 41' dem Feldherrn zu Hilfe kommen, so treten diese Bruchstücke erst vor seinem inneren Auge zu einem Ganzen zusam­

, menY Damit leistet seine Phantasie genau das, was die rhetorische 'fradition als cvidenti(l bestimmten Redetechniken zuschrieb, die in Worten etwas Abwesendes so amchaulich ~or Augen führen, da/\ es lebendig und gegcnw:inig erscheint. Ihr

·IO Cl.iusewitz (wie A11111. 8), S. 213. ·II Cl.imewi11. (wie Anm. 8), S. 2'J9. .J2 Cl.1t1sewi1z (wie A11111. 8), S. 2'J8. An anderer Stelle verweist Cl.rnsewitz .rnf Napoleon, der

»ga111. riclnif; f;esagt« h,1ben soll, „daE viele de111 I'cidherrn vorlief;e11de Entscheidungen eine Auff;.1he 111.11hem.11ischer K.1\kü\, bilden würden, der Kr:if1e eines Newton und Euler nicht un­würdi~." (S. 251)

4.l Gb1'ewi11 (wie A11111. 8), S. 247 .. H Vf;I. Bernhard J. Dotzlcr, l'apiernuschinen. Versuch über Co111mu11ication & Co111rol in

Literatur und Technik, Berlin 19%, S. (i07f. ·41 Cl.n1~cwitz (wie J\11111. 8), S. 247f. 41' Cl.iusewitz (wie A11111. 8), S. 248. ·1 7 Vf;I. Kaufm.11111 (wie A11111. 'J), S. 37 und S. 39.

234

historisches Vorbild kn diese Form der Verarbeitung topographi<>cher 1 hten in Napoleons privater Kartensammlung, die er unablüngig von .den llest:i11den des Kriegsdepots für seine eigenen Zwecke anlegte.: und mit grof\cr "Rücksiclnslosig­kcit« aus den Archiven der eroberten Linder erweiterte, so dall sie »schon im .Jahre 1804 das Kartenwesen nahezu der ganzen Welt« cnthielt. 18

Napoleon wid111ete de111 S1udiL1111 der Karten ;Hdleronkntlich viel Zeit. l'.i;t .1\lc AUf;l'll · zeuhen berichten, daE der Kaiser »vid über seinen Karten sitze«. N.1pokon w.ir .h". wohnt, die K.uten, die er zu seinen Srndien Lind Entwürfen beniitihte, "·//„/ .1L1szuw.1h­lc11. Stets vcq;lich er mehrere K;1rtenwcrke, eine Vorsicht, die bei der verschiedenen (~ualit:it der dam.1\ihen 'fopographie·vielf.irh geboten w.1r. ZLI seinen l'eld1uhsentwiirlc11 durchforschte er in der Regel alles übcrh.rnpt verfligb.ne Material; er /Of; d.11.L1 stets .1'.1ch geographische und historische \Verke 1.L1 J{ate Lind verwertete die Frku11dL111gserf;cllllisse früherer Feldzühe."1

Dabei hörte das Wissen, auf dem Napoleons Kriegführung gründete, schon da­durch fast ganz auf, etwas Objektives zu sein, da!\ er die Karten »mit zahlreichen Strichen« überzog und i1i einer Schrift, die er seihst kaum entziffern konnte, "viele Notizen auf oder neben die Karte« machtc. 50

,

Mit seiner Genieästhctik trat Clausewitz den :iltcren kriegswissenschaftlichen Lehren entgegen, in denen alle nicht durch »Vorschriften und Rq~eln« faf\luren Griillen »außer der wissenschaftlichen Einhegung« lagen und »tbs Feld des Ge­nies« waren, »welches sich iibcr die Regel erhebt«. Stattdessen hciflt es nun:

Was d.1s Genie tut, mul\ f;erade die schiinste Regel sein, und die Theorie k.111n nichts Bn­scrcs tun, als zu zeigen, wie und w.uum es so i"lt. 'il

Indem auf diese Weise die Ausnahme die Regel nicht nur hest:itigt, sondern ;11lererst hervorbringt, entspricht die Position de~ genialen l;eldhcrrn, der - wie Napolcon­zugleich als »Staatsmann« »alle Staats~crh:iltniss.c« »mit einem Blick umfaflt„,'

2

strukturell der des Souvcr:ins, der nach der Definition von Carl Schmitt »;ntf~erh.1lh der normal geltenden Rechtsordnung« steht und »doch 1.u ihr" gehiirt.' 1 d.1 seine diktatorische E11tscheidung im Ausnahmezustand Geset/,cskraft erlangt und die Ordnung wiederherstellt. Und so wie es die »Utopie« dieser Diktatur i'.>l, "die eherne Verfassung der Naturgesetze an Stelle schwankenden historischen Ce­schchns zu s~·tzcn«,'4 soll es auch der Wahrscheinlichkeitskalkül des Feldherrn cr­miiglichen, der Kontingenz der Ereignisse zu entkommen. Doch w:ihrcnd dies im

'" l lernu1111 Giehrl, Der Feldherr N.1poleo11 .1\s Org.111is;11or. lletr.ichtunf;ell iiher seine Ver-kehrs- und Nachricl11en111iucl, seine Arbeits- und Befehlsweise, llcrlin 1')11, S. 88.

l'I c;iehrl (wie Anm. 48), S. ')9. so c;ichrl (wie Arnn. 48), S. t 00 u. S. 4. ;i Cl.rnsewitz (wie Anm. 8), S. 283 f. 'l2 CLn1scwit1, (wie Anni. 8), S. 251. \3 C1rl Sch111i!!, Politische Theologie. Vier K.1pitel 1ur Lehre von der Soun-r:i11i1:i1, 5. Auil.

Berlin 1990, S. 13. · " Walter llenj.1111in, Ursprung des deutschen Tr.rnerspicls, hg. von Rolf Tiede111.11111, 2. 1\ull.

Frankfurt .1. M. 1982, S. 55.

23'i

Page 6: Manfred Schneider - TU Berlin · 2019. 5. 10. · Manfred Schneider kbrcn, er kiinnc es nicht als todeswürdiges Verbrechen erkennen, »[z)wci Augen blicke früher, als befohlen,

l la11s-Christi,i11 v. I lcrmi.11111

I;all des Souveräns durch einen juridischen Dezisionismus geschieht, so im Fall des Feldherrn durch eine einfache Rechenoperation. Und wenn das »Gemüt« dieses h:ldherrn auch »bei den stärksten« affektiven »Regungen im Gleichgewicht bleibt so dali trotz dt:n Stürmen in der Brust der Einsicht und Überzeugung wie der Na~ de! des Kompasses auf dem sturmbewegten Schiff das feinste Spiel gestattet ist«,55 so ei·streckt sich zw;1r damit die »Restauration der Ordnung im Ausnahmezustand" wie im Barockdrama auch auf den »Ausnahmezustand der Seele, die Herrschaft der Affekte«, 56 nur ist nun offensichtlich an die Stelle stoischer Selhsttechnologie eine kybernetische Selbststeuerung getreten.

Epistemologisch gesehen i>t Wahrscheinlichkeitsrechnung »ein Instrument 111.l­

thematischer Untersuchung, das für unmögliche physikalische Experimente ein­springen solk Ihr Einsatzpunkt ist die Konstatierung eines irreduziblen Nichtwis­sens. "Wir kennen nicht nur die Gesetze der. Plünomene nicht, die uns in der unendlichen Variet:it ihrer Streuung, Fluktuation und I rregulariüt vorliegen, son­dern ;rnch ihre Ursachen nicht.« Auf diesen Entzug jeder festen Erkenntnisgrund­lage antwortet dit: Wahrscheinlichkeitsr1:cl111ung mit einer par:idoxen Operation, die'darin besteht, »dit:~es Nichtwissen gegen sich selbst auszuspielen, es zu umge­hen, indem wir t:s sozusagen gegen es selbst verwenden.« Der Preis dafür ist, »dal\ wir das Terrain des Beobachters niemals verlassetY.« 57 Auf der Basis von permanen­ter Beobachtung also, und das hei!it von statistischer Datenerhebung, werden Re­gelmäfügkeiten fcstgesrellt, die wiederum zur Basis für Rückschlüsse auf das Ein­treten oder Nichteintreten von zukünftigen oder vergangenen Ereignissen werden.

Wl'nn Ulh J. „ J eine ebenso grolle und ebenso gleichmäl\ige Erfahrung der Vergangl'nhl'it l'inem unwiderstl'hlichen c;düld zufolge einen Schluf\ hinsichtlich der Zukunft zu ver­biirgl'n ,chcint, d.rnn kii1~nen '~ir diesen Schluf\ vertrauensvoll annehmen und das \\/ag­n1.s l'llll'S lllchr oder Wl'rnger w1nz1hen Irrtums gering achten, den wir deutlich empfin­den. So kon1111cn wir d.11.u, bei jeder physischen Untersuchung und bei allen Vorg:ingen des Lehens hei einer, von der 111'1thc11Mtischc11 Cewif\hcit verschiedenen,pr,1k1ischc11 Ge­wiflheit stehen 1u blcibrn. Ccrade 11111 d.1, Bewul\t,ein dieses w,1gnisses ;lUSl.Udriicken und uns seihst dahin zu brin-. gen, lrnnscquem und um11nwunden von seiner Wichtigkeit zu reden, ist der Ausdruck \Y/.tlnschcinlilh/.:cit erfunden worden, ein Ausdruck, der sich auf unsere Unkenntnis der An.1lyse dcr_Ereignisse und der wirkenden K1<ifte, die 11otwc11dig ihr sukzessives Eintre­ten 1.ur Folge habe11, nicht illl allgemeinen bezieht, sondern lllit besonderer und persiinli­cher Rücksicht ,u,f die l'.1rtei, die sich die,cs Ausdruckes bedient, so d.11\ ein und derselbe physische Zus.rn1111enh.1ni.;, ein und d.1ssclhe historische l'xposc, ein und dasselbe zu­kiinfrige Ereignis von sehr ver,chiedener Wahrscheinlichkeit in den Augen von P.1rtcicn 'ein kiinnen, die iiber die U1mtiinde, die in Aktion hefindlichen Urs.1chen, die Gl.rnb­wiinligkeit der Schriftsteller, die dafiir Zeugnis ablegen, oder die Gelegenheit, die sie gc­h.1ln hahcn, die hcii.;ebrachten Tusachen kennen zu lernen, verschieden unterrichtet \incl.'"

" Clau,ewitz (wie Anlll. 8), S. 244. ;,, Be11j.1llli11 (wie A;1111. 54), S. 55. " han,·oi, Ew,1ld, Der Vorsorgesta.it, Frankfurt ;1.1\1. 1993, S. 182. '" 1 lerschel (wie Anlll. 38), S. 9 f.

23(1

/in;·cglichc / !ccrc

DaE Clausewitz den Wahrscheinlichkeitskalkül nicht mathematisch beh.rndelt, son­dern zu »einer Art lntuition«'i'J des I;eldherrn erkbrt, wodurch der 11.isanl in sei­nem Kern 60 um so deutlicher hervortritt, heiEt ;1lso keineswegs, dal\ "die m.nhenLl­tische Wahrscheinlichkeit« hier gar »[n]ichr„ 1.1 im Spiel ist. Schlid\lich war es kein geringerer als Laplace, der in ihr den »auf ein IZcchcnsystem zurüd.gcführtcl nJ ge­sunde[n] Menschcnverstand.«·2 wicdcrerbn'i1tc und ihr Llamit - n.1cl1tr:iglich - eine vormathematischc Existenz. zuschricb. 1.J Sie milit:irwisscnschaftlich g;rnz .1llcin ei­nem Vermögen des Subjekts zuz.uschreihen, entsprach einfach einer 1entr;1lisierten Form der Kriegführung, in der Generalstab und technische M,dien noch .1ls Exten· sioncn eines politisch-miliürischcn Souver:ins funktionierten, dessen Gehirn .1ls »central information-processing-machinc« diente.1.t Subjektphilosophisch kl>nntc Clausewitz sich dabei auf Kant berufen, dessen •Kritik der Urteilskraft· zufolge es die »Einbildungskraft« »auf eine uns g:inzlich unbegreifliche Art" vermag, »die Ge­stalt des Gegenstandes aus einer unaussprechlichen Zahl von Gegcnst:inden ver­schiedener Arten oder auch einer und derselben Art zu reproduzie1Tn" und, "wt·nn das Gemüt es auf Vc:q;lei~hungcn anlegt, allem Vermuten n.1ch wirklich, wenngleich nicht hinreichend zum Bewu!hsein, ein Bild gleichsam auf das .imlcn: fallen zu las­sen, und, durch die Kongruenz der mehreren von derselben Art, ein Mittleres her­auszubekommen«, »welches allen zum gemeinschaftlichen 1\1.i{\e dient„•''' Diese unbewugte Ausgabe von Mittelwerten nder »ästl1ctischr[ i1] Norm;i!ideei n I''\ wird von Kant einem »dynamischen Effekt« z.ugeschricben, »der ;1us der viclf:iltigen Auffassung solcher Gestalten auf das Org;rn des inneren Sinnes entspringt„. Ent­scheidend ist dabei: Die Normalidee ist »nicht ;HIS von der Erfahrung hergt·110111me­nen Proportionen, als bcstim111tc11 Rcgc/11, abgeleitet; sondern n.1ch ihr Wl'rdl'n .11-lcrerst Regeln der Beurteilung miiglich„. 1•7 llei Cl.1usewitz. erscheint K.uns

;•i Raymond Aron, Clausewitz. Den Krieg denken, h.rnldurt .d..1„ Berlin und Wien l'!XO, S. 2(1(„

i.o Vgl. Jacques L.1c.rn, D.1s Semin.1r. Buch 11: D.1s Ich in der Ti!l'tlric hTuch und in der 'i'cch· nik der l'sycl10.1n.1lyse, hg. v. Norbert l la.1s u. l l.rns-Jo.1Chi111 l\kt1hcT, Bnlin l 'J'I 1, S . .)7(,-.rn 1.

1.t So Aron in seinem Cl.1ml'wiv.-Komn1ent.1r. \'[',!. i\ron (wie i\nlll. 5'1), S. 2!.-1. 1•2 Zit. bei l lerschel (wie Anlll. 38), S. 18. fii L:tc:tn (\vic AnnL (>0), S. 12: >~\Xfcnn ctw.\\ zut.1gc tritt, ctw.Pi, d.1.., wir gcnlltigt \ind, .,1, neu

an1ucrkc11ncn, \vcnn eine andere ( )rdnung der Struktur .1uft.u1dn, nun!, d.1 ...... clutft \eine l'ig~·nc Perspektive in die Verh.rnhenhcit, und wir sagen - /),15 h11t 11ic 11icht i/<1 H'i11 A·1i1111n1, il.11 cxi,11nt Sl'it cu1igcn Zeiten.<<

1'4 Martin van Creveld, Comm.rnd in \\/,1r, C.1n1bridhc/M.1ss. und l.ond"n l'ISS, S. (,8. Vgl. .lllch Kaufm.rnn (wie Anm. 9), S. !11: "N.1pokon ,1gicnc .1ls poli1isch-s1r.llc[;ischcr hihrn 111i1-tcl"i eines fixen, stcrnf(lrmig organi\lcrtcn Kommu11ik.1tio11\11ct1c.., .\ll"i P.Hi .... Al, opcr.1tivc1 hihrer bewq,te er sich bei der Av.1nthanle in der 1\liue der .ndgctciltcn 1\1.nsc·hlwlonnu1, die c1 mittels berittener Ordonn.1nzen und schriftlicher l\otsc!l.lften koordinierte. Als t.1ktischn hih rer auf delll Sehbeinfeld komrnllicrte er den Vcrl.iuf des Cdcchts .1uf der l\.1sis cihcmT \\/.1!11 nehmungen und miindlichcr lldehle.«

''' lmnunuel Kant, Kritik der Urteilskraft, Berlin 17'1'1, S. )7. <.r, K~111t (wie i\11111. 65), S. 5(>. 1'7 K.111t (wie J\11111. (15), S. 58.

2.\7

Page 7: Manfred Schneider - TU Berlin · 2019. 5. 10. · Manfred Schneider kbrcn, er kiinnc es nicht als todeswürdiges Verbrechen erkennen, »[z)wci Augen blicke früher, als befohlen,

J f,11zs-Clnisti<1n v. Hnnnt1m1

»dyna111ischc[r] Effekt«, der alles mechanische Messen und Rechnen übcdwlt, in­dem er beispielsweise »tausend erwachsene Mannspersonen« durch eine »Normali­dee" ihrer Proportionen ersctzt,1

'8 als »Wtmderbare[r] Geistesblick« des kriegeri­

schen »Genies«, »der in seinem Fluge tausend halbdunkle Vorstdlungen berührt un~ bescitigt«. 1

"1

Mit dem dynamischen Effekt der Einbildungskraft, der als Normalidee etwas vor A ugcn führt, was niemals Gegenstand der Erfahrung werden kann, gleichwohl aber den Status eines Gcsev.es erlangt, verlegt Kant das mathematische Verfahren der Mittelwertbildung ins Subjekt, wo es nicht auf der Basis von M~llwcrten, sondern von »Gestalten« durchgeführt wird, weshalb er auch auf Addition und Division verzichten und stattdessen die »Analogie der optischen Darstellung« durch einan­der überlagernde »Umrisse« wiihlcn kann. W:i.s für Mathematiker eine Operation mit umfangreichen statistischen Datenmengen ist, wird auf diese Weise zu einer apriorischen Anschauungsform der Natur. 70

So wie Kants Subjekt die Natur über die Einbildungskraft :isthetisch nach Nor­rüalideen ordnet, manifestiert sich. das Genie des Feldherrn bei Clausewitz im »coup d'a:il«, der »nicht brog tbs körperliche, sondern« vor allem »das geistige Auge« mcint. 71 Aber auch wenn ·sich die strategischen Kalkulationen in ein Vermögen des Subjekts verwandeln, unterstehen sie immer noch dem Gesetz der Wahrscheinlich­keit. Dementsprecl1end ist es auch -nicht ein einzelner groflcr Sieg, sondern allein »der /)11rchsclmi1tscrjiJ/g, welcher auf das Dasein des kriegerischen Genius deu­tet«.71 Ein „[ lauptakt des strategischen Urteils« ist es zudem, analog zur »Natur und Wirkung des Schwerpunktes in der Mechanik«, dessen lkstimmung Adolphc

1•8 K.rnt (wie Anm. 1>5), S. 57f. '"' Cl.rnscwitz (wie Anm. 8), S. 251. Vgl. d.tzu ,lllch Cl.tmewitz' Bemerkungen ZUlll »Ch.1r.1k­

tcr der l'riv.nlüuser", wo er t•s zw<1r zun:ichst ablehnt, von einer architektonischen »Norn1.1l­onlnung" zu sprechen, diese d.rnn aber nur unwesentlich zum »immer wiederkehrenden l lauptch.1raktcr« lllodili1.icrt (Fin kunsttheoretisches Fragment des Generals von Cl.1uscwitz, mitgeteilt von 1 l.111s l{othfrk In: Deutsche Rumhchau 173, 1917, S. 373-382, hier S. 381 f.).

7 ~. Kant (wi~ Anm. liS), S. 57f. Von der llcwcgungsphysiologic des 19. bis zur Psychotechnik des frühen 20. Jahrhunderts erfuhr dine tr;1n.s1.endentale Ästhetik des Nornl.llrn oder 'l)'f1i­schcn dann ihre cxperimcntalwi>Sensch.1ftlichc Fleischwerdung. So begegneten die Brüder Edu.1rd und Wilhelm Weher 1831, (Wilhelm Weher und Eduard Weber, Mech.lllik der mrnsch­lid1rn Cehwerkzcuhe. Eine an.1tomisch-physiologische Untersuchung, Giittingcn 1831„ zit. n.1ch: Wilhelm Wd1er's \Verke, lld. 1„ Berlin l 8'J4) dem Problem, daE »heim Gehen und Laufen . 111 eine vollkommen ühereinstinllnende Wiederholung der Versuche und Messungen unter den in und amser dem Kiirper stets wechselnden Verh:iltnissen nicht zu denken« und es folglich »q11111iihlid1" w.1r, »auf dem Wege des Experimentes allein zu den Gesetzen dieser Bcwegun[\en 1.u gel.rnhen«(S. 293), indem sie ihre Lq.;ehnisse »auf einen Norm.1lfall« (S. 239) zuriickführten. Dieser erredrnete Normalfall, über den t's gel.rng, »in d.1s Chaos der verschiedenen lkob.Kh-1un,.;en Ordnung zu bringen« (S. 294), hatte sein pl1ysiolo,.;isches Korrel.tt in der motorischen »Gewohnheit«, die zugleich die »Schiinheit« der Bewegunphestalt begründete (S. XI).

71 Cl.H1scwiu. (wie Anm. 8), S. 234 f. 72 Cl.1usewitz (wie Anm. 8), S. 2311.

238

lil"o:·cglichc f lcnc

Quet~lct zufolge eines der :iltesten Beispiele für Mittelwertbildung ist,7' die »Cen­tra gravitatis in der feindlichen Kriegs111:1cl1t zu unterscheidrn« und sie damit als »Einheit« und im »Zusammenhang« zu sehen. I·'.inc »Einheit«, ·„die sich auf einen Schwerpunkt zurückführen läßt«, nennt Clausewitz ein » Kricgstheater«.74 Ort, Zeit und Handlung des Krieges aber kommen erst zu dieser Einheit, »Wc1111 die vor­deren Kulissen, welche d.1s Schicksal in die Kriq~sszenen einschiebt, mit ihren dick aufgetragenen Gestalten der Gefahr weggezogen und der 1 Iori1.ont erweitert ist", also nicht mehr der »Eindruck der Sinne«, sondern die »Vorstellungen des überle­genden Kalküls« den Blick des Strategen lciten.75 Dieses met.1phorischc Wegziehl'll der barocken Kulissen im Llühnenvmdergrund zugunsten panoram.Hischcr Aus­blicke in die Fernen verwei~t auf einen milit:irischen Raum, der keine geometri­schen Gliederungen mehr kennt und dessen Ordnung sich nur noch der str,\legi­schcn Imagination crschlieflt. Sie allein ermiiglicl1t es dem Feldherrn, im diffusen Schlachtgetümmel das Aufeinandertreffen zweier gro!\er Heereskiirper zu erkrn-1icn und festzustellen:

Der Krieg ist nichts als ein erweiterter Zweikampf. Wullcn wir uns die U1ll„1hl de1 ein~ zeinen Zwcik:impfc, aus denen er besteht, als Einheit denken, so tun wir hesse1; uns zwei Rinhcnde vorzustcllcn. 77

\X'as diesen Kampf nun bestimmt, ist »die lebendige Reaktion und die Wech„elwir-_ kung, welche daraus entspringt«. Da die »\X'irkung, welche irgendeine Maf\reg.cl auf den Gegner hervorbringt«, »d:ts Individuellste« ist, »was es unter allen D.rns des Handelns gibt«, widerstrebt diese »Wechselwirkung ihrer N;Hur nach aller l'Linm:i­fügkeit«.7H Trotzdem versuchen beide Kämpfer, »[a]us dem Charakter, drn Einrich-

71 Vhl. (~uetclct (wie Anm. 38), Bd. 1, S. 519. . 7.J C!.rnsewitz (wie Anm 8), S. 810f. !>.is ~Vurt »Kriepthe.llcr" wird im Llllk des l8 . .J.1hr­

hundcrts n;1ch dem franziisi'>chcn t/Jl'.itl'l' de /.z gu<'>Tc hebildet, und zwar in enger Vcrh1mlung mit der kartohraphischcn Rcpr:iscntation des Krieges, \vie der 'l\tcl einer 1ei1geniissisd1en K.ir­tensammlung zum Dritten Schlesischen Krieg helcht: •Neues Kriq.;s-The.llcr oder S.llrnnlung der mcrkwürdipten Begebenheiten des hegenw:irtigen Krieges in Teutsdil.rnd 111 ,1,·cur.llen 11 1 Kupfer gestochenen Vorstellungen nd1't einem Avertissement• (Leip1ig 1758). In (;oed1es .111-tohiogr;1phischer •C,1mp.1gm· in h-.rnkreich 17'12· is1 mcl11 fxh 1·011 einem »Aus1t1g des 1'.'!"'. graphischen Atl.ts von Dcutschl.rnd" die l{ede, »welchen j:i;>,cr 1u l'r.rnldun, unl<T dem !Hel •Kriegstheater•, vcr;rnstaltet« und drn der künftige Oherlwmm.l!1dierende der deutschen D1cl'.­tung zur Orientierung stets hci sich u<igt. Vhl. (;oethes Werke, IJ. Aull. Mündicn 1'171i, lld. X, S. l 8~-31i3, hier S. 188, vgl. .rnch S. 204 und S. 210.

IS Clausewitz (wie Anm. 8), S. 25'1 f. . 71> Die Metaphorik reflektiert hier den neusten St.rnd der 'lcehnik optischer /\1cd1en u111 18.\0 .

In Frankreich war es kein Geringerer .1ls Louis .J.icques /\Lindl- D.1guerre, der wenige J.1hre iu­vor ,tls Bühnenm.1ler »die Tidenillusion durch ein .1h,chlici\rndes ( ;em:ilde .wf den1 l'rPspek1 vor einer dunkleren, mehr neutralen Vorderbühne" l\e,teigert und „die .1ltl' perspektivische 1\1.1 lerci italienischer l lcrkunft durch einen p.111ora111.llischen Anblick im tiefen IC1111n ns~·111„ hatte; vgl. C.ul l'riedrich B.H1m.111n, Licht im Theater. Von der Arg.rnd-L.rn1pe Ins 1t1111 C.luh l.rn1pen-Scheinwerkr, Stuttgart l '188, S. 245 f.

11 Clausewitz (wie Anlll. 8), S. 1 'il. 78 C:l.rnsewitz (wie Anm. 8), S. 288.

2.\'1

Page 8: Manfred Schneider - TU Berlin · 2019. 5. 10. · Manfred Schneider kbrcn, er kiinnc es nicht als todeswürdiges Verbrechen erkennen, »[z)wci Augen blicke früher, als befohlen,

f f,1115-Christia11 v. l lcrm1<11111

tungen, dem Zustand, den Verh:ilrnissen des Gegners [ „.] nach Wahrscheinlich­kcitsgesetzen auf das 1-landeln des anderen [zu] schlicl\cn und danach das (ihrige) [zu] bcstimmen.« 7'J Dabei wird derjenige Überlegenheit erlangen,

J ... l welcher dem anderen d,„ Ce"'ll. gibt; d.ls Ct"etz gibt, wer im lfrcht ist. [ „. l fa kiin­~ nen sich .1!.rn die gegemeitigen Überraschungen des Angreifenden und des Verteidigers

hq.;egnen, und d.rnn müfüe derjenige recht behalten, welcher den Nagel am besten auf den Kopf getroffen hat. 8 ~

Da der kriegerische »Stol\ zweier lebendiger K1-:ifte gegcncinandcr« 81 bei Clause­witi'. das Aufeinandertreffen zweier Intelligenzen ist, wird die Kalkulation, die auch die gegnerische Kalkulation umfal\t, zu deren Gesetzgcbcrin. Aus strategischer Sicht ist der Krieg für Cbusewitz demnach ein ».\j,ü:l« 82 , und zwar im Sinne spicl­theorctischcr Modellhildung. 8·

3 Zwar ist der »Krieg [„.] ein Akt der Gewalt, 11m den Gegner z11r f:"rfii!/11ng unseres \Xli!lrns z11zwingen«, 8 ~ seine Entfaltung in Raum und Zeit aber macht ihn zu einer Feedbackschlcifc »zwischen f:'iztwcrj(·n und A11s­fiihrc11•< 8' und dan1it zu einem Akt.der Kommunikation. l);if\ Clausewitz den Krieg i'.uin Zweikampf perspektivien, ermiiglicht es ihm, die „frage nach der Art und Weise, in der Nachrichten übermittelt werden«, auszublendcn8r, und ihn noch ein­mal auf dem the,llralen Niveau von face-to-face-Kommunikation zu dcnken. 87 Die Kriege des Ancien regime hatten ihr Modell im »Schachspiel«, denn sie crschiipften sich zumeist in cinl'm Manövrieren "gleichgewichtiger Kriifte, u1n eine glückliche Gelegenheit zu Erfolgen hcrlieizufü_hren und diese dann als eine Überlegenheit über den c;egncr zu bcnutzcn«. 88 Der Kabinettskrieg, mit anderen Worten, war ein Spiel mit vollsündiger Information. Im modernen Krieg hingegen ist die Informa­tiPn, iihcr die die Gegner verfügen, grundsätzlich unvollständig, weshalb sein Mo­dell bei Clausewiu das »KartenspicJ„WJ ist.

7'1 Cl.rnscwiu. (wie l\nm. 8), S. 199 f. KD Clausewitl. (wie l\nm. 8), S. 383. 81 Cbuscwitz (wie l\nm. 8), S. l'J4 f. x2 (~l.tuc..cwit;:;: (wie J'.\n1n. 8), S. 207. 83 Clcichzeitig hiirt der Kriq; auf, wie zur Zeit der K.1binettskriege »ein wirkliches Spiel« zu

sein. 1 lie'<' Kriege w.1re11 11:imlicl1 ihrer »Bedeutung nach[ ... ] nur eine etwas st:irkerc lliplom,1-tie, eine kr:iftigcre l\n rn u1Herlu11dcln, in der Schlachten und llebgerungen die l lauptnotrn w;1ren«. (C:l.1usewit1, wie l\nm. 8, S. W18) Unter Napoleon erreicht der Kriq.; hingegen »seine abrnlute Ccw.1lt«. (S. 'J73) Vgl. d.1zu Kaufm.urn (wie l\nrn. 'J), S. 63f.

8·1 C:l.iusewitz (wie Anrn. 8), S. l'JI f. " Clausewit1. (wie l\nm. 8), S. 2(10. sr: Kaufnu1111 (wie Anm. 9), S. 6(l," An111. 34. 87 l\ron spricht in seinem C:l.n1sewitz-Komrnentar von der »Kommunikation der Ringen­

den« und erl:iutert die«' als »llef:ihigung des einen oder anderen, die Absichten, !':ihigkeiten und Bewegungen des anderen vorherzusehe11«, Vgl. Aron (wie Anm. 59), S. 26'J.

88 Cl.1usewitz (wie Anm. 8), S. 8'J8. "' Cl.1usewit1. (wie Anm. 8), S. 208.

240

II 1. Ordnung und Kontingenz

Dali das Werk des Dichters Kleist eng mit den politischen und milit:irischen Rdorm­pliinen in l'reuflen 1uch 1806 verbunden ist, hat die Forschung eindrucksvoll belegen kiinnen.'JO Dabei fand der Scharnhorst-Schülcr Clausewitz zw.111gsl:iufig vor allem als Planer eines prcufüschcn Aufstands Bcachiung.'11 Zweifellos ist seine Abhandlung •Vom Kriege< aus diesen Erfahrungen hervorgegangen, doch ist tbmit ihr epistemo­logisches Problem noch nicht benannt, das sie selbst auf den Begriff des \Vahrschein­lichkcitskalküls bringt. Auch wrnn das Buch des drei Jahre jüngeren C:Lrnsewitz erst zwei Jahrzehnte 1uch Kleists Töd erschienen ist und namentliche llezugn;1hmen ;rnf­cinander gänzlich fchlcn,'Jl so sind sie in ihrrn Schriften doch vor allem auch insofern Zeitgenossen, als sich darin glcichermaflen eine neue Ordnung des Wissens abzeich­net, die sowohl literarisch als auch theoretisch in »Allegorien der Unlcsb;irkeit«'il er­scheint. Nicht nur für den Feldherrn bei Clausewitz, sondern ;rnch für die Personen in Kleists Erz:ihlung >Der /.wcikampf< gilt, daE sie Teilnehmer an einem Spiel mit un­vollsündigcr Information sind, und i'.war nicht- nur auf der interpersonalcn Ehcne von !Unken oder Intrigen, sondern auch im Blick auf die giittliche Vorsehung odn die Natur. Die rhetorische Frage des unterlegenen h·iedrich von 'Ih1c1, wo »der Sterbliche« sei, »und wiire die Weisheit ;1ller Zeiten sein, der es wagen darf. dcn ge­heimnisvollen Spruch, den Gott in diesem Zweikampf getan hat, auszulcgrn« (II, 248), taucht auch das Handeln Gottes in ein undurchdringliches Dunkel. Mit der kaiserlichen Anordnung, »in die Statuten des geheiligten giittlichen Zweikampfs" seien »überall wo vorausgeseti'.t wird, da!\ die Schuld dadurch u11111ittelh.1r ans 'Ei­geslicht komme, die Worte cin[zu ]rücken: •wenn es Gottes Wille ist<« (I 1, 2(11 ), erf.il\t es auch den Gesetzestext. Und wenn in einer der Klcistschen Anekdoten der titelge­bcndc »M utwillc des Himmels« (II, 265) ,)en letzten Willen eines Crnerals trotz ;1lln Anstrengungen, »jedem Zufall vorzubeugen« (II, 2(,(1), durchkreui'.t, wird ;1us der Vorsehung tatsächlich ein Gegenspieler. Norbert \Vieners K yhernetik lut nach dem II. Weltkrieg zwei Typen von Gegnern unterschieden: manich:iische und augustini­sche. Erstere sind intelligent und ILrndeln strategisch, kiinnen also die Regeln, n.1ch denen sie vorgehen, stiindig :indem. J ,etztcre, und zu ihnen gchiirt vor allem die N.1-tur, sind durch Zufall und Unordnung ch;nakterisiert und unLihig zu !Zcgel:indcrun­gcn.'J·I Wiihrend Clausewitz' Theorie des Krieges, in der Form einn Ästhetik des ge-

•n Vgl. l{icliard S.rn1uel, Kleists „11n111,rn11ssclil.tcln„ und dn heihcrr v1111t Stein. 111: .J.1h1-huch der deutschen Schilleq.;esellsch.dt 5 (1%1), S. (,4-101; s<>wie Kittlcr (wie /\11111. 'i).

'11 Vgl. Kittlcr (wie Anm. 5), S. 243 f. '12 Zur 1:r.1gc einer miiglichen pcrs(inlichc11 llek.m11tscluft vgl. Peter 1'.11et, K !eist rnd ( :l.nt­

sewitz. A Comp.1r.nive Sketch. In: Festschrift für Ehnlurd Kcssel 1u11i 75. Cehunst.q;, hg. '1111 ! leim. Durchardt und M.rnfred Schle11kc, München 1982, S. 130-140.

93 Werner l lamacher, Unlcsh.1rkcit. In: l'.rnl de /\Lin, Allegorien des l.c·sc1is, l'r.rnklurt ,1.1\1. 1988, S. 7-22, hier S. 22.

'11 Vgl. l'eter Calison, The ()molog)' of the Enemy. Norbert \Vie11e1 ,111d thc <:vhcrnc·tic· Vi· sion. In: Critic.1! lnquiry 21 (l'J9·1), Nr. 1, S. 228-2(,(1, hier S. 231.

Page 9: Manfred Schneider - TU Berlin · 2019. 5. 10. · Manfred Schneider kbrcn, er kiinnc es nicht als todeswürdiges Verbrechen erkennen, »[z)wci Augen blicke früher, als befohlen,

f !<1m-Christi,rn v. l lcrmMnn

setzgebenden Genies, die Position eines staatlichen Generals bezieht, der beiden

Gegnern entgegelltritt, agiert Kleists Literatur des Krieges wie ein Partisan, "der in

einer elltfcrntcn Provinz unabhängig haust« und für sich eine „Armcc«'J' bil<lct. In

sehr kalkulierter Weise wendet sie sich nämlich „Erscheinungen [1.u ], die man nicht

bercchrn:n kann« (11, 279) und von denen „ Dichter« wie Schiller „keinen Gebrauch„

(11, 280 f.) zu nuchen wissen, seien es Erscheinungen seismische1; meteorotroper, bal­

listischer, affektiver, motorischer oder, wie im Dramenfragment >Robert Guiskard•,

epidemischer Art. „ Unwahrscheinliche Wahrhaftigkeiten« (11, 277) zu produzieren

ist das Programm dieser Literatur, die damit in der Wahrscheinlichkeitsr~chnung, so

wie der Partisan in der modernen Armee, ihren konkreten Gegensatz und zugleich

ihren Spielraum findet. Der Satz, da/\ „die Wahrscheinlichkeit, wie sie die Erfahrung

lehrt, nicht immer auf Seiten der Wahrheit« ist (11, 278), verweist auf eine Natur, die

alles andere als mütterlich-beruhigend ist und somit gerade in den Augen Goethes

monstriis erscheinen mußte. In seiner Novelle >Das Erdbeben in Chili• hat Kleist die

teleologisch und iidipal codierte Natur klassisch-romantischer Dichtung und die

kontingente Natur der Wahrscheinlichkeitsrechnung aufeinandertreffen fassen, mit

dem Ergebnis, da/\ schlie!\lich alle Ordnung, und also auch die der bürgerlichen

Kleinfamilie, von Kontingen? befallen ist.'H· Während der Bildungsroman allen ein­

zelnen, zufiilligen ßegebenheiten dadurch Notwendigkeit oder Allgemeinheit ver­

leiht, da/\ er sie einer biographischen Entwicklung einschreibt, ist das Kleistsche In­

dividuelle, ganz wie bei Clausewitz, gerade der kontingente und irreduzible

Einzelfall. Statt im Medium der Dichtung schiine Seelen heranzubilden, gehen beide

preul\ischen Offiziere davon aus, dafl »das Leben« »auch unter den gebildeten Völ­

kern und in den gebildetsten Ständen derselben [ ... J voll solcher Erscheinungen [ist],

wo Menschen durch gewaltsame Leidenschaften fortgerissen werden wie im Mittel­

alter die auf 1 lirschen angeschmiedeten Wilddiebe durchs Gehiilz«. 97 Ihre Schriften

kennen also nur ein riitselhaftcs »Gemüt«, das „dicht an der Grenze der kiirpcr/ichcn Kr(ijtc [liegt], die sich in dem menschlichen Organismus regen, und [dasj [ ... ]jener

Amphibiennatur an[gehiirt], die wir Nervensystem nennen, die mit der einen Seite

der Mai.erie, 11Jit der anderen dem Geiste zugewendet scheint«.'J8 Während in Kleists

Dramen, Novellen und Anekdoten Natur und Gemüt Ereignisse hervorbringen, die

katastrophale J<"luclnbalmen beschreiben, geht es in Clausewitz' Abhandlung um

eine Wissenschaft dieser »nollladisierten Welt«.'J'J Statt sich am Bild des »Feldmes-

•is CL1uscwitz (wie i\nm. 8), S. 501. % Vgl. Friedrich /\. Kittler, Ein Erdbeben in Chili und Preußen. In: lhvid E. Wcllhcry

(l lg.), Positionen der Literattirwissensch.1ft. /\ein Modellanalysen am lleispicl von Kleists „[).is Erdbeben in Chili", München 1985, S. 24-38.

•i7 Chuse\vit1. (wie i\nm. 8), S. 243 f. ''" Clausewitz (wie i\nm. 8), S. 242. Zur Geschichte der 11europhysiologische11 Experimente,

die dieses Unhewufüe seit dem Ende des 18. Jahrhunderts zuniichst an elektrisierten Froschbei­nen zur Erscheinung gebracht luhen, vgl. Georges Canguilhcm, A Vital Ration.ilist. Sclected Writings, hg. von l'ranc;ois Debporte, New York 1994, S. 122-128.

''9 Carriere (wie i\nm. (1), S. 22.

242

lic1~·cglichc I leere

sers« und den von seiner Hand hervorgebrachten »Bewegungen eines Astrol.1hi­

ums« 100 orientieren zu kiinnen, lllufl sie sich dabei lllit der Lage eines Steuen11.111m

abfinden, der sein Schiff ohne l lilfc.eines Sternenhin1111els sicher zu n;11'igieren !Lit. Miiglich wird ihm dies durch die Kontrolltechnik des Fecdb.ick, die, losgeliist vom

Realen, nichts anderes tut, als auf der Basis von Erfahrungswerten das Fimrcffrn

oder Nichteintreffen von Freignissen zu kalkulieren. Kleist h:n diese neue»( )rdnung

der Dinge« (11, 321) auf die paradoxe Formel einer spontanen Regularitiit ge­

bracht, 101 und /.war in drei Texten, in denen sich Reflexion und Anekdote ve1111i­

schen. Neben den Aufs:itzen ·Über die allm:ihliche Verfertigung der Ced.1nken heim

Reden' und ,über das Marioncttentl1eater< handelt es sich dabei um die kurze "1',1-

radoxe« >Von der Überlegung•, die Krieg und Leben ;rnf d:1'i Modell des Ringkampfs

bringt. Ein Ringer, so Kleist,

[.„] kann, in dem i\ugenblick, d.1 cr sci0

nen Cegner urnf.dlt li:ilt, schlechthin 1uch keiner anderen Rücksicht, als 1ud1 bloßen augrnblicklichcn l'ingehungrn verf.1hrrn; und derje­nige, der berechnen wollte, welche tvluskeln er ,111strenge11, und welche Clieder er in Be­wegung setzen soll, um zu überwinden, wiirde unfehlbar den kiirnrcn ziehen, und un­terliegen. Aber n.1chher, wenn er gesiegt h.ll oder .im Boden liegt, 111.1g es 1weckni:igif; und an seinem Ürte sein, 1.u iiberlq.;en, durch welchen Druck er seinen Ccgner niede1-warf, oder welch ein Bein er ihm h:itte stellen sollen, um sich aufrecht zu er11.1hen. \'Ver das Leben nicht, wie ein "'lcher Ringei; u1nf.ifü lüh, und t.1usendgliedrig, 1uch .1lle11 Wi11dunge11 des Kampfs, nach ,1llen Widerstiinden, llriickcn, i\usweichungrn und llc.1k­tione11, empfindet und spiirt: der wird, w.1s er will, in keinem Cespr:ich, durchsc·tzen; viclwcniger in einer Schl.1dn. (II, 337 L)

\Xfie bei Clausewitz so steht der Z~veikampf auch bei Kleist umer dem Gesetz eines

intuitiven Wahrscheinlichkeitskalküls. Unberechenh.u sind die Bewegungen der

Ringer nämlich nur in ihrer physiologischen Mech.111ik, nicht hingegen als blitz­

schnelle Folge von Reaktionen oder Spielzügcn. Der Unterschied besteht nur darin,

dag er bei Clausewitz auf der hiichsten strategischen, bei Kleist auf der untersten

taktischen Ebene stattfindet. \Xfas nichts d;1r.rn iindert, da!\ in beiden Zweik:impfcn,

insofern sie gleichern1a!\en auf der Basis von W,1hrsclll'inlichkeiten operieren, wie

im Bild des »Gewiilhe[s]«, das »steht«, »weil seiner llliicke jeder stürzen wiJJ„, 182

Rcgularitiit und Irregularit:it, Ordnung und Ausnahme1.11sund 1u'i;1111mc11fallcn.

1C8 Vgl. CLlu">cwitz (wie Anm. 8), S. 35Ü. IOI Vgl. d.izu Dot1.lcr (wie i\nm. +!), S. 519-522. 102 I·kimich von Kleist, l'enthesilea. Ein Tr.1ucrspicl, Vs. l.H'l-1350.