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Ausgabe 01/2008 | 3,60 EuroISSN 1863-8783

Page 3: MACHT - diskurs-zeitschrift.de

Dis|kurs

Politikwissenschaftliche und geschichtsphilosophischeInterventionen

Herausgegeben von Matthias Lemke, Daniel Kuchler und Sebastian Nawrat

In Zusammenarbeit mit dem

Institut für Bildungs- und Sozialwissenschaften (IBS)der Hochschule Vechta, Wissenschaft von der Politik,

Prof. Dr. Peter Nitschke

der

Humanwissenschaftlichen Fakultätder Karls-Universität Prag,Prof. Dr. Hans Rainer Sepp

und

Prof. em. Dr. Karl HahnInstitut für Politikwissenschaft (IfPol)

der Universität Münster

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Inhalt

Editorial

Daniel Kuchler, Sebastian Nawrat, Matthias Lemke

Krieg und Frieden Seite | 4

PolitischE thEoriE

Matthias Lemke

Die fundamentalistische Internationale. Strukturelle Analogien fundamentalistischer Praxis Seite | 8

innEnPolitik

Sebastian Nawrat

Wider die Krisenrhetorik. Der gewerkschaftliche Sozialstaatsdis-kurs vor der Agenda 2010 Seite | 22

thEma: kriEg und FriEdEn

a) gEschichtE

Martin Kintzinger, Bastian Walter

Krieg, Frieden und internationales Recht im Spätmittelalter. Seite | 37

Esther-Beate Körber 52

Deutschlands langer Abschied vom Fundamentalismus. Ein Zwi-schenruf aus den Flugschriften der Frühen Neuzeit Seite | 52

B) Politik

Nina Kolleck 62

Vergessene Imperien. Oder: eine fehlende Theorie in den Inter-nationalen Beziehungen Seite | 62

Winfried Nachtwei 76

Afghanistan auf der Kippe. Wie weiter? Seite | 76

Saskia Hieber 81

China und seine Nachbarn. Bedroht eine neue Supermacht die asiatisch-pazifische Region? Seite | 81

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Anton Himmelspach

Büchse der Pandora? Die Unabhängigkeit Kosovos als möglicher Präzedenzfall Seite | 94

c) kultur

Martin Kudla

Politik ist Krieg. Das Konzept des Krieges als Organisation politi-schen Widerstreites Seite | 105

Marion Helle

Geschichte in Geschichten. Die Bedeutung der Belletristik für die heutige Erinnerungskultur Seite | 124

Benedikt Berghoff

Hitler von vorn. Zum Verhältnis von Spielfilmen und Erinne-rungsdiskurs Seite | 140

traditionEn, gEmEinsamkEitEn und PErsPEktivEn wEiBlichEr Bildung

Rita Stein-Redent

Anmerkungen zur Geschlechterperspektive im „Bolognaprozess“ Seite | 156

Rita Stein-Redent

Tagungsbericht. Traditionen, Gemeinsamkeiten und Perspekti-ven weiblicher Bildung Seite | 164

intErnationalE Politik

Martin Schwarz

Das Abkommen von Wassenaar. Non-Proliferation als Herausfor-derung für die Internationale Gemeinschaft Seite | 171

Wladimir Sterlikov

Werkstattbericht:Warum sehen russlanddeutsche und ausländi-sche Jugendliche keine Perspektiven für ihre Zukunft? Seite | 179

gElEsEn

Wolfgang Lamprecht

Wissenschaftspolitik zwischen Ideologie und Pragmatismus Seite | 184

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Dis | kurs – Jahrgang 4, Nr. 1, 2008

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Editorialkrieg und Frieden

Daniel Kuchler, Sebastian Nawrat, Matthias Lemke

In der wissenschaftlichen Diskussion von Krieg und Frieden wird häufig der Schre-cken aber auch der gesellschaftskonstitutive Aspekt vergessen, der mit dem Begriff des Krieges verbunden ist. In dem Gedicht „Der Krieg“ von Georg Heym kommt dies jedoch zum Ausdruck. Hier erscheint das völkerrechtliche Phänomen als ein personalisierter Schrecken mit Attributen der indischen Gottheit Kali, wenngleich hier männlich: „Aufgestanden ist er, welcher lange schlief,/Aufgestanden unten aus Gewölben tief./In der Dämmrung steht er, groß und unerkannt,/Und den Mond zer-drückt er in der schwarzen Hand [...] // Auf den Bergen hebt er schon zu tanzen an/Und er schreit: Ihr Krieger alle, auf und an./Und es schallet, wenn das schwarze Haupt er schwenkt,/Drum von tausend Schädeln laute Kette hängt. //Einem Turm gleich tritt er aus die letzte Glut,/Wo der Tag flieht, sind die Ströme schon voll Blut./Zahllos sind die Leichen schon im Schilf gestreckt,/Von des Todes starken Vögeln weiß bedeckt. [...]“ Zensurversuche, wie die Verhüllung von Picassos Guernica im Vorraum des Sicher-heitsrates der Vereinten Nationen bei der Ankündigung des Irakkrieges, zeugen da-von, dass auch Kriegsbefürworter in Demokratien den Schrecken des Krieges fürch-ten. Doch was heißt eigentlich „Krieg“?Die Geschichte der Menschheit lieferte mannigfaltige Definitionen, von Ciceros ge-waltvollem Konflikt bis hin zu Clausewitz‘ Fortsetzung der Politik mit anderen Mit-teln.1 Bereits Grotius hatte Krieg als rechtlichen Zustand beschrieben, welches von der Englischen Schule freilich übernommen wurde.2

In Übereinstimmung mit dem szientistisch-quantitativem Turn, vor Allem in den US-amerikanischen Sozialwissenschaften, freilich aber auch zunehmend in Deutsch-land3, lässt sich der Begriff selbstverständlich auch quantifizieren: Small und Singer bezeichnen Krieg als militärischen, also bewaffneten Konflikt mit wenigstens einem Staat als Akteur, in dem wenigstens 1000 Tote in Schlachten zu beklagen sind.4 In

1 Unser Autor Martin Kudla geht hier mit Foucault vom Umkehrschluss aus.

2 Für eine ausführliche Definition des Kriegsbegriffes vgl. vasquez, John a.: The War Puzzle. Cambridge 1993. S. 14–51.

3 vgl. schlichte, klaus: Neues über den Krieg? Einige Anmerkungen zum Stand der Kriegsforschung in den Internationalen Beziehungen. In: Zeitschrift für Internationale Beziehungen. 1/2002 (9. Jg.). S. 113–138 sowie hasenclever, andreas: Sie bewegt sich doch. Neue Erkenntnisse und Trends in der quantitativen Kriegsursachenforschung. In: Zeitschrift für Internationale Beziehungen. 2/2002 (9. Jg.). S. 331–364.

4 small, melvin/singer, david: Resort to Arms. International and Civil Wars 1816–1980.

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Editorial

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einer eher qualitativen Diskusion führt Münkler andererseits den Begriff des Neuen Krieges ein5. Natürlich bleibt dies nicht unwidersprochen – allzu viel ist allzu be-kannt, wenn auch in neuer Gewandung.6

In engem Zusammenhang mit den neuen, asymmetrischen Kriegen steht auch eine neue Kategorie von belli justi: zwar schien es nach relativen Erfolgen der Friedens-bewegung in den späten 1970er und 1980er Jahren, daß in der „westlichen Welt“ abseits rechter und rechtskonservativer Kreise der Krieg – zumindest normativ – als unerwünschtes Phänomen in den Internationalen Beziehungen angesehen wurde, andererseits jedoch wurde Krieg bereits seit den 1970er Jahren und besonders in dem letzten Jahrzehnt wieder als Mittel zum Zweck, diesmal der Verhinderung oder Beendigung asymmetrischer Gewaltstrukturen (beispielsweise des Staates gegen ein-zelne Teile der Bevölkerung) ins Spiel gebracht. Krieg kann hier einerseits als eine „humanitäre Aktion“ geframed werden, wie beispielsweise im Kosovo-Konflikt („Ich habe nicht nur gelernt: Nie wieder Krieg. Ich habe auch gelernt: Nie wieder Ausch-witz“, Joschka Fischer, am 7. April 1999), andererseits aber scheinen diese (neuen) Gerechten Kriege auch eine Rückkehr des zwischenstaatlichen Krieges mit Groß-machtbeteiligung gebracht zu haben. Richteten sich nach dem aktuell letzten „letzten großen Krieg“ die Militärinterventionen vor Allem gegen unwillige Verbündete und Entwicklungsländer, so rückten mit den Staaten Syrien, Irak und vor Allem Iran – zu verstehen nur vor dem Hintergrund des aktuellen asymmetrischen Krieges, des „Kriegs gegen den Terror“ – ausgewachsene Regionalmächte in das Blickfeld eines möglichen dyadischen Waffenganges – dem in jedem Fall zweifellos ein asymmetri-sches „Aftermath“ folgen dürfte.Gerät eine Erörterung des Kriegsbegriffes also bereits diffus, fällt eine Definition des Friedens gleichwohl schwieriger. Die Definition der Abwesenheit von Krieg scheint allzu banal – und auch gefährlich. Vielmehr scheint es angebracht, in Anlehnung an Johan Galtung der eingangs genannten eine positive und gleichzeitig auch kritische Definition entgegenzusetzen. Frieden ist somit nicht nur als Abwesenheit direkter, physischer Gewalt zu verstehen, sondern vielmehr und auch als strukturell, also Frei-heit von Ausbeutung, als kulturelle Friedfertigkeit und Nachhaltigkeit als interge-nerationeller Friede7. Diese Definition nutzend, scheint der Mangel an Frieden auf einmal auf die anderen Grundprobleme der Welt bezogen: die enorme Diskrepanz

Beverly Hills 1982. S. 56–57.

5 münkler, herfried: Die neuen Kriege. Reinbek 2002.

6 Bluhm, harald/geis, anna: Den Krieg überdenken. Kriegstheorien und Kriegsbegriffe in der Kontroverse – ein Tagungsbericht. In: Zeitschrift für Internationale Beziehungen. 2/2004 (11. Jg.). S. 419–429.

7 galtung, Johan: Peace by Peaceful Means – Peace and Conflict, Development and Civili-zation. London 1996. S. 32.

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Dis | kurs – Jahrgang 4, Nr. 1, 2008

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zwischen theoretisch angenommenen, aber auch institutionell verankerten Men-schenrechten, auch ökonomischer Natur, und wahrgenommener Umwelt erscheint schrecklich groß. In diesem Kontext scheint bloßes Frieden stiften nicht mehr aus-reichend, struktureller Wandel, auch global-ökonomischer als eine unabdingbare Voraussetzung.Vor dem Hintergrund, dass nicht nur aus der ökonomischen Struktur sondern auch aus Kriegen den westlich-industrialisierten Volkswirtschaften handfeste öko-nomische Vorteile erwachsen (zu nennen wäre hier beispielsweise die bevorzugen-de Vergabe von Wiederaufbauprojekten im Irak an Unternehmen kriegsführender Nationen), erscheinen klassische Ansätze veraltet. Vielversprechender wirken da schon Ansätze, wie der der Copenhagen School, der den Begriff der securitization einführt. Dieser wird als diskursiver Prozess definiert, durch den ein intersubjektives Verständnis innerhalb einer poltischen Gemeinschaft konstruiert wird, um etwas als existentielle Bedrohung eines wertgeschätzten Referenten zu behandeln und um den Aufruf zu dringenden und außergewöhnlichen (exceptional) Maßnahmen zu recht-fertigen.8 Entscheidend hierbei ist natürlich neben der nebenbei abgehandelten epis-temologischen Objektivitätsdefinition im Sinne des radikalen Konstruktivismus (In-tersubjektivität) auch die des Ausnahmezustandes (exceptional), der innere Ordnung und angenommene äußere Unordnung und Bedrohung miteinander verbindet.Doch lassen sich die metaphorischen Gehalte der Begriffe „Krieg“ und „Frieden“ überhaupt voneinander trennen? Die Rede vom Konflikt zwischen der Agenda 2010-Sozialdemokratie und den Gewerkschaften einerseits und die lingusitische Analyse der Kriegsmetapher in der Innenpolitik machen deutlich, dass auch die In-nenpolitik ohne die Metaphorik von Krieg und Frieden nicht auskommt. Die Be-schwörung von gesellschaftlichen Krisensymptomen ist allerdings kein Phänomen der aktuellen sozialpolitischen Diskussionen.9 Gleichwohl könnte die Sozialstaatsbe-batte des 21. Jahrhundert die Chance wahrnehmen, ihre althergebrachten Argumen-tationsmuster zu überdenken. Es muss kein Widerspruch sein, bei der trennscharfen Formulierung programmatischer Antworten auf eine Semantik der Alarmierung zu verzichten.10

Spannende Grenzlinien zwischen Gleichstellungs- und Bevölkerungspolitik ergeben

8 vgl. Buzan, Barry/wæver, ole: Regions and Powers. The Structure of International Secu-rity. Cambridge 2003. S. 491.

9 Föllmer, moritz: Die “Krise” der Weimarer Republik. Zur Kritik eines Deutungsmusters. Frankfurt/Main 2005.

10 rödder, andreas/hertfelder, thomas (hrsg.): Modell Deutschland. Erfolgsgeschichte oder Illusion? Göttingen 2007; conrad, sebastian: Die Sprachen des Wohlfahrtsstaates. In: Lessenich, Stephan (Hrsg.): Wohlfahrtsstaatliche Grundbegriffe. Historische und aktuelle Diskurse. Frankfurt/Main/New York 2003, S. 55–69.

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Editorial

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sich auch, wenn man die Diskurse des Forschungsfeldes „Frauen, Bildung, Familie“ betrachtet. Es drängt sich der Eindruck auf, dass die in der Vergangenheit oftmals auch apodiktisch vorgetragenen Emanzipationsvorstellungen mittlerweile ihren Platz für eine Familienpolitik räumen mussten, die sich an einer demographiebe-wussten und an den volkswirtschaftlichen Erfordernissen ausgerichteten Sozialpo-litik orientiert.Es drängt sich überdies die für Friedenszeiten konstituierende Frage auf, was Krieg und Frieden im kollektiven Gedächtnis zusammenhält. Die Erkenntnis, dass Frie-den nicht bloß gestiftet werden muss, sondern erst durch zivile Aufbaumaßnahmen über einen langen Zeitraum in erreichbare Nähe rücken kann, ist durch den Irak-krieg erneut ins Bewusstsein gerückt worden. Für das Forschungsfeld des „nation-building“ stellen diese Beobachtungen keinesfalls wissenschaftliches Neuland dar.11 Ganz anders verhält es sich in den Kulturwissenschaften, die sich über das Bonmot „Was nicht erinnert wird, ist nicht“ der Erinnerung an den Krieg in Friedenszeiten verstärkt nähern und damit sogar den Anspruch erhoben haben, ein neues kultura-listisches Paradigma für die Geschichtswissenschaft eingeführt zu haben.12 Gleich-wohl: Wie an den Krieg erinnert werden soll, ist eine zentrale Herausforderung für die nachfolgenden Generationen. Zwei Beiträge in diesem Heft zeigen auf, wie dies aus kulturwissenschaftlicher Perspektive heraus geschehen kann.Letztlich bleibt der Imperativ dem Schrecken zu wehren, der bereits in der von Trakl verfassten Schreckensvision vom Ersten Weltkrieg („Grodek“) Ausdruck fand: „O stolzere Trauer! ihr ehernen Altäre / Die heiße Flamme des Geistes nährt heute ein gewaltiger Schmerz, / Die ungebornen Enkel.“

11 hippler, Jochen: Gewaltkonflikte, Konfliktprävention und Nationenbildung – Hintergrün-de eines politischen Konzeptes. In: Ders. (Hrsg.): Nation-building. Ein Schlüsselkonzept für friedliche Konfliktbearbeitung? Bonn 2004, S. 23.

12 daniel, ute: Kompendium Kulturgeschichte. Theorien, Praxis, Schlüsselwörter. Frankfurt (Main) 2001, S. 9; medick, hans: „Missionare im Ruderboot“? Ethnologische Erkenntnis-weisen als Herausforderung an die Sozialgeschichte. In: GuG 10:2 (1984), S. 310; white, hayden: Auch Klio dichtet oder Die Fiktion des Faktischen. Studien zur Tropologie des historischen Diskurses. Stuttgart 1986; kritisch dazu rödder, andreas: Klios neue Klei-der. Theoriedebatten um eine Kulturgeschichte der Politik in der Moderne. In: HZ 283:3 (2006), S. 655–688.

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Wenn Politik und Religion aufeinander treffen, stirbt zuerst die Freiheit. Die Be-harrungskraft, die dieser unheiligen Allianz seit Jahrhunderten innewohnt, mag auf den ersten Blick erstaunen. Doch sie resultiert aus dem allzu menschlichen Streben nach letztendlicher Gewissheit, nach der Antwort auf das Warum bin ich?, die je-der fragwürdigen Kreatur (Eric Voegelin) aufgegeben ist. Religion jedweder Couleur versprach über die Jahrhunderte Antworten, endgültige Antworten, und damit ein Ende dieser menschlichen Infragestellung, also Selbstsicherheit. Die Folgen dieser Suche wurden und werden dann fatal, sobald ihre intransigente Endgültigkeit auf die innerweltliche Praxis projiziert wurde, wenn sie interindividuell gedeutet und umgesetzt wird. Oder ist etwa eine Hexenverbrennung substantiell betrachtet etwas anderes als ein Selbstmordattentat? Werden nicht in beiden Fällen aus einer religi-ösen Motivation heraus zu Ikonen stilisierte und funktionalisierte Individuen zum Zwecke der Machtdemonstration vernichtet oder in die Vernichtung getrieben?Nachdem die europäische Wissenschaft und Philosophie es schon vor dem Beginn der Epoche der Aufklärung vermocht hatte, gegen den Druck der kirchlich vermittel-ten Heilslehre und der Institution Kirche erste Freiräume in der Deutungshoheit des Seins zu behaupten, war damit zwar die Säkularisierung Europas in Angriff genom-

Politische Theorie

die fundamentalistische internationale

Strukturelle Analogien fundamentalistischer Praxis

Matthias Lemke

Hochschule Vechta (IBS), Vechta E-mail: [email protected]

schlüsselwörterFundamentalismus, Totalitarismus, Protestantismus (USA), Siedlerbewe-gung, Gush Emunim, Islamismus

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Politische Theorie

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men, das Bedürfnis nach jedweder Form von Heilsgewissheit aber nicht befriedigt. Immer wieder verlangte die Praxis einer ungewissen Welt in den Menschen nach Letztgültigkeit. So hat auch die Französische Revolution in ihrem Kampf um Frei-heit, Gleichheit, Brüderlichkeit ihre Negation in Form der Terrorherrschaft der Jako-biner schon in sich getragen, die nichts anderes war als eine prätotalitäre Herrschaft, gestützt auf eine säkulare Religion der Vernunft.1

In seiner Abhandlung Die politischen Religionen (1938) etablierte Eric Voegelin im Zuge seiner Diagnose totaler Herrschaftspraxis den Begriff der Politischen Religion als politikwissenschaftliches und zutiefst kulturkritisches Analyseinstrument: „Von politischen Religionen zu sprechen und die Bewegungen unserer Zeit nicht nur als po-litische, sondern auch, und vor allem, als religiöse zu deuten, versteht sich heute noch nicht von selbst, obwohl die Tatbestände den aufmerksamen Beobachter zu dieser Rede zwingen.“2 Damit begründete er eine Analysestrategie, die auf den Messianismus, die Heilsversprechen, die Utopie sowie die Massenrituale und Feste als determinierende Elemente totalitärer politischer Systeme, die ihrerseits wiederum als ein Produkt der Säkularisierung menschlichen Seins begriffen wurden, abstellte. Dieser funktional erweiterte Religionsbegriff, der seiner Analyse zu Grunde liegt, wurde in der Folge von Paul Tillich, Raymond Aron, Carl Joachim Friedrich, Hans Maier und Emilio Gentile geteilt und stellt heute eine etablierte Analysekategorie der Totalitarismus-forschung dar.Der Ausgang der Geschichte, wie er sich sieben Jahre nach der Erstveröffentlichung des Aufsatzes Voegelins dartun würde, ist bekannt: Dem Nationalsozialismus und dem Stalinismus, jenen unbeschreiblich bösen Feinden (Howard Zinn) jedes Men-schen, fielen Millionen Menschen zum Opfer, die allesamt wegen einer von der je-weiligen ideologischen Seinsgewissheit postulierten Wahrheit zu Feinden, zu ver-nichtenswertem Leben gemacht worden waren. Und zwar – das ist auch heute, 63 Jahre nach der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz am 27. Januar 1945 besonders beschämend – ohne flächendeckende, mehr als punktuelle Empörung und Widerspruch provoziert zu haben, obwohl die europäische Aufklärung mehr als zweihundert Jahre hatte wirken dürfen. Und als hätte es, nachdem Auschwitz Reali-tät hatte werden können, die Auseinandersetzungen mit dem Totalitarismus – man

1 Zur Frage nach der Bewertung der Französischen Revolution hinsichtlich ihrer genuin totalitären Entartung vgl. Baczko, Bronislaw: Hat die Französische Revolution den Tota-litarismus hervorgebracht? In: Maier, Hans (Hrsg.): Wege in die Gewalt. Die modernen politischen Religionen. Frankfurt/Main 2000, S. 11–36.

2 voegelin, Eric: Die politischen Religionen. Herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Peter J. Optitz. München 1996, S. 11; vgl. hierzu erläuternd maier, hans: „Totalitarismus“ und „Politische Religionen“. Konzepte des Diktaturvergleichs. In: Jesse, Eckhard (Hrsg.): Totalitarismus im 20. Jahrhundert. Eine Bilanz der internationalen For-schung. Bonn 1999, S. 118–134.

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denke etwa an die Nürnberger Prozesse vom November 1945 bis zum Oktober 1946 oder den Prozess gegen Adolf Eichmann in Jerusalem 1961 – und die Diskussionen um die Postmoderne mitsamt ihrem Verweis auf die Relativität allen Seins und aller Erkenntnis nicht gegeben, erleben fundamentalistische, wahrheits- und seinsmono-polisierende politische Religionen gegenwärtig eine ungeheure Renaissance, und das in fast allen Kulturen (Samuel P. Huntington) der Erde.Die Freiheit jedes Einzelnen, so muss eine realistische sozialwissenschaftliche Prog-nose lauten, ist aktuell so bedroht wie seit dem Sieg über die totalitäre Herrschaft in Europa nicht mehr. Umso wichtiger ist es zu wissen, wer genau da die qualifizierte politische Freiheit unterminiert, was den allerorten aufflammenden Fundamenta-lismus3, die neue Einheitsfront aus Politik und Religion, ausmacht. Denn an immer mehr Orten und in immer mehr Kulturen entsteht eine Internationale der Unfreiheit mit der Finalität einer antilaizistischen, antisäkularen, einer eingefrorenen Welt, in der Religion, Politik und Realität unter dem Primat des Religiösen in ständigem Ein-klang stehen.

vier säulen des religiösen Fundamentalismus

In seiner Analyse des Fundamentalismus, die sich auf viele denkbare Spielarten fundamentalistischer Praxis erstreckt, hat Thomas Meyer ihren antiaufklärerischen Impetus hervorgehoben. Fundamentalismus ist für ihn, in Ahnlehnung an die For-mulierung des Kategorischen Imperativs bei Kant, der „selbstverschuldete Ausgang aus den Zumutungen des Selberdenkens, der Eigenverantwortung, der Unsicherheit und der Offenheit aller Geltungsansprüche, Herrschaftslegitimationen und Lebens-formen, denen Denken und Leben durch Aufklärung und Moderne unumkehrbar ausgesetzt sind, in die Sicherheit und Geschlossenheit selbsterkorener, absoluter Fundamente.“4 Auch wenn diese Definition Meyers aus religionswissenschaftlicher Perspektive als polemisch und unwissenschaftlich kritisiert worden ist, so ist sie aus politikwissenschaftlicher Perspektive durchaus brauchbar. Denn sie eröffnet eine strukturell vergleichende Perspektive über spezifische religiöse Erscheinungsformen hinaus. Interessant ist darüber hinaus, wenn man zu dieser Definition die empiri-schen Befunde religiös motivierter Einmischung in die Politik hinzuzieht, dass die in ihr angesprochene hermetische Selbstverschließung nicht etwa in eine Enthaltung von der politischen Praxis mündet, sondern zu dem Bestreben führt, jede Praxis in das eigene Welterklärungssystem hineinzuzwingen. Die geschlossene Ideologie (Karl

3 Zur Definition des Begriffes vgl. unter anderem Jaschke, hans-gerd: Fundamentalismus in Deutschland. Gottesstreiter und politische Extremisten bedrohen die Gesellschaft. Hamburg 1998, S. 27–53.

4 meyer, thomas: Fundamentalismus – Aufstand gegen die Moderne. Hamburg 1989, S. 157.

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Politische Theorie

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Mannheim) provoziert also Einmischung und diese ist insofern hochgradig konflik-tuell, als dass sie einen Kompromiss mit anderen Positionen wegen ihres Selbstver-ständnisses strukturell ausschließt. Das Wirken fundamentalistischer Religiosität in der Politik ist somit paradox, denn es ist einerseits hochgradig gestalterisch und also politisch aktiv, andererseits vermag es nicht politisch zu interagieren. Hieraus resul-tiert das der Gemengelage von Politik und Religion immanente Gefährdungspoten-zial.Bevor das Wirken dieser Einheitsfront exemplarisch aufgezeigt wird, gilt es jedoch, den Begriff des Fundamentalismus als sozialwissenschaftlich operationalisierbares Konzept zu begründen und zu differenzieren. Betrachtet man das Selbstverständnis der verschiedensten fundamentalistischen Strömungen, dann fallen vier gemeinsame Strukturprinzipien auf. Religion, die fundamentalistisch ausgedeutet und praktiziert wird, ist so identifizierbar. Die Definition dieser Strukturprinzipien des Fundamen-talismus geht historisch auf eine konservative Reformbewegung gegen modernisti-sche Tendenzen innerhalb des US-amerikanischen Protestantismus zurück. In der Zeit von 1910 bis 1915 verfasste eine Gruppe Geistlicher am Princeton Theological Seminary und am Westminster Theological Seminary eine Reihe von Aufsätzen, die unter dem Titel The Fundamentals: A Testimony to the Truth in einer Auflage von über 3 Millionen Stück veröffentlicht wurden. Als 1920 ein mit der Reformbewegung sympathisierender Journalist, Curtis Lee Laws, deren Vertreter als fundamentalists bezeichnete, erhielt diese spezifische religiöse Haltung ihren Namen.5

Charakteristisch für diese Haltung waren folgende vier Merkmale: (1) Die Überzeu-gung von der buchstäblichen Unfehlbarkeit der Heiligen Schrift sowie die unbeirr-bare Gewissheit, dass diese keinen Irrtum enthalten könne. Damit war jegliches Be-mühen um eine Interpretation oder Auslegung, um eine zeitgemäße Rezeption des überlieferten Textes unterbunden. Die für alle einsehbaren Texte der Überlieferung avancierten zur Quelle von Wahrheit, zur einzig adäquaten Ausdeutung gegenwär-tiger sozialer Praxis; (2) darüber hinaus vertraten die fundamentalists die Meinung, die moderne Wissenschaft sei nichtig, insofern sie den in der Bibel zum Ausdruck kommenden „Wahrheiten“ widerspreche. Damit sind die Kritiker der fundamenta-listischen Position auf rabiate Weise erledigt, denn ihre Positionen werden im fun-damentalistischen Diskurs schlicht und einfach nicht zur Kenntnis genommen, sind weißes Rauschen (Michel Foucault) außerhalb des eigenen Diskurses, oder sind gar vernichtenswert; (3) die fundamentalists teilten die Überzeugung, dass, wer vom fundamentalistischen Standpunkt abweiche, kein wahrer Christ sein könne. Damit

5 vgl. larsen, max deen: Religiöser Fundamentalismus in den USA. Eine historische Perspektive. In: Six, Clemens/ Riesebrodt, Martin/ Haas, Siegfried (Hrsg.): Religiöser Fundamentalismus. Vom Kolonialismus zur Globalisierung. Innsbruck u.a. 2004, S. 70.

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wird einerseits der absolute Wahrheitsanspruch der eigenen Position nochmals un-terstrichen. Andererseits erhält hier die manichäische Zuspitzung der Eigen- und Fremdwahrnehmung ihre Grundlage: Wer nicht für uns ist, ist gegen uns – und darf physisch vernichtet, darf getötet werden; (4) und schließlich vertraten sie die Über-zeugung, dass die moderne Trennung von Kirche und Staat immer dann zuguns-ten einer religiösen Bestimmung des Politischen aufgehoben werden müsse, wenn politische Regelungen mit fundamentalen religiösen Überzeugungen kollidieren. Angesichts der bereits aufgezeigten Positionen sind derlei Interessenkonflikte nicht selten zu erwarten, so dass der Ruf nach der Abschaffung des säkularen, aufgeklärten Staates zugunsten eines elitistischen Gottesstaates ohne Machtteilungsmechanismen eine logische Konsequenz der dargestellten Position ist. Dieser letzte Punkt ist in-sofern der brisanteste, weil hier das tatsächliche politische Ver-änderungspotenzial des Fundamentalismus zum Ausdruck kommt. Fundamentalisten streben nach der allgemeinen Verbindlichkeit ihrer Wahrheit und was läge da näher, als gleich den gesamten staatlichen Apparat an dieser Wahrheit auszurichten?Betrachtet man diese vier Säulen fundamentalistischer Praxis, dann fallen folgende sozio-politische Merkmale auf, die allen Fundamentalismen dieser Welt gemeinsam sind: Fundamentalisten vertreten einen absoluten Wahrheitsanspruch, der in einen praktizierten Anti-Pluralismus und Anti-Relativismus mündet. Sie lassen neben der eigenen keine anderen Positionen gelten, und dort, wo diese dennoch geäußert wer-den, werden sie als feindliche Haltungen begriffen. Damit ist ihr primäres Konflikt-bewältigungsmuster gewalttätiger und endgültiger Natur. Ihre Zielperspektive liegt in einer religiös homogenen Gesellschaft, deren Institutionen und Normen von der Religion vorgegeben und unveränderbar sind. Damit einher geht, als Reaktion auf die Moderne, eine Reduktion von Verhaltensmustern und Wertevorgaben, die der Gesellschaft eine Übersichtlichkeit verleiht, die von den Akteuren in der Praxis an-gewendet werden kann, ohne dass diese sich plötzlich mit inneren Widersprüchen ihrer Praxis konfrontiert sähen.

christlicher Fundamentalismus in den usa

Ein eindringliches Beispiel für die fundamentalistische Internationale liefert der us-amerikanische Protestantismus.6 Bei den anstehenden Präsidentschaftswahlen in den Vereinigten Staaten spielen fundamentalistische Positionen, spielt die Bibelpo-litik (Esther Hornung) eine wesentliche Rolle. Denn in keinem anderen „westlich“ geprägten Land der Erde sind religiöse Bezugnahmen so eminent bedeutsam, wie in den USA. Verkörpert wird diese Bibelpolitik von den Evangelikalen Rechten, einer in

6 Zu einigen der im Folgenden geschilderten Beispiele vgl. die Dokumentation von Berb-ner, thomas/ leclerq, Patrick/ schneider, uri: Fanatisch, fundamentalistisch, fromm (Deutschland 2007, SWR).

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Politische Theorie

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sich heterogenen Ausformung des Protestantismus, die insbesondere im so genann-ten bible belt, also im mittleren Westen der USA, stark ausgeprägt ist.7

Das, was da als amerikanischer Faschismus (Manfred Henningsen8) im neokonser-vativen Amerika George W. Bushs ein erhebliches Wählerpotenzial darstellt, mag hinsichtlich der Spezifika religiöser Praxis große Unterschiede aufweisen. Es können aber mindestens sieben Merkmale der religiösen Praxis der Evangelikalen Rechten ausgemacht werden, die auf eine hinreichend geschlossene religiöse Gemeinschaft schließen lassen, die wiederum in der Lage und gewillt ist, einen hohen politischen Einfluss auszuüben. Im Einzelnen handelt es sich bei den ausgebildeten Gemeinsam-keiten der einzelnen Strömungen um folgende Merkmale: (1) Die Annahme, wonach die Bibel als das überlieferte Wort Gottes irrtumsfrei sei; (2) die Annahme, wonach Sündhaftigkeit und Schuld des Menschen Gottes Zorn nach sich zögen und dem ein-zelnen Menschen Verdammnis brächten; (3) die Bezugnahme auf eine persönliche, bewusste Glaubensentscheidung („Erweckungserlebnis“), die dann in eine spezifi-sche religiöse Praxis mündet; (4) das allgemeine Priestertum bzw. die Zulassung von Laienpriestern, und das sehr erfolgreich, wofür insbesondere die Person Billy Gra-hams (sein Spitzname „Maschinengewehr Gottes“ ist in diesem Zusammenhang eine interessante Metapher) zu einer international bekannten Ikone geworden ist; (5) die nachrangige Bedeutung von spezifischer Kirchen- und Konfessionszugehörigkeit; (6) der Absolutheitsanspruch der eigenen religiösen Inhalte; (7) das Missionsgebot. Aus der Verschmelzung dieser Einzelmerkmale zu einer religiösen Identität resultie-ren dann kompromisslose Interventionen in die politische Praxis des Gemeinwesens hinein.Die Debatte um den Schwangerschaftsabbruch ist hierfür ein gutes Beispiel, obschon die Radikalität ihres Austrages aus mitteleuropäischer Perspektive mitunter schwer-lich nachzuvollziehen ist. Am 22. Januar 1973 fällte der Oberste Gerichtshof mit 7:2 Stimmen ein Urteil (Roe versus Wade), wonach das Grundrecht auf persönliche Freiheit und Schutz der Privatsphäre das Recht der Frau einschließt, in den ersten 6 Monaten über den Abbruch einer Schwangerschaft frei zu entscheiden. Dieses Ur-teil bewirkte, dass Abtreibungen nicht länger in der Illegalität, sondern zunehmend unter guten medizinischen Bedingungen durchgeführt werden konnten. Die Kont-roverse um die ethische Dimension des Schwangerschaftsabbruches war damit aber

7 Zur religionssoziologischen Bestandsaufnahme des amerikanischen Evangelikalismus vgl. hochgeschwender, michael: Amerikanische Religion. Evangelikalismus, Pfingstler-tum und Fundamentalismus. Leipzig 2007, S. 11–31.

8 vgl. u.a. henningsen, manfred: Der Aufstand der Fundamentalisten. Die Sehnsucht nach der heilen Welt und die amerikanische Gegenrevolution. In: Merkur (Sonderheft) Jg. 53, Heft 9/10 (1999), S. 901–910 und leggewie, claus: America First? Der Fall einer konser-vativen Revolution. Frankfurt (Main) 1997, S. 205–226.

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nicht beendet. Abtreibungsgegner haben immer wieder versucht, die Entscheidung von 1973 zu revidieren, bis hin zu einer Entscheidung des Gouverneurs von South Dakota, Mike Rounds, Abtreibungen in seinem Staat für illegal zu erklären.9 Der Republikaner hofft mit seiner Entscheidung ein neuerliches Urteil des Obersten Gerichtshofes erzwingen zu können, das Abtreibungen generell für illegal erklärt. Seine Hoffnung gründet er auf die neue Zusammensetzung des Supreme Court, der seit Anfang 2006 nach der Ernennung von Samuel Alito mehrheitlich konservativ-republikanisch geworden ist. Solche politischen Strategien passen gut ins politische Klima, denn der Kampf um die Abtreibung seit der Entscheidung Roe versus Wade ist aktuell zugespitzter denn je: „Der Kampf um das Recht auf Abtreibung hat mit Bushs zweiter Amtszeit seinen Höhepunkt erreicht. Zumeist religiös motivierte ExtremistIn-nen führen schon lange einen Kampf gegen das Recht auf Abtreibung, das in den USA auf dem so genannten Roe vs. Wade-Fall basiert. Diese breitangelegte Kampagne ver-fügt nun mit Bush als Präsidenten über ein Ausmaß an Unterstützung, die das Capitol fast zur Speerspitze dieses Kampfes werden lässt.“10 Für die Betroffenen Frauen und Ärzte bedeutet diese Zuspitzung nicht nur eine Verschlimmerung ihrer zumeist oh-nedies schon angespannten persönlichen Situation. Anti-Abtreibungsbewegungen, wie etwa die evangelikale Pro Life oder die offen terroristische Operation Rescue, ver-antworten Bombenattentate und mindestens einen Mord an einem Abtreibungsarzt im Jahr 1998. Exemplarisch wird hier deutlich, wie religiös motivierte Positionen einer sozialen Praxis aufgezwungen werden sollen, deren eigene Bedürfnisse völlig negiert werden. Religion macht hier Politik, ohne den Menschen – in diesem Fall insbesondere Frauen, aber auch Ärzte – in seinen realen Bedürfnissen zu hören.11

Ein weiteres verstörendes Beispiel liefern die sogenannten Kreationisten, die den dar-winschen Evolutionstheorie sowie die Evolutionsbiologie ablehnen und stattdessen

9 vgl. gruber, Peter: Abtreibungen strengstens verboten. 01.03.2008, http://www.focus.de/politik/ausland/ usa_aid_ 105832.html.

10 korn, marike: Das Recht auf Abtreibungen in den USA – eine Bestandsaufnahme. 01.03.2008, http://www.anschlaege.at/2006/oktober/bushsbaeuche.htm.

11 Zu beobachten ist in diesem Zusammenhang auch die gesetzgeberische Praxis, den Fötus als Rechtssubjekt zu etablieren und ihn gegen die Mutter auszuspielen. Vgl. ebd.: „Auch auf nationaler Ebene versucht die Bush Regierung gegen das Recht auf Abtrei-bung vorzugehen. 2003 wurde der „Partial-Birth Abortion Ban“ von Präsident Bush unterzeichnet. Dieses Gesetz verbietet späte Abtreibungen, stellt aber gleichzeitig auch eine Bedrohung für das Recht auf Abtreibungen in den ersten drei Schwangerschafts-monaten dar. In drei Staaten (Kalifornien, New York und Nebraska) wurde das Gesetz für verfassungswidrig erklärt, da es keine Ausnahme im Falle einer Gefahr für die Gesund-heit der Frau beinhaltet. Eine weitere Strategie der Regierung Bush ist die Erweiterung der Rechte des Fötus. Der so genannte „Unborn Victims of Violence Act“ (2004) bildet hier die Basis für weitere Einschränkungen von Frauenrechten. Dieses Gesetz legt fest, dass ein gewaltsamer Angriff auf eine schwangere Frau zwei unterschiedliche Verbre-chen darstellt: Zum einen gegen die Frau und zum anderen gegen das Ungeborene.“

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die Schöpfungsgeschichte12 samt Erbsünde und Sintflut als Modell zur Erklärung allen Lebens auf Erden vertreten. Ihnen gemeinsam ist die Ablehnung naturwissen-schaftlicher Erkenntnisse bei der Erklärung der Schöpfung.13 Stattdessen wird deren Entstehen auf das Wirken eines Gottes oder eines intelligenten Designers (Neo-Kre-ationismus) zurückgeführt. Dessen Wirken lässt sich durch die wortwörtliche Aus-legung der relevanten Bibelstellen soweit rekonstruieren, dass sogar das Datum der Erschaffung der Erde benannt werden kann. Es handelt sich, so hat der anglikanische Theologe und Kurzzeitkreationist James Ussher bereits im 17. Jahrhundert in den Annales veteris testamenti, a prima mundi origine deducti (Annalen des Alten Testa-ments, hergeleitet von den frühesten Anfängen der Welt, EA 1650) ausgerechnet, um den 23.10.4004 vor Christi Geburt; das Gesamtalter der Erde beträgt damit gerade einmal etwas mehr als 6000 Jahre.Es stellt sich sodann die Frage, wie stark diese verschiedenen kreationistischen Strö-mungen, die allesamt in ihrem Kern ein Ausdruck der Ablehnung moderner Wis-senschaft darstellen, weil sie eben geglaubt, nicht aber kritisch hinterfragt werden wollen, in der amerikanischen Gesellschaft verbreitet sind? Nach letzten Umfragen aus dem Januar 2008, so die alarmierende Antwort, ist eine deutliche Mehrheit der Amerikaner von den Positionen des Kreationismus und des Intelligent Design über-zeugt. Diese Diagnose ist allerdings insofern nicht verwunderlich, als dass relevante kreationistische Strömungen in den USA bereits seit Beginn des 20. Jahrhunderts feststellbar und für den Zeitraum von 1982 bis 2007 als relativ stabil belegbar sind. Laut einer Gallup-Umfrage mit dem Titel Evolution, Creationism, Intelligent Design von 2007 stimmen 43% der Befragten der Aussage zu, Gott habe den Menschen in seiner heutigen Form geschaffen; 38% sind der Meinung, der Mensch habe sich unter Gottes Einfluss entwickelt und nur 14% meinen, der Mensch habe sich vollkommen eigenständig zu seiner heutigen gestalt entwickelt.14 Bei der Nachfrage, ob denn die Evolutionslehre oder die kreationistische Theorie „definetly true“ seien, bejahen dies für die Evolutionslehre 18%, für den Kreationismus 39% der Befragten. Erstaunlich

12 Für das Christen- und Judentum im Buch Genesis, für den Islam im Koran.

13 Für die Kontroverse Kreationismus gegen Wissenschaft vgl. national academy of science/ institute of medicine (hg.): Science, Evolution and Creationism. Washington 2008; vgl. ferner Europarat (hg.): Europarats-Staaten müssen Einbeziehung des Kreati-onismus als Wissenschaftsdisziplin in den Unterricht entschieden ablehnen. 01.03.2008, http://www.coe.int/T/D/Kommunikation_und_politische_Forschung/Presse_und_Online_Info/Presse infos/2007/20071004-656-PV-Kreationismus.asp#TopOfPage.

14 vgl. gallup Poll (hg.): Evolution, Creationism, Intelligent Design. 01.03.2008, http://www.gallup.com/poll/21814/Evolution-Creationism-Intelligent-Design.aspx. Für Zahlen für Deutschland vgl. eine Umfrage, die forsa im Auftrag der Forschungsgruppe Weltan-schauungen durchgeführt hat: Fowid (hg.): Evolution/ Kreationismus. Fassung vom 26.02.2007. 01.03.2008, http://www.fowid.de/fileadmin/datenarchiv/Evolution_ Kreatio-nismus_Deutschland__2005.pdf.

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ist dann allerdings das Ergebnis bei der Frage, ob denn die Position eines Präsident-schaftskandidaten in diesem Zusammenhang von Relevanz ist: Nur 25% der Befrag-ten bejahen dies, 70% vermögen in der Position eines Kandidaten zum Thema Krea-tionismus oder Evolution kein relevantes oder gar wahlentscheidendes Kriterium zu erkennen. Es wäre interessant zu klären, inwieweit sich diese Diskrepanz zwischen einer gesellschaftlich feststellbaren Einstellung und ihrer signifikant geringeren po-litischen Auswirkung erklären lässt. Denn sie steht auch im Widerspruch zu dem Standpunkt, wonach 54% der Befragten meinen, Kreationismus solle in öffentlichen Schulen gelehrt werden (Evolutionstheorie 61%, Intelligent Design 43%). Zieht man die Bemühungen in Betracht, die Vertreter des Kreationsimus darauf verwenden, die eigene Lehre im Curriculum der öffentlichen Schulen zu verankern, und zwar als gleichberechtigte Theorie neben der Evolutionstheorie, dann wirkt der Widerspruch noch größer.

die radikale siedler-Bewegung in israel

Ein weiteres Beispiel liefern die radikalen Vertreter der israelischen Siedlerbewe-gung15, die seit dem Ende des Sechs-Tage-Krieges 1967 zunehmende Aktivitäten entfaltet hat und die 1975 mit der Gründung einer Siedlung in Samaria im heutigen Westjordanland ihren Durchbruch feierte. Getragen wird ihr Handeln von der Über-zeugung, wonach das im Alten Testament beschriebene Land Israel dem jüdischen Volk versprochen sei, und zwar exklusiv. In einem Interview mit der Deutschen Welle erläutert Josef Elnekaveh, Rabbiner in Gush Katif, einem israelischen Siedlungsblock im Gaza-Streifen, diese Haltung, die den Kern der Ideologie der radikalen Siedlerbe-wegung ausmacht: „’Der Heilige, gelobt sei er, hat unserem Vater Abraham dieses Land gegeben. Abraham hatte zwei Söhne, Isaak und Ismael. Isaak hat er das Land gegeben und Ismael nicht’, erklärt der Rabbiner. Ihn habe er gesegnet und darum hätten die Araber Gold und Erdöl, das sei der Segen des Erzvaters Abraham. Aber das Land Israel habe er ihnen nicht gegeben. ‚Der Heilige, gelobt sei er, hat sie mit Erdöl gesegnet und uns hat er das Land Israel gegeben’.“16 Die realen politischen Konsequenzen dieser Haltung für die Politik Israels, die sich mit ad hoc geschaffenen Fakten konfrontiert sieht, und für das Verhältnis zu den Palästinensern offenbaren einmal mehr den de-struktiven Charakter fundamentalistisch motivierter Politik.Exemplarisch verdeutlichen lässt sich dies anhand der Bewegung von Gush Emunim (dt. Block der Gläubigen). Hierbei handelt es sich um einer radikale Gruppe inner-

15 Für eine ausführliche, historisch akzentuierte Einführung vgl. lustick, ian s.: For the Land and The Lord: The Emergence of Jewish Fundamentalism in Historical Perspective. New York 1988.

16 marx, Bettina: Geschichte der israelischen Siedlerbewegung. 01.03.2008, http://www.dw-world.de/dw/ article/0,1491,1682873,00.html.

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halb der israelischen Siedlerbewegung, deren Wurzeln im Sechs-Tage-Krieg liegen und die bis heute massiven Einfluss auf die israelische Besiedlung in den palästinen-sischen Gebieten genommen hat. In den Jahren von 1974 bis 1984, dem Jahrzehnt der Gush Emunim (Gilles Kepel), ist die Bewegung jeder Veräußerung israelischen oder israelisch besetzten Territoriums entgegengetreten. Eine ihrer herausragenden Figuren ist die frühere Generalsekretärin von Gush Emunim, Daniella Weiss, die ge-zielt den Aufbau illegaler Siedlungen unterstützt. Damit stellt sie die Legitimität und die Handlungsfähigkeit des säkularen israelischen Staates in Frage, gegen den sie den biblischen Ausdruck Eretz Yisrael (dt. Land Israel) als Vision eines künftigen heb-räischen Staates mit „ewiger“ Bestandsdauer etabliert. Um dieser entelechetischen Vorstellung zur Durchsetzung in der gegenwärtigen politischen Praxis zu verhelfen, betrieb und betreibt Gush Emunim eine „voluntaristische Politik“, so Gilles Kepel, „indem sie durch die Anlegung illegaler Siedlungen in den besetzten Gebieten kurzer-hand Tatsachen schafft.“17 Die Verbindung von Politik und Religion ist damit auch in diesem Fall hergestellt – und zwar um den Preis der Verunmöglichung einer dis-kursiven Annäherung der Konfliktparteien, verursacht durch die religiös begründete Verabsolutierung der Position eines der beteiligten Akteure.Diese Verabsolutierung der Position der radikalen Siedlerbewegung entfaltete eine eskalierende Dynamik. Nachdem es der Gruppe zu Anfang primär darum gegan-gen war, illegale (aus Sicht des säkularen Staates, wohlgemerkt) Siedlungen zu er-richten, um ihre spezifische, religiös begründete Souveränität über das israelische Territorium auszuüben, gingen Sie, nachdem sie auch in der Knesset aktiv gewor-den waren18, dazu über, terroristische Aktivitäten zu entfalten. Entsprechend dem eigenen entelechetischen Denken wurde die Option des „Gegenterrors“ als Reaktion auf palästinensische Anschläge als Endlösung gedacht, wie Gideon Aran ausgeführt hat. Die Frage „Die oder Wir“ ist damit radikal gestellt, und erinnert in der Form an andere totalitäre Regime: „Die Anführer der Untergrundbewegung glaubten“, so Aran, „dass die Sprengung der ‚Schandflecken’ (des Felsendoms und der Al-Aqsa-Moschee) mehrere hundert Millionen Muslime zum Jihad veranlassen würde, was die ganze Menschheit in die letzte, entscheidende Schlacht zwingen würde (…). Der Sieg Israels am ende dieser sehnlich herbeigewünschten Feuerprobe könnte das Kommen des Mes-sias vorbereiten.“19 Menschliches Sein, so lässt sich diese radikal antipluralistische Endzeithoffnung zusammenfassen, ist also endlösungsfähig, ein für allemal auf eine Position festlegbar – und damit auch ein für allemal erledigt.

17 kepel, gilles: Die Rache Gottes, S. 226.

18 vgl. ebd., S. 229.

19 gideon aran: Jewish Zionist Fundamentalism: The Bloc of the Faithful in Israel (Gush Emunim). Maschinengeschriebenes Manuskript, zitiert nach ebd., S. 234.

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islamischer Fundamentalismus

A propos Jihad – der Islam schließlich ist, trotz seiner mannigfachen Schattierungen und Binnendifferenzierungen, seit dem 11. September 2001 diejenige Weltreligion, die als allererste mit dem Pauschalurteil von Fanatismus, Fundamentalismus und Totalitarismus belegt wird. Schon in Huntingtons Kampf der Kulturen war der Islam und die islamische Welt insofern schlecht weggekommen, als dass hier die größte Anhäufung konfliktueller Beziehungen zu verzeichnen war. Dieses Urteil, das sich in so unerfreulichen Buchtiteln wie „Die neuen Kreuzzüge“ widerspiegelt20, ist auch durchaus zutreffend, allerdings ist es insoweit verzerrt, als dass es nicht mehr oder weniger stark zutrifft wie bei anderen Religionsgruppen auch.Wenn es um die politische Zielsetzung einer in sich sehr heterogenen islamischen Bewegung gegen westliche (europäische und amerikanische) Werte geht, als die der islamische Fundamentalismus bezeichnet werden kann, dann fallen dabei zwei Ziele auf, die dieser Bewegung gemeinsam sind. Dies ist einmal das Streben nach einer Position der Stärke, nach einer dominanten Position gegenüber dem Westen und seinen Repräsentanten und das ist darüber hinaus das Bemühen um die Gründung eines islamischen Gottesstaates auf Grundlage der Scharia. Damit einher geht eine zentrale Prämisse des islamischen Fundamentalismus, nämlich die radikale Ableh-nung, die Feindschaft gegenüber dem Westen. Aus diesen drei Bestandteilen funda-mentalistischen Denkens wird dann ihre Intention rekonstruierbar: „Mit der Revolte gegen den Westen“, so Bassam Tibi, „verfolgen islamische Fundamentalisten das Ziel, als Alternative zu westlichen (heute internationalen) Werten die Führung der Welt auf der Basis islamischer Spielregeln und Normen zu etablieren.“21 Dabei versuchen sich Al Qaeda und Co. nicht etwa an einer Neuschöpfung, sondern sie betreiben, gerade wegen der Selbstwahrnehmung einer tiefgreifenden und langandauernden Krise der arabischen Welt, eine historisch rückwärts gerichtete Rekonstruktion eines zur Blü-tezeit des Islam bereits erreichten Status.Nimmt man die drei genannten Merkmale fundamentalistischer Positionen zusam-men, wie sie typisch für den radikalen Islamismus sind, dann wird auch hier eine Symbiose, wenn nicht sogar eine Überlagerung des Religiösen durch das Politische offenbar. Die Außenwahrnehmung des radikalen Islamismus erkennt in der Welt eine feindliche Realität, die es zu bezwingen gilt. Diese Freund-Feind-Perzeption der Realität geht wesentlich zurück auf die Schriften von Sayyid Qutb, dessen – interes-

20 vgl. kepel, gilles: Die neuen Kreuzzüge. Die arabische Welt und die Zukunft des Wes-tens. München 22004.

21 tibi, Bassam: Die fundamentalistische Herausforderung, S. 83. Weiter heißt es dort: „Darüber hinaus stellen sie den Nationalstaat als eine nicht-islamische und europäische Institution, die ihnen aufgezwungen worden ist, in Frage.“

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santer Weise – marxistisch inspirierten Einlassungen in den sechziger Jahren einen Bruch zwischen dem Islam und sämtlichen anderen Gesellschaften postulierten, zu-mal diese sich in einem Zustand der „Barbarei“ befänden, von dem sich ein wahrer Moslem zu lösen habe. Erst durch diese Loslösung aus dem Chaos sei eine Restitu-tion des „wahren Islam“ wieder möglich.22 Außenbeziehungen jedenfalls sind damit als Feindverhältnisse festgelegt.Die Vernichtung des Feindes vollzieht sich dann auf Grundlage der Motivation, die über eine spezifische Zielvorstellung gesellschaftlichen Seins vermittelt wird. Die programmatische Entelechie des Islamismus ist der Gottesstaat, das Einswerden von Politik und Spiritualität – und damit die Aufhebung von realer Differenz. Anders aus-gedrückt, die handlungsleitende Motivation wird von einer endzeitlichen Ideologie vorgegeben, die für die gegenwärtige Praxis der Akteure einzig die radikale Zerstö-rung der – als Unterdrücker wahrgenommenen – Alterität zulässt. Jedweder Dialog ist aus dieser Perspektive ausgeschlossen, sinnlos, gar schädlich. Im Ergebnis bleibt eine sich gegenseitig forcierende Dynamik von Entelechie und Anti-Pluralismus, die mit der eigentlichen religiösen Praxis des Islam nicht in Deckung zu bringen ist. Im Gegenteil, im radikalen Islamismus manifestiert sich eine politische Ideologie von tendenziell totalitärem Charakter, nicht aber eine Religion.

konsequenzen für die Fundamentalismusanalyse

Fundamentalismus ist der religiös motivierte und legitimierte sowie teleologisch ausgerichtete Eingriff in das Politische – und als solcher ist er, funktional betrachtet, keine Angelegenheit einer spezifischen Gesellschaft. In diesem Sinne ließe sich, be-trachtet man die gemeinsamen Strukturmerkmale fundamentalistischer Politik, von der fortwährenden Renaissance einer fundamentalistischen Internationale sprechen. Insbesondere seine dialektisch angelegte Struktur scheint dabei transkulturell prä-sent zu sein. Sie zerfällt in eine Legitimations- und eine Wirkungssphäre. Die Legiti-mationssphäre umfasst Motive und Gründe, also die spezifisch fundamentalistische Interpretation des Religiösen. Die aus dieser Sphäre abgeleiteten Handlungen greifen dann in die Wirkungssphäre, also in den Bereich, der als genuin politischer, weltlicher beschrieben werden könnte, über und versuchen – als Zielperspektive – die Diffe-renz zwischen beiden Sphären zu nivellieren.All die hier genannten Beispiele demonstrieren eindringlich, dass es sich bei jeder noch so spezifischen Spielart fundamentalistischer Praxis um ein Phänomen han-delt, dass für sich den Schutz pluralistischer Diversität nicht in Anspruch nehmen kann. Fundamentalisten reklamieren für sich eine als absolute Wahrheit begriffene Einsicht in das Sein. Aus dieser unangreifbaren, unbezweifelbaren, aus dieser ideolo-

22 vgl. kepel, gilles: Die Rache Gottes, S. 39 ff.

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gischen Position heraus leiten sie die Gründe für ihr Handeln ab. Eine sich in Form jedweder Intervention manifestierende Opposition gegen ihr Handeln begreifen sie als Verstoß gegen die von ihnen erkannte Wahrheit. Indem sie ihren Standpunkt jeglicher Diskussion entziehen und indem sie alle außenstehenden Akteure, die ihre Position nicht teilen können oder wollen, als bekehrungswürdig, gar als Feind, nicht aber als gleichberechtigten Gesprächspartner begreifen, negieren sie die Legitimität abweichender Meinungen und stellen sie sich damit außerhalb des pluralistischen Diskurses. Der normative wie faktische Referenzrahmen des Fundamentalismus er-streckt sich a priori nicht auch auf den Andersgläubigen und negiert also die Wür-de des Menschen, wie sie zum Beispiel im Grundgesetz (GG) als Richtlinie und als Grenze allen staatlichen Handelns etabliert ist.Keine Analyse fundamentalistisch motivierter politischer Praxis wird umhin kön-nen, die strukturelle wie prinzipielle Austauschbarkeit konkreter fundamentalis-tischer Positionen zu reflektieren. Unabhängig davon, wie differenziert die jeweils herangezogenen religiösen Begründungsmuster auch ausfallen mögen, muss die so-zialwissenschaftliche Analyse des Fundamentalismus auf dessen politisch-praktische Durchsetzungsstrategien und den jeweiligen Umgang mit Gestaltungsmacht fokus-siert bleiben, denn dort zeigen sich die eindeutig totalitären Anlagen23 fundamenta-listischen Denkens und Handelns. „Der geballten Verbindung von Machtentfaltung und Heilsaussicht, von Gewalt und rechtfertigender Ideologie erliegen im 20. Jahrhun-dert viele Menschen.“24 Diese nüchterne Feststellung Hans Maiers gilt wohl auch für das 21. Jahrhundert. Dementsprechend sind Fundamentalismus und Totalitarismus zwei komplementäre Forschungsfelder einer gegenwartsdiagnostischen Politikwis-senschaft.

literatur (auswahl)Friedrich, carl Joachim/Brzezinski, Friedrich: Merkmale der totalitären Diktatur. In: Jesse, Eckhard (Hrsg.): Totalitarismus im 20. Jahrhundert. Eine Bilanz der internationalen For-schung. Bonn 21999, S. 225–236.

henningsen, manfred: Der Aufstand der Fundamentalisten. Die Sehnsucht nach der heilen Welt und die amerikanische Gegenrevolution. In: Merkur (Sonderheft) Jg. 53, Heft 9/10

23 Zieht man zur Beurteilung des totalitären Charakters fundamentalistischer Religionspra-xis die Typologie von Carl J. Friedrich und Zbigniew Brzezinski heran, dann erfüllen fundamentalistische Gruppen im Prinzip die Merkmale der handlungsleitenden Ideo-logie, der Massenpartei sowie des Kontroll- bzw. Terrorsystems, gerichtet gegen die „Feinde des Systems“, auch wenn dies in der jeweiligen Referenzgesellschaft natürlich erst eine Minderheitenposition beschreibt. Vgl. Friedrich, carl Joachim/ Brzezinski, Friedrich: Merkmale der totalitären Diktatur. In: Jesse, Eckhard (Hrsg.): Totalitarismus im 20. Jahrhundert. Eine Bilanz der internationalen Forschung. Bonn 21999, S. 225–236, hier insbesondere S. 230 f.

24 maier, hans: Vorwort. In: Ders. (Hrsg.): Wege in die Gewalt. Die modernen politischen Religionen. Frankfurt/Main 2000, S. 7–9, hier S. 8.

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(1999), S. 901–910.

hochgeschwender, michael: Amerikanische Religion. Evangelikalismus, Pfingstlertum und Fundamentalismus. Leipzig 2007.

kepel, gilles: Die Rache Gottes. Radikale Moslems, Christen und Juden auf dem Vormarsch. München/Zürich 1991.

larsen, max deen: Religiöser Fundamentalismus in den USA. Eine historische Perspektive. In: Six, Clemens/Riesebrodt, Martin/Haas, Siegfried (Hrsg.): Religiöser Fundamentalismus. Vom Kolonialismus zur Globalisierung. Innsbruck u. a. 2004.

leggewie, claus: America First? Der Fall einer konservativen Revolution. Frankfurt (Main) 1997.

lustick, ian s.: For the Land and The Lord: The Emergence of Jewish Fundamentalism in Historical Perspective. New York 1988.

maier, hans: „Totalitarismus“ und „Politische Religionen“. Konzepte des Diktaturvergleichs. In: Jesse, Eckhard (Hrsg.): Totalitarismus im 20. Jahrhundert. Eine Bilanz der internationalen Forschung. Bonn 21999, S. 118–134.

meyer, thomas: Fundamentalismus – Aufstand gegen die Moderne. Hamburg 1989.

national academy of science/ institute of medicine (hg.): Science, Evolution and Creatio-nism. Washington 2008.

tibi, Bassam: Die fundamentalistische Herausforderung. Der Islam und die Weltpolitik. München 32002.

voegelin, Eric: Die politischen Religionen. Herausgegeben und mit einem Nachwort verse-hen von Peter J. Optitz. München 1996.

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Wer Willy Brandt beschimpft, wird innerhalb der Gewerkschaften vermutlich auch im 21. Jahrhundert noch an die Solidarität innerhalb der Arbeiterbewegung erin-nert. Wer Gerhard Schröder hingegen anlässlich einer Maikundgebung als „asozialen Desperado“ bezeichnen wollte, war während der Diskussion um die Agenda 2010 salonfähig.1 Dabei stehen die Gewerkschaften vor ganz ähnlichen sozial- und wirtschaftspoliti-schen Herausforderungen wie die Sozialdemokratie, wobei der DGB vor allem die Verbetrieblichung der Arbeitsbeziehungen, den Arbeitsmarkt- und Beschäftigungs-wandel, den soziokulturellen Wandel der Gesellschaft und den Wandel seines regu-lativen Umfeldes als Beeinträchtigung seiner traditionellen Aktionsfähigkeit erfährt.2 Und obgleich sich die deutsche Gewerkschaftsbewegung seit 1945 als Einheits- und nicht als Richtungsgewerkschaft versteht, stand sie in personeller Hinsicht – man

1 schröder, gerhard: Entscheidungen. Mein Leben in der Politik. Hamburg 2006, S. 399.

2 schroeder, wolfgang/wessels, Bernhard: Das deutsche Gewerkschaftsmodell im Trans-formationsprozess: Die neue deutsche Gewerkschaftslandschaft. In: Dies. (Hrsg.): Die Gewerkschaften in Politik und Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland. Wiesbaden 2003, S. 31.

Innenpolitik

wider die krisenrhetorik

Der gewerkschaftliche Sozialstaatsdiskurs vor der Agenda 2010

Sebastian Nawrat

Westfälische Wilhelms-Universität, Münster E-Mail: [email protected]

schlüsselwörterGewerkschaften, Sozialstaat, Agenda 2010

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denke nur an Georg Leber, Walter Riester oder auch Ursula Engelen-Kefer – der SPD besonders nahe. Fast parallel reformierten SPD und DGB in der Adenauer-Zeit ihre Grundsatzprogramme. Der fundamentale Wandel ihres politischen Denkens, den SPD und Gewerkschaften unter transnationalen Einflüssen aus den USA zwischen den vierziger bis zur Mitte der sechziger Jahre erlebten, schlug sich so im Godesber-ger (1959) bzw. im Düsseldorfer Programm (1963) nieder.3 Die Gewerkschaften ver-standen sich fortan als Interessenvertretung der Arbeitnehmerschaft innerhalb der marktwirtschaftlichen Ordnung und nicht mehr als antikapitalistische Gegenmacht.4 Sozialdemokratie und Gewerkschaften erlebten über die Globalsteuerung die prak-tische Realisierbarkeit ihrer auf dem „sonnigen Plateau der Prosperität“ beruhenden optimistisch-technokratischen Reformpolitik.5 Das Kerngeschäft der Gewerkschaf-ten, ihre Tarifpolitik, wurde durch einen massiven Ausbau des Sozialstaates und des Arbeitsrechtes komplementiert, sodass die Periode der sechziger und siebziger Jah-re von der zeithistorischen Forschung sogar als die „letzte Euphorie der Moderne“ klassifiziert wurde.6 Da sich die Gewerkschaften als SPD – nahe Großorganisation mitten im Aktionsfeld sozialpolitischer Debatten befanden, soll hier der Überlegung nachgegangen werden, ob im DGB-Organ Gewerkschaftliche Monatshefte ähnliche Paradigmenwechsel im Sozialstaatsdiskurs nachvollziehbar sind wie innerhalb der Sozialdemokratie.7 Die Gewerkschaftlichen Monatshefte erscheinen als geeignete Quellenbasis, weil sie nicht nur ein Diskussionsorgan sein sollten, „in dem Gewerk-schafter und Vertreter der Wissenschaft, Vertreter unseres Sozialpartners wie des öffent-lichen Lebens überhaupt Gelegenheit haben, in eingehender Diskussion zur Lösung der vor uns liegenden Wirtschafts- und Sozialprobleme beizutragen“, sondern gleichzeitig auch für alle aktiven Gewerkschaftsmitglieder ein Rüstzeug bereitstellen sollten, „das sie befähigt, nicht nur den eigenen Kampf in der Praxis zu bestehen, sondern auch die großen Linien unserer Zielsetzung deutlich zu erkennen“.8 Kurzum: Welche sozialpolitischen Diskussionen wurden in den Gewerkschaftlichen

3 angster, Julia: Konsenskapitalismus und Sozialdemokratie. Die Westernisierung von SPD und DGB. München 2003, S. 11.

4 schmidt, Eberhard: Ordnungsfaktor oder Gegenmacht. Die politische Rolle der Gewerk-schaften. Frankfurt 1971, S. 11.

5 lütjen, torben: Karl Schiller (1911–1994). „Superminister“ Willy Brandts. Bonn 2007, S. 280.

6 nolte, Paul: Riskante Moderne. Die Deutschen und der neue Kapitalismus. München 2006, S. 29.

7 vgl. nawrat, sebastian: Heimliches Godesberg. Die Vorbereitung der Agenda 2010 in der Opposition. In: Lemke, Matthias/Hermeier, Philipp (Hrsg.): Soziale Gerechtigkeit? (Diskurs. Politikwissenschaftliche und geschichtsphilosophische Interventionen, 2:2). Göttingen 2006, S. 66-77.

8 Böckler, hans: Geleitwort. In: GMH 1:1 (1950), S. 2.

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Monatsheften seit 1982 geführt? Wie positionierten sich Akteure des gewerkschafts-nahen Milieus, Funktionäre wie Wissenschaftler, gegenüber zentralen Politikinhal-ten der Agenda 2010? Und schließlich: Was kann die SPD von den Gewerkschaften gegebenenfalls bei der Vermittlung von programmatischen Wandel lernen?

die kontrollierte deregulierung in der tarif- und Betriebspolitik

In den achtziger Jahren vertraten die deutschen Gewerkschaften das Modell einer Wirtschaftsdemokratie. Sie formulierten damit den Anspruch, die Sozial- und Wirt-schaftspolitik auch über die betriebliche und überbetriebliche Tarifpolitik hinaus mitzugestalten. Gesamtwirtschaftliche Mitbestimmung über Wirtschafts- und Sozi-alräte könne, so ambitioniert trug es Ernst Breit vor, die Wiederherstellung von Voll-beschäftigung organisieren.9 Die Ausweitung der Mitbestimmung und die Garantie der Streikfähigkeit wurden insbesondere durch SPD-Politiker thematisiert.10 Vice versa forderten die Gewerkschaften ein stärkeres Engagement der Bundesregierung in der transferorientierten Sozialpolitik auch über das Ende der sozialliberalen Ko-alition hinaus. Vor dem Hintergrund des Gedankens einer Arbeitseilung des politi-schen und des betrieblichen Zweiges der Arbeiterbewegung könnte sogar von einer Symbiose aus SPD und Gewerkschaften gesprochen werden. Das gewerkschaftliche Aktionsfeld der Tarif- und Betriebspolitik war durch gegen-läufige Trends gekennzeichnet. In dem Maße, in dem sich der Einfluss der Gewerk-schaften auf die Wirtschaftspolitik seit dem Bruch der sozialliberalen Koalition ver-ringerte, konzentrierten sie sich wieder stärker auf den Bereich der Tarifpolitik.11 Demgegenüber verringerten sich die Bedingungen und Spielräume tarifpolitischen Handels seit Mitte der siebziger Jahre deutlich. Gleichwohl überrascht es nicht, dass die Tarifpolitik als Kerngeschäft der Gewerkschaften einen überaus breiten Stellen-wert in der sozialpolitischen Diskussion in den Gewerkschaftlichen Monatsheften einnahm. Lediglich die arbeitsmarktpolitischen Vorschläge des flexicurity – Modells wurden überraschender Weise in den GMH nicht umfassend reflektiert.12 Im Fokus

9 Breit, Ernst: Mitbestimmungsinitiative: Abbau der Arbeitslosigkeit – Demokratisierung der Wirtschaft. In: GMH 33:10 (1982), S. 601.

10 historische kommission beim sPd-Parteivorstand: Wir teilen die Sorge um den sozi-alen Gehalt unseres Rechtsstaates. In: GMH 37:2 (1986), S. 125; vogel, hans-Jochen: Politik für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer bleibt unser Ziel. In: GMH 37:12 (1986), S. 722; matthöfer, hans: Der Kapitalismus ist nicht die höchste Form der menschlichen Entwicklung. In: GMH 46:11 (1995), S. 689.

11 schneider, michael: Kleine Geschichte der Gewerkschaften. Bonn 2000, S. 387.

12 Dazu näheres bei klammer, ute: Flexicurity: Soziale Sicherung und Flexibilisierung der Arbeits- und Lebensverhältnisse. Forschungsprojekt im Auftrag des Ministeriums für Arbeit und Soziales, Qualifikation und Technologie des Landes Nordrhein-Westfalen. Düsseldorf 2001.

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des Interesses standen vielmehr die Verkürzung der Arbeitszeit, die Zukunft der Flä-chentarifverträge sowie die Herausforderung einer Flexibilisierung der klassischen Erwerbsarbeitsverhältnisse, die von Arbeitgebern gefordert und von Arbeitnehmern teilweise auch gewünscht wurde. Die Flexibilisierung und die Deregulierung des Ar-beitsrechtes wurden sowohl von den Funktionären als auch vom gewerkschaftsnahen Wissenschaftsmilieu abgelehnt. Vehement wandte man sich gegen die rein betriebs-wirtschaftlich orientierte Flexibilisierung der Arbeitsmärkte und stellte die neoklas-sische Theorie, wonach Arbeitsmärkte analog zu Gütermärkten zu betrachten sei-en, in Frage.13 In den Flexibilisierungsformen der Arbeitszeit, wie z.B. der Teilzeit-, Leih- oder Zeitarbeit sah man nicht nur eine Bedrohung für die Vollzeitarbeitsplätze, sondern auch Gefahren für die sozialen Sicherheiten und die praktizierten Formen der Mitbestimmung im Betrieb.14 Eine Folge bestand in dem Perspektivwechsel von einer quantitativen zu einer qualitativen Tarifpolitik, was vorwiegend unter dem Schlagwort der Humanisierung des Arbeitslebens diskutiert wurde.Der arbeitsmarktpolitische Königsweg zum Abbau der Arbeitslosigkeit bestand in den achtziger und neunziger Jahren für die Gewerkschaften in der Verkürzung der Arbeitszeit. Sowohl die Funktionsträger, als auch die gewerkschaftsnahe Wissenschaft und Politik plädierten für die Umverteilung des bestehenden Arbeitsvolumens.15 Be-gründet wurde dies vornehmlich mit beschäftigungspolitischen Effekten, aber auch mit gesellschaftlich-kultureller Teilhabe der Arbeitnehmerschaft. Zudem wurde auf die erhoffte Kaufkraftstärkung, den Qualifizierungsschub sowie insbesondere auf die Wünsche der Arbeitnehmerinnen rekurriert.16 Auf die konkrete Ausgestaltung die-ser politischen Kernforderung wurde in den Beiträgen zunächst kaum eingegangen. Einerseits verließ sich das Gewerkschaftsmilieu auf die Produktivitätsfortschritte, die eine Finanzierung der Arbeitszeitverkürzung mit vollem Lohnausgleich möglich

13 lang, klaus: Aspekte der Arbeitszeitverkürzung und der Flexibilisierung der Arbeit. In: GMH 37:10 (1986), S. 602; hickel, rudolf: Deregulierung der Arbeitsmärkte: Grundla-gen, Wirkungen und Kritik. In: GMH 40:2 (1989), S. 89.

14 Engelen-kefer, ursula: Beschäftigungspolitik ohne Alternative. Lehren aus den Spar-maßnahmen zur Sanierung des Bundeshaushalts 1982. In: GMH 33:2 (1982), S. 81.

15 vgl. zum Beispiel vetter, heinz oskar: Am Ende einer Amtszeit: Aussichten. In: GMH 33:5 (1982), S. 260; Scharpf, Fritz W.: Verkürzung der Wochenarbeitszeit. Nur der Staat kann den beschäftigungspolitischen Handlungsspielraum erweitern. In: GMH 35:6 (1984), S. 356; Breit, Ernst: Arbeitszeitverkürzung – Der entscheidende Schritt voran muß gelingen. In: GMH 35:2 (1984), S. 76; Brusis, ilse: Annäherungen an die Zukunft. In: GMH 40:4 (1989), S. 196; Zwickel, klaus: Zukunft gestalten – Arbeitszeitverkürzung jetzt. In: GMH 48:7 (1997), S. 388; Peters, Jürgen: Zum Dialog fähig, zum Konflikt in der Lage. In: GMH 54:10–11 (2003), S. 588.

16 loderer, Eugen: Für eine arbeitsorientierte Wirtschaftspolitik 33:1 (1982), S. 17; demele, ottwald: Schlachten wir die Kuh, die wir melken wollen? In: GMH 35:2 (1984) S. 94; schäfer, claus: Dumm und töricht sind nur die Argumente gegen Arbeitszeitverkürzung. In: GMH 45:2 (1994), S. 105.

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erschienen ließen,17 andererseits sprach man sich für branchenspezifische und den individuellen Bedürfnissen angepasste Regelungen aus.18 Mit einigem Recht kann davon gesprochen werden, dass die Lafontaine-Debatte (1988) die neuralgischen Punkte der Arbeitszeitverkürzung in den achtziger Jahren zu Tage förderte. „Solidarität innerhalb einer Klasse, das sei jenen gesagt, die gern die alten Bonbons lutschen, ist ein traditionelles Ziel von Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung“.19 Mit diesen Worten reagierte Oskar Lafontaine auf die heftige Kritik der Gewerkschaf-ten an seinem Vorschlag, Arbeitszeitverkürzungen ohne generellen vollen Lohnaus-gleich zu realisieren. Im Vorfeld wurde ein Interview mit dem damaligen saarlän-dischen Ministerpräsidenten zu einem Eklat, weil er darin – nahezu zeitgleich mit den tarifpolitischen Auseinandersetzungen im öffentlichen Dienst – erklärte: „Wenn beispielsweise die Lehrer einverstanden wären, etwas weniger Stunden zu arbeiten und damit auch etwas weniger Einkommen zu haben, wäre es kein Problem, die Lehrerar-beitslosigkeit zu beseitigen. Das können sie ebenso für ungezählte andere Berufsgrup-pen durchrechnen.“20 Zudem zielte Lafontaine auf eine Neudefinition des Arbeits-begriffes ab. Im Hinblick auf die Flexibilisierung der Arbeitszeiten wies Lafontaine auf den Zusammenhang von Arbeitszeitverkürzung, längeren Maschinenlaufzeiten und der Ausweitung der Sonn- und Feiertagsarbeit hin und sprach sich für „prag-matische Phantasie“ bei der Arbeitszeitflexibilisierung aus.21 Der stellvertretende SPD-Bundesvorsitzende machte mit diesen Äußerungen die Gewerkschaften für die hohe Arbeitslosigkeit mitverantwortlich, da die Arbeitszeitpolitik eine Aufgabe der Tarifvertragsparteien darstellt.22 Die Vorschläge Lafontaines gingen auf den Denk-ansatz „Sozialismus in einer Klasse“ von Fritz Scharpf zurück, der auch in den GMH als Ausweg aus der blockierten Globalsteuerung zur Diskussion gestellt wurde.23 Die Kritik an den Vorschlägen Lafontaines kumulierte in der Aussage eines interviewten

17 lang, klaus: Aspekt der Arbeitszeitverkürzung und der Flexibilisierung der Arbeit. In: GMH 37:10 (1986), S. 595; Breit, Ernst: Arbeitszeitverkürzung – Der entscheidende Schritt voran muß gelingen. In: GMH 35:2 (1984), S. 69.

18 vetter, heinz oskar: Am Ende einer Amtszeit: Aussichten. In: GMH 33:5 (1982), S. 260; vobruba, georg: Gewerkschaftsöffnung. Plädoyer für eine Erweiterung gesellschaftspoli-tischer Aufmerksamkeit. In: GMH 34:3 (1983), S. 172.

19 lafontaine, oskar: Der contrat social muß neu gestaltet werden. In: GMH 39:5 (1988), S. 306.

20 lafontaine, oskar: Nähe zur FDP entdeckt. In: Wirtschaftswoche Nr. 7 vom 12.2.1988, S. 31.

21 vorstand der sPd (hrsg.): Protokoll SPD-Parteitag 1988. Bonn 1998, S. 169.

22 gohr, antonia: Eine Sozialstaatspartei in der Opposition. Die Sozialpolitik der SPD in den 80er Jahren. In: Schmidt, Manfred G. (Hrsg.): Wohlfahrtsstaatliche Politik. Institutionen, Prozess, Leistungsprofil. Opladen 2001, S. 271.

23 scharpf, Fritz w.: Weltweite, nationale oder nationale Optionen der Vollbeschäftigungs-politik. In: GMH 39:1 (1988), S. 25.

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DGB-Funktionärs, dass dies keine gewerkschaftliche Position beschreiben könne.24 Die Gewerkschaften gaben ihre ablehnende Haltung gegenüber flexiblen Arbeitszeit-regelungen dennoch mit der Zeit auf. So bewies in den neunziger Jahren das viel zitierte Beispiel VW, dass die Gewerkschaften auch zu Arbeitszeitverkürzungen ohne vollen Lohnausgleich bereit waren. Helmut Martens wies darauf hin, dass die Ge-werkschaften hier praktisch demonstrierten, dass Solidarität und Teilen zusammen gehören und die Tabus der Lafontaine-Debatte gebrochen wurden.25 Die Probleme der Steuer- und Abgabenlast der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer rückten (neben dem Kostendruck des Arbeitgebers) stärker in das Blickfeld des gewerkschaftlichen Diskurses zur Verkürzung der Arbeitszeit.26 Die Regelungen bei VW waren überdies ein sehr prominentes Beispiel für die wachsende Offenheit der Gewerkschaften für betriebliche Regelungen, die von branchenweiten Flächentarifverträgen abwichen. Sowohl in der Chemieindustrie als auch im Baugewerbe ermöglichten Öffnungsklau-seln seit Mitte der neunziger Jahre die Flexibilisierung der Arbeitszeiten und Löhne, wobei in der Bauwirtschaft sogar die Senkung des Mindestlohnes vereinbart wurde.27 Gleichwohl wehrten sich die Gewerkschaften in der öffentlichen Kommunikation gegen Öffnungsklauseln. Auf der Seite der Funktionäre beklagte man in den neun-ziger Jahren offen, dass das Verständnis für kollektive Regelungen mehr und mehr abzunehmen drohe und eine Erosion der Flächentarifverträge bevorstehe.28 Biswei-len gab man aber Erneuerungsbedarf beim Flächentarifvertrag zu und plädierte für die Öffnung des Tarifvertrages für betriebliche Gestaltungsoptionen, weil die Rah-men- und Manteltarifverträge „ein Bild von Industriearbeit spiegeln, das den 1950er und 1960er Jahren entspricht“.29 Ebenso im gewerkschaftsnahen wissenschaftlichen Diskurs lässt sich ein spürbarer Wandel nachvollziehen. Wolfgang Streeck unter-strich die Universalität des Flächentarifs im großen Industrieland Deutschland und mahnte, dass die Gewerkschaften ihre Rhetorik mit ihrer tatsächlichen betrieblichen

24 stitz, hans-Jürgen: Tendenz zur Resignation – Gespräch über „Gerechtigkeit“ und über den Vorschlag Oskar Lafontaines. In: GMH 39:4 (1988), S. 227. Umfassender siehe hof-schen, heinz-gerd (hrsg.): Lafontaine, SPD und Gewerkschaften. Die Wirtschaftspolitik-Debatte. Köln 1989.

25 martens, helmut: Gesellschaftlicher Umbruch und gewerkschaftliche Reform. In: GMH 45:2 (1994), S. 84.

26 schartau, harald: Brauchen die Gewerkschaften die SPD (noch)? In: GMH 48:5 (1997), S. 288.

27 schneider, michael: Kleine Geschichte der Gewerkschaften. Bonn 2000, S. 453.

28 Zwickel, klaus: Verteilungskonflikte und Gestaltungsanspruch – tarifpolitische Pers-pektiven für die neunziger Jahre. In: GMH 43:10 (1992), S. 660; nagel, Bernhard: Wie effizient sind Tarifvertrag und Mitbestimmung? In: GMH 47:2 (1996), S. 110.

29 riester, walter: Tarifpolitik im Umbruch. In: GMH 45:3 (1994), S. 151–154.

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Praxis in Übereinstimmung bringen sollten.30 Auch der DGB-Vorsitzende Schulte votierte für ein neues Verhältnis von Flächentarifverträgen und der betrieblichen Umsetzung. Die Flächentarifverträge müssten den differenzierten Bedürfnissen der Beschäftigten sowie den unterschiedlichen Bedingungen der Branchen, Unterneh-men und Regionen Rechnung tragen.31 Es schien in den neunziger Jahren so zu sein, dass die Gewerkschaften die Vielfalt an tariflichen Öffnungsklauseln ebenso im Stil-len mitgestalteten und gleichzeitig nie offensiv vertraten, was sie bei der Flexibilisie-rungs- und Teilzeitdebatte in den achtziger Jahren auch schon getan hatten.32 Wäh-rend Neumann als Vertreter des wissenschaftlichen Gewerkschaftsdiskurses für eine generelle Öffnungsklausel für alle Tarifverträge optierte und forderte, zunehmend Verantwortlichkeiten auf die einzelnen Belegschaften zu verlagern,33 warnte Ursula Engelen-Kefer vor einem ruinösen Wettbewerb um die Arbeitsbedingungen, in den Unternehmen ohne branchenweite Tarifverträge gezogen würden.34 Auch die Mitbestimmungsforderung rückte im Verlauf nach der Wiedervereinigung immer stärker in den Hintergrund, da andere soziale und wirtschaftliche Probleme in den Mittelpunkt gewerkschaftlicher Politik drängten.35 Das Mitbestimmungsgut-achten, das von der Hans-Böckler-Stiftung in Zusammenarbeit mit der Bertelsmann-Stiftung (!) erarbeitet wurde, wurde in einem Beitrag heftig kritisiert, da Mitbestim-mung zum einzelwirtschaftlichen Standortvorteil degradiert werde und insgesamt auf gewerkschaftliche Zugeständnisse bei der Flexibilisierung von Löhnen und Ar-beitsbedingungen abziele.36

„In unseren ureigenen Handlungsfeldern stoßen wir an Grenzen und darum müssen wir uns auch in die gesellschaftlichen und politischen Auseinandersetzungen einmischen“.37 Mit diesen Worten umriss Dieter Schulte das Handlungsumfeld gewerkschaftlicher Arbeit in der rot-grünen Regierungszeit. Aus Sicht der Gewerkschaften spitzen sich

30 streeck, wolfgang: Anmerkungen zum Flächentarif und seiner Krise. In: GMH 47:2 (1996), S. 87.

31 schulte, dieter: Arbeit und soziale Gerechtigkeit an der Schwelle zum 21. Jahrhundert. In: GMH 48:8 (1997), S. 454.

32 streeck, wolfgang: Das Zukunftsmodell – der Flächentarifvertrag. In: GMH 49:1 (1998), S. 12.

33 neumann, manfred: Keine Neuauflage der keynesianischen Botschaft. In: GMH 50:2 (1999), S. 82.

34 Engelen-kefer, ursula: Betriebsverfassung – Rentenreform – Gesundheitspolitik. Vor-schläge des DGB. In: GMH 51:10 (2000), S. 549.

35 schneider, michael: Kleine Geschichte der Gewerkschaften. Bonn 2000, S. 476.

36 deppe, Frank/wendl, michael: Von der Wirtschaftsdemokratie zur Standortpflege. Zur Kritik des Mitbestimmungsgutachtens. In: GMH 50:3 (1999), S. 151–155.

37 schulte, dieter: Deine Stimme für Arbeit und soziale Gerechtigkeit. In: GMH 49:3 (1998), S. 132.

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die Auseinandersetzungen im Sommer 2003 erheblich zu. Auf dem ureigensten Ge-biet der Tarifpolitik erlebten die Gewerkschaften einen beispiellosen Einbruch, als im Juni 2003 der Streik um kürzere Arbeitszeiten in der ostdeutschen Metall- und Elekt-roindustrie mit einer Niederlage der IG Metall endete. Zwar sah Jürgen Peters die IG-Metall als ihr seit 2003 amtierender Vorsitzender auch nach dem verlorenen Streik als „tarifpolitische Lokomotive“,38 jedoch musste dem DGB die prekäre Defensivsituation seiner arbeitsmarktpolitischen Konzeption voll bewusst gewesen sein. Sowohl der wissenschaftliche Diskurs als auch die sich äußernden Funktionäre konzentrieren sich auf das Eingeständnis der eigenen Schwäche in der Betriebs- und Tarifpolitik. Die Tarifpolitik sei generell „überfordert“ und die neue Flexibilität müsse über Um-verteilung mittels Transfers gestaltet werden.39 Die Arbeitszeitverkürzungskonzepte wurden zunehmend in Frage gestellt, indem festgestellt wurde, dass das Beharren auf linearer Arbeitszeitverkürzung zu einem Einbruch im Kerngeschäft geführt habe40 und Michael Sommer bilanzierte, dass mit Arbeitsmarktpolitik, der Umverteilung des vorhandenen Arbeitsvolumens und der Reform der Arbeitsverwaltung allein die Verminderung der Arbeitslosigkeit nicht zu erreichen sei.41 Lediglich die IG-Metall Vertreter hielten in den GMH an der Forderung nach genereller Arbeitszeitverkür-zung fest.42 Es darf geschlussfolgert werden, dass die arbeitsmarktpolitische Position der Gewerkschaften als überwiegend defensiv eingestuft werden kann und immer größere Deregulierungen mitgetragen wurden, wobei die betriebs- und tarifpoliti-sche Schwäche durchaus zugegeben wurde. Die Hoffnungen richteten sich stärker als in der Vergangenheit auf einen parteipolitischen Akteur, welcher die eigene Schwä-che mit Hilfe staatlicher Transferleistungen kompensieren sollte.

die rhetorik der Besitzstandswahrung in der sozialen sicherung

Die sozialpolitischen Funktionen der Gewerkschaften in der Bundesrepublik sind im internationalen Vergleich relativ vielfältig. Über die appellative Funktion beteili-gen sich die Gewerkschaften am Gesetzgebungsprozess und stellen sozialpolitische Forderungen an die Regierung. Die kooperative Funktion nehmen die Gewerkschaf-

38 Peters, Jürgen: Zum Dialog fähig, zum Konflikt in der Lage. In: GMH 54:10–11 (2003), S. 589.

39 karch, heribert/schroeder, wolfgang: Optionen der Arbeitszeitpolitik zwischen den Zeiten. In: GMH 52:1 (2001), S. 330–331.

40 mückenberger, ulrich: Reform an Haupt und Gliedern! In: GMH 54:10–11 (2003), S. 650.

41 sommer, michael: DGB: Stimme für Arbeit und soziale Gerechtigkeit. In: GMH 55:1 (2004), S. 3.

42 Zwickel, klaus: Zukunftsperspektiven der IG Metall. In: GMH 50:9 (1999), S. 515; Peters, Jürgen: Zum Dialog fähig, zum Konflikt in der Lage. In: GMH 54:10–11 (2003), S. 588.

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ten in der Selbstverwaltung im System der Sozialversicherung wahr. Über tarifliche Zusatzsysteme (z. B. Versorgungswerk MetallRente) verfügen sie auch über eigen-ständige Organisationen sozialer Sicherung. Darüber hinaus – und darum geht es im Folgenden vorwiegend – besteht ihre legitimatorische Funktion darin, über die Formulierung sozialpolitischer Leitbilder eine programmatische Positionierung vor-zunehmen.43 Die Funktionäre des DGB sprachen sich in den achtziger Jahren für den Erhalt und den partiellen Ausbau der sozialen Sicherung aus.44 Im Zentrum des Interesses stan-den monetäre Transfers an Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Bereits die so genannte Operation ’82 der sozialliberalen Koalition wurde abgelehnt, da sie dem Sozialstaatsgebot des Grundgesetzes widerspräche.45 Adamy kritisierte später die Zurückdrängung solidarischer Sicherungsaspekte und warf 1986 der christlich-libe-ralen Koalition vor, sich auf Kosten der Beitragszahler zu entlasten.46 Dringenden Handlungsbedarf zur Ausweitung der staatlichen Leistungen sah man in der Fami-lienpolitik, da Betreuungsangebote fehlen würden und das Kindergeld zu niedrig sei.47 Im Rahmen der Deutschen Einheit zeigten die Gewerkschafter eine hohe Responsi-vität für sozialpolitische Fragen, denn schon zu Beginn der neunziger Jahre sah Ger-hard Bäcker eine Renaissance von Verteilungsfragen in der Sozialpolitik anstehen, den seiner Meinung nach „harten Themen“.48 Die bestimmende sozialpolitische Linie der Gewerkschafter bestand in einer Doppelstrategie, die aus ihrer institutionellen Verankerung in den Sozialversicherungsgremien heraus zu erklären ist. Einerseits übte man moderate Kritik an der „sozialen Schlagseite“ und den „Gerechtigkeitslü-cken“ bei der Gestaltung der Deutschen Einheit und betonte, dass Deutschland un-ter seinen ökonomischen Möglichkeiten lebe.49 Andererseits versuchte der DGB in den neunziger Jahren stets, die Sozialpolitik mitzugestalten. Dieter Schulte verwies

43 döring, diether/koch, thomas: Gewerkschaften und soziale Sicherung. In: Schroeder, Wolfgang/Wessels, Bernhard (Hrsg.): Die Gewerkschaften in Politik und Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland. Wiesbaden 2003, S. 380.

44 Bäcker, gerhard/Bispinck, reinhard: Der Angriff auf den Sozialstaat. Düsseldorf 1985, S. 24.

45 kittner, michael: Sozialstaat und Krise. In: GMH 33:5 (1982), S. 308.

46 adamy, wilhelm: Vom Abbau zum Umbau des Sozialstaates. Bilanz konservativer Sozial-politik. In: GMH 37:11 (1986), S. 666.

47 Blättel, Irmgard: Gewerkschaftliche Aspekte der Familienpolitik. In: GMH 38:4 (1987), S. 197–198.

48 Bäcker, gerhard: Neue soziale Fragen im wiedervereinigten Deutschland. In: GMH 42:9 (1991), S. 590.

49 steinkühler, Franz: Soziale Einheit und gewerkschaftliche Zukunftsgestaltung. In: GMH 43:10 (1992), S. 582.

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so auf die Zustimmung des DGB zur ersten Stufe der Gesundheitsreform, zur neu eingeführten Pflegeversicherung und zur Ablösung der Frühverrentung.50 Die De-mographie als alarmierendes Argument trat erstmals 1993 auf, wenngleich Erich Standfest die Herausforderung mit dem Rentenreformgesetz 1992, der steigenden Produktivität, einer erhöhten Einwanderung, einer erhöhten Erwerbsbeteiligung und über ein entschlossenes Handeln der Politik für kompensierbar hielt.51 Der gewerk-schaftsnahe, wissenschaftliche Diskurs thematisierte die Demographie schon in den achtziger Jahren, jedoch war man sich einig, dass eine Dramatisierung der Situation nicht gerechtfertigt sei. Vielmehr wurde sogar davor gewarnt, die demographischen Probleme auf die Gegenwart zu verorten. Zwar erkannte man die Problematik von Anspruchskumulationen, aber die Finanzierung der Rentenversicherung sollte über einen erhöhten Bundeszuschuss, eine Verbreiterung der Beitragsbemessungsgrund-lage und verkraftbare Beitragserhöhungen sichergestellt werden.52 So lassen sich die Positionen in der Rentenpolitik unter dem Rubrum einer relativ traditionellen Hal-tung verstehen, denn auch in den neunziger Jahren wurde der demographische Wan-del nicht als bedrohlich empfunden.53 Nur ansatzweise wurde die auf Erwerbsarbeit zugeschnittene Sozialpolitik der Ge-werkschaften kritisch erörtert. Badura plädierte für verstärkte Prävention und Selbsthilfe54 und Vobruba rügte den DGB für seine ablehnende Haltung gegen-über Grundsicherungsmodellen.55 Das Problembewusstsein gegenüber finanziellen Handlungsrestriktionen artikulierte der gewerkschaftsnahe Wissenschaftsdiskurs ausgeprägter als die Funktionäre. So hielten Mitarbeiter des WSI „Umschichtungen innerhalb der Sozialausgaben“ für unausweichlich, ohne diese jedoch näher zu kon-kretisieren. Lediglich Vertreter der SPD votierten neben einem höheren Bundeszu-schuss für eine neue „demographiefeste Rentenformel“56 und warnten vor weiteren

50 schulte, dieter: Deine Stimme für Arbeit und soziale Gerechtigkeit. In: GMH 49:3 (1998), S. 130.

51 standfest, Erich: Sozialpolitik im Fadenkreuz. In: GMH 44:10 (1993), S. 605.

52 krupp, hans-Jürgen: Sichere Renten sind auch auf lange Sicht möglich. In: GMH 36:6 (1985), S. 355; Bäcker, gerhard: Sozialstaat in der Bewährung. In: GMH 43:7 (1992), S. 412; döring, diether: Acht Anmerkungen zum Rentenproblem. In: GMH 48:11 (1997), S. 598.

53 heinze, rolf g./schmid, Josef/strünck, christoph: Vom Wohlfahrtsstaat zum Wettbe-werbsstaat. Opladen 1999, S. 67.

54 Badura, Bernhard: Gesundheitspolitik. Probleme und Reformperspektiven. In: GMH 36:6 (1985), S. 343.

55 vobruba, georg: Warum haben die Gewerkschaften Schwierigkeiten mit dem Thema Grundsicherung. In: GMH 40:11 (1989), S. 707.

56 Vogel, Hans-Jochen: Politik für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer bleibt unser Ziel. In: GMH 37:12 (1986), S. 724.

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Leistungsausweitungen, vor „passiv machenden Strategien“ durch monetäre Transfers sowie vor der „Unfähigkeit, unpopuläre Entscheidungen zu treffen“.57 Die diskursive Ausgangsbasis beim Wahlsieg der SPD 1998 kann wie folgt zusam-mengefasst werden. Weder wurde im gewerkschaftlichen Milieu ein dringender Handlungsbedarf hinsichtlich der Kostensteigerungen in der sozialen Sicherung aus-gemacht, noch lässt der untersuchte Quellenkorpus den Schluss zu, die GMH hätten einen Paradigmenwechsel zu einem vorsorgenden Sozialstaat argumentativ angesto-ßen, begleitet oder sogar vorbereitet. Zwar fand der sozialpolitische Diskurs im Jahre 1999 eine kurze Offenheit für neue Ansätze. Klaus Zwickel bemängelte, dass Förde-rung und Aktivierung gegenüber Transferleistungen zu kurz kämen und plädierte für ein neues Verhältnis von solidarischer Sicherung und sozialer Eigenverantwor-tung. Als Beispiel nannte er die Rentenpolitik, für die er persönliche Vorsorge und eine starke betriebliche Säule empfahl, um Rentenkürzungen zu vermeiden.58 Auch im wissenschaftlichen Bereich wurden die Wichtigkeit aktiver Maßnahmen und vor-ausschauender Qualifizierung gegenüber passiver Alimentierung betont.59 Evers und Leggewie argumentierten hierbei mit dem notwendigen neuen Wohlfahrtsmix im Wohlfahrtspluralismus und bezogen sich explizit auf das Diktum vom „ermuntern-den Staat“, das sich in Gerhard Schröders erster Regierungserklärung findet, und er-innerten an die Forderung der Gewerkschaften, Jugendlichen, welche die Teilnahme an dem Jump-Programm der Bundesregierung verweigerten, die Sozialleistungen zu streichen.60 Jedoch währte diese Diskussion nicht lange. Seit dem Jahre 2000 finden sich in den GMH nur noch Beiträge von Funktionären und gewerkschaftsfreundli-chen Wissenschaftlern, welche die sozial- und wirtschaftspolitischen Maßnahmen der Regierung Schröder ablehnen. Die Absenkung des Rentenniveaus auf unter 60 Prozent durch den Nachhaltigkeitsfaktor, den vollen Beitrag zur Pflegeversicherung für die Rentenempfänger und die nachgelagerte Besteuerung der Renten kritisier-te zum Beispiel Ursula Engelen-Kefer gewohnt deutlich, da dadurch das Rentenni-veau stärker abgesenkt werde als bei der Blüm-Reform im Jahr 1997. Sie sah zwar die Notwendigkeit von Beitragsstabilität, jedoch mahnte die stellvertretende DGB-Vorsitzende immer wieder eine gerechtere Verteilung der Lasten auf Beitragszah-

57 Farthmann, Friedhelm: Arbeitsmarkt und Sozialpolitik und die Rolle der Gewerkschaf-ten. In: GMH 33:4 (1982), S. 231; glotz, Peter: Stabilisierung und Weiterentwicklung des Sozialstaates in der Krise. In: GMH 35:8 (1984), S. 502; lafontaine, oskar: Der contract social muß neu gestaltet werden. In: GMH 39:5 (1988), S. 301.

58 Zwickel, Klaus: Zukunftsperspektiven der IG Metall. In: GMH 50:9 (1999), S. 517.

59 Schulze-Böing, Matthias: Aktivierung und Arbeitsmarkt. In: GMH 50:6 (1999), S. 361; Evers, adalbert/leggewie, claus: Der ermunternde Staat. Vom aktiven Staat zur aktivie-renden Politik. In: GMH 50:6 (1999), S. 331.

60 Evers, adalbert/leggewie, claus: Der ermunternde Staat. Vom aktiven Staat zur aktivie-renden Politik. In: GMH 50:6 (1999), S. 335–337.

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ler, Staat und Rentner an.61 Für Jürgen Peters brachen die Rentenreformen der Re-gierung überdies sozialstaatliche Grundsätze, da neben der Niveauabsenkung auch die paritätische Finanzierung aufgegeben wurde.62 Während Sozialminister Walter Riester die zu hohen Lohnnebenkosten und die demographische Entwicklung als Argumente für die Konsolidierung der Rentenfinanzen und die Einführung einer Kapital gedeckten Säule benutzte, sah der IG-Metall Vorsitzende Peters „Gegendruck der Wirtschaft“ als Movens rot-grüner Rentenpolitik.63 Die bekannten Probleme der Rentenversicherung sollten durch den Ausbau der betrieblichen Säule, die Einfüh-rung einer Bürger-Rentenversicherung unter Einbeziehung von Beamten, Selbstän-digen, Parlamentariern mit verbreiterter Bemessungsgrundlage und über „politische Vermittlung“ gelöst werden.64 Hochgradig skeptisch zeigten sich die Gewerkschafter ebenfalls gegenüber einem neuen Verhältnis von Solidarität und Eigenverantwor-tung. Zum einen wurde nach der Verkündung der Agenda 2010 der Bruch mit den solidarischen Sicherungssystemen ausgemacht, zum anderen bezeichnete man das Prinzip „fördern und fordern“ als reine Kosteneinsparung.65 Die Autoren der GMH kaprizierten sich seit etwa dem Jahr 2000 auf die Kritik an der „Sozialpolitik nach Kassenlage“.66 In Abgrenzung und Ergänzung zu der Tarif- und Betriebspolitik mit dem Ziel der Gestaltung und Verbesserung der Arbeitsbedingungen wurde in den letzten Jahren, insbesondere seit dem Regierungsantritt der rot-grünen Koalition, die Sozialpolitik zu einem zumindest gleichgewichtigen, wenn nicht gar dominieren-dem Handlungsfeld der innerhalb der deutschen Gewerkschaften sehr stark vertre-tenen IG-Metall.67 Die Agenda 2010 wurde als sozial unausgewogen angesehen, weil sie Leistungskürzungen auf den Feldern der Alters-, Kranken- und Arbeitslosenver-

61 Engelen-kefer, ursula: Betriebsverfassung – Rentenreform – Gesundheitspolitik. Vorschläge des DGB. In: GMH 51:10 (2000), S. 549; Engelen-kefer, ursula: Vor einem Paradigmenwechsel in der Sozialpolitik?. In: GMH 54:12 (2003), S. 703.

62 Peters, Jürgen: Warum wir in Deutschland einen Politikwechsel brauchen! In: GMH 55:9 (2004), S. 519.

63 riester, walter: Halbzeit, Reform-Zeit: Zeit der Ernte. In: GMH 51:10 (2000), S. 557; Peters, Jürgen: Warum wir in Deutschland einen Politikwechsel brauchen! In: GMH 55:9 (2004), S. 524.

64 Engelen-kefer, ursula: Vor einem Paradigmenwechsel in der Sozialpolitik? In: GMH 54:12 (2003), S. 703; Peters, Jürgen: Warum wir in Deutschland einen Politikwechsel brauchen! In: GMH 55:9 (2004), S. 525.

65 Engelen-kefer, ursula: Vor einem Paradigmenwechsel in der Sozialpolitik? In: GMH 54:12 (2003), S. 699 u. 700.

66 sommer, michael: DGB: Stimme für Arbeit und soziale Gerechtigkeit. In: GMH 55:1 (2004), S. 2.

67 lang, klaus: Zur Entwicklung des Sozialstaats – ökonomische Grundlagen, Kritik der ideologischen Unvernunft, offene Fragen. In: Beerhorst, Joachim/Berger, Jens-Jean (Hrsg.): Die IG Metall auf dem Weg in die Mitte? Hamburg 2003, S. 47.

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sicherung bedeutete. Zentral für die gewerkschaftliche Sichtweise blieb die Höhe der monetären Transfers. Dass der gewerkschaftliche Diskurs gerade nach dem Einbruch im tarifpolitischen Kerngeschäft so abrupt und unverhältnismäßig scharf gegen die Sozialreformen der Koalition auftrat, ist dabei besonders augenfällig. Nur wenige Akteure positionierten sich kritisch zur Reaktionsweise der Gewerkschaften. Klaus Lang vertrat beispielsweise die Auffassung, dass die Gewerkschaften auf der einen Seite die Haltung schürten, es gebe nur Einnahme-, aber keine Kostenprobleme und auf der anderen Seite habe ihre Mitwirkung in den Selbstverwaltungsorganen ver-sagt, weil sämtliche Initiativen zur Veränderung in den sozialen Sicherungssystemen aus der Politik kamen.68 Somit kann man sagen, dass die deutschen Gewerkschaften ihre Rolle als Interes-senvertretung der abhängig Beschäftigten sehr ernst nahmen. Die Gewerkschaften hielten insgesamt am konservativ-korporativen Modell fest. Erworbene Ansprüche müssen ausgezahlt werden, eine stärkere Steuerfinanzierung wurde bisweilen sogar mit dem Argument der fehlenden Beitragsleistung abgelehnt.69 In der Akzentuierung eines aktivierenden Sozialstaates wurde der Abschied vom interventionsfähigen So-zialstaat gesehen, wenngleich gerade ein aktivierender Staat einen starken Staat vo-raussetzt.70

wer im glashaus sitzt …

Dass die Gewerkschaftlichen Monatshefte just ein Jahr nach der Agenda 2010 ihr Erscheinen einstellten, darf nicht als diskursives Signum für die Zusammenarbeit von Sozialdemokratie und Gewerkschaften angesehen werden. Gleichwohl bestand die argumentative Strategie des gewerkschaftlichen Sozialstaatsdiskurses gegenüber der vermeintlich unsozialen rot-grünen Sozialpolitik darin, die regierende Sozial-demokratie mittels eines sehr offensiven Protestes zum Einlenken zu bewegen. Der Diskurs ging indes nicht mit der Konzeption eines neuen sozialpolitischen Leitbil-des, wie etwa des Vorsorgenden Sozialstaates, einher. Vielmehr traten die Gewerkschaften einer „Semantik der Alarmierung“71 entgegen. Die Finanzierungsengpässe der gesetzlichen Sozialversicherung wurden als politisch gestaltbar angesehen und dem demographischen Wandel wollte man über höhere

68 Ebd. S. 50.

69 Butterwegge, Christoph: Abschied von der sozialen Gerechtigkeit? Die deutsche Sozial-demokratie am Scheideweg. In: GMH 54:10–11 (2003), S. 622–625.

70 vgl. hockerts, hans günter: Drei Wege deutscher Sozialstaatlichkeit. NS-Diktatur, Bun-desrepublik und DDR im Vergleich. München 1998, S. 15.

71 Konzeptionell wegweisend conrad, christoph: Die Sprachen des Wohlfahrtsstaates. In: Lessenich, Stephan (Hrsg.): Wohlfahrtsstaatliche Grundbegriffe. Historische und aktuelle Diskurse. Frankfurt/New York 2003, S. 55.

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Innenpolitik

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Bundeszuschüsse und einem Ausbau der betrieblichen Altersvorsorge begegnen. Nach der Einführung der Riester-Rente und der Verkündigung der Agenda 2010 wurde die Ablehnung der rot-grünen Sozialreformen immer schneidiger und biswei-len auch trotziger vorgetragen. So überrascht es nicht, dass sich schon im Jahr 2001 diskursive Verflechtungen von Gewerkschaften und PDS ausmachen lassen.72 In der Arbeitmarktpolitik fand demgegenüber seit dem Bruch der sozialliberalen Koalition eine Transformation der gewerkschaftlichen Debatte statt. Während die Gewerkschaften in den achtziger Jahren noch das Modell einer Wirtschaftsdemo-kratie verfochten, Flexibilisierungen mit all ihren Möglichkeiten bekämpften und Arbeitszeitverkürzungen ohne vollen Lohnausgleich als indiskutabel zurückwiesen, akzeptierten sie in den neunziger Jahren immer stärker betriebliche Regelungen, Öffnungsklauseln und sehr flexible Arbeitszeitmodelle. Gleichsam nahmen die Ge-werkschaften eine Diskrepanz zwischen ihrer programmatischen Rhetorik und ih-rem praktischen Handeln als Sozialpartner billigend in Kauf, was ihre argumentative Basis zusätzlich schwächte. Die Parole „Ede, Du bist ein alter Esel, das, was du willst, das sagt man doch nicht, das tut man“,73 die Ignaz Auer im Revisionismusstreit Edu-ard Bernstein zurief, entspricht der gewerkschaftlichen Haltung in der Arbeitsmarkt-politik der letzten 25 Jahre, für die sie über ihre Tarif- und Betriebspolitik durchaus Gestaltungskraft besitzen. Daher kann nur zur Zurückhaltung gemahnt werden, in dem fragilen Sozialstaats-diskurs der Gewerkschaften ein Vorbild für die Programmdebatte der SPD sehen zu wollen. Die zeitweilige Zerrüttung der historischen Ehe zwischen Gewerkschaften und Sozialdemokratie speist sich einerseits aus dem sozial- und wirtschaftspoliti-schen Transformationsprozess der SPD, anderseits aber auch aus der doppelzüngigen Reaktionsweise des gewerkschaftlichen Diskurses auf die sozial- und wirtschaftspoli-tischen Herausforderungen. Insbesondere ver.di und die IG-Metall postulierten eine pfadabhängige Politik der sozialen Sicherung, dessen hehren Maximen sie in der von ihnen praktizierten Betriebs- und Tarifpolitik selbst in zunehmendem Maße nicht mehr gerecht wurden.

literaturangster, Julia: Konsenskapitalismus und Sozialdemokratie. Die Westernisierung von SPD und DGB. München 2003.

72 Siehe zum Beispiel das „Gewerkschaftspoltische Aktionsprogramm der PDS bis 2002“. In: werner, harald (hrsg.): Moderner Kapitalismus – alte Gewerkschaften? Hamburg 2001, S. 153 ff.

73 Zitiert nach meyer, thomas: Die blockierte Partei. Regierungspraxis und Programmdis-kussion der SPD 2002-2005. In: Egle, Christoph/Zohlnhöfer, Reimut (Hrsg.): Ende des rot-grünen Projektes. Eine Bilanz der Regierung Schröder 2002-2005. Wiesbaden 2007, S. 94.

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Beerhorst, Joachim/Berger, Jens-Jean (hrsg.): Die IG Metall auf dem Weg in die Mitte? Hamburg 2003.

dgB-Bundesvorstand (hrsg.): Gewerkschaftliche Monatshefte. Düsseldorf/Wiesbaden 1982–2004.

nawrat, sebastian: Heimliches Godesberg. Die Vorbereitung der Agenda 2010 in der Opposition. In: Lemke, Matthias/Hermeier, Philipp (Hrsg.): Soziale Gerechtigkeit? (Diskurs. Politikwissenschaftliche und geschichtsphilosophische Interventionen, 2:2). Göttingen 2006, S. 66–77.

schroeder, wolfgang/wessels, Bernhard (Hrsg.): Die Gewerkschaften in Politik und Gesell-schaft der Bundesrepublik Deutschland. Wiesbaden 2003.

schneider, michael: Kleine Geschichte der Gewerkschaften. Bonn 2000.

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Thema: Krieg und Frieden

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1) Ein Fallbeispiel12

Ein gutes Beispiel für einen instrumentellen Friedensschluss, der in einem Folge-schritt einen gemeinsam geführten Krieg bedeutete, bilden die in den 1470er Jahren mittels eines Schiedsgerichts mit dem französischen König an der Spitze geführten Verhandlungen zwischen Österreich und der Eidgenossenschaft. Als diese sich Mit-te Oktober in der sog. ewigen Richtung miteinander gegen Burgund verbündeten, waren sie seit rund 150 Jahren verfeindet. Zwei Wochen später erreichte eine von ihnen gemeinsam ausgestellte Kriegserklärung den burgundischen Herzog. Die noch nicht absehbaren Folgen des damit beginnenden Krieges waren der Tod des Herzogs und das Ende des Herzogtums Burgund. Der Grund für ihre Konflikte lag in den

1 „Wer Frieden wünscht bereitet den Krieg vor”. Dieses Zitat findet sich beim römischen Militärschriftsteller Vegetius um 400 n. Chr. (vgl. reeve, m. d. (hg.): Vegetius: Epitoma rei militaris (Scriptorum Classicorum Bibliotheca Oxoniensis), Oxford 2004, Kapitel III, Prolog, S. 64).

2 Der vorliegende Aufsatz stellt eine Zusammenarbeit zwischen den beiden Autoren dar, bei der sich Bastian Walter, M. A. für das „Fallbeispiel“ (Teil 1) und Prof. Dr. Martin Kint-zinger für das „zeitgenössische Erklärungsmodell“ (Teil 2) verantwortlich zeichnen.

„Qui desiderat pacem praeparat bellum“1:krieg, Frieden und internationales recht im spät-mittelalter.

Martin Kintzinger, Bastian Walter (Münster)2

Thema: Krieg und Frieden A) Geschichte B) Politik C) Kultur

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von Österreich immer wieder an die Eidgenossen gestellten Ansprüchen auf ehe-mals habsburgischen Besitz in der Eidgenossenschaft. Diesen, zu dem auch der hier im Vordergrund stehende Aargau gehörte, hatten letztere in zahlreichen kriegeri-schen Auseinandersetzungen und damit nach Auffassung Österreichs widerrechtlich in Besitz genommen. Ein letzter Waffengang hatte 1468 stattgefunden, aus dem die Eidgenossen als Sieger vom Feld gegangen waren. Damit sie den damals in Waldshut geschlossenen Waffenstillstand einhielten, hatten sie vom österreichischen Herzog Sigmund die Zahlung einer Kriegsentschädigung in Höhe von 10.000 Gulden ge-fordert, die dieser binnen eines Jahres zahlen sollte. Anderenfalls sähen sie sich zur Besetzung des am Oberrhein gelegenen Sundgaus gezwungen, überdies schon lan-ge ihr Expansionsziel. Der in finanziellen Schwierigkeiten steckende Sigmund, Vet-ter Kaiser Friedrichs III., wusste nicht, woher er diese Summe nehmen sollte und schaute sich daher nach einem starken und finanzkräftigen Partner um, den er im burgundischen Herzog Karl dem Kühnen fand. Folge ihrer Annäherung war ein im Mai 1469 zwischen ihnen geschlossener Vertrag, in dem Sigmund Karl dem Kühnen einen Großteil seines am Oberrhein gelegenen Besitzes, zu denen auch der Sundgau gehörte, für 50.000 Gulden verpfändete. Im Gegenzug versprach Karl, die Zahlung der 10.000 Gulden an die Eidgenossen zu übernehmen und ihm bei der Rückge-winnung des alten habsburgischen Besitzes in der Eidgenossenschaft zu unterstüt-zen. Der Vertragsabschluss versetzte neben dem Oberrhein gleichsam die an einer Anerkennung ihres Status Quo interessierte und sich in ihrer Existenz bedrohten Eidgenossen in Aufregung. Für Karl bedeutete er nichts anderes als die Möglichkeit, mit dieser Brücke über den Rhein seine entfernt von aneinander liegenden Territo-rien zu verbinden. Vor diesem Hintergrund wird verständlich, dass er nicht daran dachte, Sigmund die Gebiete kampflos zurückzugeben. Demgegenüber behielt Sig-mund im Hinterkopf, die Pfandlande zu einem Zeitpunkt, da er wieder zahlungs-kräftiger war, auf jeden Fall wieder auszulösen. Die Lage war überaus brisant, führt man sich vor Augen, dass es sich bei den verpfändeten Gebiete um einen wichtigen Wirtschaftsraum handelte, in dem zahlreiche oberrheinische Herrschaftsträger, allen voran Bürger der exportorientierten Reichsstädte Basel und Straßburg, über reichen Besitz verfügten und dort große Mengen Getreide anbauten. Dieses verkauften sie an die Eidgenossen weiter, die auf den Import desselben essentiell angewiesen waren. So erklärt sich, dass sich die sowieso schon in Kontakt stehenden eidgenössischen und oberrheinischen Reichsstädte annäherten, um Sigmund bei der Auslösung der Pfandlande zu unterstützen. In der Folge konnte das nur eins bedeuten: Krieg gegen Burgund.Doch wie konnte es gelingen, dass die beiden verfeindeten Parteien einen Frieden mit-einander schlossen? Auf welche Möglichkeiten gütlicher Konfliktbeilegung konnten sie zurückgreifen und auf welche griffen sie letztlich warum zurück? Warum einigten

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Thema: Krieg und Frieden

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sie sich auf den unbeteiligt scheinenden französischen König als Schiedsrichter und nicht, wie man vermuten würde, auf den eigentlich prädestinierten Kaiser Friedrich III.? Führt man sich vor Augen, dass der von Ludwig XI. ergangene Schiedsspruch in allen Punkten den von den Eidgenossen gewünschten Forderungen entsprach, wäh-rend Sigmund eine verheerende Niederlage einsteckte, stellt sich die Frage, ob man bei den frühen zwischenstaatlichen Übereinkünften des Mittelalters überhaupt von einer Neutralität der Schiedsrichter sprechen kann. Oder waren es vielmehr indivi-duelle Einzelinteressen und eine aus pragmatischem Nutzen entspringende Macht-politik, die das Urteil bestimmten3?

das schiedsgericht – frühe Form zwischenstaatlicher konfliktbei-legung

Beginnen wir mit Beantwortung der ersten Frage und betrachten das von den Par-teien zur Beilegung ihrer Konflikte gewählte Verfahren, das Schiedsgericht. Zu Beginn eines solchen stand die Übereinkunft der Streitparteien, sich wegen einer Streitfrage zu einigen. Wichtig war dabei, dass sie den Schiedsrichter erst auswähl-ten, nachdem der Konflikt bereits bestand4. Im daraufhin von ihnen ausgestellten Kompromiss wurde der Anlass ihres Streits genannt und die Parteien verpflichte-ten sich, dem Schiedsspruch nachzukommen5. In den 1984 erschienenen Epochen der Völkerrechtsgeschichte nannte Wilhelm Grewe den 1474/75 unter Vermittlung des französischen Königs Ludwig XI. geschlossenen Friedensschluss in einer langen Liste von „politisch bedeutsamen Schiedssprüchen völkerrechtlichen Charakters“, der die Bedeutung, die die „Schiedsgerichtsbarkeit im internationalen System dieser Jahrhunderte“ hatte, verdeutliche. Damit attestiert er ihr eine zentrale Rolle bei der Ausbildung des Völkerrechts6.Schiedsgerichte waren im gesamten Mittelalter wesentliche Faktoren des Rechtsle-bens. Die Praxis der Anrufung von Vermittlern lässt sich seit dem frühen Mittelal-ter nachweisen, während die eigentlichen Schiedsgerichte ab dem 12. Jahrhundert stetig zunahmen und im 15. Jahrhundert ihren Höhepunkt erreichten. Dafür waren

3 Der vorliegende Text stellt eine Zusammenfassung eines von Bastian Walter geschriebe-nen Aufsatzes zur ewigen Richtung dar (vgl. walter, Bastian: „Hilff umb hilff“ oder: Die Verhandlungen zur Ewigen Richtung (1469-1474/75) analysiert im Hinblick auf Vorfor-men des Völkerrechts, in: Kintzinger, Martin e. a. (Hgg.), Rechtsformen internationaler Politik 800-1800. Theorie, Norm und Praxis, Berlin 2008 [im Druck].

4 Vgl. Ziegler, karl-heinz: Völkerrechtsgeschichte, München 22007, S. 102 f.

5 usteri, Emil: Das öffentlich-rechtliche Schiedsgericht in der Schweizerischen Eidgenos-senschaft des 13.–15. Jahrhunderts. Ein Beitrag zur Institutionengeschichte und zum Völkerrecht, Zürich 1925, S. 40; Grewe, Wilhelm, Epochen der Völkerrechtsgeschichte, Baden-Baden 1984, S. 128 f.

6 grewe: Epochen, S. 125 f.; vgl. auch Ziegler: Völkerrechtsgeschichte, S. 102 f.; 130.

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zahlreiche Gründe ausschlaggebend. So vertraute man die Lösung von Streitfällen eher einem von den Streitparteien freiwillig bestimmten Schiedsrichter als einem von Gerichts wegen zuständigen Richter an. Auch waren Schiedsverfahren im Ge-gensatz zu gerichtlichen Verfahren unkomplizierter, schneller und kostengünstiger7. Ihr Aufstieg verlief keineswegs gleichmäßig und erst nachdem sich die Praxis im geistlichen Bereich bewährt hatte, kann man eine Behandlung auch von weltlichen Streitgegenständen nachweisen8. Die Schiedsgerichtsbarkeit erreichte bereits im Mit-telalter einen vergleichsweise hohen Entwicklungsstand und seine Grundzüge lassen sich im modernen Schiedsverfahrensrecht wiederfinden9. Auch territorial lassen sich unterschiedliche Entwicklungen ausmachen. Vor allem in Süddeutschland und in der Eidgenossenschaft besaßen Schiedsverfahren eine große Bedeutung und lassen sich dort früher als andernorts belegen10. Für ihr hohes Ansehen spricht, dass auch Streitfälle der höchsten politischen Ebene vor sie gelangten11. So findet sich 1464 im Weltfriedensmanifest des böhmischen Königs Podiebrad die Forderung, bei zwi-schenstaatlichen Konflikten solle man ein Schiedsgericht mit dem französischen Kö-nig an der Spitze einzuberufen, was dazu führte, dass Ludwig XI. den Ideen Podieb-rads nicht abgeneigt war12. Schiedsrichterliche Schlichtungstätigkeit vorzunehmen galt als besondere Ehre, weswegen man sich vorzugsweise an den Kaiser oder den Papst wandte, um diese als Schiedsrichter zu gewinnen13.

alles eine Frage der Person?

Damit sind wir bei der zweiten Frage angekommen, warum die Streitparteien die Hil-fe des französischen Königs und nicht des am ehesten in Frage kommenden Papsts oder Kaisers in Anspruch nahmen. War alles eine Frage der Person des Schiedsrich-ters und der mit der Entscheidung verbundene pragmatische Nutzen? Die Konflikte zwischen Österreich und der Eidgenossenschaft hatten im betrachteten Zeitraum

7 hageneder, othmar: Die geistliche Gerichtsbarkeit in Ober- und Niederösterreich. Von den Anfängen bis zum Beginn des 15. Jahrhunderts (Forschungen zur Geschichte Ober-österreichs 10), Linz 1967, S. 197; S. 298 f.

8 Zum Folgenden vgl. kampmann, christoph: Arbiter und Friedensstiftung. Die Auseinan-dersetzung um den politischen Schiedsrichter im Europa der Frühen Neuzeit, Paderborn 2001, S. 27 f.

9 usteri: Eidgenossenschaft, S. 56–147.

10 kampmann: Arbiter, S. 27.

11 grewe: Epochen, S. 125 f.

12 messler, gerhard: Tractatus pacis generalis toti christianitati fiendae. Das Weltfriedens-manifest König Georg von Podiebrads. Ein Beitrag zur Diplomatie des 15. Jahrhunderts. Karlsruhe 1973, S. 39–44.

13 grewe: Epochen, S. 119–130; Schlochauer, Hans-Jürgen, Die Entwicklung der internatio-nalen Schiedsgerichtsbarkeit, in: Archiv des Völkerrechts 10 (1962/63), S. 1–41.

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Thema: Krieg und Frieden

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eine lange Tradition. Genauso zahlreich wie die Streitanlässe waren auch die Versu-che, den Streit beizulegen und die ins Spiel gebrachten Vermittler. Bereits seit 1454 bestanden lose Pläne zu einem Ausgleich14.Während man den Papst zu keinem Zeit-punkt als Schiedsrichter in Betracht zog, versuchten Sigmund und die Eidgenossen noch zu Beginn der Verhandlungen Kaiser Friedrich III. eine leitende Rolle anzutra-gen15. Als dieser sich im Juli 1471 aus dem Friedensprojekt zurückzog, erschien mit dem Bischof von Konstanz ein neuer Kandidat auf der Bildfläche. Dieser war für das Amt eines Schiedsrichters ebenfalls geeignet, was unter anderem an der Mittellage seines Bistums zwischen Österreich und der Eidgenossenschaft lag. Diese hatte ihn seit den 1450er Jahren bei den österreichisch-eidgenössischen Auseinandersetzun-gen eine neutrale politische Rolle verfolgen lassen16. Auf seine Aufforderung hin fan-den im Oktober 1471 in Einsiedeln erste Gespräche zwischen den Parteien statt. Ihr Resultat war die Aufzeichnung von Punkten, auf denen ein Frieden basieren könnte. Die Beteiligten einigten sich, im August 1472 in Konstanz abermals zusammenzu-kommen. Doch dieses Treffen stand unter schlechten Vorzeichen: Kurz vor seiner Abreise zum Versammlungsort waren Gesandte des Herzogs von Burgund bei Sig-mund erschienen, die ihm so weitgehende militärische Unterstützung Burgunds in einem Krieg gegen die Eidgenossen zusagten, dass die Verhandlungen platzen muss-ten. Die Folge war, dass Sigmund den Tagungsort nach seiner verspäteten Ankunft zum Unmut der Eidgenossen vorzeitig verließ und die getroffenen Absprachen nie als bindend ansah. Trotzdem wurden die Standpunkte der Parteien im sog. Abschied von Konstanz fixiert.Da dieser die Grundlage für den später von König Ludwig XI. erlassenen Schieds-spruch darstellte, soll nun dessen strittigster Artikel angesprochen werden17. Darin forderten die Eidgenossen von Sigmund, künftig sowohl für sich und seine leiblichen Erben als auch für alle sonstigen Nachkommen auf alle ehemals habsburgischen Ge-biete in der Eidgenossenschaft zu verzichten. Das ging Sigmund zu weit, da er keine leiblichen Erben hatte und aufgrund des hohen Alters seiner Frau wohl auch keine mehr haben würde. Daher wollte er sich nur für sich und seine Leibserben festlegen. Hinderlich war zudem, dass es aufgrund dessen die habsburgische Hauptlinie, also

14 gasser, adolf: Ewige Richtung und Burgunder Kriege: Zur Klärung einer alten Streitfra-ge, in: Ders (Hg.)., Ausgewählte historische Schriften 1933–1983, Basel 1983, S. 285.

15 Bittmann, karl: Ludwig XI. und Karl der Kühne. Die Memoiren Philippe de Commynes als historische Quelle, Band 2,1, Göttingen 1970, S. 390 ff.; Janeschitz-kriegl, robert: Geschichte der ewigen Richtung von 1474, in: Zeitschrift für die Geschichte des Ober-rheins 105 (1957), S. 170–176

16 kramml Peter F.: Die Reichsstadt Konstanz, der Bund der Bodenseestädte und die Eid-genossen, in: Rück, Peter, Hg., Die Eidgenossen und ihre Nachbarn im Deutschen Reich des Mittelalters, Marburg 1991, S. 295–329.

17 Janeschitz-kriegl: Geschichte, S. 189–197.

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der Kaiser sein würde, der seine Nachfolge in Österreich antreten würde. Zu einer so weitreichenden Erklärung fühlte er sich nicht berechtigt, zumal er dazu auch keine Vollmacht seitens des Kaisers hatte. Wir befinden uns hier an einem neuralgischen Punkt, denn Friedrich III. verwahrte sich bis zu seinem Tod der Zustimmung zur ewigen Richtung, was in erster Linie an diesem Artikel lag. Darin ist der Grund zu suchen, warum zumindest für die Eidgenossen ein kaiserlicher Schiedsrichter nicht in Frage kam. In den Folgemonaten schauten sie sich daher nach einem Partner um, der ihre Anliegen in einem Schiedsverfahren unterstützen würde. Diesen fanden sie in König Ludwig XI., der selbst ein Interesse an den Eidgenossen und einem Frieden mit Österreich hatte.

ludwig Xi. betritt die politische Bühne

Denn in jenen Monaten wurden auch die Beziehungen Frankreichs zu Burgund im-mer schlechter und Ludwig XI. war in einem möglicherweise zu führenden Krieg gegen Karl den Kühnen auf die Hilfe von Söldnern angewiesen, die er mit Unterstüt-zung der lokalen Obrigkeiten in der Eidgenossenschaft anwerben wollte. Da diese im Spätmittelalter einen großen Söldnermarkt darstellte, hatten eidgenössische Reisläu-fer zahlreichen europäischen Machthabern in Kriegen gedient18. Das Eingreifen Lud-wigs XI. mutet vor diesem Hintergrund nur auf den ersten Blick überraschend an. So griff er bis zum Jahr 1473 zwar nicht aktiv in das politische Geschehen ein, wurde aber seit 1470 von der Stadt Bern kontinuierlich über die eidgenössisch-österreichi-schen Verhandlungen informiert. Es war die Berner Ratsfamilie von Diesbach, die dies durch zahlreiche Gesandtschaften und Briefe leistete19. Ihr wichtigster Vertreter war der französischsprachige Bürgermeister der Stadt, Nikolaus von Diesbach, den Ludwig XI. bereits 1466 zu seinem Kammerherrn ernannt hatte und der sein wich-tigster Mittelsmann in der Eidgenossenschaft war. Gemeinsam mit seinem Vetter Wilhelm lässt er sich auf nahezu allen wichtigen Versammlungen zur ewigen Rich-tung finden. Auf diesen fungierten sie als Wortführer der Partei, die einen Ausgleich mit Österreich und den Verbleib des Aargaus in den Händen der Eidgenossen for-derten. Das kam nicht von ungefähr, schließlich verfügte die Familie von Diesbach

18 Vgl. Peyer, hans conrad: Die Wirtschaftliche Bedeutung der fremden Dienste für die Schweiz vom 15. bis 18. Jahrhundert, in: Ders. e. a. (Hgg.), Könige, Stadt und Kapital. Aufsätze zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte des Mittelalters, Zürich 1982, S. 219–231.

19 Vgl. dazu walter, Bastian: Kontore, Kriege, Königshof. Der Aufstieg der Berner Fami-lie von Diesbach im 15. Jahrhundert im Hinblick auf städtische Außenpolitik, in: Jörg, Christian und Jucker, Michael (Hgg.), Politisches Wissen, Spezialisierung und Professi-onalisierung: Träger und Foren städtischer „Außenpolitik“ während des späten Mittelal-ters und der Frühen Neuzeit, Trier 2008; zur Familie von Diesbach allgemein vgl. Zahnd, urs-martin: Die autobiographischen Aufzeichnungen Ludwigs von Diesbach. Studien zur Selbstdarstellung im oberdeutschen und schweizerischen Raume (Schriften der Berner Burgerbibliothek 17), Bern 1986.

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Thema: Krieg und Frieden

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dort über umfangreichen Besitz. Überdies war Wilhelm seit 1471 mit der Tochter einer im Aargau ansässigen und reich begüterten Familie verheiratet20.Genau in dem Moment, als die Verhandlungen mit Österreich in Konstanz scheiter-ten, machten sich die Berner auf den Weg an den Hof des Königs, wo sie Gespräche über dessen Intervention im Friedensprojekt führten. Zur gleichen Zeit reiste eine weitere Person zu Ludwig XI. Dabei handelte es sich um den Eidgenossen Jost von Silenen, Propst des im Aargau liegenden Stifts Beromünster und späterem königli-chen Rat, der ab 1472 als königlicher Unterhändler bei den Friedensverhandlungen auftrat21. Silenen entstammte einer Familie, die sich nach der 1415 durch die Eidge-nossen erfolgten Eroberung des Aargaus in deren Dienst gestellt hatte. Nach dem Tod seines Vaters gelangte Silenen in die Luzerner Familie von Hunwil, die ebenfalls über umfangreichen Besitz im Aargau verfügte. Auf eidgenössische Empfehlung hin nahm er 1459 ein Studium des Kanonischen Rechts in Pavia auf, nach dessen Been-digung er in den Dienst des einflussreichen Wilhelm von Estouteville gelangte, der ein enger Vertrauter Ludwigs XI. war und über den er in Kontakt mit dem franzö-sischen König kam. Er war daher geradezu prädestiniert, als Unterhändler bei den Verhandlungen zur ewigen Richtung zu fungieren. Seine erste im Auftrag Ludwigs XI. durchgeführte diplomatische Mission in die Eidgenossenschaft fand Mitte 1473 statt, auf der er erste Gespräche führte22.Unterdessen gestaltete sich die (außen-)politische Lage für Sigmund immer schwie-riger. Sein einzig verbliebener Verbündeter Karl der Kühne ließ ihn im Stich und machte keinerlei Anstalten, die 1472 in Bregenz getroffenen Zusagen einzuhalten. Im Zuge des daraufhin von ihm vollzogenen Politikwechsels wandte er sich von Bur-gund ab und dem französischen König und damit den Eidgenossen zu23. Neben den Eidgenossen bat damit auch die zweite Partei Ludwig XI. um Unterstützung. So er-klärt sich die zweite Anfang 1474 erfolgte Entsendung Silenens in die Eidgenossen-schaft, auf der er sich im Auftrag Ludwigs XI. dafür einsetzte, dass die Eidgenossen ihren Konflikt mit Sigmund beenden sollten. Die Grundlage des Friedensschlusses bildete für den König nichts anderes als der Abschied von Konstanz. Doch seine po-litische Lage ließ Sigmund nichts anderes übrig, als diese Bedingung zu akzeptieren. Gleichzeitig zeichneten die bereits seit 1470 geführten Gespräche zwischen Eidge-nossen und dem Oberrhein erste Ergebnisse. So hatten sie sich 1473 darauf geeinigt,

20 Vgl. Bickel, august: Die Herren von Hallwil im Mittelalter. Beitrag zur schwäbisch-schweizerischen Adelsgeschichte, Aarau 1978, S. 174 ff.

21 Zur Person Jost von Silenens vgl. thoma, denise: Jost von Silenen. Ein Kind seiner Zeit, Zürich 2005 (Lizentitiatsarbeit Universität Zürich).

22 Bittmann: Ludwig XI., S. 470.

23 sieber-lehmann, claudius: Spätmittelalterlicher Nationalismus. Die Burgunderkriege am Oberrhein und in der Eidgenossenschaft, Göttingen 1995, S. 103–106.

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Sigmund die Summe zur Auslösung der Pfandlande gemeinsam vorzustrecken und erste Bündnisgespräche geführt. Am 31. März 1474 verbanden sich die Eidgenossen mit den oberrheinischen Reichsstädten Straßburg, Kolmar, Basel und Schlettstadt sowie den Bischöfen von Basel und Straßburg für den Zeitraum von zehn Jahren mit-einander24. Am selben Tag verständigten sich die Eidgenossen mit Sigmund auf den Abschluss der ewigen Richtung. Davon spricht der von ihnen gemeinsam aufgesetzte Kompromiss, in dem beide Ludwig XI. als Schiedsrichter anerkannten25. Noch zu klärende Punkte, beide dachten hier primär an den Erben-Artikel, sollten dem König zur endgültigen Entscheidung vorgelegt werden26. Am 4. April schloss Sigmund ein zehnjähriges Bündnis mit den oberrheinischen Mächten, kündigte Karl die Pfand-schaft auf und gab ihm seinen Schutzbrief zurück. Allen Beteiligten war klar, dass sich nun Schwierigkeiten mit Burgund ergeben würden, zumal der von Karl in den Pfandlanden eingesetzte Landvogt am 9. Mai 1474 - genau fünf Jahre nach dem Ver-trag von St. Omer - in einem Schauprozess in Breisach hingerichtet wurde27.Von beiden Seiten machten sich Gesandte auf den Weg zu Ludwig XI., um Einfluss auf den am 11. Juni in Senlis besiegelten Schiedsspruch zu nehmen. Doch Ludwig XI. entsprach jeder eidgenössischen Forderung, auch im strittigen Erben-Artikel. Für Sigmund bedeutete das im Umkehrschluss eine verheerende Niederlage28. Um den Schiedsspruch auch von der Gegenseite besiegeln zu lassen, einigte man sich dar-auf, im Oktober in Feldkirch zusammenzukommen. Bereits Ende August erschien eine französische Gesandtschaft in der Eidgenossenschaft. Im Namen Ludwigs XI. boten sie den Eidgenossen die Zahlung von 20.000 Franken jährlich für den Fall eines Krieges gegen Burgund an. Seine Bedingung dafür war, dass sie Ludwig XI. mit Söldnern unterstützen sollten. Falls er nicht mit eigenen Truppen in den Krieg ziehe, wolle er diese Summe sogar auf 80.000 Franken erhöhen. Dieses Offensivangebot wurde zu Recht als Meisterstreich bewertet und an ihm lässt sich der gemeinsame eidgenössisch-franzöische Interessenshorizont ablesen29: Königliches Eingehen auf die Eidgenossen und Missachtung der österreichischen Interessen in der ewigen Richtung bedeuteten im Gegenzug Eingehen der Eidgenossen auf den König in der Stellung von Söldnern in einem Krieg gegen Burgund. Da diese ihrerseits an einem Krieg interessiert waren, bedeutete das Zahlung von französischen Geldern an sie.

24 segesser, anton P.: Amtliche Sammlung der ältern eidgenössischen Abschiede II. Die eidgenössischen Abschiede aus dem Zeitraume von 1421 bis 1477, Luzern 1865, Beila-gen Nr. 49 und 50.

25 Vgl. Janeschitz-kriegl: Geschichte, S. 418–425.

26 Ebd., S. 442–445.

27 Vgl. sieber-lehmann: Nationalismus, S. 68–95.

28 Vgl. Janeschitz-kriegl: Geschichte, S. 436–447.

29 So Bittmann: Ludwig XI., S. 690 f.

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Thema: Krieg und Frieden

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Die für Anfang Oktober einberaumte Konferenz war nur noch eine Formsache und ihre Ergebnisse lassen sich kurz zusammenfassen: Keiner von Sigmund gewünschten Veränderung gab man statt, so dass ihm nichts anderes übrigblieb, als den Schieds-spruch entgegen zu nehmen und damit zu akzeptieren30. Er legte zwar abermals Wi-derspruch gegen den Erben-Artikel ein, doch eine zum König abgeordnete Gesandt-schaft kehrte Anfang 1475 erfolglos zurück. Erschwerend hinzu kam für Sigmund die politische Lage in jenen Wochen: Der burgundische Herzog belagerte nämlich seit Ende Juli Neuß, womit ein Reichskrieg gegen Burgund unausweichlich war. Und dieser begann bereits zwei Wochen nach der Konferenz mit der von ihm und den Eidgenossen ausgestellten Kriegserklärung an Karl tatsächlich.

Zusammenfassung und ausblick

Die auf einem Schiedsspruch des französischen Königs Ludwig XI. basierende ewi-ge Richtung endete mit einer Niederlage Österreichs. Der an ihr deutlich werdende gemeinsame eidgenössisch-französische Interessenshorizont war zu stark, als dass der König auf die österreichischen Forderungen eingehen konnte oder wollte. Sig-munds schwierige politische Lage ließ ihm letztendlich auch keine andere Wahl, als den Schiedsspruch zu akzeptieren. Das Angebot der Eidgenossen, Ludwig XI. in einem Krieg gegen den burgundischen Herzog ihre Söldner zukommen zu lassen, war für Ludwig XI. zu verlockend, um es abzulehnen. Da ein Krieg gegen Burgund auch nach Meinung der eidgenössisch-oberrheinischen Koalition unausweichlich war, trafen Frankreich und sie sich genau in dem Moment, als 1473 die Beziehungen zwischen Ludwig XI. und Burgund abkühlten und auch die französische Krone einen Krieg gegen Burgund plante. Es waren die Eidgenossen, die ihre gesamte Energie in das Vorhaben ewige Richtung steckten. Das erstaunt nicht, zumal sie ihren Besitz im ehemals habsburgischen Aargau nicht verlieren und ihren territorialen Status Quo anerkannt wissen wollten.Ihr Erfolg hatte zahlreiche Gründe. Zunächst ist an ihr weit reichendes Beziehungs-netz zu denken. So verfügte beispielsweise die Familie von Diesbach über Kontakte zum französischen König, den sie mittels zahlreicher Gesandtschaften und Briefe stetig über das politische Tagesgeschehen informierten. Über den eidgenössisch-französischen Unterhändler Silenen war es ihnen möglich, ihren Interessen am Kö-nigshof Gehör zu verschaffen. Dieser stammte aus einer Familie, die ebenfalls Inter-esse an einem Verbleib des Aargaus in eidgenössischer Hand hatten. Bei Silenen oder Ludwig XI. von einem unabhängigen und neutralen Unterhändler bzw. Schiedsrich-ter zu sprechen, wäre verfehlt und verdeutlicht, dass Herrschaft noch stark personal gebunden war. Überdies scheint eine scharfe Abgrenzung zwischen individueller

30 Ebd., S. 710.

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Machtpolitik und übergeordnetem Völkerrecht nicht zu greifen, vielmehr sind es gerade Einzelinteressen und Machtwillen, die zentrale Aspekte der Völkerrechtsge-schichte ausmachen.Am Schiedsverfahren ließen sich in Ansätzen Formen von Verhandlungen aufzei-gen, wie sie später durch völkerrechtliche Verfahren geregelt worden sind. Die hier festzumachenden Formen, die noch nicht auf einer völkerrechtlich gefassten Form beruhen konnten, zeigen Praktiken, die analogen Vorstellungen zu entsprechen scheinen. Die Ereignisse um das Schiedsverfahren markieren damit eine Übergangs-phase von tradierten Verfahren schiedsrichterlicher Prozesse zu neuen, völkerrecht-lich definierten Regelungen. So bot es den Parteien Sicherheit bezüglich der Art und Weise des diplomatischen Umgangs miteinander sowie in Verhandlungen mit dem König. Ferner wurde an den von den Parteien ins Spiel gebrachten Vermittlern deut-lich, dass nicht zwangsläufig der für ein schiedsgerichtliches Verfahren prädestiniert zu sein scheinende Kaiser tatsächlich als Schiedsrichter angerufen wurde. Die ewige Richtung zeigt damit nicht zuletzt einen Bedeutungsverlust kaiserlicher Suprematie in der internationalen Politik an. Ein Schiedsverfahren mit dem französischen König an der Spitze erwies sich als eine zumindest für die gute Beziehungen zum König unterhaltenden Eidgenossen praktikable Möglichkeit, ihren Konflikt mit Österreich zu beenden und ihren territorialen Status Quo anerkennen zu lassen. Obgleich diese Anerkennung von kaiserlicher Seite nicht erfolgte, wurde zumindest zwischen der Eidgenossenschaft und Österreich auf diese Weise eine stabile Ordnung errichtet, die in den Jahren 1477, 1511 und 1518 in den sog. Erbeinungen erneuert wurde. Diese Verträge enthielten ab 1511 implizit auch eine vom Kaiser gegebene Garantie der Wahrung des territorialen Status Quo der Eidgenossenschaft.

2) Ein zeitgenössisches Erklärungsmodell

Der Satz des römischen Autors Vegetius „Wer Frieden wünscht, bereitet den Krieg vor“, lässt sich auch andersherum wenden: „Alle Menschen, die Krieg führen, verlan-gen nach dem Frieden“ oder noch kürzer: „Das Ziel des Krieges ist der Frieden“. Zwi-schen diesen beiden Zitaten liegen nicht weniger 1100 Jahre. Zeitgleich mit Vegetius hatte der Bischof und Kirchenvater Augustinus über Krieg und Frieden geschrieben, unter dem beklemmenden Eindruck einer grundstürzenden Erfahrung: der Erobe-rung Roms durch die „Barbaren“ 41031. Er prägte einen Kriegsbegriff, der über viele Jahrhunderte und bis in die Moderne hinein prägend bleiben sollte, denjenigen des

31 400–428 [n. Chr.] Augustinus über den Krieg, in: grewe, wilhelm (hg.): Fontes Historiae Iuris Gentium. Quellen zur Geschichte des Völkerrechts, Band 1.: 1380 v. Chr.-1493, Berlin/New York 1995, S. 561 [Civ. Dei, 19, 12]: “… Vnde pacem constat belli esse opta-bilem finem. Omnis enim homo etiam bellegerando pacem requirit; nemo autem bellum pacificando”.

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„gerechten Krieges“ (bellum iustum). Als gerecht, also legitim und rechtmäßig, durf-te ein Krieg nur dann gelten, wenn er an bestimmte Bedingungen gebunden blieb. Dazu gehörte, dass er ausschließlich der Verteidigung diente, einer aufrichtigen Ab-sicht folgte (recta intentio) und in jedem Fall die Wiederherstellung des Friedens zum Ziel hatte.1532 verfasste der Dominikanerpater Francisco de Vitoria eine Abhandlung über das Kriegsrecht (De iure belli)32. Auch er schrieb unter dem Eindruck einer bestürzen-den Erfahrung: der Eroberung der eine Generation zuvor entdeckten Neuen Welt durch die Truppen des spanischen Königs und die dabei verübten Grausamkeiten an den dortigen Ureinwohnern. Vielfach bezog sich Vitoria auf Texte des Augustinus und dessen späterer Interpreten, vor allem auf die Werke des Thomas von Aquin. So übernahm auch Vitoria die augustinischen Bedingungen für einen gerechten Krieg. Angriffskriege waren danach ebenso wenig erlaubt wie Eroberungssucht und Ge-winnstreben als Kriegsgrund. Vor allem: Das Ziel des Krieges sollte der Frieden sein (finis belli est pax)33.Mit dem Versuch, den Krieg an Bedingungen zu binden, versuchten Augustinus, Vitoria und viele andere Autoren der Spätantike, des Mittelalters und noch der Frü-hen Neuzeit, eine Antwort auf eine drängende Frage zu geben: War es möglich, die Entscheidung über Krieg und Frieden nicht mehr der Willkür einzelner Machtha-ber zu überlassen, die sich die Rechtfertigungen ihrer Kriegspolitik beliebig selbst zuschrieben? Biblische Mahnungen zum Frieden und ethische Appelle waren be-kannt und halfen wenig. Was jetzt gesucht wurde, war zweierlei: eine verbindliche normative Ordnung, die global gelten sollte, und eine autoritative Instanz, die den Mächtigen übergeordnet und deshalb in der Lage war, allgemein verbindliche Nor-men – so auch ein politisches Friedensgebot – gegenüber ihren Partikularinteressen durchzusetzen.Bei alledem ging es um nicht weniger als eine Ordnung der Außenpolitik und der internationalen Beziehungen. Diese Begriffe sind modern und waren in Mittelalter und Frühneuzeit unbekannt. Was sie bezeichnen, ist hingegen als alltägliche Realität seit der Antike wohlbekannt gewesen und das Ringen um eine höhere normative Ordnung gehört dazu. Sehr wahrscheinlich war es Cicero, der neben anderen Au-toren seiner Zeit, im letzten vorchristlichen Jahrhundert, einen für alle folgenden Zeiten maßgeblichen Begriff prägte, um eine solche höhere, normative Ordnung zu

32 horst, ulrich: Leben und Werke Francisco de Vitorias, in: Horst, Ulrich, Justenhoven, Heinz-Gerhard und Stüben, Joachim (Hgg.), Francisco de Vitoria, Vorlesungen I (Relec-tiones). Völkerrecht, Politik, Kirche (=Theologie und Frieden 7), Stuttgart/Berlin/Köln 1995, S. 13–111.

33 Francisco de vitoria: De iure belli, in: Ders., Vorlesungen II (wie Anm. 32), Nr. 6, S. 542–605, hier Quaestio prima, S. 546, Zeile 31.

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bezeichnen, denjenigen des Rechtes aller Völker (ius gentium). Auch damit ist noch längst nicht gemeint, was in der europäischen Frühen Neuzeit, seit dem 17. Jahrhun-dert, unter Völkerrecht als internationales Recht zwischen den Staaten verstanden und mit demselben lateinischen Begriff bezeichnet werden sollte34. In der römischen Antike hatte das Recht aller Völker den Charakter eines Eroberungsrechts, durch das der römische Staat seine Beziehungen zu den vertraglich gebundenen oder un-terworfenen Nachbarländern regelte35. Sie sahen darin jene Rechte ausgedrückt, die allen Völkern (gentes) der Welt, auch dem eigenen Volk, voraussetzungslos gemein-sam waren. Infolgedessen erklärten sie deren Ursprung aus der Natur und einem na-türlichen Recht (ius naturale). Damit war ein politisches und rechtliches Erklärungs-modell begründet, das trotz vielfacher Veränderung im Grundsatz für alle folgenden Zeiten und als Gegenstand theoretischer Reflexion bis heute unverändert bleiben sollte. Es unterschied das unverfügbare natürliche, in späterer, christlicher Zeit der Spätantike und des Mittelalters (so auch bei Augustinus und Vitoria) aus göttlichem Willen begründete Naturrecht aller Menschen und das ebenso hergeleitete Recht aller Völker von einem durch menschliche Gemeinschaft und Herrschaft gesetzten Recht, dem bürgerlichen Recht (ius civile). Nur auf das natürlich und göttlich begründete Recht aller Menschen und Völker konnte man sich berufen, wenn man, wie Vitoria, die Indianer in den spanischen Kolonien der Neuen Welt vor Gewalt und Willkür der Eroberer schützen wollte36. Seine Appelle beeindruckten Kaiser Karl V., der Zwei-fel am Vorgehen seiner Vertreter in den Kolonien bekam. Selbst seine persönlichen Wünsche konnten sich aber gegen die Macht der Interessen nicht durchsetzen. Alle wohlbegründeten Forderungen verhallten ungehört.Diese Erfahrung war im mittelalterlichen Europa nicht unbekannt. Seit der Mitte des 13. Jahrhunderts hatten Kaiser und Papst, vordem als universale Mächte allen anderen Instanzen übergeordnet und deshalb als Vermittler und Schiedsrichter in Konflikt- und Kriegsfällen anscheinend prädestiniert, ihren Geltungsanspruch nicht mehr umsetzen können. Was zuvor nur bei einem Streit zwischen den Universalge-walten zu beobachten war, wurde nun zur Regel: Interessenparteien, jetzt die terri-torialfürstlichen Partikulargewalten, konnten ihre Konflikte und Kriege ungehindert ausfechten und waren daran weder durch die Autorität übergeordneter Instanzen

34 Demnächst: Jucker, michael, kintzinger, martin, c. schwinges, rainer c. und stoll-berg-rilinger, Barbara (hgg.): Rechtsformen internationaler Politik. Theorie, Norm und Praxis vom 12. bis 18. Jahrhundert, (=Zeitschrift für Historische Forschung, Beihefte).

35 kaser, max: Ius gentium (Forschungen zum römischen Recht, 40), Köln/Weimar/Wien 1993; Auliard, Claudine, La diplomatie romaine. L´instrument de la conquête. De la fondation à la fin des guerres samnites (755–290 av. J.-C.) (Collection Histoire), Rennes 2006.

36 Vgl. grunter, Frank und seelmann, kurt (hgg.): Die Ordnung der Praxis. Neue Studien zur Spanischen Spätscholastik (=Frühe Neuzeit, 68), Tübingen 2001.

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noch durch gelehrte Friedensappelle zu hindern. Europa wurde zu einem unüber-sehbaren Schauplatz vielfacher Kämpfe und das gesamte Spätmittelalter, zwischen dem ersten Drittel des 14. und der Mitte des 15. Jahrhunderts, war von dem später sogenannten Hundertjährigen Krieg zwischen den mächtigsten Reichen des Wes-tens, den Königreichen Frankreich und England, überschattet.Die Theorie des göttlich gewollten natürlichen Rechts aller Menschen und des durch sie begründeten Rechts aller Völker war bekannt, Klagen über das Leiden der Men-schen im Krieg und flammende Friedensappelle kamen hinzu. Doch sie vermoch-ten nicht, Einhalt zu gebieten, weil ihnen die Autorität einer höheren Instanz fehlte. Gelehrte Autoren entwarfen grundsätzlich praktikable Vorschläge für internationale Schiedsgerichtshöfe, deren politische Umsetzung daran scheiterte, daß sie mit dem Machtbewusstsein der Könige nicht vereinbar waren.Hier lag, wie man bald merkte, ein Schlüssel zum Problem: Die Könige hatten sich durch geregelte Überordnung gegenüber den Fürsten ihrer Reiche als Souveräne zu verstehen gelernt. Souveränität aber bedeutete, keinen Höheren über sich anzuer-kennen (superioritatem non recognoscere). Niemandem mochten sie eine Vorord-nung, Superiorität, zuerkennen und konnten sie infolgedessen auch gegenüber ande-ren nicht beanspruchen, jedenfalls nicht durchsetzen37.In der politischen Theorie hatte man analog zur Verschärfung der realen Verhältnis-se seit dem 13. Jahrhundert die Unterscheidung entdeckt zwischen der notwendigen Unterordnung aller unter den König innerhalb eines Herrschaftsverbandes und der notwendigen Gleichordnung der Könige in ihrem internationalen Kontakt. Weil es zwischen ihnen keine Superiorität gab, konnte niemand in ihre Konflikte und Kriege eingreifen. Vielmehr mussten sie versuchen, sich untereinander auf einen Vermittler und Schiedsrichter zu einigen.Jetzt kam wiederum die Vorstellung eines vorgeordneten und unverfügbaren Rechts der Völker ins Spiel. Der Jurist Baldus de Ubaldis in Pavia, ein Zeitzeuge des Hun-dertjährigen Krieges, entwickelte im späten 14. Jahrhundert zugleich zwei verschie-dene Ideen, die auf den ersten Blick nicht miteinander zu tun haben, tatsächlich aber zusammengenommen einen neuen Horizont eröffnen: Nach älteren Vorlagen des 13. Jahrhunderts, die in Frankreich entstanden waren, definierte er einen jeden Kö-nig als Kaiser in seinem eigenen Reich (rex in regno suo est imperator regni sui). Damit war die in der Praxis unabweisbar eingeforderte Souveränität der Könige – ihre Zurückweisung jeder Superiorität anderer – beschrieben. Zugleich definierte er

37 Hierzu und zum folgenden: kintzinger, martin: Superioritas. Rechtlichkeit als Problem bei internationalen Konflikten, in: Esders, Stefan (Hg.), Rechtsverständnis und Konflikt-bewältigung. Gerichtliche und außergerichtliche Strategien im Mittelalter, Köln/Weimar/Wien 2007, S. 363–378.

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eine höhere Werteordnung, auf deren Beachtung alle Mächte seit jeher verpflichtet gewesen seien, weil sie die vorgeordneten, unverfügbaren und allen Völkern gemein-samen Rechte und Normen umfassten. Zur Bezeichnung dieser Ordnung wählte er den seit der Antike bekannten Begriff des Rechtes aller Völker (ius gentium): „Völ-kerrecht ist, was alle Völker wie gleichförmig verwenden, was immer besteht und ein Gut ist, ohne das die Menschen nicht leben können“ (ius gentium est quod … omnes gentes quasi pereque utuntur, quod semper et bonum et equum, et sine quo homines non possent vivere)38.Diese Definition löste den Begriff erstmals und endgültig aus der Bindung an die römische Tradition des Eroberungsrechts und zugleich von der bis dahin obligaten Herleitung aus dem natürlichen Recht. Es mag daher berechtigt sein, des Baldus Be-griff eines ius gentium tatsächlich als Völkerrecht zu übersetzen, weil er die Grund-lage dessen enthielt, was später, seit der Frühneuzeit, als internationales Recht be-schrieben werden sollte.Indem nun die Vorstellung eines Völkerrechts als allen gemeinsame Werteordnung nicht mehr inhaltlich durch bestimmte Vorgaben gefüllt, sondern offen gehalten war, konnte sie mit Werten, Normen und Rechten gefüllt werden, die unter den jeweils aktuellen Zeitumständen geboten waren. Hierzu zählten nicht nur Elemente des ge-wohnten oder gesetzten Rechts, sondern auch kulturelle Traditionen, wie sie in der Zeit des Hundertjährigen Krieges über alle Konflikt hinweg den Ausgleich der Inter-essen und alltäglich tragfähige Handlungsstrategien innerhalb des westeuropäischen Adels ermöglicht hatten. Unterlegene Standespersonen auf dem Schlachtfeld nicht zu töten, sondern als Geiseln gefangen zu nehmen und sie auf Ehrenwort zu entlassen, damit sie ihr Lösegeld beibringen konnten, gehörte zu einer solchen vielschichtigen, internationalen Praxis. Duelle zwischen Fürsten wurden nicht mehr wirklich durch-geführt, sondern symbolisch eindrucksvoll inszeniert, um beider Ehre und Rang zu wahren und so den Konflikt zwischen ihnen beizulegen. Fürstenbegegnungen, die nicht ohne Rangminderung auf dem Boden eines Reiches hätten stattfinden können, wurden dadurch ermöglicht, daß man einvernehmlich einen Ort – einen inmitten eines Flusses verankerten Kahn oder eine Brücke etwa – zum neutralen, sozusagen herrschaftsfreien Raum erhob.Andere Praktiken der internationalen Kommunikation ließen sich nennen. Mit der offenen Definition einer unverfügbaren und damit gerade gestaltbaren Werteord-nung als Völkerrechtsordnung war das Tor geöffnet zu einer zukunftsweisenden Ge-staltung der internationalen Beziehungen. Daß auch diese Theorie in der politischen Praxis herbe Rückschläge erleben musste, kann nicht überraschen. Als Erklärungs-

38 1350–1400. Baldus de Ubaldis über die Beziehungen zwischen unabhängigen Herr-schern, in: Fontes (wie Anm. 30), D VI, 2 f, S. 445;

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modell für ein jahrhundertelang ungelöstes Problem war sie aber in der Welt und sollte ihren Weg finden in die Moderne, die weiter intensiv daran gearbeitet hat und bis zur heutigen Gegenwart um deren Gestaltung ringt.

literatur:karl-heinz Ziegler: Völkerrechtsgeschichte, München 22007.

Emil usteri: Das öffentlich-rechtliche Schiedsgericht in der Schweizerischen Eidgenossen-schaft des 13.–15. Jahrhunderts. Ein Beitrag zur Institutionengeschichte und zum Völker-recht, Zürich 1925.

wilhelm grewe: Epochen der Völkerrechtsgeschichte, Baden-Baden 1984.

claudius sieber-lehmann: Spätmittelalterlicher Nationalismus. Die Burgunderkriege am Oberrhein und in der Eidgenossenschaft (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 116), Göttingen 1995.

karl Bittmann: Ludwig XI. und Karl der Kühne. Die Memoiren Philippe de Commynes als historische Quelle (3 Bände), Göttingen 1970.

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„Fundamentalismus“ ist ein Reizwort geworden, das Angst machen kann, Angst, die das Denken ausschließt oder extrem verengt auf mögliche „Reaktionen“. In solcher Lage mag es hilfreich sein, über Fundamentalismus noch anders als nur reagierend nachzudenken. Fundamentalistisch sollen dabei Gruppen oder Gesellschaften ge-nannt werden, die nach eigenem Verständnis die Fundamente ihrer Religion neu zum Bewusstsein bringen wollen und zugleich die Absicht haben, diese Fundamente kollektiv verbindlich zu machen, und zwar in Gesellschaft und Politik. In fundamen-talistischen Gesellschaften ist Religion deshalb keine Angelegenheit der individuel-len und freien Entscheidung, sondern Religion muss – in der fundamentalistischen Ausprägung – in Gesellschaft und Politik durchgesetzt werden. Religion und Politik sind in fundamentalistischen Gesellschaften nicht getrennt voneinander, sondern verbunden, vielleicht werden sie sogar als „dasselbe“ verstanden. Deshalb ist es in fundamentalistischen Gesellschaften keine private, sondern eine politische Frage, wie oft man den Gottesdienst zu besuchen hat, welche Kleidung für Frauen und Männer angemessen ist und daß wilde Tänze mit entsprechender Musik sich nicht gehören, zur höheren Ehre Gottes. Parteien haben in fundamentalistischen Gesellschaften zu-mindest eine religiöse Grundlage und schließen Mitglieder anderer „Fundamenta-

deutschlands langer abschied vom Fundamentalismus

Ein Zwischenruf aus den Flugschriften der Frühen Neuzeit

Esther-Beate Körber

Zentrale Wissenschaftliche Einrichtung „Deutsche Presseforschung“, Bremen E-Mail: [email protected]

schlüsselwörter Fundamentalismus, Flugschriften, Deutschland 1500–1650

Thema: Krieg und Frieden A) Geschichte B) Politik C) Kultur

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Thema: Krieg und Frieden

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lismus“ ist ein Reizwort geworden, das Angst machen kann, Angst, die das Denken ausschließt oder extrem verengt auf mögliche „Reaktionen“. In solcher Lage mag es hilfreich sein, über Fundamentalismus noch anders als nur reagierend nachzuden-ken. Fundamentalistisch sollen dabei Gruppen oder Gesellschaften genannt werden, die nach eigenem Verständnis die Fundamente ihrer Religion neu zum Bewusstsein bringen wollen und zugleich die Absicht haben, diese Fundamente kollektiv verbind-lich zu machen, und zwar in Gesellschaft und Politik. In fundamentalistischen Ge-sellschaften ist Religion deshalb keine Angelegenheit der individuellen und freien Entscheidung, sondern Religion muss – in der fundamentalistischen Ausprägung – in Gesellschaft und Politik durchgesetzt werden. Religion und Politik sind in fun-damentalistischen Gesellschaften nicht getrennt voneinander, sondern verbunden, vielleicht werden sie sogar als „dasselbe“ verstanden. Deshalb ist es in fundamentalis-tischen Gesellschaften keine private, sondern eine politische Frage, wie oft man den Gottesdienst zu besuchen hat, welche Kleidung für Frauen und Männer angemessen ist und daß wilde Tänze mit entsprechender Musik sich nicht gehören, zur höheren Ehre Gottes. Parteien haben in fundamentalistischen Gesellschaften zumindest eine religiöse Grundlage und schließen Mitglieder anderer Glaubensrichtungen aus; re-ligiöse Praktiken wie Fasten und Gebet können andererseits politische Funktionen und politische Stoßrichtung erhalten. Dabei müssen fundamentalistische Gesell-schaften nicht rückständig, primitiv oder statisch und vergangenheitsorientiert sein, im Gegenteil. An europäischen Entwicklungen lässt sich zeigen, dass fundamentalis-tische Ideen – das heißt, Versuche, Religion politisch zu verstehen und umgekehrt Politik religiös zu interpretieren – gerade in solchen Gesellschaften Konjunktur hat-ten und vielleicht haben, die sich in lebhaften, dynamischen Entwicklungsprozessen und Veränderungen befinden. Ein Beispiel solcher dynamischer Veränderungen und zugleich „fundamentalistischen“ Denkens in unserer eigenen Kultur und Geschichte bildet die Zeit zwischen Reformation und Dreißigjährigem Krieg. In dieser Zeit ent-wickelten sich im deutschen Sprachgebiet – um nur von ihm zu sprechen – nicht nur neue Formen von Staatlichkeit und ungeahnte soziale Mobilität, sondern auch neue religiöse Denkweisen und, infolge der Verbreitung des Buchdrucks, eine umfangrei-che politische Diskussion. Die Anfänge dieser Diskussion waren fundamentalistisch in dem geschilderten Sinne. An ihnen lässt sich also für unsere eigene Kultur zeigen, wie fundamentalistisches Denken gewissermaßen funktioniert, aber auch, dass und wie es sich verändern kann.Die politische Diskussion spielte sich in diesen Anfängen hauptsächlich in gedruck-ten Medien ab, die man heute „Flugschriften“ nennt. Es handelt sich um Heftchen oder kleine Bücher von acht bis mehreren Dutzend Seiten Umfang, die hauptsächlich Text enthalten, in denen also das Wort, nicht die Illustration, die Hauptrolle als In-formationsmittel spielt. Die Flugschriften sind für die Analyse veränderlicher Denk-

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formen besonders aufschlussreich, weil sie sich an lese- und schreibgeübte Menschen richteten, an Gebildete sozusagen, und deshalb im Vergleich zu anderen Medien der Zeit (zum Beispiel illustrierten Flugblättern oder politischen Liedern) verhältnismä-ßig differenziert argumentierten. So erlauben sie einen besonders genauen Einblick in die fremde Gedankenwelt unseres eigenen, europäischen, „Fundamentalismus“. Die drei Flugschriften, die in diesem Beitrag vorgestellt werden sollen, sind in jeweils etwa 45 Jahren Abstand voneinander in drei unterschiedlichen Kriegssituationen entstanden. Damit sie gedanklich eingeordnet werden können, wird jeweils kurz die Entstehungssituation der Flugschrift skizziert, dann eine prägnante Szene, mit der der anonyme Verfasser die politische Situation kommentiert. An den Eigenarten des jeweiligen Kommentars lässt sich zeigen, wie sich innerhalb einer insgesamt durch-gehend „fundamentalistisch“ denkenden Epoche Argumentationsstrukturen verän-derten. Das erste Beispiel stammt aus der Reformationszeit, es ist eines der frühesten Do-kumente einer neuzeitlichen politisch argumentierenden Publizistik überhaupt. Die Reformation war ja eine religiöse Bewegung, die – was im populären Verständnis oft unterschlagen wird – schon von Anfang an auch politisch verstanden wurde und politische Wirkungen zeitigte. Zur Entstehungszeit der Flugschrift 1541, etwas mehr als zwanzig Jahre nach Beginn der Reformation, hatte die Bewegung sich in einigen deutschen Territorien konsolidiert, aber es meldeten sich auch mehr und mehr Ge-genkräfte, religiös wie politisch. Herzog Heinrich II. der Jüngere von Braunschweig-Wolfenbüttel, war ein konsequenter Gegner der Reformation und stand ebenso aus konfessionellen wie aus politischen Gründen im Konflikt mit der lutherisch gewor-denen Reichsstadt Goslar; beide Seiten fürchteten einen militärischen Angriff vom jeweiligen Gegner1, wobei selbstverständlich die religiösen Verhältnisse des Besiegten so geregelt werden würden, wie es der Sieger für richtig hielt. Infolgedessen spielten in dem sich zuspitzenden Konflikt auch konfessionelle Argumente eine Rolle. Luther sprach in seiner Flugschrift Wider Hans Worst vom Teufel und „seinem Hintzen zu Wolfenbüttel“2, wobei er mit dem Ausdruck „seinem Hintzen“ den Herzog Heinrich als Gefolgsmann des Teufels und dem Satan loyal darstellte. Die Schrift Heinrichs gegen den Kurfürsten von Sachsen, Luthers Landesherrn, nannte Luther „ein rechte

1 schmidt, heinrich: Heinrich der Jüngere, Herzog von Braunschweig-Lüneburg-Wolfen-büttel. In: NDB 8, S. 351 f.; römer, christof: Geschichte des Landes Braunschweig. In: Meibeyer, Wolfgang, u. a.: Braunschweig und das Land zwischen Harz und Heide. Schrif-tenreihe der Niedersächsischen Landeszentrale für politische Bildung, Folge 3. Hannover 1994, S. 104–106.

2 luther, martin: Wider Hans Worst. In: D. Martin Luthers Werke, Kritische Gesamtausga-be (Weimarer Ausgabe), Abt. I, Werke, Bd. LI. Weimar 1867 (Ndr. 1914), S. 470.

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Copey und formular aus des Teufels Cantzeley genomen“3. Was in diesen Worten in gleichwohl derber Sprache nur hingeworfen worden war, führte die folgende evangelische Publizistik breit und mit offensichtlichem Vergnü-gen aus. Eine Flugschrift von 1541 zum Beispiel vereinigt zwei, selbstverständlich fingierte, Briefe. Der erste enthält die Bestallung Herzog Heinrichs zum Hauptmann aller anti-evangelischen Kriegszüge – ausgestellt von „Lucifer von Gottes vngnaden/ Oberster Tyrann in der Helle und Fürst der Welt“4. Wie Luther, vielleicht nach seinem Vorbild, schreibt auch der unbekannte Verfasser der Flugschrift dem Fürsten Satan eine eigene Kanzlei zu und deshalb auch einen unterweltlichen Kanzleivorsteher, der den Bestallungsbrief als „Radamanthus Archicancellarius“ unterzeichnet5. Der zweite Brief stammt angeblich vom Scharfrichter zu Wolfenbüttel6, der berichtet, er habe vom Teufel zwei Briefe mit Anweisungen für Herzog Heinrich bekommen7 – die Anspielung Luthers auf ein Gefolgschafts- und Loyalitätsverhältnis Heinrichs des Jüngeren zum Teufel wird also gewissermaßen in eine dramatische Handlung um-gesetzt. Ferner erzählt der Scharfrichter, er habe sich vor kurzem mit den zwölf be-rühmtesten Scharfrichtern getroffen, und diese hätten sich dafür ausgesprochen, der Herzog habe für seine Vergehen fürchterliche Folterstrafen verdient, die dann auch mit aller Lust am Brutalen aufgezählt werden – langsames Geröstetwerden bei leben-digem Leib gehört dazu und einiges weitere, das heute vermutlich als Gewaltverherr-lichung nicht mehr druckreif wäre8. Für Differenzierungen oder Verhandlungen ist in Publizistik der geschilderten Art kein Platz, es geht ums Ganze und Endgültige: Gott oder Teufel, Gut gegen Böse, so radikal wird die Entscheidungssituation darge-stellt. Vermittlung ist unmöglich, ein Loyalitätskonflikt ausgeschlossen. Die Parole ist denkbar einfach und uns wieder schauerlich vertraut: Gegen den Feind muss man mit allen Mitteln vorgehen, weil er auch der religiöse Antityp, der absolut und radikal Böse ist. Nun könnte man gerade wegen dieser schauerlichen Vertrautheit schließen, dass sol-che Schwarz-Weiß-Malerei zu jeder Kriegspublizistik gehört, weil Kriegspublizistik zwangsläufig vergröbern muss, um wirksam zu sein. Aber das wäre ein vorschnelles Urteil. Dass es auch anders geht und ging, zeigt das zweite Beispiel, eine Flugschrift aus dem Jahre 1587, also 46 Jahre später. Diese Flugschrift stammt aus der Zeit der

3 ebd., S. 476.

4 Newe Zeitung.// Zween Sendbriff/ // An Hansen Worst/ // Zu Wolfenbuttel ge=// schrieben [...] Anno LXI (lt. Bibliothekarsvermerk 1541, also korrekt XLI), A 2 v.

5 ebd., B 2 r, dort auch ein (fingiertes) Datum: 1. März 1541.

6 ebd., B 2 v.

7 ebd., B 3 r.

8 ebd., B 3 v – C 1 r.

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Hugenottenkriege, einer ebenfalls sowohl religiös als auch politisch verstandenen Auseinandersetzung zwischen einer, wie man damals schon sagte, evangelischen und einer katholischen Adelspartei in Frankreich. 1587 war ein Kontingent aus evangeli-schen Söldnern deutscher und schweizerischer Herkunft nach Frankreich gezogen, um die evangelische Partei militärisch zu unterstützen9. Sie waren jedoch geschla-gen worden, worüber sich nun die gegnerische katholische Partei genüsslich lustig machte. Das Gebet, das in den evangelischen Gemeinden der Schweiz für die aus-ziehenden Schweizer Söldner gesprochen worden war, wurde von katholischer Seite nachgedruckt und mit Randbemerkungen höhnisch kommentiert: Gott erhöre eben das Gebet von Sündern nicht und das von Ketzern noch viel weniger10. Als „Vorre-de“ und Kommentar zu diesem Gebet entwirft ein Münchener Druck eine Szene, die in ihrer bildhaften Drastik an eine Karikatur erinnert: Im Caluinisch Badstübl (so der Titel der Flugschrift) sitzen in einer Ecke die evangelischen Prediger, die andächtig gebetet haben, bevor sie ins Schwitzbad, das heißt, in die politische Be-drängnis, geraten sind11. In der zweiten Ecke waschen sich Fabian von Dohna und die evangelischen Söldner, die er angeführt hat12; offenbar wollen sie die Schande ihrer Niederlage „abwaschen“. In der dritten Ecke hockt ein namenloser Protestant aus Frankreich, wäscht „an den Nauarrischen Frantzosen“ (als „Franzosenkrankheit“ wurde schon damals auf Deutsch die Syphilis bezeichnet) und beschmutzt bei dieser Tätigkeit auch Dohna und die Schweizer und deutschen Söldner. Die vierte Ecke ist weggefallen, spottet der Verfasser, denn sie wäre für das Tedeum, den Lobgesang der Evangelischen reserviert gewesen, den sie nun aber nicht anstimmen können, „vnnd wann sie zuuor gewist hetten/ was sie jetzo wissen/ hetten sie gewißlich jhr Gebett nit drucken lassen.“Heutigen Lesern dieser Flugschrift fällt vielleicht zuerst auf, wie viel „Fundamen-talismus“, also Vermischung religiöser und politischer Belange, sich auch in dieser Szene findet. Selbstverständlich tragen politische Parteiungen ein religiöses Etikett, selbstverständlich wird angenommen, dass Gott dem „richtigen“ religiösen Ziel auch

9 zum Folgenden vgl.: Mit was Glück/ Sig// vnd Ehren/ das Teütsche Nauarrische// Kriegs-uolck zu Roß vnd Fuoß/ den Hugonotten// inn Franckreich zu hilff komen/ vnnd wie sy wider/ abgezogen/ im Jar 1587.//Sampt Jhren/ vnd der Nauarrischen// Schweytzern/ Christlichen Gebett/ [...] Anno Domini 1588, passim.

10 Caluinisch Badstübl/ // Das ist: Ein kurtzer doch auß=// fürlicher vnd lustiger warhaff-tiger Be=// richt/ was massen die Casimirische/ Schweitzerische/ vnd Nauarrische [...] Caluinisten den// grossen Schandfleck/ welchen sie im Frantzosischen Krieg/ Anno// 87. daruon getragen/ gern wolten abwaschen [...] Durch// M. Johan Baptista Badweyler zusamen// tragen/ vnd in Truck geben [...], A 3 r.

11 zum Folgenden vgl. ebd., Vorrede, fol. A 2 r. Druckervermerk auf M 3 v: „Gedruckt zu München/ bey Adam Berg.“.

12 Zu Fabian von Dohna (1550–1621) und sein Eingreifen in die Hugenottenkriege vgl. Nissen, Walter: [Dohna,] Fabian, in: NDB 4, 49 f.

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militärisch zum Sieg verhilft, und im Umkehrschluss aus der Niederlage gefolgert, dass die von den Unterlegenen vertretene Lehre falsch sein muss13; selbstverständ-lich wird der politische Gegner als moralisch verkommen (syphilitisch) und böse geschildert. Allerdings – und das ist eine entscheidende Veränderung – nicht mehr als absolut und radikal böse, nicht mehr als Teufelsknecht. Der Teufel ist sogar ganz aus dem Bild des politischen Kampfes verschwunden. Der Kampf der verfeindeten Religionsparteien ist zwar immer noch ein Kampf Gut gegen Böse, aber er verliert sozusagen seine apokalyptische Dimension, seine letztgültige Verbindlichkeit. Des-halb muss auch der menschliche Gegner nicht mehr als der absolut Böse gefürchtet werden; vielmehr kann man ihn in seiner Menschlichkeit ernst nehmen, vielleicht sogar ein (spöttisches) Mitleid mit ihm empfinden wie mit den armen Herren im „Schwitzbad“. Für Verhandlungen und Kompromisse ist zwar noch immer kein Platz in dieser Art von Publizistik; dem katholischen „Christen“ steht der evangelische „Ketzer“ unversöhnlich gegenüber. Auch lässt der katholische Flugschriftenverfasser keinen Zweifel daran, dass er die Protestanten für von Gott verdammt hält: Beim Jüngsten Gericht, so droht er in spöttisch abgemilderter Formulierung, „wirds noch anderst mit jhnen zugehen/ als in Franckreich.“14 Aber die geistlich-apokalyptische Dimension ist gegenüber der früheren Flugschrift deutlich in den Hintergrund ge-rückt. In den Zusammenhängen der Politik außerhalb der Ewigkeit kann man den Gegner immerhin menschlich schildern, man kann ihm sogar, wie der Verfasser der Flugschrift, zugestehen, dass er andächtig betet, auch wenn man diese Andacht für die falsche hält. Wiederum fast fünfzig Jahre später, zu Beginn des Dreißigjährigen Krieges (1621), findet sich in einer Flugschrift noch einmal eine Dialogszene, aber wieder von ganz anderem Charakter. Der evangelische Bauer Kunz Knoll berichtet seinem katholi-schen Kollegen Fritz Bößwirth von einer interessanten politischen Neuigkeit: Auf den evangelischen Feldherrn Grafen Ernst von Mansfeld sei ein Attentat verübt wor-den15. Spanische Jesuiten hätten den Attentäter gedungen, er habe aber, überwältigt von der persönlichen Ausstrahlung des Feldherrn, seinen Auftrag nicht ausführen können und sei verhaftet worden. Stolz und fundamentalistisch hält der Bauer Kunz Knoll diese Nachricht für einen Beweis der Kraft und Überlegenheit nicht nur des Feldherrn, sondern auch seiner, der evangelischen, Religion. Fritz Bößwirth, der Ka-tholik, ist zunächst beeindruckt. Aber dann setzt er – als Historiker liest man das mit

13 ebd., A 4 r.

14 ebd., B 1 r.

15 Zum Folgenden vgl. Gesprech// Kuntz Knollens Caluinischen/ vnd/ Fridrichs Bößwirths Catholischen.// Von einer newen Je=// suitischen Mordthat/ so sie im Läger bey// Roß-haubt an dem Manßfelder zubegehen willens gewest sein sollen.// [Vignette] Getruckt zu Amberg/ bey Michael Forster/ Jm Jahr// M.DC.XXI, passim.

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besonderem Vergnügen – gewissermaßen zur Quellenkritik an. In welcher Sprache hätten die Jesuiten denn den Attentäter verpflichten können? Er verstand doch sicher weder Spanisch noch die Gelehrtensprache Latein. Außerdem waren zur fraglichen Zeit gar keine Jesuiten im Lager des Feldherrn. So wird die ganze Geschichte Schritt für Schritt demontiert, bis ein zweiter „Zeitungsbote“ das Rätsel löst: Der Feldherr Mansfeld hat, so die Flugschrift, das Attentat selbst inszeniert, um seine Autorität zu befestigen. Der Katholik Bößwirth hat die evangelische publizistische Strategie erfolgreich entlarvt. Die Flugschrift argumentiert wie die anderen fundamentalistisch, sieht Politik und Religion eng verbunden. Aber wieder hat sich in der Gesprächssituation Entschei-dendes verändert. Die beiden Gesprächspartner sind jetzt einander gleich, beide Bauern. Sie erkennen einander nicht nur als Menschen, sondern auch als gleichbe-rechtigt an; sie sprechen miteinander, wie man heute sagt, auf Augenhöhe. Zwar wird am Ende klar, dass der Verfasser der Flugschrift den evangelischen Feldherrn als Trickser hinstellt und den katholischen Bauern die Wahrheit enthüllen lässt. Aber für den Leser bleibt die Wahrheitsfrage bemerkenswert lange in der Schwebe, weil der Verfasser die Personen eben nicht durch Werturteile wie Christ und Ketzer oder gar Gottesmann und Teufelsdiener vorab charakterisiert. Toleranz wird man in dieser Haltung noch nicht erkennen wollen, wohl aber eine wichtige Voraussetzung für To-leranz, dass nämlich die Frage der religiösen Wahrheit überhaupt in der Schwebe ge-lassen werden kann, zwar nicht unentschieden, aber jedenfalls unbesprochen bleibt und das Gespräch der beiden Bauern nicht von vornherein blockiert.Und noch etwas Weiteres erscheint bemerkenswert. Der Feldherr Mansfeld, wie ihn die Flugschrift schildert, glaubt an die Überzeugungskraft der fundamentalistischen Argumentation. Er hat das gescheiterte Attentat inszeniert, weil er glaubt, dass die Menschen, wenn sie ihn für politisch erfolgreich, weil unverwundbar halten, auch seine Sache, fundamentalistisch, für die Sache Gottes halten werden. Der katholische Bauer in der Flugschrift zeigt nicht nur, dass das Attentat eine Inszenierung war. Er macht damit auch den Feldherrn unglaubwürdig – und meldet damit erste, vorsich-tige Zweifel an der fundamentalistischen Argumentation selber an. Nicht jeder poli-tische Erfolg muss darauf zurückgehen, dass man die richtige religiöse Überzeugung hat. Politische Erfolge des Gegners anerkennen, vielleicht sogar von ihnen beein-druckt sein, heißt nicht unbedingt, dass man damit gleich den Anspruch der eigenen Religion auf Wahrheit aufgibt. Nicht jede Beziehung zwischen Religion und Politik ist stimmig, sie kann inszeniert, gemacht, sie kann geradezu eine Lüge sein. Zurückge-wiesen, gar überwunden ist die fundamentalistische Haltung damit noch lange nicht, und noch sieht der in der Diskussion siegreiche Katholik die fundamentalistische In-szenierung nur auf der Seite des Gegners. Aber es ergibt sich zumindest die Möglich-keit, von der fundamentalistischen Haltung Abschied zu nehmen – langen Abschied.

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Aus den genannten Beispielen lassen sich Folgerungen in mehrere Richtungen zie-hen. Einmal wird klar, dass „Fundamentalismus“ für Europa keine schlechterdings fremde Geisteshaltung ist, sondern ein Aspekt der eigenen Kultur und Geschichte. Zweitens lässt sich aus den Beispielen erkennen, dass „Fundamentalismus“ selbst keine einheitliche und unveränderliche Haltung sein muss, sondern sich verändern kann und in unserer Kultur auch tatsächlich verändert hat. Die Argumentation mit Gott und Teufel, die als das „eigentliche“ Kennzeichen fundamentalistischen Den-kens angesehen werden könnte, ließ sich in den deutschen konfessionellen Ausein-andersetzungen nicht aufrechterhalten. Sie wich, freilich erst in Jahrzehnten und, wie man hinzufügen muss, mit manchen Rückfällen und Rückschlägen, einer weniger grundsätzlichen Argumentationsweise, die zwar noch auf „fundamentalistischer“ Grundlage der Vereinigung von Religion und Politik stand, in der das Feindbild aber sein religiöses Bedrohungspotential allmählich verlor. Aus dem Feind als Teufel, den man mit allen Mitteln niederzuringen hat, wurde der menschliche religiöse Feind, den man mit politischen und notfalls militärischen Mitteln bekämpft, ohne ihn als seelisch-geistliche Bedrohung zu fürchten, und schließlich der gleichberechtigte Gegner, den man auch (aber noch nicht ausschließlich) mit Argumenten überzeu-gen kann. Zum „Abschied vom Fundamentalismus“, also zur Trennung von Religion und Politik, fanden die geschilderten Flugschriften noch nicht; das sollte auch in Europa noch Jahrhunderte dauern, und es fragt sich, ob dieser Prozess heute abge-schlossen ist. Für Deutschland bahnte der Westfälische Friede von 1648 zumindest die Trennung von Religion und Außenpolitik an: Er legte fest, dass die deutschen Territorialherrscher untereinander künftig auf die gewaltsame politische Durchset-zung religiöser Normen verzichten sollten.Welche Erfahrungen diesen „langen Abschied vom Fundamentalismus“ befördert haben, darüber lässt sich nur spekulieren. Für die Ausbildung von „Gegnerschaft in Gleichberechtigung“ statt der anfänglichen Verteufelung spielte es wahrschein-lich eine Rolle, dass in Deutschland keine der Religionsparteien einen eindeutigen militärischen Sieg erfechten konnte – auch schon vor dem Dreißigjährigen Krieg nicht – und militärische Siege immer wieder durch diplomatische Niederlagen un-wirksam gemacht wurden, und das hundert Jahre lang und länger. Ein zweiter für diesen „langen Abschied“ förderlicher Faktor war es wahrscheinlich, dass die po-litisch Verantwortlichen – Herrscher und Herrscherinnen, Diplomaten weltlichen und geistlichen Standes – trotz des religiösen Dissenses ständig zur politischen Zu-sammenarbeit über die Konfessionsgrenzen hinweg gezwungen waren, um ihre Po-litik zu koordinieren. Zusammenarbeit aber ist mit einem Gegner, den man für den Teufel hält, ebensowenig möglich wie mit einem hoffnungslos Unterlegenen oder Verachteten. Zusammenarbeit zwingt Menschen, einander als Menschen zu respek-tieren und eben um der gemeinsamen Aufgabe willen auf die Durchsetzung des ei-

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genen religiösen Bekenntnisses beim politischen Gegner zu verzichten. Anders ge-sagt: Militärisches Patt und dauernde politische Kontakte haben dazu beigetragen, in Deutschland und wahrscheinlich auch im übrigen Europa die „fundamentalistische“ Haltung aufzuweichen, und zwar schon in einer Zeit, in der alltägliche Kontakte mit Anderskonfessionellen selten waren und in vielen Fällen sogar als verdächtig galten. Ob und wie sehr die geschilderten Beispiele Hoffnungen auf den Wandel anderer „Fundamentalismen“ machen können, lässt sich aus der geschilderten Entwicklung allein nicht ableiten, möglicherweise aber aus der strukturellen Analogie von „Fun-damentalismen“ in verschiedenen Epochen und Kulturen, die freilich noch nicht ge-nauer untersucht ist. Es fällt ja an dem europäischen Beispiel auf, dass die streitenden deutschen „Religionsparteien“ kein europäisches oder außereuropäisches Vorbild für die Gleichberechtigung Anderskonfessioneller brauchten, sondern schließlich die religiöse (oder für das Christentum besser: konfessionelle) Toleranz aus den ei-genen politischen Kräften entwickelten, weil ihnen die kompromisslose politische Durchsetzung ihres eigenen konfessionellen Standpunktes nicht gelungen war. Auch wenn Analogieschlüsse problematisch sein mögen, erst recht über einen zeitlichen Abstand von bis zu 500 Jahren hinweg, kann man strukturelle Analogien vielleicht auf einer sehr abstrakten Ebene erkennen. Die ersten im Druck ausgetragenen „po-litischen“ Debatten in Deutschland waren fundamentalistisch in einer sehr groben, undifferenzierten Art. Nichts wies darauf hin, dass das scheinbar feststehende Feind-bild des religiös-politischen Gegners als eines Teufelsdieners sich auflösen könnte. Geschehen ist das dennoch, wenn auch erst nach langer Zeit und manchen Rück-schlägen – nicht deshalb, weil im Fundamentalismus selbst die Ansätze zu seiner Auflösung stecken müssten, sondern deshalb, weil religiös-politische Absolutheits-ansprüche sich in den Bedingtheiten der Politik nicht durchsetzen konnten und sich dadurch als politische Prinzipien unglaubwürdig machten. Vor dem Hintergrund solcher geschichtlicher Erfahrung besteht jedenfalls Anlass vielleicht zum Nachden-ken, aber nicht zur Furcht, schon gar nicht vor einem Wort.

literaturluther, martin: Wider Hans Worst. In: D. Martin Luthers Werke, Kritische Gesamtausgabe (Weimarer Ausgabe), Bd. LI, Weimar 1867 (Ndr. 1914), (461) 469–572.

nissen, walter: [Dohna,] Fabian. In: NDB 4, S. 49 f.

römer, christof: Geschichte des Landes Braunschweig. In: Meibeyer, Wolfgang, u. a.: Braunschweig und das Land zwischen Harz und Heide (Schriftenreihe der Niedersächsi-schen Landeszentrale für politische Bildung, Folge 3, Hannover 1994), S. 89–140.

schmidt, heinrich: Heinrich der Jüngere, Herzog von Braunschweig-Lüneburg-Wolfenbüt-tel. In: NDB 8, S. 351 f.

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QuellenCaluinisch Badstübl/ // Das ist: Ein kurtzer doch auß=// fürlicher vnd lustiger warhafftiger Be=// richt/ was massen die Casimirische/ Schweitzerische/ vnd Nauarrische [...] Caluinisten den// grossen Schandfleck/ welchen sie im Frantzosischen Krieg/ Anno// 87. daruon getra-gen/ gern wolten abwaschen [...] Durch// M. Johan Baptista Badweyler zusamen// tragen/ vnd in Truck geben [...]. Druckervermerk auf M 3 v: „Gedruckt zu München/ bey Adam Berg.“

Gesprech// Kuntz Knollens Caluinischen/ vnd/ Fridrichs Bößwirths Catholischen.// Von einer newen Je=// suitischen Mordthat/ so sie im Läger bey// Roßhaubt an dem Manßfelder zube-gehen willens gewest sein sollen.// [Vignette] Getruckt zu Amberg/ bey Michael Forster/ Jm Jahr// M.DC.XXI.

Mit was Glück/ Sig// vnd Ehren/ das Teütsche Nauarrische// Kriegsuolck zu Roß vnd Fuoß/ den Hugonotten// inn Franckreich zu hilff komen/ vnnd wie sy wider/ abgezogen/ im Jar 1587.//Sampt Jhren/ vnd der Nauarrischen// Schweytzern/ Christlichen Gebett/ [... o. O.] Anno Domini 1588.

Newe Zeitung.// Zween Sendbriff/ // An Hansen Worst/ // Zu Wolfenbuttel ge=// schrieben [...] Anno LXI (lt. Bibliothekarsvermerk 1541, also korrekt XLI).

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“The difficulty lies, not in the new ideas, but in escaping from the old ones, which ramify, for those brought up as most of us have been, into every corner of our minds.” John Maynard Keynes

“We have no territorial ambitions; we don’t seek an empire. Our nation is committed to freedom for ourselves and for others. We and our allies have fought evil regimes and left in their place self-governing and prosperous nations”, verkündete US-Präsident Bush in einer Rede am 11. November 2002.1 Indessen wurde die US-Regierung in den letzten Jahren wiederholt als imperial oder imperialistisch bezeichnet. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts sind die Debatten um die neue Weltordnung und die Chancen einer „postimperialen Macht“ neu entbrannt.2 Doch warum existiert bisher keine politikwissenschaftliche Theorie, die Aufstieg und Fall von Imperien erklären kann? Dieser Artikel will das bezeichnete Defizit untersuchen und dabei im Besonderen

1 the white house: President Bush Salutes Veterans at White House Ceremony.

2 vgl. demandt, alexander: Großreiche.

Thema: Krieg und Frieden A) Geschichte B) Politik C) Kultur

vergessene imperien

Oder: eine fehlende Theorie in den Internationalen Beziehungen

Nina Kolleck

Universität Stuttgart, Stuttgart E-Mail: [email protected]

schlüsselwörterImperium, Imperialismus, Hegemonie

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Thema: Krieg und Frieden

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auf folgende Fragen eingehen: Was ist unter „imperial“ zu verstehen? Was bedeutet der Imperiumsbegriff in den Internationalen Beziehungen? Kann von einem Ende des imperialen Zeitalters die Rede sein oder stehen wir auch gegenwärtig unter der Einflussnahme imperialer Herrschaft?Für die Beantwortung der zentralen Frage werden insbesondere drei Hypothesen ge-prüft: Erstens die These, dass der historische Kontext der Theorien der Internationa-len Beziehungen eine Erklärung liefern kann. Zweitens wird untersucht, ob eine Ant-wort in den Theorien der Internationalen Beziehungen selbst zu finden ist. So wird vermutet, dass diese zum großen Teil von nationalstaatlichen Prämissen ausgehen und Imperien nicht ausreichend erfassen können. Drittens wendet sich der Artikel der These zu, dass empirische Probleme die Ursache für eine fehlende Imperiums-theorie sind. Schließlich werden in einem Ausblick Gedanken und Vorschläge für die Entwicklung einer zukünftigen Imperiumstheorie dargelegt. Dabei erscheint eine Verbindung historiographischer Betrachtungen mit den Theorien der Internationa-len Beziehungen als weiterführend. So beschreiben die Theorien der Internationalen Beziehungen verschiedene Weltbilder ihres Gegenstandes – des internationalen Sys-tems. Nach Karl Popper sind Theorien unterschiedliche Netze, die wir auswerfen, um die Welt einzufangen, sie zu beschreiben und zu rationalisieren.3 Während die ein-zelnen Schulen in der Vergangenheit von nationalstaatlichen Prämissen ausgingen, finden seit einigen Jahren transnationale Prozesse sowie die Rolle von Ideologien und Normen immer mehr Berücksichtigung. Jede Theorie der Internationalen Be-ziehungen erschließt für sich einen neuen Erkenntnisbereich, wendet sich bestimm-ten Ebenen zu und berücksichtigt unterschiedliche Aspekte. Aus diesem Grund ist es wichtig, einst respektierte Theorien nicht komplett zu verwerfen, sondern auf ihnen aufzubauen und sie weiterzuentwickeln. Im Folgenden soll gezeigt werden, inwie-weit Theorieelemente der Theorien der Internationalen Beziehungen Aussagen über Imperien treffen können und kombiniert mit empirischen und historiographischen

Untersuchungen einen Beitrag zur Schließung der Forschungslücke leisten können.

Begriffsbestimmungen

Die Begriffe Imperium und imperial werden oft schwammig und zum Teil wider-sprüchlich definiert. Nicht selten verwenden Wissenschaftler die Begriffe als Syno-nyme für Imperialismus und imperialistisch und weisen ihnen eine denunziatorische Bedeutung zu. Um ein differenzierteres Verständnis zu vermitteln, werden in der Folge der Imperiumsbegriff sowie seine Abgrenzungen von verwandten Bezeichnun-gen etwas ausführlicher diskutiert. Greifen wir zunächst zurück auf den Imperiums-begriff nach Herfried Münkler, nach dem Imperien zwei zentrale Kriterien erfüllen:

3 vgl. Popper, karl: Logik der Forschung, S. 31.

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Zum einen die zeitliche Dauer und zum anderen die räumliche Ausdehnung.4

Zeitliche Dauer wird erlangt, indem die „augusteische Schwelle“5 überschritten wird, dass heißt, dass Handels- durch Herrschaftsstrukturen ergänzt werden und auf eine Phase der Expansion eine des Friedens und des wirtschaftlichen Wachstums folgt.6 Es wird bereits deutlich, dass einige historische Reichsbildungen nicht als Imperi-um bezeichnet werden können. So konnte Napoleon die augusteische Schwelle nicht überschreiten und auch das spanische Reich weist keine ausreichende zeitliche Dau-er auf, da es seine Handels- nicht durch Herrschaftsstrukturen ergänzen konnte.Dagegen existierte die Donaumonarchie sicherlich lange genug und war sowohl po-litisch als auch ökonomisch ausreichend gefestigt, um das Kriterium der zeitlichen Dauer zu erfüllen. Eine hinreichende räumliche Expansion konnte die Donaumon-archie allerdings nicht aufweisen, so dass auch hier nicht von imperialer Herrschaft die Rede sein kann. Die Eigenschaft der räumlichen Ausdehnung lässt sich für Lan-dimperien viel leichter anwenden als für See- oder Steppenimperien. Bei Ersteren beschränkt sich die räumliche Ausdehnung auf die physische Kontrolle von Räumen. Bei Letzteren sind auch die Lenkung von Waren-, Kapital- und Informationsströmen sowie wirtschaftliche Knotenpunkte entscheidend. Ein Beispiel für ein Seeimperium ist das britische Imperium.7

Im Unterschied zu Nationalstaaten weisen Imperien keine markanten Grenzen auf und stehen keinen annähernd gleichberechtigten Akteuren gegenüber. Das Verhält-nis zwischen Imperium und Peripherie ist dementsprechend asymmetrisch. Imperi-ale Herrschaft bezieht sich nicht auf Nationalstaaten, sondern auf die vom Imperium beherrschten Räume und grenzt sich ab von den „Barbaren“8. Hier liegt auch der Unterschied zwischen Imperien und Hegemonien begründet, denn hegemoniale Mächte sind immer nationalstaatlich fundiert.9 In der aktuellen Literatur über Impe-rien wird der Hegemoniebegriff allerdings zum Teil undifferenziert und kaum theo-retisch reflektiert verwendet.10

4 münkler, herfried: Imperien, S. 22–30.

5 Der Begriff „augusteische Schwelle“ geht zurück auf Kaiser Augustus, der um 31 vor Christus Reformen im römischen Reich anstrebte und nicht mehr auf Expansion, sondern auf Sicherheit und Wohlstand des imperialen Raums setzte. Die Respublica Romana verwandelte sich zu dieser Zeit in das Imperium Romanum.

6 doyle, michael: Empires, S. 344 ff.

7 Dieses wird meist als british empire bezeichnet. Aufgrund der widersprüchlichen Ver-wendungen der Begriffe Imperium und Empire wird in diesem Aufsatz auf die deutschen Bezeichnungen „britisches Imperium“ oder „britisches Seereich“ zurückgegriffen.

8 Für den Begriff des Barbaren vgl. machiavelli, niccolò: Discorsi.

9 Für die theoretischen Hintergründe des Hegemoniebegriffs vergleiche gramsci, anto-nio: Gefängnishefte sowie kindleberger, charles: The world in depression.

10 So zum Beispiel bei münkler, herfried: Imperien; bei Bollmann, ralph: Lob des Imperi-

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Der Begriff Imperialismus weist im Unterschied zu dem des Imperiums einen Zusam-menhang mit der europäischen Kolonialzeit auf. Imperialismustheorien konzentrie-ren sich fast ausschließlich auf die Entstehungsphase von imperialistischen Regimes, sie weisen eine stark normativ-wertende Perspektive auf und begreifen den Prozess als vom Zentrum zur Peripherie verlaufend. Die theoretische Betrachtung von Im-perien erfolgt indessen unter stark deskriptiv-analytischem Blickwinkel, wobei nicht selten eine imperiumsverherrlichende Position eingenommen wird.11 In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts entstand eine Reihe von liberalen und marxistischen Im-perialismustheorien.12 Trotz ontologischer und epistemologischer Differenzen waren sich beide darüber einig, dass Imperialismus aus dem Verhalten kapitalistischer Staa-ten entspringt und dass imperialistisches Verhalten jeder beteiligten Partei schade.Ein Imperium muss letzten Endes unterschieden werden vom „Empire“ nach Hardt und Negri.13 Dabei grenzen sich Hardt und Negri bei der Beschreibung des Empires vollständig ab vom methodologischen Nationalismus der Theorien der Internatio-nalen Beziehungen. „Unsere grundlegende Hypothese ist deshalb, dass Souveränität eine neue Form angenommen hat, sie eine Reihe nationaler und supranationaler Or-ganismen verbindet, die eine einzige Herrschaftslogik eint. Diese neue globale Form der Souveränität ist es, was wir Empire nennen.“ Dabei ähnelt das Empire der die Bevöl-kerung regulierenden Biomacht nach Michel Foucault.14 Da sich Hardt und Negri jedoch offenbar nicht vertieft mit der Geschichte von Imperien auseinandergesetzt haben15, sich in ihrer Analyse vornehmlich auf Imperialismustheorien sowie impe-rialistische machtpolitische Strategien konzentrieren und vergangene Imperien aus-schließlich mit imperialistischen Charakteristiken beschreiben, ist der Empirebegriff

für die Formulierung einer Imperiumstheorie nicht besonders hilfreich.

historischer kontext der theorien der internationalen Beziehun-gen

Ein Blick in die Geschichte zeigt, dass es bisher zwar viele historiographische Dar-stellungen einzelner Imperien sowie theoretische Erklärungen für Imperialismus

ums.

11 So zum Beispiel bei Bollmann, ralph: Lob des Imperiums und annähernd auch bei münkler, herfried: Imperien.

12 Liberale Imperialismustheorien wurden unter anderem von Schumpeter und Hobson, marxistische unter anderem von Luxemburg, Lenin, Mao Tse Tung und Arendt formu-liert. Eine übersichtliche und sehr prägnante Darstellung der Imperialismustheorien liefert mommsen, wolfgang: Imperialismustheorien.

13 vgl. hardt, michael/negri, antonio: Empire.

14 vgl. Foucault, michel: Der Wille zum Wissen.

15 vgl. hardt, michael/negri, antonio: Empire, S. 11 ff.

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gegeben hat; es jedoch im Gegenzug an sozialwissenschaftlich ausgerichteten Krite-rien für Imperialität mangelt.16 Auch in den Theorien der Internationalen Beziehun-gen wurden Imperien so gut wie gar nicht thematisiert. Nun ist die Geschichte der Theorien der Internationalen Beziehungen relativ jung. Die Entstehung der ersten imperiumstheoretischen Ansätze geht zurück auf den Beginn des 20. Jahrhunderts. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gab es mehrere Versuche der Gründung einer imperialen Herrschaft, die grausame Konsequenzen nach sich zogen. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges sehnte sich ein Großteil der am Krieg beteiligten Bevölkerung nach einem friedlichen Zusammenleben. Die Etablierung eines Imperi-ums schien diesem Wunsch zuwiderzulaufen. Herrschende Mächte lehnten es ab, als imperial bezeichnet zu werden, wobei der Begriff nicht selten verwendet wurde, um einen politischen Gegner zu diffamieren. Lenin versuchte sich noch an einer marxis-tischen Imperialismustheorie, in der er den Imperialismus als das höchste Stadium des Kapitalismus betrachtete.17 Er selbst charakterisierte seine eigene Herrschaft nie als imperial. Die Sowjetunion sollte in keiner Weise als Fortsetzung des russischen Zarenreichs gelten, weil dies ihr Selbstbild diskreditiert und ihrer Ideologie wider-sprochen hätte. Im 20. Jahrhundert setzten sich Wissenschaftler ausgiebig mit dem Thema Imperialismus und dem Versuch der Gründung einer Imperialismustheo-rie auseinander, ohne jedoch große Erkenntnisgewinne zu erzielen. Es scheint, als hätte der Reiz einer wissenschaftlichen Betrachtung von Imperien außerhalb der Geschichtswissenschaft durch die Flut von „gescheiterten“ Imperialismustheorien seinen Reiz verloren.In den 1970er bis 1980er Jahren lebte eine Debatte um Imperien auf, die sich um die Frage drehte, ob das Ende des imperialen Zeitalters eingetreten sei. Das Prinzip der Souveränität von Nationalstaaten, die relativ sinkende Machtposition potentiell im-perialer Staaten sowie die Zweifel an der Rentabilität von Imperialität führten nach Paul Kennedy zum weit verbreiteten Konsens, dass sich in der Zukunft keine Impe-rien mehr etablieren würden.18

Der historische Kontext der Disziplin der Internationalen Beziehungen kann somit als eine Ursache für die fehlende Existenz einer sozialwissenschaftlich ausgerichteten Imperiumstheorie ausgemacht werden, dennoch wäre es verfehlt, dies als die einzige Ursache zu bezeichnen. Die Vermutungen über das Ende des imperialen Zeitalters rechtfertigen auch deshalb nicht das Fehlen einer sozialwissenschaftlich ausgerich-teten Imperiumstheorie, weil einzelne Theorien und Ansätze immer wieder auf his-torische Beispiele zurückgreifen, um ihre Thesen zu belegen. Die realistische Schule

16 vgl. münkler, herfried: Imperien, S. 15.

17 lenin, wladimir i.: Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus.

18 kennedy, Paul: Aufstieg und Fall der großen Mächte.

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beruft sich nicht zuletzt in bedeutendem Maße auf Ereignisse zu Zeiten des atheni-schen Imperiums und verweist auf den Peloponnesischen Krieg, wie er von Thuky-dides überliefert wurde. Selbst das 20. Jahrhundert hat mit dem britischen Imperium und der Sowjetunion – wird diese denn als Fortführung des russischen Zarenreichs verstanden – Imperien erlebt. Zudem sind auch Zyklenmodelle den Theorien der In-ternationalen Beziehungen nicht fremd. So kann die Theorie hegemonialer Stabilität selbst als Zyklentheorie verstanden werden.19 Es fällt allerdings auf, dass sowohl das Zyklenmodell als auch die Debatte um das imperiale Zeitalter auf einem methodolo-gischen Nationalismus basieren.Bei der Suche nach einer Antwort auf die zentrale Frage, warum bisher keine Im-periumstheorie in den Internationalen Beziehungen existiert, finden wir zwar Er-klärungsansätze in den historischen Umständen der Entwicklung der Disziplin der Internationalen Beziehungen selbst, eine zufriedenstellende Klärung vermitteln sie allerdings nicht. Wenden wir uns daher der zweiten These des Aufsatzes zu und un-tersuchen, ob eine Antwort auf die zentrale Frage in den Theorien der Internationa-

len Beziehungen selbst zu finden ist.

imperien und die theorien der internationalen Beziehungen

Die (neo)realistische Schule der Internationalen Beziehungen geht von Anarchie im internationalen System aus. Staaten stehen in einem unauflösbaren Konkurrenzver-hältnis zueinander. Im internationalen System streben sie nach militärischem und finanziellem Machtgewinn und fürchten stets den materiellen Zugewinn der kon-kurrierenden Staaten. Auch in Imperien stoßen wir auf machtorientiertes Verhalten, das auf materiellen Faktoren beruht. So sammelten die Inka alle materiellen Kräfte, bevor sie ein weiteres indigenes Volk überwältigten und unterordneten. Allerdings konzentrierten sich imperiale Mächte nur beim Angriff selbst auf materielle Macht. Nachdem ein Volk besiegt war, ging es darum, es zu integrieren und es an den Vor-zügen der imperialen Herrschaft Anteil nehmen zu lassen. Die den Inka unterwor-fenen Stämme wurden nach ihrer Kapitulation in die bestehenden sozialen, politi-schen und ökonomischen Strukturen der Inka aufgenommen. Der (Neo)realismus vermag dieses Phänomen nicht zu erklären. Zudem konzentriert er sich auf Staaten. Die Grenzen von Imperien lassen sich jedoch nicht nationalstaatlich definieren.Der Liberalismus kann – im Unterschied zur realistischen Theorie – erklären, dass außenpolitisches Verhalten auf innenpolitische Prozesse zurückzuführen ist. Die Hauptakteure im internationalen System sind hier nicht mehr nur Staaten, sondern auch Individuen. So kann erklärt werden, dass die innenpolitischen Schwierigkei-

19 vgl. kindleberger, charles: The world in depression, sowie keohane, robert: After Hegemony.

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ten des spanischen Reichs ein angemessenes strategisches oder imperiales Verhalten verhinderten. Doch auch der Liberalismus baut auf einem methodologischen Na-tionalismus. Der Neoliberale Institutionalismus20 kann wiederum erklären, dass alle beteiligten Parteien von Kooperation profitieren. Kooperation geschieht zwischen gleichberechtigten Staaten auf freiwilliger Basis. Auch hier kann der methodologi-sche Nationalismus nicht überwunden werden.Der Weltsystemansatz nach Wallerstein liefert zwar die für eine Imperiumstheorie sinnvolle Unterscheidung zwischen Peripherie, Semiperipherie und Zentrum, da er von einer Staatszentriertheit und einem deterministischen Weltbild ausgeht, ist er für eine Imperiumstheorie weniger sinnvoll. Ein kurzer Blick in die Geschichte genügt, um zu erkennen, dass Imperien bereits in vielen Gebieten der Welt aufgetreten sind und sich auch die Peripherie immer wieder räumlich verschoben hat. Das Nord-Süd-Gefälle besteht erst seit jüngster Zeit und beschreibt nur einen Bruchteil der Weltgeschichte.Den größten Abstand vom methodologischen Nationalismus weist der soziale Kon-struktivismus auf. Im Unterschied zu den bereits erwähnten Theorien werden Ideen sowie das wechselseitig konstitutive Verhältnis von Akteuren und Strukturen thema-tisiert. So kann erklärt werden, wie besiegte Gebiete, die in den imperialen Raum in-tegriert werden, selbst eine imperiale Identität annehmen und damit die imperialen Strukturen legitimieren. Auch die Rolle der imperialen Mission und der Barbarendis-kurs können hier Berücksichtigung finden. Dennoch liefert der soziale Konstrukti-vismus keine zufriedenstellende Erklärung für Aufstieg und Fall von Imperien. Zum einen vernachlässigt er materielle Faktoren, zum anderen thematisiert er machtpoli-tische Verhältnisse nicht ausreichend. Schließlich basieren auch die meisten Anätze des sozialen Konstruktivismus auf einem methodologischen Nationalismus und die einzelnen Richtungen wurden bisher zum Teil noch nicht ausreichend entwickelt und klassifiziert, als dass der Sozialkonstruktivismus bereits eindeutig als eigenstän-dige Schule mit unterschiedlichen Richtungen ausgemacht werden könnte.Zusammenfassend ist festzustellen, dass die Theorien der Internationalen Bezie-hungen bisher auf nationalstaatlichen Prämissen beruhten und aus diesem Grund Imperien nicht erfassen können. Während die Herausbildungen von Hegemonien und Imperialismus thematisiert und weitreichend theoretisch abgehandelt wurden blieb eine sozialwissenschaftliche Betrachtung von Imperien, die sich vom methodo-logischen Nationalismus abwendet, bisher aus. Sicherlich gab es Imperien, die ihren Anfang in einem Nationalstaat fanden, sich jedoch so weit ausdehnten, dass natio-nalstaatliche Grenzen den imperialen Raum nicht mehr beschreiben konnten. Für

20 Nicht selten wird auch der neoliberale Institutionalismus der liberalen Schule der Inter-nationalen Beziehungen zugeordnet.

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Imperialität spielen nationalstaatliche Grenzen kaum noch eine Rolle.

Empirische Probleme

Wenden wir uns schließlich der letzten These und damit der empirischen Problema-tik einer potentiellen Imperiumstheorie zu. So existierten nach der hier verwende-ten Definition von Imperien nicht viele Reiche, die als imperial bezeichnet werden können21 und auch an historischen Überlieferungen mangelt es zum Teil. Aus dem Mangel an Daten und nicht abgesicherten sowie weit zurückreichenden historischen Überlieferungen resultieren empirische Schwierigkeiten für die Feststellung von Ge-meinsamkeiten und die Bildung einer Imperiumstheorie. Dies sollte jedoch von der Formulierung einer vorläufigen Theorie nicht abschrecken. Die Anzahl an bereits existierten Imperien sowie die historischen Quellen und Daten sind nicht so gering, als dass die Formulierung allgemeingültiger Kriterien für Imperialität in den Sozial-

wissenschaften überflüssig wäre.

ausblick

Bei der Frage, warum die Theorien der Internationalen Beziehungen Imperien nicht theoretisch reflektierten, erwiesen sich die ersten beiden Thesen als aussagekräftig. Der historische Kontext der Entstehung der Disziplin der Internationalen Beziehun-gen, die Erfahrungen mit imperialistischer Politik, das Aufkommen einer Vielzahl an Imperialismustheorien sowie die denunziatorische Verwendung des Begriffs imperi-alistisch führten zu einem mangelnden Interesse an Imperien allgemein sowie einer wenig differenzierten Unterscheidung zwischen imperial und imperialistisch. Aus dem methodologischen Nationalismus der Theorien der Internationalen Beziehun-gen resultierte schließlich die Unmöglichkeit der Konzeptionalisierung von Imperi-en mit bereits bestehenden theoretischen Ansätzen.In den letzten Jahren lebte dennoch eine Debatte auf, die sich um die Frage der Möglichkeit eines postimperialen Raumes drehte. Durch das Wiedererstarken der USA nach dem Kalten Krieg sowie die Erwartung der Herausbildung einer neuen Weltherrschaft wurden Vermutungen über die Entstehung eines US-Imperiums im-mer lauter.22 Um eine Antwort auf die Frage zu finden, ob das Ende des imperialen Zeitalters bereits eingetreten ist oder ob wir uns in einer zyklischen Phase des Auf-stiegs und des Falls imperialer Kräfte befinden, sind der Versuch einer Formulie-rung von allgemeingültigen Kriterien für Imperialität sowie die Entwicklung einer

21 Als imperial bezeichnet werden können in diesem Sinne das Römische Reich, das Inka-reich, das Mayareich, das Aztekenreich, das Chinesische Reich, das Osmanische Reich, das russische Zarenreich, das Mongolische Reich und das Britische Seereich.

22 vgl. münkler, herfried: Imperien, S. 9 ff.

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Theorie über Imperien unentbehrlich. Hier scheint eine Kombination aus historio-graphischen Betrachtungen und sozialwissenschaftlichen Konzepten weiterführend. In Anlehnung an die vier Pfeiler der Macht nach Michael Mann – der ökonomi-schen, der politischen, der kulturellen und der militärischen23 – sowie an den bereits formulierten Kriterien für Imperialität nach Herfried Münkler werden nachfolgend sieben Bausteine für eine zukünftige Imperiumstheorie genannt: materielle Macht, strukturelle Macht, Institutionen, Ideen, diskursive Macht, Raum und Zeit. Ein Im-perium ist am beständigsten, wenn es sich auf jede der sieben Pfeiler stützt, wobei zu berücksichtigen ist, dass sich alle gegenseitig beeinflussen und eine isolierte Be-trachtung nur aus analytischen Zwecken erfolgt. Die Theorien der Internationalen Beziehungen liefern hier isoliert zwar keine ausreichende Basis für die Erklärung von Imperien, können in Bezug auf diese sieben Ebenen jedoch weiterführende Auf-schlüsse geben und in Kombination mit den Bausteinen ihren individuellen Beitrag zur Formulierung einer zukünftigen Imperiumstheorie leisten.

Theorien und ihre Ver-treter

Beispiele

Materielle Macht

(Neo)Realismus, Mor-genthau

Für die Analyse von militäri-scher und ökonomischer Macht sowie für die Phase der Macht-ergreifung eines Imperiums liefern Realismus und Neorea-lismus weitreichende Ideen.

Strukturelle Macht

Weltsystemansatz nach Wallerstein und Zyklen-theorien, Discorsi nach Machiavelli

Hilfreiche Unterscheidung zwischen Peripherie, Semipe-ripherie und Zentrum; Machi-avelli formuliert Merkmale für Aufstieg und Niedergang von Imperien. Imperien entstehen nach ihm meist in Randlagen und auch politische Strukturen, wie politische Systeme, sind ausschlaggebend für die Impe-rialität einer Herrschaft.

23 mann, michael: Geschichte der Macht, Band 1, S. 46 ff.

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Thema: Krieg und Frieden

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Institutionen Liberalismus sowie neoli-beraler Institutionalismus

Rolle von Institutionen kann innerhalb von Imperien analy-siert werden, wobei hier kein institutionelles Gleichgewicht herrscht. Herrschaftspolitische Ungleichgewichte müssten wie-der stärker in den Mittelpunkt gerückt werden.

Ideen Sozialer Konstruktivismus und neogramscianische Perspektiven

Imperiale Missionen sowie ideelle Ebene, Legitimationsfor-men von Imperien

Diskursive Macht

Diskurstheorien Legitimität und Einfluss werden mittels diskursiver Strategien ausgeübt

Raum These der räumlichen Ausdehnung nach Her-fried Münkler

In Anlehnung an Münkler ist hier die Entwicklung von the-oretischen Erklärungsansätzen von Relevanz

Zeit These der zeitlichen Dau-er nach Herfried Münkler

Nach Münkler ist diese erst er-füllt, wenn Herrschafts- durch Handelsstrukturen ergänzt werden und auf die Expansi-onsphase eine Periode des Frie-dens und der wirtschaftlichen Prosperität folgt.

Tabelle 1: Beiträge zur Formulierung einer künftigen Imperiumstheorie.

Im Gegensatz zu den Imperialismustheorien begreift eine Imperiumstheorie impe-riale Prozesse nicht als vom Zentrum zur Peripherie verlaufend und wendet sich ab von nationalstaatlichen Prämissen. Während sich Imperialismustheorien vor allem auf die Entstehungsphase von imperialistischen Mächten konzentrieren, verschiebt sich der Fokus der Imperiumstheorien auf die tatsächliche Herrschaftsweise. Histori-sche Prozesse werden deskriptiv betrachtet und mit sozialwissenschaftlichen Theori-en in Verbindung gebracht. Die Theorien der Internationalen Beziehungen erzeugen für sich unterschiedliche Vorstellungsbilder und dienen als Hilfe für die Berücksich-tung der für eine Imperiumstheorie zu untersuchenden Ebenen. Materielle, struktu-relle und diskursive Macht, Institutionen, Ideen, Raum und Zeit dienen als Bausteine für die Ausarbeitung einer sozialwissenschaftlichen Imperiumstheorie. Diese gilt es

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unter Anwendung entsprechender Methoden aufzuarbeiten und mit empirischem Material zu füllen.Schlußendlich ist festzuhalten, dass dieser Artikel das Defizit einer Imperiumstheo-rie nur verkürzt erläutern konnte und Vorschläge für die zukünftige Formulierung einer Imperiumstheorie nur angedeutet wurden. Welchen Erklärungsgehalt die ein-zelnen Theorien in Bezug auf das Handeln der imperialen Akteure, die imperialen Strukturen und Normen sowie die imperialen Herrschaftsformen besitzt gilt es da-her in Zukunft detaillierter aufzuzeigen.Sind nun die USA gegenwärtig auf dem Weg, sich zu einer imperialen Herrschaft zu entwickeln? Kann die Politik der „Marsianer“, des Unilateralismus und des interna-tionalen Alleingangs, als imperial beschrieben werden, während die „Venusianer“24 noch verklärt von der Verwirklichung des Kantschen Ewigen Friedens träumen? In Bezug auf die materielle Macht stellt Josef Joffe fest, dass ein Imperium in der Lage ist, jede Macht in seiner Welt militärisch zu besiegen. Eine Fähigkeit, die die USA nicht aufweisen können.25 Die US-Außenpolitik stützt sich zum großen Teil auf militäri-sche Macht, investiert wenig in die Peripherie, ja raubt diese eher aus als dass sie ver-sucht, sie politisch und militärisch zu integrieren. Das Ende des Ost-West Konfliktes wird nicht zum Anlass genommen, Rüstungsausgaben zurückzufahren und Frieden und Wohlstand prosperieren zu lassen, sondern im Gegenteil, es wird weiterhin in militärische Fähigkeiten investiert, obwohl nach der Selbstauflösung der Sowjetuni-on keine reale Konkurrenz mehr existiert.26

Auch auf struktureller Ebene können die USA nicht als imperial bezeichnet werden, da sie die augusteische Schwelle bisher nicht überschreiten konnten. Die Expansi-onsphase ist nicht beendet, die Dominanz der USA im internationalen System zeugt nicht von Dauer und auch das wirtschaftliche und das politische Gefälle zwischen Zentrum und Peripherie scheint sich nicht zu reduzieren. Ein Widerspruch ist auch im demokratisch verfassten System und dem Versuch einer Imperiumsbildung zu sehen, da bisher kein „demokratisches Imperium“ bestehen konnte. Demokratische und imperiale Strukturen sind nicht miteinander vereinbar und der Versuch einer Kombination aus beiden Elementen würde dauerhaft zu einer unzureichenden Le-gitimation des Systems führen. Zudem sind imperiale Strukturen von langer Dauer; Demokratien dagegen sind geprägt von Rastlosigkeit, kurzweiligen demokratischen Amtsführungen und der Erwartung der Bevölkerung, Probleme schnell zu lösen. Die

24 Für diese These vgl. kagan, robert: Macht und Ohnmacht. Ein Jahr vor dem Erschei-nungsdatum des Werkes formuliert der Harvard Absolvent Kagan in seinem Aufsatz „Po-wer and Weakness“ die These, die Europäer kämen von der Venus, die US-Amerikaner hingegen vom Mars.

25 vgl. Joffe, Josef: Die Hypermacht.

26 vgl. münkler, herfried: Imperien, S. 243 f.

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Thema: Krieg und Frieden

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Aufgaben, die sich in Imperien stellen, sind dagegen nur innerhalb von Jahrzehnten zu erfüllen.27 Diese These wird unterstützt durch die römische Geschichte, in der die Ausbreitung Roms im Mittelmeerraum die republikanische Ordnung zerrüttet und in eine langandauernde Phase der innenpolitischen Instabilität und der Bürgerkriege führte. Unter Octavian existierte die republikanische Ordnung nur symbolisch, mit dem Ziel eine autoritäre bis diktatorische Politik zu kaschieren.Die institutionelle Dimension des internationalen Systems bindet die USA mehr, als dass sie ihnen Freiraum verschafft. Durch internationale Verträge sind die Vereinig-ten Staaten rechtlich gebunden. Auch wenn immer wieder versucht wird, Entschei-dungen im Alleingang zu treffen, sind sie dennoch an andere Mächte gebunden und auf die politische Legitimation von anderen Regionen angewiesen.In Bezug auf die ideelle Ebene ließe sich die imperiale Mission der USA als Fort-führung des britischen Imperiums beschreiben. Marktwirtschaft, Handelsliberalisie-rung, Demokratie und Menschenrechte bilden die Bausteine der imperialen Mission, wobei sich die USA auch auf ideeller Ebene weiterentwickelt haben und die US-ame-rikanische Ideologie nicht identisch ist mit der des britischen Seereiches.Auf öffentlicher Ebene herrscht ein breiter Konsens über die dominante Machtpo-sition der USA auf globaler Ebene. Kein Konsens besteht jedoch in Bezug auf die Imperialität der US-amerikanischen Herrschaft. Dies liegt mithin an den großen Problemen innerhalb der USA. Das wachsende Haushaltsdefizit, das anhaltende Leistungsbilanzdefizit sowie wirtschaftliche Krisen tragen zu einer reduzierten Le-gitimität der US-Wirtschaft bei. Bacevich deutet nicht die äußere Bedrohung als Achillesferse der amerikanischen Dominanz, ein Problem ist für ihn vielmehr der mögliche Mangel an Bereitschaft seitens des amerikanischen Volkes, die Kosten des Imperiums zu tragen.28

In Bezug auf Raum und Zeit könnte die internationale Dominanz der USA auf ma-ximal 100 Jahre datiert werden. Doch selbst ein 100jähriges Bestehen ist historiogra-phisch betrachtet dürftig und zeugt noch nicht von Imperialität einer Herrschaft. Der Raum, den die USA beherrschen, kann nicht eindeutig definiert werden. Wo liegen Subzentrum und Peripherie? Können Europa, Japan oder ganz Asien als Subzentrum charakterisiert werden? Das Subzentrum hätte in diesem Fall eine so große Entschei-dungsfreiheit, dass sich einen Widerspruch gegen die Prinzipien von Imperialität ergeben würde. Die Macht der USA kann momentan nicht als imperial bezeichnet werden. Zurzeit erfüllt die US-Herrschaft die Kriterien für Imperialität auch nicht in dem Maß, als dass vermutet werden könnte, dass sie sich zu einer imperialen Macht über eigene nationalstaatliche Grenzen ausdehnte. Dennoch kann auch von einem

27 vgl. ignatieff, michael: Empire Amerika?, S. 24 ff.

28 Bacevich, Andrew J.: Neues Rom, neues Jerusalem, S. 80.

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Ende des imperialen Zeitalters nicht die Rede sein, da die Zeitspanne von der Auflö-sung der Sowjetunion bis zur Gegenwart für eine solche Aussage nicht genügt.

literaturBacevich, andrew J.: Neues Rom, neues Jerusalm. In: Speck, Ulrich/Sznaider, Natan (Hrsg.): Empire America. Perspektiven einer neuen Weltordnung. München 2003, S. 71–82.

Bollmann, ralph: Lob des Imperiums. Der Untergang Roms und die Zukunft des Westens. Berlin 2006.

demandt, alexander: Großreiche: Kolosse auf tönernen Füßen? Leipzig 2005.

doyle, michael w.: Empires. Ithaca 1986.

Foucault, michel: Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit 1. Frankfurt/M. 1983.

gramsci, antonio: Gefängnishefte. Band 1–10. Hamburg 1991ff.

hardt, michael/ negri, antonio: Empire. Die neue Weltordnung. Frankfurt/M. 2003.

ignatieff, michael: Empire Amerika? In: Speck, Ulrich/Sznaider, Natan (Hrsg.): Empire Ame-rica. Perspektiven einer neuen Weltordnung. München 2003, S. 15–37.

Joffe, Josef: Die Hypermacht. Warum die USA die Welt beherrschen. München/Wien 2006.

kagan, robert: Macht und Ohnmacht. Amerika und Europa in der neuen Weltordnung. Berlin 2003.

kagan, robert: Power and Weakness. Why the United States and Europe see the world dif-ferently. In: Policy Review 113 (2002).

kennedy, Paul: Aufstieg und Fall der großen Mächte. Ökonomischer Wandel und militäri-scher Konflikt von 1500 bis 2000. Frankfurt/M. 1989.

keohane, robert o.: After Hegemony. Cooperation and Discord in the World Political Economy. Princeton 1984.

kindleberger, charles P.: The World in depression 1929–1939. London 1973.

lenin, wladimir i.: Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus. Gemeinver-ständlicher Abriss. Peking 1974.

machiavelli, niccolò: Discorsi. Gedanken über Politik und Staatsführung. 2. Auflage. Stutt-gart o. J.

mann, michael: Die ohnmächtige Supermacht. Warum die USA die Welt nicht regieren kön-nen. Frankfurt/M./New York 2003.

mann, michael: Geschichte der Macht. Frankfurt/M. 1990–1998.

marx, karl: Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte. In: Marx Engels Gesamtausgabe. 1. Abteilung, Band 11, Berlin 1985, S. 96–189.

mommsen, wolfgang J.: Imperialismustheorien. Ein Überblick über die neueren Imperialis-musinterpretationen. Göttingen 1977.

münkler, herfried: Imperien. Die Logik der Weltherrschaft – vom Alten Rom bis zu den Vereinigten Staaten. Berlin 2005.

Popper, karl: Logik der Forschung. Tübingen 1976.

the white house: President Bush Salutes Veterans at White House Ceremony. Remarks by the President at White House Reception for Veterans. 22.01.2008, http://www.whitehouse.gov/news/releases/2002/11/20021111-2.html.

wallerstein, immanuel: Aufstieg und künftiger Niedergang des kapitalistischen Weltsys-tems. Zur Grundlegung vergleichender Analyse. In: Senghaas, Dieter (Hrsg.): Kapitalisti-sche Weltökonomie. Kontroversen über ihren Ursprung und ihre Entwicklungsdynamik.

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Thema: Krieg und Frieden

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Frankfurt/M. 1979, S. 31–67.

Zangl, Berhnard/Zürn, michael: Frieden und Krieg. Sicherheit in der nationalen und postna-tionalen Konstellation. Frankfurt/M. 2003.

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Seit der Afghanistan-Konferenz Ende 2001 auf dem Petersberg bei Bonn steht die Stabilisierung dieses von 23 Kriegsjahren zerrütteten Landes im Fokus deutscher Außen- und Sicherheitspolitik. Inzwischen ist Afghanistan zu ihrem härtesten und brisantesten Brocken geworden. Die Bundesrepublik ist in keinem Land mit Per-sonal und Geldmitteln so sehr und mit so viel Risiko engagiert wie in Afghanistan. Und kein deutsches außenpolitisches Engagement ist so sehr umstritten wie das in Afghanistan. Die Kluft zwischen der Berliner Politik und der Mehrheitsmeinung der Bevölkerung ist tief.Doch damit steht Deutschland nicht alleine. Für andere NATO-Verbündete - vom Nachbarn Niederlande über Norwegen und Italien bis Kanada - gilt Ähnliches. Für die NATO schließlich ist Afghanistan zum ersten Boden-Kriegseinsatz in ihrer Ge-schichte geworden.Einzig für die Vereinten Nationen mit ihrer vielfältigen und gemischten Erfahrung in Sachen internationaler Friedenssicherung und Peacebuilding ist Afghanistan so außergewöhnlich nicht. Mit ähnlichen Problemen hatten und haben die Vereinten Nationen in anderen Post-Konflikt-Situationen zu tun. Allerdings wüsste ich keinen

Thema: Krieg und Frieden A) Geschichte B) Politik C) Kultur

afghanistan auf der kippe

Wie weiter?

Winfried Nachtwei

Deutscher Bundestag, Berlin E-mail: [email protected]

schlüsselwörterAfghanistan, Bundeswehr, ISAF, Operation Enduring Freedom

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Thema: Krieg und Frieden

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Fall der jüngeren UN-Geschichte, wo so viele, so mächtige und so unterschiedliche Akteure die Stabilisierung eines so schwierigen Landes versucht hätten. Insofern ist das multinationale Projekt der Stabilisierung und Friedenskonsolidierung Afghanis-tans ziemlich einmalig. Ob es zu schaffen ist, ist dringend zu hoffen, aber ganz und gar nicht sicher. Angesichts der Abwärtsentwicklung der letzten beiden Jahre ist auch ein historisches Scheitern nicht auszuschließen.Der öffentliche Umgang mit dem Thema Afghanistan leidet vor allem unter zwei Defiziten: einer Fixierung auf die spektakulären Militärfragen und einer pauschalen Sicht des Landes, bei der die reale Unterschiede und Widersprüche ignoriert wer-den.Es geht um mehr als nur um die Frage der Beteiligung der Bundeswehr. Es geht vor allem um die Frage, was getan werden muss und kann, damit die kriegsmüden und friedenswilligen Kräfte im Land so gestärkt werden, dass Afghanistan selber wieder auf die Beine kommt und ein selbsttragender Friedensprozess entsteht. Diese He-rausforderung ist enorm: politisch, ökonomisch, kulturell und militärisch. Es geht um Gewalt- und Kriegseindämmung, um politische Konfliktlösungen, um Versuche eines Statebuilding unter den Bedingungen einer gewaltträchtigen (Nach-)Kriegsge-sellschaft Diese Aspekte gehören zusammen.Von Anfang an hatte das deutsche Engagement unter dem Dach der UN eine zivile und militärische Komponente. Die Priorität lag auf der politischen Konfliktlösung und der Sicherheitsunterstützung, zunächst in der Hauptstadt Kabul und dann auch in anderen Provinzen. Es umfasst eine enorme Bandbreite von politischen, humani-tären, militärischen, polizeilichen und Entwicklungskomponenten, die die Stabilisie-rung und den Wiederaufbau des Landes zum Ziel haben. Deutschland ist nicht nur drittgrößter Truppensteller, sondern rangiert auch auf dem vierten Platz der bilate-ralen Geber. Im Vergleich zu den USA sind die deutschen Mittel allerdings ziemlich gering.Trotz der unübersehbaren Aufbauerfolge in Teilen des Landes hat sich die Sicher-heitslage in Afghanistan in den letzten zweieinhalb Jahren erheblich verschlechtert. Dabei sind allerdings die regionalen Unterschiede gewaltig. Während vor allem in den nördlichen Provinzen Fortschritte zu verzeichnen sind, haben Taliban und an-dere militante Kräfte vor allem im Süden und Südosten des Landes beachtlichen Zulauf. Allein 90 Prozent der Angriffe und Anschläge entfallen auf den Süden und Osten des Landes. Vor der ISAF-Ausweitung im Jahr 2006 waren diese Landesteile weitgehend vernachlässigt worden. Über die unkontrollierbare Grenze konnten aus den pakistanischen Tribal Areas verstärkt wieder Taliban nach Afghanistan einströ-men und sich dort mit frustrierten und gewaltbereiten Kräften verbinden. Pakistan kommt daher eine Schlüsselrolle für die Stabilisierung Afghanistans zu. Ohne eine

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stärkere Einbeziehung Pakistans, die Flüchtlingsproblematik und die Kontrolle des Grenzgebietes kann eine Befriedung Afghanistans nicht gelingen.

militärischer strategiewechsel

Einige Verbündete meinen offenkundig, die Taliban und anderen Aufständischen könnten militärisch besiegt werden. Die militärtechnologische Überlegenheit der NATO und ihre laufenden taktischen Siege mögen das nahelegen. Trotzdem ist es grundfalsch. Zugleich machen die enormen Gewaltpotenziale im Land sowie aus Pa-kistan eine militärische Absicherung von Aufbau und Entwicklung unverzichtbar. Ein kurzfristiger Abzug der Sicherheitsunterstützung von Bundeswehr und ISAF würde die relativ sicheren Regionen wie den Norden und Westen schnell Richtung Bürgerkrieg destabilisieren. Im Süden und Osten wäre die schnelle Machtübernahme durch Taliban und Verbündete absehbar. Das aber hätte unabsehbare Konsequenzen für die Destabilisierung des Atomwaffenstaates Pakistan.Seit 2006 trete ich für einen militärischen Strategiewechsel in Afghanistan ein: Für die US-geführte Operation Enduring Freedom (OEF) gibt es keine Rechtfertigung mehr. Mit der Art ihres Auftretens und ihren Offensivoperationen trug sie mehr zur Ausbreitung von Hass und Gewalt bei als zu deren Eindämmung. Dass die Bundes-republik Deutschland sich seit Herbst 2005 faktisch nicht mehr an OEF-Afghanistan beteiligt ist gut, reicht aber keineswegs aus. Denn eine Operation, bei der Gegnerbe-kämpfung im Mittelpunkt steht und die immer wieder zivile Opfer kostet, schadet dem gesamten Stabilisierungsprozess und muss beendet werden. Hierzu scheut aber die Bundesregierung den Konflikt mit dem größten Verbündeten. Auch in der NATO wurden die Konflikte um die reale Militärstrategie „am Boden“ nicht thematisiert.Notwendig bleibt aber eine Sicherheitsunterstützung von ISAF, wo die Sicherheit und das Wohlergehen der Bevölkerung im Mittelpunkt stehen. Eine solche Art ISAF wird auch von der Mehrheit der afghanischen Bevölkerung weiterhin gewünscht. Auch die meisten zivilen Hilfsorganisationen halten eine solche internationale Sicherheits-präsenz für unverzichtbar. Dass sie als Hilfsorganisationen zugleich auf Distanz zum Militär achten müssen, ist selbstverständlich.

stärkung des zivilen aufbaus

Der militärische Strategiewechsel muss einhergehen mit einer politischen und zi-vilen Aufbauoffensive. Schlüsselfelder zum (Wieder-)Aufbau und zur Stabilisierung Afghanistans liegen im Aufbau von Infrastruktur und Entwicklung, in der Demili-tarisierung und Entwaffnung illegaler Milizen, im Aufbau von Militär, Polizei und Justiz und in der Drogenbekämpfung.Beispiel: Die Rolle Deutschlands als Schlüsselnation beim Polizeiaufbau. Die Bun-

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Thema: Krieg und Frieden

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desrepublik leistete hierzu in den vergangenen Jahren wohl qualitativ gute Beiträge. Quantitativ waren sie angesichts der enormen Herausforderung aber viel zu schwach. Grundsätzlich richtig war, die EU als Schlüsselpartner für den Polizeiaufbau zu ge-winnen. Allerdings war die EU nicht zureichend auf die Polizeimission vorbereitet, so dass es mehr als ein halbes Jahr praktisch keine EU-Unterstützung für den Poli-zeiaufbau gegeben hat. Im April soll EUPOL Afghanistan 195 Polizisten umfassen. Schleierhaft ist nur, wie man mit einem so geringen Personalbestand eine einhei-mische Polizei voranbringen will, die mit enormer Kriminalität, Warlords, Drogen-bossen, unkontrollierbaren Grenzen und schwierigster Geographie zu tun hat und selbst zum großen Teil aus gering bezahlten und schlecht angesehenen Analphabeten besteht. Umso erfreulicher und bewundernswerter sind die afghanischen Polizisten, die sich nach ihrer Ausbildung für die Sicherheit ihrer Landsleute einsetzen. Aber sie brauchen viel mehr an Rückenstärkung. Diese in Form der entsprechenden inter-nationalen Fachleute zu mobilisieren, macht in den verschiedenen Staaten aber die größten Probleme. Dies ist Ausdruck der Tatsache, wie unausgewogen und militär-lastig die Kapazitäten der Staaten auf den Feldern Friedenssicherung und Friedens-konsolidierung noch sind.Erschwerend hinzu kommen die unterschiedlichen Polizeikonzepte: Während die USA afghanische Polizisten in wenigen Wochen im Hauruckverfahren zu parami-litärischen Hilfstruppen ausbilden, die bei der Aufstandsbekämpfung eingesetzt werden und teilweise erhebliche Verluste erleiden, ist der deutsche und europäische Ansatz am Aufbau einer Zivilpolizei orientiert.Eine zentrale Lehre aus Afghanistan und anderen multinationalen Stabilisierungs-projekten ist, dass es einer anders gewichteten, zivileren und polizeilicheren Ar-chitektur zur Krisenprävention und zur internationalen Friedenssicherung bedarf. Hierzu wurden in Deutschland und der EU seit Ende der 90er Jahre wohl wichti-ge Ansätze geschaffen – zum Beispiel das Zentrum Internationale Friedenseinsätze (ZIF) in Berlin. Für eine ausgewogene internationale Handlungsfähigkeit bedarf es aber erheblich größerer Anstrengungen.

Fehlende strategie und kohärenz

Die internationale Gemeinschaft verfolgt in Afghanistan noch immer keine gemein-same Strategie und kein einheitliches und abgestimmtes Vorgehen. Die Zieldefini-tionen sind zu allgemein und wenig realitätsnah. Es mangelt zudem an Kohärenz zwischen den wichtigen Akteuren, ihren Politiken und ihrer Praxis. Der so genann-te „comprehensive approach“ wird zwar viel beschworen, in der Realität aber viel zu wenig umgesetzt. Militärische, polizeiliche und entwicklungspolitische Akteure handeln oftmals nebeneinander her. Es fehlt ein abgestimmtes Vorgehen unter dem Dach der Vereinten Nationen. Dies gilt für die Sicherheitssektorreform, das bisheri-

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ge Nebeneinander von Sicherheitsunterstützung durch ISAF und Antiterrorkampf durch OEF wie auch für den zivilen Aufbau: ein Gestrüpp von Akteuren, geringe Ab-stimmung der Schwerpunkte, angebots- statt nachfrageorientiertes Geberverhalten und eine zu starke Konzentration auf die Zentren zu Lasten der Landbevölkerung sind nur einige Defizite. Auch hier ist ein Kurswechsel notwendig. Das ist auch eine Frage der finanziellen Mittel. Es wäre schon viel erreicht, wenn Deutschland seine zivile Hilfe verdoppeln würde. Insgesamt ist eine bessere nationale und internati-onale Koordinierung, Schwerpunktsetzung und vor allem afghanische Beteiligung notwendig. Die Hilfe muss bei den Afghanen und Afghaninnen auch tatsächlich an-kommen.Jüngste Umfragen in Afghanistan zum Beispiel durch ein Forscherteam der FU Ber-lin zeigen: Afghanistan ist (noch) nicht verloren. Gerade im Norden beurteilt die Bevölkerung die internationalen militärischen und Entwicklungsakteure noch aus-gesprochen positiv. Allerdings müssen die noch bestehenden Chancen ganz anders genutzt werden. Hierzu bedarf es zuallererst einer nüchternen und ungeschönten Analyse der Lage und Wirkungen des deutschen und internationalen Engagements am „Boden“ sowie einer offenen und ehrlichen Strategiediskussion über taugliche Ziele und notwendige Mittel. Es war ein strategischer Fehler der Internationalen Gemeinschaft, in der Vergangenheit in dem geographisch, ethnisch und politisch extrem zerklüfteten Land vorwiegend einen top-down-Ansatz zu verfolgen. Lokale Konfliktlösungen und die Stärkung lokaler Strukturen müssen einen viel höheren Stellenwert bekommen.Eine Wende zum Besseren braucht einen Strategiewechsel und eine zivile Aufbauof-fensive. Das in die Tat umzusetzen, liegt im internationalen wie europäischen Si-cherheitsinteresse. Es ist zugleich eine internationale Verpflichtung gegenüber einem Land, dessen „Dreissigjähriger Krieg“ nicht zuletzt durch den Zynismus einzelner Mächte und die Verantwortungslosigkeit der „Staatengemeinschaft“ befördert wur-den.

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Thema: Krieg und Frieden

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China wird Machtpolitik gegenüber seinen Nachbarstaaten und den USA vorgewor-fen. Es heißt, die Volksrepublik dominiere die Politik auf dem asiatischen Festland und habe neben einem Geflecht ungleichgewichtiger bilateraler Beziehungen auch erfolgreich seine Rolle in multilateralen Foren ausgebaut. Dieser Haltung steht der chinesischen Wahrnehmung entgegen, nach der China eine friedliche Außenpoli-tik zum Wohle aller Beteiligten betreibt und keinerlei Expansionsstreben hegt. Es gilt also zu überprüfen, wie sich die chinesisches Außenpolitik gegenüber Nachbarn und internationalen Akteuren entwickelt, welche Bedrohungen der Sicherheit die chinesische Regierung sieht, wie diesen Risiken begegnet werden soll und welche Rolle China im regionalen und internationalen Gefüge auf wirtschaftspolitischer und sicherheitspolitischer Ebene wirklich spielt. Festzustellen ist: Aufgrund seiner geographischen Ausdehnung, seiner Bevölkerungsgröße, dem Status als ständiges Mitglied im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen und als Atommacht, der Wirt-schaftsleistung und des wachsenden internationalen Einflusses auf politischer und wirtschaftlicher Ebene ist China mindestens Großmacht.

Thema: Krieg und Frieden A) Geschichte B) Politik C) Kultur

china und seine nachbarn

Bedroht eine neue Supermacht die asiatisch-pazifi-sche Region?

Saskia Hieber

Akademie für Politische Bildung, Tutzing E-Mail: [email protected]

schlüsselwörterChina, Außenpolitik, Militär

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chinesische außenpolitik im geschichtlichen selbstverständnis

China Eigenwahrnehmung geht weit über den heutigen Status einer einflussreichen Großmacht und einer der größten Volkswirtschaften der Erde hinaus.Zum ersten wird an das jahrtausende alten Kaiserreichs erinnert, das über weite Stre-cken der Geschichte staatliche Einheit, Ordnung, Kultur und wirtschaftliche Ent-wicklung herstellte, sicherte und beförderte. Das kaiserliche China gehörte bis ins achtzehnte Jahrhundert zu den größten Staaten und Volkswirtschaften der Welt.1 Im klassischen Selbstverständnis war das Kaiserreich zugleich Quelle und Magnet von Staatskunst, Prosperität und Kultur – das „Reich der Mitte“, das politische und wirt-schaftliche Zentrum der asiatischen Gesamtregion welches Macht und Wohlstand generierte und ausstrahlte und ein wohlverstandenes Interesse hatte, Einfluss in der Peripherie auszuüben. Von Ausnahmen abgesehen, hat der chinesische Kaiserhof auf Eroberungsfeldzüge verzichtet. Das „alte China“, das Gebiet zwischen Peking und Südchina, zwischen der Ostküste und der West-Provinz Sichuan ist seit 2000 Jahren ein mehr oder weniger einheitliches staatliches Gebilde. Selbstverständlich hat auch China gewalttätige Umbrüche erlebt, beispielsweise während eines Dynastie- oder Herrscherwechsels. Doch wenige Regionen der Welt haben eine solche Kontinuität vorzuweisen. In der Peripherie, im Nordosten, Norden, Nordwesten, Westen und Sü-den, versuchte man in jeweils koreanischen, mandschurischen, mongolischen, uigu-rischen, tibetischen und vietnamesischen Grenzgebieten Pufferzonen zu errichten, um einerseits Eindringlinge und unerwünschte Einflüsse fernzuhalten und anderer-seits zu versuchen, diese Grenzregionen zu kontrollieren. Da jedoch die meisten Kai-ser darauf verzichteten, die militärische Aufrüstung und Modernisierung mit hoher Priorität zu betreiben, fehlten China in Strecken seiner Geschichten Machtmittel, um die eigene Politik in diesen Grenzregionen nachhaltig durchzusetzen. Ein weiterer Vorteil für die Sicherheitspolitik des Kaiserreiches und eine Voraussetzung für eine friedliche Entwicklung war, dass andere Machtzentren entweder in zu großer Ent-fernung lagen (das russische Zarenreich, die indischen Mogulkaiser, das japanische Kaiserreich) oder zu klein waren (die tibetischen und vietnamesischen Königreiche) um eine wirkliche Bedrohung darzustellen. Im Gegensatz etwa zur verhältnismä-ßig kriegerischen Geschichte, welche die Königreiche Burmas, Thailands und Kam-bodschas mit- und gegeneinander teilen, erlebte China von Ausnahmen abgesehen kaum Gefahren aus der Nachbarschaft. Diese Ausnahmen allerdings, die kriegeri-schen Bedrohungen und Einfälle aus mongolischen und mandschurischen Gebie-ten sind traumatische Erfahrungen im kollektiven Gedächtnis Chinas und erklären, warum die Große Mauer im nördlichen Grenzgebiet steht. Allerdings führten weder der mongolische, noch der mandschurische Einfall zum Umsturz des Gesamtsys-

1 vgl. spence, Jonathan d.: The Search for Modern China. London/New York 1990, S. 7 f.

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tems. Vielmehr fand eine Assimilierung statt und die mongolische Invasion mündete 1279 in der Yuan-Dynastie, die mandschurische 1644 in der Qing-Dynastie – Chinas beiden „Fremddynastien“.Desweiteren aber sind die historischen Belastungen gegenwärtig und werden weiter-hin auf allen Bildungsebenen vermittelt. Hierzu gehört insbesondere das so genannte „Jahrhundert der ungleichen Verträge“ oder auch „Jahrhundert der Schmach“ zwi-schen etwa 1842 und 1949. Dem geschwächten Kaiserreich wurden Konzessionen in Bezug auf Handelsmöglichkeiten und der Teilverzicht auf territoriale Souveränität abgerungen.2 Das einst mächtige und jahrtausende alte Kaiserreich China musste die meisten Küsten- und auch einige Inlandshäfen ausländischen Mächten öffnen und auf die damit verbundenen Hoheitsrechte verzichten. Territoriale Kontrolle und Sicherheitsaufgaben, Erhebung von Steuern und Zöllen und die Strafverfolgung lagen de facto außerhalb des chinesischen Einflusses. 1912 war mit der Gründung der Republik China die mehrtausendjährige Geschichte des Kaiserreichs zu Ende. Es folgten eine zeitweilige wirtschaftliche Konsolidierung, zumindest bis zur Welt-wirtschaftskrise Ende der 1920er Jahre, aber auch große Unsicherheit und Instabili-tät durch Kriegsherrentum und den Bürgerkrieg zwischen der nationalchinesischen Guomindang (Kuomintang) und den Kommunisten. Ein in diesem Zusammenhang in der chinesischen Erinnerung besonders schmerzliches Kapitel ist der japanische Imperialismus vor und während des Zweiten Weltkriegs.China hatte die wirtschaftliche und militärische Modernisierung und Industrialisie-rung, die den machtvollen Aufstieg des japanischen Kaiserreichs im 19. Jahrhun-dert ermöglichte sprichwörtlich verschlafen. Die Niederlage im ersten chinesisch-japanischen Krieg und der Vertrag von Shimonoseki 1895 waren ein Schock. China musste Taiwan, die Pescadoren-Inseln, die Liaoding-Halbinsel im Nordosten und die Rechte am Inlandshafen Chongqing (Chungking) an Japan abtreten. 1931 besetzten japanische Truppen Nordostchina und überfielen Shanghai. 1932 errichtete Japan einen Marionettenstaat in Nordostchina („Mandschukuo“). Der (zweite) Chinesisch-Japanische Krieg von 1937-45 stürzte China in Chaos, wirtschaftlichen Zusammen-bruch, Inflation und Hungersnöte.3 Das asiatische Kapitel des Zweiten Weltkriegs begann zwei Jahre früher als in Europa und brachte unsägliches Elend über den asi-atischen Kontinent. 1937 massakrierten japanische Truppen Teile der Bevölkerung Shanghais und Nankings (Nanjing). Die chinesischen Militäreinheiten, sowohl die Nationaltruppen der Kuomintang als auch die kommunistischen Verbände waren geschwächt vom Bürgerkrieg und oft überfordert, sich der japanischen Invasion ent-

2 vgl. ebd., S. 159 f.

3 Eastman, lloyd E.: Nationalist China during the Sino-Japanese War, 1937–1945. In: The Nationalist Era in China, 1927–1949. Cambridge 1991, S. 152 f.

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gegen zu stellen. Eine erzwungene anti-japanische Einheitsfront zwischen Kommu-nisten und Nationalen zerfiel bereits 1941. Der amerikanische Kriegseintritt nach Pearl Harbour im Dezember 1941 entlastete China kaum. Nach Kriegsende musste China erleben, dass sowjetische Truppen und Ingenieure in der Mandschurei ein-marschierten und Industrieanlagen demontierten. China war von den Großmächten enttäuscht und fühlte sich verraten. Entgegen der Verlautbarungen etwa der Verträge von Kairo und Yalta wurde die chinesische Souveränität in den ehemals von Japan besetzten Gebieten nicht vollständig wieder hergestellt. Als Mao im Oktober 1949 in Peking die Volksrepublik China ausrief, war China ein verarmtes, von Bürgerkrieg und dem Krieg gegen Japan gezeichnetes „Drittweltland“. Chinas Anteil am Welt-wirtschaftsprodukt, das 1820 noch etwa ein Drittel betragen hatte, war 1950 auf vier Prozent zusammengeschmolzen.4

Grundlagen der modernen Außenpolitik

Die außen- und sicherheitspolitische Situation der jungen Volksrepublik war in den 1950er Jahren so schwach, dass sich keine Alternative zur Anlehnung an die Sowje-tunion zeigte. Chinas Außen- und Wirtschaftspolitik wurde bis 1959 wesentlich von Moskau bestimmt. Zur Verschlechterung der Beziehungen zwischen dem Westen und der kommunistischen Regierung auf dem chinesischen Festland trug Chinas Engagement im Koreakrieg bei. Dass die gerade erst gegründete und wirtschaftlich durch den Bürgerkrieg geschwächte Volksrepublik massiv Verbände in diesem inter-nationalen Konflikt einsetzen würde, war nicht vorauszusehen. Allerdings zeigt sich schon hier ein grundlegendes sicherheitspolitisches Interesse Chinas: Keine ameri-kanischen Truppen oder US-Verbündete an den eigenen Grenzen. Eine weitere si-cherheitspolitische Empfindlichkeit Chinas, UN-Missionen, bzw. die Übertretung eines begrenzten UN-Auftrags, zeigt sich ebenfalls bereits im Zusammenhang mit dem Koreakrieg. Die UN-Mission in Korea sah eine Überschreitung des 38. Breiten-grads (durch amerikanische Truppen) nicht vor. Das sino-sowjetische Zerwürfnis ab 1959 markiert den Beginn von Chinas außenpolitischer Abstinenz. Die Massen-kampagnen des so genannten „Großen Sprung nach vorne“ zu Beginn der Fünfziger Jahre sollten die Revolution befördern, führten aber zu Hungerkatastrophen und waren ein weiterer Schritt in die internationale Isolation. Das „offizielle China“ war die Regierung in Taipei, d.h. den Sitz in den Vereinten Nationen hatte Taiwan. Die Sechziger Jahre schließlich waren Schauplatz des letzten und erfolgreichen Kampfes des Maoismus gegen potentielle innerparteiliche Gegner: Während der Kulturrevo-lution wurden Kunstschätze, Bildungseinrichtungen und die verbliebene Elite des Landes sprichwörtlich zerstört. Erst mit Maos Tod 1976 wurden eine vorsichtige

4 ohne autor: The real Great Leap Forward. In: Economist, 30. Sept. 2004.

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Öffnung des Landes und die späteren Wirtschaftsreformen möglich. China wurde als Gegengewicht gegen die Sowjetunion mit neuer strategischer Bedeutung verse-hen5. 1978 schließlich kann als Geburtstunde des modernen China gelten. Peking hatte den UN-Sitz, die amerikanische Anerkennung und Deng Xiaoping initiierte eine neue Politik der vorsichtigen wirtschaftlichen Öffnung. China war wieder in der Welt angekommen. Die Achtziger Jahre zeigten eine beispiellose wirtschaftliche Entwicklung, aber auch die Grenzen politischer Flexibilität. Während in Russland Gorbatschows Perestroika politische Reformen in Gang setzte zerschlug die Pekinger Regierung 1989 aus Angst vor einem sich ausbreitendem Volksaufstand die Studen-tenbewegung am Platz des Himmlischen Friedens. Die westliche Welt belegte China mit Sanktionen, die teilweise bis heute bestehen. Die asiatischen Nachbarn dagegen äußerten vergleichsweise wenig Kritik. Hier ist allerdings wichtig zu erwähnen, dass China laut Verfassung immer noch ein sozialistischer Staat „unter der Diktatur des Proletariats und der Führung der Kommunistischen Partei, angeleitet durch den Mar-xismus-Leninismus, die Gedanken Mao Zedongs und die Theorien Deng Xiaopings“ ist. Die Staatsorgane wenden das „Prinzip des Demokratischen Zentralismus an“.6 Fragen um Ethnie und Religion sind in China schlicht staatlich geregelt.Die Neunziger Jahre bescherten China anhaltend hohe Wirtschaftswachstumsraten und einen nur geringen Einbruch durch die asiatische Finanz- und Wirtschaftskrise. China konnte sich in der Region als wirtschaftlicher Stabilisator beweisen. Nach der Jahrtausendwende ist China unbestritten einer der großen Akteure auf der Weltbüh-ne. Das Wirtschaftsprodukt wächst, das Handelsvolumen überholte 2003 erstmals das Japans. China wurde 2001 Mitglied der WTO – Russland verfolgt dieses Ziel seit 1994 – und betreibt eine umfangreiche militärische Modernisierung. Peking diktiert, so scheint es dem Westen, die 1996 gegründete zentralasiatische Regionalorganisati-on Shanghai Corporation Organisation (die anderen Mitglieder sind Russland und vier zentralasiatische Staaten, mit weiteren Beitritten ist zu rechnen). China initiierte 2002 den Afrika Gipfel und 2004 die Kooperation mit den Arabischen Staaten, be-treibt eine neue Süd-Süd-Kooperation und gehört zu den größten Gebern für UN-Missionen. Was, muss man Chinas Kritikern entgegen halten, ist daran so bedroh-lich? Betrachten wir zur Erhellung die außenpolitischen Rahmenvorgaben. Zu den Grundlagen der modernen Außenpolitik Chinas gehören: (1) Die Fünf Prinzipien der Friedlichen Koexistenz,7 (2) die Politik des Friedlichen Entwicklungsweges8 und

5 vgl. kindermann, gottfried-karl: Der Aufstieg Ostasiens in der Weltpolitik. Stuttgart/München 2001, S. 536.

6 vgl. sebastian heilmann: Das politische System der Volksrepublik China, S. 76.

7 vgl. People’s daily: Five Principles of Peaceful Coexistence (June 28. 2004). 10.02.2008, http://english.peopledaily.com.cn/200406/28/eng20040628_147790.html

8 vgl. information office of the state council: Whitepaper China’s Peaceful Deveoplment

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(3) die Unabhängige Außenpolitik des Friedens.9

Während die auf die Bandung-Konferenz 1955 zurückgehenden Fünf Prinzipien der Friedlichen Koexistenz auch in anderen Ländern, zum Beispiel in Indien eine außen-politische Grundlage sind, gehören die beiden anderen Politiklinien einer späteren Epoche an und zeigen sehr eigene, „typisch chinesische“ Merkmale der außenpoliti-schen Rahmensetzung.Zu den Fünf Prinzipien der Friedlichen Koexistenz gehören die Unverletzbarkeit von Souveränität und territorialer Integrität, gegenseitiger Nicht-Angriff, die Nichtein-mischung in innere Angelegenheiten, Gleichheit und gegenseitiger Gewinn sowie allgemeine friedliche Koexistenz. Besonders wichtig für China ist das Prinzip der „Nichteinmischung in innere Angelegenheiten“. Es versetzt die Regierung in Peking in die Lage, sich internationaler Einmischung etwa in Bezug auf Tibet und Taiwan zu erwehren. Die meisten Regierungen der Welt haben hier durch die Anerkennung des „Ein-China-Prinzips“ auch kaum Hebel.10 Taiwan ist als Teil Chinas anerkannt und es wird weitgehend akzeptiert, dass Tibet zum chinesischen Staatsgebiet gehört. Besuche des Dalai Lama geraten deshalb zum Politikum.Das 2005 herausgegebene Weißpapier Politik des Friedlichen Entwicklungsweges (China’s Peaceful Development Road) soll in erster Linie die Nachbarstaaten beru-higen, aber auch Chinas Machtzuwachs legitimieren. Ziel ist es, ein „wohlhabender, mächtiger, zivilisierter und harmonischer moderner Staat“ zu werden. Mächtig soll China zum Wohle aller und im Sinne von „stabil“ sein. „Harmonisch“ spricht die innere Verfasstheit der Gesellschaft an, das heißt ohne große soziale Ungleichge-wichte und politische Zerwürfnisse. Die Forderung nach einer „harmonischen“ Ge-sellschaft dient chinesischen Politikern dazu, Protestbewegungen, die zu groß und unkontrollierbar werden, abzuwürgen. Die Angst vor Chaos, Umstürzen, Armut und Elend ist fest in der chinesischen Erinnerung und im Bewusstsein der Menschen verankert. Die Volksaufstände gegen Ende der Kaiserzeit und die mörderischen Massenbewegungen in der Kulturrevolution sind kollektive Albträume und sollen sich nicht wiederholen. Als Mittel und Wege zur Politik des Friedlichen Entwicklungs-weges werden eine friedliche internationale Umgebung, eine unabhängige Außen – und Wirtschaftspolitik und die wirtschaftliche Globalisierung (von der China nach dem Anfangsschock im Zuge des WTO-Beitritts immer mehr profitiert) angesehen.

Road, 2008, 10.02.2008.

9 vgl. Foreign ministry of the People’s republic of china: China’s Independent Foreign Policy of Peace, Sept 2003. 30.01.2008, http://www.fmprc.gov.cn/eng/wjb/zzjg/zcyjs/xgxw/t24942.htm

10 vgl. auswärtiges amt: Die Beziehungen zwischen Deutschland und der Volksrepublik China. 20.01.2008, http://www.auswaertiges-amt.de/diplo/de/Laenderinformationen/Chi-na/Bilateral.html

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Die Botschaft der Unabhängigen Außenpolitik des Friedens lautet: Chinas Entwick-lung stellt keine Bedrohung dar. Vielmehr ist sie für die Welt förderlich, so wie es Admiral Zheng Hes Fahrten waren, die im Gegensatz zu den späteren westlichen Kolonialmächten nicht Besatzung und Zerstörung sondern Austauschbemühungen und freundliche Absichten mit sich brachten. Chinas neue Außenpolitik und Ent-wicklung brächte neue Märkte und Möglichkeiten. Das ist in der Tat nicht von der Hand zu weisen. China selbst entwickelt sich rasant auch zu einem Nachfrager nach Luxus- und Hochtechnologiegütern. Und die viel kritisierte chinesische Aufbauhil-fe in so genannte Drittweltregionen setzt durch Infrastrukturmaßnahmen oft den grundlegenden Impuls für Entwicklung.Die Bedeutung einer friedlichen regionalen und internationalen Umgebung für China und für Chinas Wirtschaftsentwicklung ist nicht hoch genug einzuschätzen. Die Befriedung und Stabilisierung der Grenze zur Sowjetunion, bzw. zu Russland, beispielsweise machte es möglich, die Ausgaben in diesem militärischen Bereich er-heblich zu reduzieren und für andere Budgetposten einzusetzen. Die Freiheit und Offenheit der Seeverkehrswege und anderer Transportwege ist von immanenter stra-tegischer Bedeutung nicht nur für China, sondern auch für andere Volkswirtschaften Asien, die im hohen Maße davon abhängig sind, Energie, bzw. Öl zu importieren und die produzierten Waren aus dem Land in alle Welt zu verschiffen. China importiert über ein Drittel seines Ölbedarfs, Japan etwa 90%. Ein Ausbleiben von Öllieferungen oder eine Störung von Lieferwegen zu den internationalen Abnehmermärkten hätte katastrophale Folgen. Die Aufrechterhaltung des Wirtschaftswachstums ist eines der wichtigen strategischen Ziele Chinas.Ein weiterer Grund, warum China einer friedlichen Umgebung so hohe Bedeutung beimisst, ist die Tatsache, dass China von den meisten offiziellen und inoffiziellen Atommächten weltweit umgeben ist. In der unmittelbaren Nachbarschaft befinden sich die Atommacht Russland und die inzwischen zu Nuklearstatus gelangten Staa-ten Indien und Pakistan. Japan betreibt zwar nur ein ziviles Atomprogramm und eine strenge „No-Nuclear“-Politik, verfügt aber über das erforderliche Know-how, um das Zivilprogramm in Richtung einer militärischen Nutzung auszubauen. Hinzu kommen die beiden „Schurkenstaaten“ Nordkorea und Iran. Iran liegt zwar nicht in der unmittelbaren Nachbarschaft und der Nuklearstatus beider Staaten ist um-stritten. Wie in Nordkorea zeichnet sich die politische Entwicklung des iranischen Regimes durch eine gewisse Unberechenbarkeit aus.Ein regionales Forum, deren Mitglieder sich gelegentlich von Chinas militärischer Stärke bedroht sehen, das aber gleichzeitig eine multilaterale Plattform bietet, um China auszubalancieren, ist die ASEAN (Association of Southeast Asian Nations). Der ASEAN-Gipfel in Cebu (Philippinen) im Januar 2007 zeigte die Erfolge in der gemeinsamen Katastrophenhilfe und auch in der Unterstützung von Transforma-

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tionsprozessen. Die Gemeinschaft besitzt aber weder belastungsstarke Entschei-dungsprozesse noch Konfliktlösungsmechanismen und ist auf die UN angewiesen.11 Entscheidend ist jedoch, dass sich China nach anfänglichem Misstrauen multilateral einbinden lässt und der Region gegenüber den Verzicht auf expansionistische Bestre-bungen (mit Ausnahme des Südchinesischen Meeres) vielfach beweisen konnte.12

Das jüngste außen- und sicherheitspolitische Problem für China aber, bereits an-gedeutet im Zuge des Koreakriegs, ist die verstärkte amerikanische Präsenz nach dem 11. September. Der Kampf gegen den Terrorismus hat auch in Asien zu einem Zuwachs amerikanischer Truppen geführt und zu neuen Partnerschaften der USA (beispielsweise mit Indien) und der Vertiefung alter Allianzen (mit Japan). Seit 2001 fühlt sich China vermehrt von amerikanischen Truppen, Verbündeten und Allian-zen umzingelt: Im Südosten steht die amerikanische Pazifikflotte im Verbund mit der Allianz mit Japan und der mit Taiwan bestehenden Verteidigungsgemeinschaft. US-amerikanische Truppen sind in Japan und Süd-Korea stationiert, während die US-Marine ihre Präsenz in Südostasien erhöht hat.Die südostasiatischen Staaten haben sich angesichts der eigenen Probleme mit re-ligiös und ethnisch motivierten separatistischen Gruppen nur zu gerne – wie auch China – dem „Internationalen Kampf gegen den Terrorismus“ angeschlossen, zählen aber dadurch wieder vermehrt zum amerikanischen Einflussbereich, zumal ameri-kanische Berater für den notwendigen Rückhalt sorgen.Von China aus gesehen im Westen entstand durch die NATO-Osterweiterung der schockierende Umstand, quasi NATO-Truppen, bzw. NATO-Verbündete an den ei-genen Grenzen zu haben. Hinzu kommen amerikanische Basen, kontrollierte Gebie-te und militärische Engagements von Afghanistan bis in den Persischen Golf. Dies alles schränkt in chinesischer Wahrnehmung den eigenen Handlungsspielraum ein. Paradox ist für viele Beobachter indes die Tatsache, dass China einerseits immer noch den Status eines Entwicklungslandes führt und andererseits ein eigenes Welt-raum-, Raketen- und Nuklearprogramm beitreibt.Allerdings trifft dieses Merkmal für Indien in noch größerem Maße zu. Die Volks-republik ist also zweifellos eine führende Regionalmacht und hat durch ihre Größe, die Wirtschaftsdynamik und das Zukunftspotential, durch die großen militärischen Verbände und das Nuklearpotential, wie auch durch den Sitz im Sicherheitsrat inter-national Gewicht. Wie bedrohlich China ist, sei dahingestellt.Das amerikanische Verteidigungsministerium hat China als größte Bedrohung für den eigenen Vorteil im Pazifik und als einzige Macht identifiziert, welche die Vereinigten

11 vgl. International Herald Tribune, 13.1.2007, S. 2.

12 vgl.: wang hongying: Multilateralism in Chinese Foreign Policy. In: China’s International Relations in the 21st Century. Lanham 2000, S. 71, 84.

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Staaten militärisch herausfordern und zerstörerische neue Technologien einsetzen könnte.13 Tatsächlich wurde die Verteidigungsplanung von der Grenzverteidigung und Küstenpräsenz schrittweise ausgebaut, um auch jenseits der eigenen Küstenge-wässer und Hoheitsgebiete präsent sein zu können. China strebt ebenfalls danach, die eigenen Interessen durch eine Marinepräsenz im Westpazifik, durch ausgebaute und offensive Luftkriegsführung und den begrenzten Einsatz strategischer Waffen abzusichern.Um Chinas Bedrohungs- und Machtprojektionspotential zu analysieren, muss die Aufzählung von Schiffen und Raketen mit den Kapazitäten anderer Staaten vergli-chen werden. Hier zeigt sich, dass China seine unmittelbaren Nachbarn und auch Indien, dem zukünftigen potentiellen Rivalen im Rennen um die Machtausdehnung in Asien, durchaus konfrontieren könnte. Gegen die USA allerdings, mit 550 Inter-kontinentalraketen, 16 strategischen U-Booten, 12 Flugzeugträgerverbänden und mehreren Dutzend Zerstörern und Fregatten hat die Volksbefreiungsarmee sprich-wörtlich „keine Chance“.14 Dies gilt umso mehr, sobald die Kräfte der amerikani-schen Verbündeten in Asien, Japan, Südkorea und Taiwan hinzugerechnet werden. Die chinesische Regierung beweist in der Regel sicherheitspolitische Vernunft. Mit einer Ausnahme: Taiwan. Die Regierung der Volksrepublik hat in der Vergangenheit immer betont, in Bezug auf Taiwan nicht auf die Anwendung militärischer Mittel ver-zichten zu wollen. 2003 hatte ein vorübergehendes Tauwetter auf beiden Seiten der Taiwanstraße die „3-Verbindungen“ von Postverkehr, Transport und Handel verbes-sert. Doch seit 2004 hat sich die Rhetorik dahingehend verschärft, dass die Regierung in Peking ankündigt, jede Unabhängigkeitsbewegung niederzuschlagen: „Should the Taiwan authorities go so far as to make a reckless attempt that constitutes a major inci-dent of “Taiwan independence”, the Chinese people and armed forces will resolutely and thoroughly crush it at any cost.”15 Zur Untermalung der harten Linie gegenüber Taiwan wurden über 600 Kurzstreckenraketen gegenüber der Insel aufgestellt. Regelmäßige Manöver und Landungsübungen der chinesischen Marine werden von den amerika-nischen Beobachtern und der Weltpresse entsprechend zur Kenntnis genommen.Eine Herausforderung für China ist die andere asiatische Großmacht, Indien. Beide Länder führten Grenzkriege in der Himalayaregion. Die Beziehungen waren kühl auf stabilem Niveau. Chinesische Proteste gegen indische Atomtests 1998 und Äußerun-gen eines chinesischen Generals, „der Indische Ozean ist nicht Indiens Ozean“ waren

13 office of the secretary of defence: Report to Congress on the Military Power of the People’s Republic of China, Department of Defence. Washington D.C. 2006, S. I.

14 international institute for strategic studies (iiss): Military Balance. London mehrere Jahrgänge.

15 China’s National Defence in 2004, Government White Paper, Beijing 2004. 30.01.2008, http://www.china.org.cn/e-white/20041227/II.htm.

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kennzeichnend. Erst der Besuch von Premierminister Vajpayee in China 2003 lei-tete das momentane Tauwetter ein. Nicht nur für China, für das gesamte asiatische Festland längerfristig problematisch allerdings waren die schlechten Beziehungen zwischen Indien und Pakistan. Noch 2004 verurteilt das indische Verteidigungsmi-nisterium in seinem Jahresbericht Pakistan als Förderer, Ausgangspunkt und Mul-tiplikator von Terrorismus.16 Nun stellt sich die Frage, ob die kleineren asiatischen Länder zwischen diesen Giganten, China und Indien quasi zerdrückt werden. Dies ist nicht der Fall. Die politischen und wirtschaftlichen Verbindungen zwischen Neu-Dehli und Peking sind immer noch so dünn, die Ausrichtung in die Nachbarschaft so unterschiedlich, dass kleineren Staaten ein genügend großer Handlungs- und Gestal-tungsspielraum bleibt.

wirtschaftsmacht china

Als Chinas Handelsvolumen im Jahr 2003 erstmals die gesamten Exporte und Im-porte Japans überstieg, schien der Euphorie keine Grenzen mehr gesetzt zu sein. Das anhaltende Wirtschaftswachstum, die Entwicklungsdynamik der chinesischen Küstenregionen, das außenpolitische Profil, die zunehmende wirtschaftlichen Ver-flechtungen und schließlich die geographische Größe und Bevölkerungszahl waren für viele Beobachter ausreichende Faktoren, um der Volkrepublik Supermachtstatus zuzuschreiben oder ihn zumindest für die nahe Zukunft zu prognostizieren. Pres-seerzeugnisse, auf deren Titelseiten der chinesische Drache wahlweise den amerika-nischen Adler oder gleich die ganze Welt zu verschlingen droht, haben seither Kon-junktur. Leider wird selten erwähnt, wie sehr insbesondere Deutschland ebenfalls von der weltwirtschaftlichen Verflechtung und von internationalen Exportmöglichkei-ten profitiert. Tatsächlich überschwemmt China die Welt nicht mehr nur mit Mas-senwaren. Vielmehr steigt die Nachfrage Chinas nach ausländischen Qualitätsgü-tern kontinuierlich an. Was die asiatisch pazifische Region betrifft, so ist seit einigen Jahren ein Anwachsen des intraregionalen Handels zu verzeichnen. China wächst sowohl als Absatzmarkt als auch als Investitionsziel für seine asiatischen Nachbarn und internationalen (Handels-)Partner. Tatsächlich zeigt China nicht nur eine beispiellose wirtschaftliche Dynamik, es besitzt inzwischen ausreichend wirtschaftliche und han-delspolitische Schwungmasse, um internationale Systeme und ausländische Interessen zu beeinflussen. Als Indiz für Chinas machtvolle wirtschaftliche Position kann gel-ten, dass der chinesische Zentralbankpräsident Ende 2007 erstmalig in internationa-len Wirtschaftszeitungen die Wirtschafts- und Finanzpolitik der USA umfangreich kritisierte. Ein weiteres Beispiel ist die zögerliche Haltung Pekings, wenn es um die Aufwertung der Währung Renminbi geht, die von den USA und der EU angemahnt

16 ministry of defense, government of india: Security Environment Overview; Armed Forces, 2004. 17.03.2008, http://mod.nic.in/aforces/body.htm

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wird. Grundlage des chinesischen „Wirtschaftswunders“ war und ist ein beispielloser politischer Wille, aber auch die Bereitschaft, maoistische und sozialistische Ideologie zu Gunsten wirtschaftspolitischer Professionalität und Exzellenz zurückzudrängen. Die Einführung einer modernen Wirtschaftsstruktur war erst nach dem Tode Maos und der Entmachtung seiner Anhänger und unmittelbaren Nachfolger möglich. Ein Beispiel für den Erfolg der Wirtschaftsreformen, aber auch für Chinas internationa-le Rolle ist das Volkswagenwerk nahe Shanghai – es produziert inzwischen 450.000 Autos pro Jahr.17 Allerdings ist China noch nicht in der Lage die Wirtschaftsleistung und das Sozialprodukt großer Volkswirtschaften wie der Japans, Deutschlands oder etwa der USA zu erreichen. Japans Wirtschaft ist etwa dreimal, die der USA mehr als achtmal so leistungsstark als zum Beispiel die chinesische. Besonders kritisch wird es für China, wenn Kennzahlen wie Wirtschaftsleistung, Einkommen, etc. auf die Bevölkerungsanzahl umgerechnet wird. Nicht nur Chinas Exporte, auch die Einfuh-ren nehmen zu. Chinas Importe wachsen seitdem der Anpassungsschock des WTO-Beitritts überwunden ist. Das Bild des bedrohlichen chinesischen Drachen, der die Welt mit seinen Produkten überschwemmt, aber nicht bereit ist, ausländische Waren einzuführen, war nie korrekt und stimmt immer weniger. Chinas Importe aus süd-ostasiatischen Staaten stiegen 2004 um über 30%, die Importe aus Japan um 28%, aus der EU um 27%, aus den Vereinigten Staaten um 32% und aus Indien sogar um 80% (der chinesisch-indische Handel war allerdings kaum entwickelt). Dies ist ein Be-weis, dass China nicht nur eine Bedrohung darstellt, sondern auch neue Absatzchan-cen bietet.18 Dies gilt insbesondere für afrikanische und andere Entwicklungsländer – auch aus diesen Gebieten haben sich Chinas Importe vervielfacht.Mit der wirtschaftlichen Entwicklung sind in China eine Reihe von Herausforde-rungen verbunden. Dazu gehören die Einkommensunterschiede insbesondere zwi-schen urbanen Industriezentren und unterentwickelten Binnenprovinzen, die ein Heer von Wanderarbeitern in Gang gesetzt haben. Laut Angaben der Chinesischen Akademie für Sozialwissenschaften (CASS) hat sich der GINI-Koeffizient auf 0,495 Punkte verschlechtert. Zum Vergleich: Der Koeffizient, der den Unterschied oberster und unterster Einkommensschicht wiedergibt, beträgt in Brasilien 0,54, in den USA 0,41, in Indien dagegen nur 0,33.19 Ungeachtet des großen wirtschaftlichen Erfolges hat China mit folgenden Problemen zu kämpfen: Armut, Korruption, Arbeitslosig-keit, Umweltzerstörung und Ressourcenknappheit. Auf regionaler Ebene kommt die Konkurrenz um internationale Investitionen hinzu. Im Wettbewerb um Kapital und Entwicklungsmöglichkeiten hat China zweifellos Vorteile gegenüber kleineren und

17 vgl. Financial Times, 14.1.2007, S. H&H 3.

18 Zheng Bijian: China’s „Peaceful Rise”. In: Foreign Affairs; Sept/Okt 2005.

19 vgl. Financial Times, 27.12.2006, S. 3.

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ärmeren Staaten. Dennoch gibt es auch in China abgelegene Regionen mit nur we-nigen Chancen auf internationale Investitionen. Die chinesische Regierung fährt mit wechselndem Erfolg ein milliardenschweres Programm zur Entwicklung der Westge-biete, um eigene und auch ausländische Gelder anzulocken. Der Anteil der Landbe-völkerung ist mit etwa 700 Millionen Menschen immer noch sehr hoch, der Anteil der Landwirtschaft an der Wirtschaftsleistung dagegen niedrig und weiter abnehmend. Es gilt einerseits die nationale Nahrungsmittelversorgung in einem vernünftigen Maß zu sichern und ausreichende Ausbildungs- und Beschäftigungsmöglichkeiten für die Landbevölkerung zu schaffen, andererseits ist den Notwendigkeiten wirt-schaftlicher Modernisierung und industrieller Umstrukturierung Rechung zu tra-gen. Die Bekämpfung der Umweltzerstörung ist eine der dringendsten Aufgaben für die chinesische Regierung. Wie in vielen asiatischen Ländern stehen ausreichende Gesetze zur Verfügung – es hapert an der Umsetzung. Das Prinzip „Öffentlichkeit“ birgt Chancen. So ist die chinesische Sepa (State Environmental Protection Agency) zwar relativ machtlos, konnte aber mit der Drohung Umweltverstöße öffentlich zu machen, z.B. einen Stahlproduzenten bewegen, fünf große, veraltete und mit Koh-le befeuerte Werke zu schließen. Weltbankpräsident Paul Wolfowitz20 wirft China vor, internationale Standards in Bezug auf Menschenrecht und Umweltschutz durch vorschnelle Kreditvergabe zu verletzen. Chinas Banken verletzen insbesondere in Afrika die so genannten „Equator Principles“. Der Internationale Währungsfond kritisiert, dass China durch vorschnellen Schuldenerlass internationale Auflagen und langfristige wirtschaftliche Vernunft unterlaufe. China befreie die Regierungen einiger der schwer verschuldeten Staaten von dem Zwang, Verpflichtungen zu hal-ten, die sie gegenüber internationalen Gebern, aber auch gegenüber Nachbarstaaten und der eigenen Bevölkerung eingegangen sind.21 Dies führe zu mehr Schlamperei, Korruption, neuen Schulden, Waffenkäufen und illegale Devisenflucht. Das Problem „Schuldenbekämpfung“ steht einerseits in Zusammenhang mit Chinas Energiein-teressen, andererseits sieht sich China hier in einer internationalen Helferrolle, wie die chinesische Regierung in ihrem Weißpapier China’s Peaceful Development Road, 2005 erklärt.22 Für die chinesische Regierung schließt sich damit der Kreis in inter-nationaler Harmonie.Fazit: China hat wirtschaftlich, politisch und militärisch erheblich an Einfluss ge-wonnen. Dadurch ist allerdings auch die internationale Einbindung Chinas gewach-sen. Die Bewältigung der sozial- und umweltpolitischen Probleme im Land selbst

20 vgl. Financial Times, 23.10.2006. www.ft.com/Asia-Pacific/China.

21 vgl. Financial Times, 7.12.2006, www.ft.com / World / International Economy.

22 vgl. information office of the state council: Government White Paper on China’s Peace-ful Road to Develoment, 2005.

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stellt die chinesische Regierung vor zunehmende Herausforderungen und absorbiert so viele politische und finanzielle Mittel, dass das Bedrohungspotential gegenüber den Nachbarstaaten nicht zunimmt. China hält sich im allgemeinen an das Prinzip der Souveränität und Nichteinmischung gegenüber anderen Staaten. China hat und sieht keinerlei Grund Krieg gegen seine Nachbarstaaten zu führen – außer es sieht seine Nationalinteressen oder seine territoriale Integrität bedroht. Und Taiwan, Tibet und die besetzten Inseln im Südchinesischen Meer gehören nach dem Verständnis der chinesischen Regierung (und der meisten Chinesen) zu China.

literaturauswärtiges amt: Länderinformation China. http://www.auswaertiges-amt.de/www/de/laen-derinfos

auswärtiges amt: Die Beziehungen zwischen Deutschland und der Volksrepublik China. 20.01.2008, http://www.auswaertiges-amt.de/diplo/de/Laenderinformationen/China/Bilateral.html

Eastman, lloyd E.: Nationalist China during the Sino-Japanese War, 1937–1945. In: The Nationalist Era in China, 1927–1949. Cambridge 1991.

information office of the state council: Government White Paper on China’s Peaceful Deve-lopment Road, 2005. In: www.china.org

information office of the state council: Government White Paper on China’s National De-fense in 2004. In: www.china.org

heilmann, sebastian: Das politische System Chinas. Wiesbaden 2005.

international institute for strategic studies (iiss): Military Balance. London IISS.

kindermann, gottfried-karl: Der Aufstieg Ostasiens in der Weltpolitik. Stuttgart/München 2001.

ministry of defense, government of india: Security Environment Overview; Armed Forces, 2004. In: mod.nic.in/aforces/body.htm

office of the secretary of defence: Report to Congress on the Military Power of the People’s Republic of China, Department of Defence. Washington D.C. 2006.

spence, Jonathan d.: The Search for Modern China. London/New York 1990.

wang hongying: Multilateralism in Chinese Foreign Policy. In: China’s International Rela-tions in the 21st Century. Lanham 2000.

Zheng Bijian: “Peacefully Rising” to Great Power Status. In: Foreign Affairs 84 (Sept/Okt 2005), S. 5.

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Nach dem Veto Russlands, dem Scheitern des Athisaari-Plans und dem ergebnislosen Abbruch der Verhandlungen zwischen Serbien und der vom UN-Sicherheitsrat ein-gesetzten Kontaktgruppe (bestehend aus den USA, Großbritannien, Deutschland, Frankreich, Italien und Russland) am 10.12.2007 entscheidet sich die Zukunft des Kosovos außerhalb der durch die Resolution 1244 des Sicherheitsrates vorgegebenen Koordinaten.1 Wie allgemein erwartet, hat die Regierung des Kosovo am 17.02.2008 die Unabhängigkeit proklamiert.2 Diese wird aber von Russland und Serbien mit

1 Die Resolution 1244, am 10.06.1999 vom UN-Sicherheitsrat verabschiedet, hatte mehrere Ziele. So markierte sie das Ende der bewaffneten Auseinandersetzungen im Kosovokrieg, sicherte die territoriale Unversehrtheit der nach den Wirren der 1990er Jahre verbliebe-nen Bundesrepublik Serbien und bildete die völkerrechtliche Grundlage für die Einrich-tung der Übergangsverwaltungsmission der Vereinten Nationen im Kosovo UNMIK. Die Resolution ist verfügbar unter http://www.unmikonline.org/press/reports/N9917289.pdf

2 Die EU ist bislang über die Anerkennung des Kosovo alles andere einig. Zypern, Grie-chenland, Rumänien, Slowakei, Ungarn und Spanien hegten zunächst Vorbehalte, da sie mit Nebenwirkungen für die eigenen und von Minderheitenfragen belasteten politischen Systeme rechnen müssen. Eine gemeinsame Haltung kam denn auch erst nach lang-wierigen Verhandlungen beim Treffen der EU-Außenminister am 18.02.2008 in Brüssel zustande. Wenig überraschend bestand die Einigung darin, dass nun jedes EU-Land

Thema: Krieg und Frieden A) Geschichte B) Politik C) Kultur

Büchse der Pandora?

Die Unabhängigkeit Kosovos als möglicher Präze-denzfall

Anton Himmelspach

Hochschule Vechta, Vechta Email: [email protected]

schlüsselwörterKosovo-Konflikt, Resolution 1244, Moldawien, Transnistrien, Georgien, Unabhängigkeit

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Thema: Krieg und Frieden

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Verweis auf die Resolution 1244 nicht anerkannt. Russland hat bereits zu verstehen gegeben, dass eine Änderung der Resolution keine Mehrheit finden wird. Darüber hinaus betont Moskau fortwährend die Gefahr der Unabhängigkeit des Kosovo als Präzedenzfall für andere „eingefrorene“ Konflikte. Die Souveränitätsfrage könnte zur Büchse der Pandora für die Friedensordnung in Europa werden. Das russische Au-ßenministerium hat erneut davor gewarnt: „Wenn wir zu dem Schluss kommen, dass das Prinzip des Selbstbestimmungsrechts der Nation wichtiger ist als das Prinzip der ter-ritorialen Integrität eines Staates, müssen wir uns von diesem Prinzip in allen Regionen leiten lassen und nicht nur dort, wo es einem unserer Partner gefällt“, erklärte Russlands Vize-Außenminister Grigori Karassin. Er erläuterte, welche Regionen konkret gemeint sind: „Dann müssen sowohl die Völker im postjugoslawischen Raum als auch die kleinen Völker im postsowjetischen Raum, darunter auch diejenigen im Kaukasus, vom Selbstbe-stimmungsrecht Gebrauch machen.“3

Gemeint sind hier also namentlich die serbischen Enklaven im Kosovo und der ser-bische Teil Bosniens auf der einen und Transnistrien, Südossetien und Abchasien auf der anderen Seite.In der Tat ist die einseitige Anerkennung Kosovos äußerst problematisch: Durch die Entscheidung wird das Völkerrecht konterkariert und die genannten ohnehin schon höchst fragilen Regionen drohen weitgehend destabilisiert zu werden. Diese Untersuchung widmet sich dem zweiten Teil des Problems, wobei im Hinblick auf die von Moskau behauptete destabilisierende Wirkung der Unabhängigkeit Kosovos die Konsequenzen für den Balkan, für Moldau und für den Kaukasus in einer Art Kon-fliktdiagramm aufgezeigt werden sollen. Die zentrale These lautet hierbei, dass die Sezession tatsächlich eine Kettenreaktion in Teilen der Schwarzmeerregion provo-zieren könnte, die in einer neuen Welle der Gewalt mündet. Serbien hat jedenfalls in einem ersten Schritt die Botschafter aus den Staaten zurückgerufen, die das Kosovo bereits anerkennen. Die vorhandenen Strukturen wie die Schwarzmeerkooperati-on gelten daher als zu schwach, um den Ausbruch offener Gewalt zu verhindern oder einzudämmen, wie der schwelende Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan immer wieder zeigt.

kettenreaktion oder Eindämmung?

Grundlage der Verwaltungshoheit der UN über das Kosovo ist, wie schon erwähnt, die

selbst entscheiden kann, ob und wann es das Kosovo anerkennen will. Einzig Zypern lehnt es prinzipiell ab, die Unabhängigkeit Kosovos mit Blick auf die Lage in Nordzypern anzuerkennen: „Gott bewahre! Wir werden Kosovo nicht anerkennen, selbst wenn alle anderen EU-Staaten es tun sollten.“ Vgl. höhler, gerd: Testfall Kosovo.

3 vgl. Agenturmeldung von ria novosti: Kosovo und Nordzypern: Gefährliche Doppelstan-dards?

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Resolution 1244, die der UN-Sicherheitsrat am 10.06.1999 verabschiedet hat. Auf ihr basiert das Mandat von UNMIK (United Nation Interim Administration Mission in Kosovo), nach dem Bürgerkrieg eine Übergangsverwaltung zur Wiederherstellung normaler Lebensverhältnisse zu schaffen. Völkerrechtlich, so der Tenor der Resoluti-on, sollte Kosovo weiterhin zu Serbien gehören. Gemäß den Empfehlungen des UN-Sondergesandten Marthi Arthisaari, die dieser der Kontaktgruppe am 26.01.2007 in Wien unterbreitet hatte, drängt die Staatengemeinschaft, allen voran die USA, darauf, trotz des Widerstandes Serbiens und unter dem Eindruck der Vetodrohung Russlands das unabhängige Kosovo unter der Voraussetzung anzuerkennen, dass die Souveränität zunächst eine vorläufige bleibt und dass das UN-Protektorat von der EU übernom-men wird. Arthisaari selbst hatte ein ausgebautes Selbstbestimmungsrecht vorge-schlagen, das Wort Unabhängigkeit aber sorgfältig vermieden. Interessant erscheint aus heutiger Perspektive der Umstand, dass die offizielle serbische Seite damals schon die Kosovo-Frage mit dem Bekenntnis für bzw. gegen die EU verband – der Rück-tritt von Premierminister Koštunica vom 09.03.2008 kommt also keineswegs überra-schend, hatte er doch den Vorschlag von Arthisaari als illegitim abgelehnt. Immerhin hatte Arthisaari vorgeschlagen, dass das Kosovo das Recht erhalten sollte, von sich aus internationale Abkommen abschließen und internationalen Organisationen beitreten zu können. Außerdem standen eine Verfassung, eine Fahne und eine Armee für das Kosovo auf der Liste. Gleichzeitig sollte sich die kosovarische Führung verpflichten, den Schutz und die Förderung der nicht-albanischen Bevölkerungsanteile zu garan-tieren und eine Dezentralisierung der von UNMIK übernommenen Strukturen vo-ranzutreiben, um die serbischen Gemeinden mit starken Rechten auszustatten.4 Der Beschluss des Europäischen Rats von Brüssel vom 14.12.2007 sieht eine Polizei- und Rechtsstaatsmission im Rahmen der Europäischen Verteidigungs- und Sicherheits-politik (künftig EVSP) vor, die nach dem Ende von UNMIK vor allem Aufgaben in den Bereichen Polizei, Justiz und Zoll übernehmen soll. Um einen reibungslosen Übergang sicherzustellen, wurde bereits gegen den Einspruch von Serbien und Russ-land ein Planungsteam in Priština eingerichtet. Der genaue Zeitpunkt, von dem an EULEX Kosovo operativ tätig wird und die Aufgaben von UNMIK übernimmt, muss noch festgelegt werden, da das Projekt der Zustimmung durch den UN-Sicherheitsrat bedarf, die angesichts der Vetodrohung von Russland zunehmend unwahrscheinlicher wird. Da das Interpretationsrecht von UN-Resolutionen bei allen UN-Mitgliedstaaten liegt, könnten die EU-Staaten ihren Einsatz erforderlichenfalls auch selbst ableiten, so-fern sie sich denn einig wären.Im Hinblick auf die Wirtschaftskrise des Landes, die demographische Struktur der

4 vgl. hierzu http://www.euractiv.com/de/erweiterung/kosovo-status-ahtisaari-sucht-kom-promiss/article-161420

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Thema: Krieg und Frieden

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Bevölkerung mit ihrem extrem hohen Anteil junger Menschen sowie die daraus re-sultierenden Frustrationen und Konfliktpotentiale5 scheint die Entscheidung für eine Unabhängigkeit auf den ersten Blick richtig: Die Status-Erklärung könnte stabilisie-rungspolitische Maßnahmen effizienter gestalten, und die EU-Annäherung könnte mittelfristig Prosperitätsschübe ermöglichen. Aber selbst wenn sich der Blick auf Ko-sovo verengt, wird die Möglichkeit einer Kettenreaktion ausgeblendet. Die Logik eth-nonationaler Homogenisierung, der sich die EU und die NATO mit ihrem Einsatz lange entgegenstellten, könnte – bedingt durch die Unabhängigkeitserklärung – auch von den in Kosovo lebenden Serben in Anspruch genommen werden. Vor allem dann, wenn die EU wegen der fehlenden internen Abstimmung eine mangelnde actorness an den Tag legt, könnten sich die Serben im Norden Kosovos ermutigt fühlen, dem neuen Staat den Rücken zu kehren. Das aber würde die Serben, die in den ethnischen Enklaven im Süden sowie nördlich des Flusses Ibar ohne Schutz zurücklassen, auch wenn die Regierung in Priština die schon von Arthisaari vorgeschlagenen Minder-heitenrechte in die noch zu entwickelnde Verfassung aufnehmen will. Nachfolgende Abbildung gibt einen ungefähren Überblick über die Bevölkerungsverteilung.Die rund 70.000 Albaner im südserbischen Gebiet des Presevo-Tals, die im Jahr 2000 für kurze Zeit den Aufstand probten, haben vorsorglich die Angliederung an Kosovo proklamiert.Sie machen das davon abhängig, falls die nordkosovarischen Serben die Grenzen des früheren Jugoslawiens wieder aufbauen. Interessanterweise ergeben sich hier Paralle-len zur Position von revisionistischen Serben in der bosnischen Republik Srpska, die als Überbleibsel des Krieges in Bosnien-Herzegowina nur von Serbien völkerrecht-lich anerkannt wird.6

das Beispiel Bosnien-herzegowina

Der Architekt des Friedensabkommens von Dayton, Richard Holbrooke, konstatierte vor kurzem eine von russischen Petrodollars initiierte Verwandlung des „mildly pro-western leader, Milorad Dodik, into a nasty nationalist“, der mit Blick auf die Ent-

5 Nach Angaben des Statistischen Büros in Priština liegt die Inflationsrate bei 10,7 %, während die offizielle Arbeitslosenquote bei rund 40 % liegt. Tatsächlich dürfte jedoch jeder Zweite der rund 2,2 Mio. Kosovaren ohne ein geregeltes Einkommen sein. Die Wirtschaftskrise wird dadurch verschärft, dass der Status Kosovos ausländischen Inves-toren zu unsicher erscheint. Vgl. hier ausführlicher Europäische Kommission: Kosovo – economic profile, zitiert nach http://ec.europa.eu/ enlargement/serbia/kosovo/econo-mic_profile_en.htm; schoch, Bruno/dembinski, matthias: Wider eine einseitige Unab-hängigkeit Kosovos. Die Statusfrage und die Weltordnung; statistical office of kosovo: Kosovo Demographic and Health Survey 2003. Preliminary Results.

6 vgl. schoch, Bruno/dembinski, matthias: Gordischer Knoten Kosovo; vgl. Patten, chris: Die unvermeidliche Republik Kosovo.

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wicklung Kosovos mit der Abspaltung der Teilrepublik Srpska droht.7 Im Hinblick auf das Stabilisierungs- und Assoziationsabkommen mit der EU, das am 04.12.2007 paraphiert wurde, bekannte sich der Präsident der Republik Srspka in einer Replik zur Integrität Bosnien-Herzegowinas, dessen Zukunft er in der EU sieht.8 Dennoch ist Holbrooks Alarmismus nicht ganz unberechtigt: Bei seinem Besuch in Berlin warnte Dodik mit Nachdruck. Da niemand mehr in der Föderation die Auflösung seiner Republik fordere, rede er auch nicht mehr einer Volksabstimmung über die Unab-hängigkeit das Wort. Würde die Forderung nach dem Verschwinden der Republika Srspka wieder laut, dann bringe er postwendend wieder ein Referendum ins Ge-spräch.9 Die Abspaltung der Republik Srspka würde nach Schätzungen des UNHCR rund 162.000 Angehörige ethnischer und konfessioneller Minderheiten gefährden, die seit 1996 dorthin zurückgekehrt sind.10 Bislang ist das Problem von der Atlantischen Allianz nicht auf einem ernsthaften politischen Niveau angesprochen worden, ob-wohl die Lage gerade in Bosnien als besonders gefährdet gilt, wie auch Raff Gregorian, der stellvertretende Hohe Vertreter der UN für Bosnien, kürzlich hervorhob.11

das Beispiel moldau

Die Republik Moldau ist de facto geteilt: Der größere moldawischsprachige Teil liegt westlich des Flusses Dnjestr und auf der anderen Seite befindet sich das im Jahr 1992 abgespaltene und vorwiegend russischsprachige Transnistrien, das international nicht anerkannt ist. Der Präsident Igor Smirnow führt das Gebiet ohne demokrati-sche Legitimierung und besteht darauf, dass die Entwicklung im Kosovo zwar einen Präzedenzfall darstelle. Dennoch würde sich dieser nicht als Vorbild für die Sezessi-onsbestrebungen Transnistriens eignen, da die Forderung nach einer Unabhängigkeit auch ohne Rücksicht auf den Prozess in Kosovo aufrechterhalten werde, zumal die Ansprüche Transnistriens berechtigter seien.12 In einer im September 2006 durch-geführten Volksbefragung stimmten 97% der transnistrischen Bevölkerung für die Unabhängigkeit und die freie Assoziierung der Republik mit der Russischen Föde-ration. Die russische Staatsduma verabschiedete daraufhin eine Resolution, welche die Legitimität des Referendums anerkannte und die internationale Gemeinschaft

7 vgl. holbrooke, richard: Back to the brink in the Balkans at worst time.

8 vgl. Europäische kommission: Bosnia and Herzegowina – Relations with the EU; vgl. dodik, milorad: Standing by the Dayton Agreement.

9 vgl. das Interview mit Milorad Dodik, Handelsblatt vom 22.01.2008, S. 2.

10 vgl. unhcr: Total minority returns since GFAP.

11 vgl. holbrooke, richard: Back to the brink in the Balkans at worst time.

12 vgl. Landslide win for indendence vote in Pridnestrovie´s referendum (18.09.2006) und President: Transniestre derserves independence more then Kosovo (28.12.2007). In: Tirastopol Times, zitiert nach http://www.tirastopoltimes.com.

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zur Anerkennung des Ergebnisses aufforderte.13 Dass die Transistrier weiterhin ihre moldawischen Pässe nutzen, kompliziert die Lage zusätzlich, zumal das früher zu Ru-mänien gehörende Moldau durch die Abspaltung Transnistriens einen Großteil der industriellen Produktionskapazitäten verloren hat, die nunmehr von der 5. russischen Armee beaufsichtigt werden.Die im Rahmen der Europäischen Nachbarschaftspolitik (ENP) im Jahr 2005 ge-startete EU Border Assitance Mission (EUBAM) ist unter anderem gegen die illegalen Grenzaktivitäten der Smirnow-Behörden gerichtet und soll zur Herausbildung eine homogenen und transparenten Grenzregimes beitragen. In Kooperation mit ukrai-nischen Grenzbehörden kann die Mission bereits Erfolge vorweisen, was mit einer Schwächung der transnistrischen Führung gleichgesetzt wird.14 Seit dem das Zoll-regime zwischen Moldau und der Ukraine entsprechend modifiziert wurde, befindet sich Transnistrien in einer prekären Lage und ist auf die humanitäre Hilfe Moskaus angewiesen. So stellte die russische Regierung kürzlich 640 Mio. Rubel (rund 27,2 Mio. US-$) zur Erhöhung der transnistrischen Rentenbezüge zur Verfügung.Insgesamt wurden damit seit der einseitigen Proklamation der Unabhängigkeit rund 218 Mio. Euro nach Transnistrien transferiert.15 Seit dem Ende des gewaltsamen Trans-nistrien-Konfliktes im Jahr 1992 – der Versuch Moldaus, das Gebiet mit einer Mili-täraktion zurück zu gewinnen, war an der Intervention Russlands gescheitert – sind an der innermoldawischen Grenze russische „Friedenstruppen“ stationiert, die weiteren Konflikten vorbeugen sollen. „In Wahrheit aber sichern sie eher die Sezession Transni-striens. [...] Moskau ist erzürnt, weil Moldawien als gleichsam letzter Sowjetstaat neu-erdings erklärtermaßen den Anschluss an die EU sucht.“16 Vor diesem Hintergrund benutzte der russische Ex-Präsident Putin Transnistrien als Faustpfand gegenüber dem „abtrünnigen“ Moldau. Am 22.01.2007 empfing der Kremlchef den Präsident Moldawiens, Wladimir Woronin, und machte ihm deutlich, dass nur Russland als Garant der territorialen Integrität Moldaus gelten kann, und dass die Garantie eine Annäherung Moldaus an Rumänien ausschließt. Das Einlenken Woronins, das bereits im Vorfeld des Treffens sicher war, honorierte Patriarch Alexius II. am 21.01.2007, in dem er Woronin in Anerkennung „Für den außergewöhnlichen Beitrag zur Festigung

13 vgl. radio Free Europe: Transnistrians Cast Ballots in Presidential Poll, Meldung vom 10.12.2006.

14 vgl. EuBam to moldova and ukraine: Annual Report 2005/2006; vgl. international crisis group: Moldava´s Uncertain Future, Europe Report, Nr. 175 vom 17.08.2006.

15 vgl. nowyj region2: Transnistrische Rentner bekommen Renten-Zulagen aus Russland, Agenturmeldung; vgl. kunze, thomas/Bohnet, henri: Zwischen Europa und Russ-land. Zur Lage der abtrünnigen Republiken Transnistrien, Abchasien und Südossetien, S. 6–30.

16 vgl. Frank, michael: Verlustangst im ärmsten Staat Europas, S. 8.

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der Einheit orthodoxer Völker“ auszeichnete. Auch wenn es noch zu früh für eine Bewertung der Vorgänge ist, scheint es doch gelungen zu sein, mithilfe der Unabhän-gigkeit für Kosovo Moldaus Versuche einer Annäherung an die EU zu unterbinden und den ärmsten Staat Europas enger an Russland zu binden.17

das Beispiel georgien

Auch die russisch-georgischen Beziehungen scheinen sich nach Jahren der „Han-delskriege“ wieder zu entspannen. So hat der georgische Präsident Saakaschwili nach seinem Treffen mit dem russischen Außenminister Lawrow am 20.01.2008 angekün-digt, dass sich bereits erste positive Anzeichen für eine Annäherung zwischen beiden Ländern erkennen lassen.18 Es bleibt aber vorerst abzuwarten, ob die Krise, die durch die „Rosenrevolution“ im Winter 2003/2004 und die sich anschließende Wende in der georgischen Außenpolitik – hin zur EU und NATO – ausgelöst wurde, in der nächs-ten Zeit entschärft werden kann.Wie im Falle Moldaus wäre auch hier das Szenario der Widerannäherung Georgiens an den Kreml denkbar: Der autoritäre rollback Georgiens – bedingt durch die weitge-hende Entmachtung von Kommunen und Regionen, das Ausrufen des Ausnahmezu-stands durch den Präsidenten im November 2007, das brutale Vorgehen der Polizei während der Proteste und schließlich die Unregelmäßigkeiten bei der Präsident-schaftswahl im Januar 2008 – könnte die Annäherung Georgiens an die EU und die NATO weitaus schwieriger gestalten und Georgien in eine Isolation oder aber in die Arme Moskaus treiben. Auch hier besteht die Möglichkeit, dass Russland die Koso-vo-Karte spielt und mit der Unterstützung der Sezessionsbewegungen in Abchasien und Südossetien die Regierung in Tiflis auf Linie zwingt. Zwar hat Außenminister Lawrow schon mehrmals beteuert, Russland werde im Falle der Unabhängigkeit Ko-sovos nicht in die territoriale Integrität von Georgien eingreifen und nur im Rahmen des Völkerrechts agieren. Er wies aber auch auf die Gefahr einer Kettenreaktion hin, die vom Kosovo ausgehe.19

das Beispiel abchasien und südossetien

Die Phase der Bürgerkriege in den Sezessionskonflikten zwischen 1992 und 1994

17 vgl. gamow, alexandr: Putin und Woronin entscheiden über das Schicksal Moldawiens. Das Beispiel Kosovo zwingt den Präsidenten Moldawiens, Rat beim Präsidenten Russ-lands zu suchen.

18 vgl. grusija online: Saakaschwili über die Beziehungen zu Russland, Agenturmeldung.

19 vgl. ria nowosti: Die Russische Föderation hat keine Pläne für die Anerkennung der Unabhängigkeit von Abchasien und Südossetien (23.01.2008) und vgl. außenminister lawrow: Die Anerkennung der Unabhängigkeit des Kosovo fördert die separatistischen Bestrebungen weltweit (13.12.2007), http://www.rian.ru

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forderte ca. 21.500 Menschenleben und endete in einer de facto Unabhängigkeit Ab-chasiens auf der einen und Südossetiens auf der anderen Seite. De jure gehören die Territorien weiterhin zu Georgien, das sich seither um die Rückgewinnung der terri-torialen Integrität bemüht. Diese Anstrengungen werden jedoch von Russland nach Kräften hintertrieben. Durch die Vergabe von russischen Pässen an die Bevölkerung, die weitgehende wirtschaftliche Vernetzung in Form von Grenz-Öffnungen oder die Einführung des Rubels als offizieller Währung in der Region, betreibt der Kreml eine Politik der schleichenden Annexion.20

Die Annäherung Georgiens an die NATO sowie die fortschreitende Aufrüstung der georgischen Streitkräfte mit US-amerikanischer Unterstützung wird in Moskau als Bedrohung gesehen und mit der Aufrüstung der separatistischen Regime in Abchasi-en und Südossetien beantwortet. Die Repräsentanten der abtrünnigen Gebiete treffen sich regelmäßig in Moskau oder in den Zentren der Sezessionsrepubliken und versi-chern sich dabei die gegenseitige Unterstützung für den Fall einer Aggression Dritter zu.Sollte es hierbei nicht nur bei Absichtserklärungen bleiben, könnte es im schlimms-ten Falle zum Auftauen dieser bislang eingefrorenen Konflikte kommen, worunter auch die Beziehungen zwischen Russland und der NATO leiden werden, die ohne-dies schon durch den Raketenstreit belastet sind. Die georgische Parlamentspräsi-dentin Nino Burschanadse verkündete kürzlich, dass die Anerkennung Abchasiens und Südossetiens seitens Russlands als eine Kriegserklärung an Georgien gewertet wird.21

Fazit

Chris Patten hat aus der historischen Perspektive Recht, wenn er meint, dass Ko-sovo kaum ein Präzedenzfall darstellen kann – „nirgendwo in Europa existiert etwas Vergleichbares: ein Volk, das extreme ethnische Säuberungen erdulden musste, ist auf-grund internationaler militärischer Interventionen in sein Land zurückgekehrt, die Be-völkerungsmehrheit von 90 % hat jahrelang in einem UN-Protektorat gelebt, auf der Grundlage einer Resolution des Sicherheitsrats, die besagt, dass der künftige Status des Landes durch einen „politischen Prozess“ entschieden wird.“ Wie Javier Solana allerdings eingesteht, drängen sich solche Vergleiche, so ungenau sie auch sind, nolens volens auf: „We are trapped here [...] in a double mechanism that may have good consequences

20 vgl. kunze, thomas/Bohnet, henri: Zwischen Europa und Russland, S. 20 ff.; vgl. hal-bach, uwe: Säbelrasseln und Friedenspolitik in Europas Nachbarschaft. In: SWP Aktuell, Nr. 32, Juli 2006.

21 vgl. halbach, uwe: Eingefrorene Konflikte im Südkaukasus: Probleme und Grenzen der Europäisierung. In: Osteuropa, Nr. 11 (2007), S. 83–94; vgl. nowyj region2: Burdscha-nadse warnt Russland vor der Anerkennung Abchasiens und Südossetiens.

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for one, but not for the other. It may not be a win-win situation – although we should be able to look [for] and find a win-win solution. But it will not be easy.“22

Entscheidend ist hier in Wirklichkeit nicht so sehr die strukturelle Vergleichbarkeit zwi-schen den angeführten Konfliktfeldern, als vielmehr ihre Konstruktion und Instrumen-talisierung seitens der Repräsentanten sezessionsorientierter Gebiete und des Akteurs Russland, der hier die Chance ergreift, die eigenen außenpolitischen Ziele gegenüber der EU und der NATO zu verfolgen. Der völkerrechtliche Schwebezustand des Kosovo wurde durch die Unabhängigkeitserklärung mehr symbolisch als real aufgehoben; das Land selbst bleibt ein Provisorium. Wenn aber die Vorteile der einseitigen Anerken-nung so bescheiden ausfallen, rechtfertigt das die eingegangenen Risiken umso mehr.23 Die serbischen Siedlungsgebiete im Nordkosovo könnten sich nach der Logik der eth-nonationalen Homogenisierung vom neuen Staat abspalten und die Wiedervereini-gung mit Serbien anstreben.Der Ethnozentrismus des neuen Staates könnte einerseits auf die territoriale Integri-tät insistieren und andererseits die serbischen Enklaven im Kosovo in ihrem Bestand gefährden. Beides würde aus einem ethnisch motivierten Konflikt, der im Grunde genommen ganz Ex-Jugoslawien seit dem Tot Titos beherrscht, einen brisanten Ter-ritorialkonflikt machen, worauf die NATO und die EU nicht vorbereitet sind. Zur weiteren Destabilisierung des Balkans könnten die diversen Nationalismen der nati-onalen Minderheiten in der Region beitragen.Zum Preis einer Abkehr Moldaus von der EU als Wirtschaftspartner und als Wertege-meinschaft wird sich der Konflikt zwischen Russland und Moldau um Transnistrien wahrscheinlich weiter entschärfen, sofern die wirtschaftliche Entwicklung des ab-trünnigen Gebietes eine halbwegs gesicherte Basis bildet, auf der eine eigenständige Existenz möglich wird. Moskau wird aber nicht um eine Antwort herumkommen, wie hoch der Preis sein darf, den man für ein Mitspracherecht in der Region bereit ist zu leisten.Sollte sich das Interesse der NATO und der EU an der geostrategischen Lage Geor-giens – trotz des autoritären rollbacks der georgischen Regierung – in Beitrittsver-handlungen manifestieren, würde Russland mit weiteren Sanktionen reagieren und den Sezessionsbestrebungen in den beiden abtrünnigen Gebieten weiteren Auftrieb geben, woraus neues Konfliktpotential erwächst, wie die Spannungen zwischen Arme-nien und Aserbaidschan bzw. der Krieg in Tschetschenien zur Genüge zeigen.

22 Patten, chris: Die unvermeidliche Republik Kosovo. In: Süddeutsche Zeitung, Nr. 264 vom 16.11.2007; Solana, Javier, zitiert nach radio Free Europe: Georgia: Solana Fears Kosovo ´Precedent´ for Abkhazia, South Ossetia.

23 vgl. schoch, Bruno/dembinski, matthias: Gordischer Knoten Kosovo, S. 93 f.

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Thema: Krieg und Frieden

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ausblick

Die entscheidende Hürde für Kompromisslösungen in der Kosovo-Krise waren die zuweilen sehr unterschiedlichen Standpunkte der USA und Russlands: „Solange die US-Regierung glaubt, die Sezession Kosovos sei der einzige Ausweg aus dem Konflikt, gibt es für Priština keinen Grund, Alternativen zu überdenken.“24

Angesichts der – vor dem Hintergrund der Unabhängigkeit konstruierten – Präze-denzfälle war der Status quo ante die einstweilen einzige mögliche Alternative zur einseitigen Durchsetzung der Unabhängigkeit Kosovos. Das hieße aber, die Frage des Status weiterhin der Schwebe zu halten, nachdem der formale Schritt der Erklärung der Souveränität vollzogen wurde. Um der drohenden politischen wie ökonomischen Destabilisierung des jüngsten Staates vorzubeugen, hätte die EU die Möglichkeit einer legalen Arbeitsmigration schaffen können, was aber mit Blick auf die Handhabung des Schengen-Acquis gegenüber der Ukraine und Weißrussland unterblieb. Die Schaffung einer weitergehenden Autonomie oder die Gründung einer Konföderation hatte angesichts der Erfahrungswerte mit der nicht mehr existierenden Bundesrepublik Jugoslawien von Anfang an kaum Aussichten auf Erfolg. Die Durchsetzung der Un-abhängigkeit und deren Anerkennung durch eine wachsende Zahl von Staaten nimmt nun die EU als dem größten Geber in die Pflicht, die Rechte und den Schutz der Min-derheiten in der Region zu garantieren, womit die EU in ihrer heutigen Konstitution überfordert ist, fehlen ihr doch die dafür als notwendig geltenden Machtmittel. Umso wichtiger wird die gegenüber Serbien, Bosnien-Herzegowina und Kosovo offerierte Beitrittsperspektive, die diese Aufgabe im Sinne einer weichen Koordinierung weitaus effizienter bewältigen kann, als allgemein angenommen. Schließlich muss die von der EU betriebene Russland-Politik reformiert werden: Statt sich über die Demokra-tiedefizite zu entrüsten und auf Konfrontation mit Russland zu schalten, sollten die EU-Staaten allmählich damit anfangen, Moskaus Befindlichkeiten ernst zu nehmen. „In der Kosovo-Frage rächt es sich nun, dass man Moskau als quantité négligeable be-handelt hat.“25

literatur:dodik, milorad: Standing by the Dayton Agreement. 07.02.08, http://www.kosovocom promi-se.com/cms/item/topic/en.html?view=story&id=316&sectionId=2.

EuBam to moldova and ukraine: Annual Report 2005/2006. 07.02.08, http://www.eubam.org/files/100-199/187/Report_Engl.pdf

Europäische kommission: Bosnia and Herzegowina – Relations with the EU. 07.02.08, http://ec. europa.eu/ enlargement/bosnia_and_herzegovina/ eu_bosnia_and_herzegovina_relations_

24 reljić, dušan: Bedrohliche Weiterung der Kosovo-Krise. In: SWP Aktuell, Nr. 1 (2008), S. 4.

25 schoch, Bruno/dembinski, matthias: Gordischer Knoten Kosovo, S. 95.

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en.htm

Frank, michael: Verlustangst im ärmsten Staat Europas. Moldawien befürchtet, dass eine Unab-hängigkeit des Kosovos die Separationsbestrebungen der Provinz Transnistrien beschleuni-gen würde. In: Süddeutsche Zeitung, Nr. 299 vom 29.12.2007, S. 8.

gamow, alexandr: Putin und Woronin entscheiden über das Schicksal Moldawiens. Das Bei-spiel Kosovo zwingt den Präsidenten Moldawiens, Rat beim Präsidenten Russlands zu suchen. In: Komsomolskaja Prawda vom 23.01.2007, http://www.kp.ru/daily/24036/96344.

grusija online: Saakaschwili über die Beziehungen zu Russland, Agenturmeldung. 07.02.08, http://www.apsny.ge/news/1201316390.php

halbach, uwe: Eingefrorene Konflikte im Südkaukasus: Probleme und Grenzen der Europäi-sierung. In: Osteuropa, Nr. 11 (2007), S. 83–94.

halbach, uwe: Säbelrasseln und Friedenspolitik in Europas Nachbarschaft. In: SWP Aktuell, Nr. 32, Juli 2006.

höhler, gerd: Testfall Kosovo. In: Der Tagesspiegel vom 31.01.2008.

holbrooke, richard: Back to the brink in the Balkans at worst time. 07.02.08, http://www.statejournal.com/news/2909771

international crisis group: Moldava´s Uncertain Future, Europe Report, Nr. 175 vom 17.08.2006.

kunze, thomas/Bohnet, henri: Zwischen Europa und Russland. Zur Lage der abtrünnigen Republiken Transnistrien, Abchasien und Südossetien. In: KAS Auslandsinformationen, Nr. 1 (2007), S. 6–30.

nowyj region2: Burdschanadse warnt Russland vor der Anerkennung Abchasiens und Süd-ossetiens. 07.02.08, http://www.nr2.ru/policy/155350.html

Patten, chris: Die unvermeidliche Republik Kosovo. In: Süddeutsche Zeitung, Nr. 264 vom 16.11.2007.

radio Free Europe: Georgia: Solana Fears Kosovo ´Precedent´ for Abkhazia, South Os-setia. 07.02.08, http://www.rferl.org/featuresarticle/2006/10/8748c1ca-a82c-444b-b2a9-df357251aa54.html

radio Free Europe: Transnistrians Cast Ballots in Presidential Poll, Meldung vom 10.12.2006. 07.02.08, http://www.rferl.org/featuresarticle/2006/12/e69db800-4f6f-4d01-8437-6e0b7e3e118b.html

reljić, dušan: Bedrohliche Weiterung der Kosovo-Krise. In: SWP Aktuell, Nr. 1 (2008).

ria nowosti: Die Russische Föderation hat keine Pläne für die Anerkennung der Unabhän-gigkeit von Abchasien und Südossetien (23.01.2008).

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Thema: Krieg und Frieden

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In der 2007er Ausgabe von Diskurs begründen Kuchler/Lemke das Scheitern des To-talitarismus u.a mit dessen Festlegung auf Einheitlichkeit und der Verdrän gung jegli-cher Alterität über das Freund-Feind-Schema hinaus.1 Gleichzei tig aber sehen sie die wahrgenommene Realität überlagert von Ungesag tem und Unsagbarem, was einer Gerechtigkeit im Widerstreit entgegen wirkt. Der fol gende Beitrag soll sich mit die-ser Überlagerung der Wahr neh mung durch tiefer lie gende Konzepte befassen. Wie Kuchler/Lemke schon andeuten entsteht diese Überlagerung durch unterschiedliche frames, also da durch, wie Aussagen in bereits bestehende Erfahrungsstrukturen ein-geordnet werden.2 Framing bie tet so, auch über die sprachliche Ebene hinaus, eine Möglich keit zur Kategorisie rung nach bestimmten grundlegenden Schemata. Die kulturelle Etablierung eines frame lässt sich folglich als Möglichkeit zur Begrenzung

1 Der Beitrag geht auf eine Untersuchung zur Konzeptualisierung von Politik zurück, die im Dezem ber 2006 als Arbeit zur Erlangung des Ersten Staatsexamens angenommen wurde und unter http://noam.uni-muenster.de/SASI/beitrag_kudla.htm publiziert ist.

2 kuchler, daniel/ lemke, matthias: Postmoderne Identität als Anti-Totalitarismus. Eine Würdi gung Jean-François Lyotards. In: Diskurs. Politikwissenschaftliche und geschichts-philosophische Interventionen 1+2/2007, S. 18 ff.

Thema: Krieg und Frieden A) Geschichte B) Politik C) Kultur

Politik ist krieg. das konzept des krieges als or-ganisation politischen widerstreites

Martin Kudla

Westfälische Wilhelms-Universität, Münster E-Mail: [email protected]

schlüsselwörterFraming, Lyotard, Lakoff, Postmoderne

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des Widerstreites sehen. Dies könnte aber weniger auf eine Organisa tion dessen als auf eine Diskursverknappung hinauslaufen.In den folgenden Ausführungen soll ein solches Organisationsprinzip von der Kogni-tion bis zur Verankerung in kultureller Signifikation skizziert werden. Im An schluss an Foucaults These: „Die Politik ist der mit anderen Mitteln fortge setzte Krieg“3, soll Letzterer als kulturelles Ordnungsmuster, welches den (po liti schen) Widerstreit und damit den Diskurs begrenzt, indiziert werden. Es soll gezeigt werden wie im (demokratischen) Diskurs eine Begrenzung und Vereinheitlichung im Modell des Krieges durchgeführt wird und eine horizon tale sowie vertikale (hierarchische) Ord-nung entsteht, die, pointiert gesprochen, Po litik wieder auf die Unterscheidung von Carl Schmitt reduzieren lässt: „Die eigentliche politische Unterscheidung ist die Un-terscheidung zwischen Freund und Feind. Sie gibt den menschlichen Handlungen und Motiven ihren Sinn; auf sie führen schließlich alle politischen Handlungen und Motive zurück.“4

Kriegs-Metaphorik als framing

Ein Mechanismus des framing lässt sich mit der kognitiven bzw. konzeptuellen Me-tapherntheorie von Lakoff/Johnson fassen, nach der „unser alltägliches Konzeptsys-tem, nach dem wir sowohl denken als auch handeln, […] im Kern und grundsätz lich metaphorisch [ist].“5 Das Wesen der Metapher besteht im Erfah ren und Verstehen einer Sache oder ei nes Vorgangs in Begriffen einer anderen Sache bzw. eines anderen Vorgangs.6 Als Referenz ihrer Ausführungen nutzen La koff/Johnson immer wieder die Metapher „Argument is War“, was für sie bedeutet, dass eine Diskussion als eine durch das Konzept Krieg struktu rierte Unterhaltung verstanden wird. Demnach lässt sich eine Metapher als „cross-domain-mapping in the conceptual system“7 von einer Grunderfah rung als Her kunftsbereich (source domain) auf einen erfahrenen Zielbereich (target domain) ver stehen.Der Gebrauch von Kriegsvokabular wäre also ein Indiz dafür, dass Argumenta tio-nen, gerade in ihrer institutionalisierten Form der Politik, durch einen Rückgriff auf ein spezielles Schema, nämlich das Konzept des Krieges, struktu riert und mindes tens partiell auch so erfahren wird.8 Lakoff spricht hier von „idealized cognitiv models“

3 Foucault, michel: In Verteidigung der Gesellschaft. Frankfurt/Main 2001, S. 63.

4 schmitt, carl: Der Begriff des Politischen. Hamburg 1933, S. 7.

5 lakoff, george/ Johnson, mark: Leben in Metaphern. Konstruktion und Gebrauch von Sprachbil dern. 3. Aufl. Heidelberg 2003, S. 11.

6 vgl. lakoff, george/ Johnson, mark: Leben in Metaphern. S. 13.

7 lakoff, george: The contemporary theory of metaphor. In: Ortony, Andrew (Hrsg.): Me-taphor and thought. 2. Aufl. Cambridge 1993, S. 206.

8 Der Frage, ob Krieg noch eine Grunderfahrung ist, lässt sich sowohl mit der indirekten

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Thema: Krieg und Frieden

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(ICM), die dem Prinzip des „highlighting and hiding“, fol gen.9 Ein sol ches ICM lässt sich dann im Rückbezug auf Küster im Zwei kampf identifizieren, welcher sozusagen den Archetyp der Kriegsmetapher darstellt.10 Er bildet die Grundlage für die Konzep-tualisierung von Argumentatio nen und fokussiert den Aspekt des Interessenkonflik-tes, bei gleich zeitiger Überdeckung anderer Aspekte des Zielbereichs Politik.11 Doch ist das Verhältnis der source domain Krieg zur target domain Politik komplexer und muss über Kampf und Interessenkonflikt hinaus angepasst werden, auch wenn sich das zu Grunde liegende ICM auf eine (idealisierte) Konstellation reduzieren lässt: „Zwei Parteien, die entgegengesetzte, un vereinbare Interessen vertreten, stehen einan-der auf einem Schlachtfeld gegen über und versuchen, durch bewaffneten Kampf und die Verfolgung bestimmter Strategien das Ziel der Überwindung des Gegners zu errei chen. Die Auseinanderset zung ist gewaltsam, mögliche Verluste, Schmerz, aber auch der Tri-umph des Sieges sind Teil des idealisierten Modells. Diese Konstellation wird mit Hilfe der Metapher auf zahlreiche, unterschiedliche Zielbereiche projiziert, wobei eine polare Grund struktur des Zielbereichs, Dualismus und Interessenkon flikt als wahrgenommene Korrelation von Herkunftsbereich und Zielbereich die metaphorische Konzeptualisie-rung motivieren.“12 Schon hier wird eine Erweite rung des Archetyp (Zwei-)Kampf deutlich: Das Schema beruht zwar immer noch auf einer Freund/Feind-Dyna mik, doch finden sich hier Parteien, Strate gien etc., die in dem Kriegskonzept unterge-bracht werden müssen. Denn so fern es sich hier um ein frame handelt, der das Wis-sen um Letzteren als Ganzes voraussetzt, muss sämtliches in der Politik genutztes Kriegsvokabular integ riert werden können. „By the term ‚frame’ I have in mind any system of concepts related in such a way that to understand any of them you have to understand the whole situation.”13 Durch die Politik ist Krieg-Metapher14 wird ein frame als Hintergrund geschaffen, vor dem das jeweilige Thema wahrgenom-

Vermittlung durch die Medien als auch mit dem in einer physischen Auseinandersetzung erfahrenen Schmerz begegnen.

9 vgl. lakoff, george: Women, fire and dangerous things. What categories reveal about the mind. Chicago 1987.

10 vgl. küster, rainer: Politik als Krieg. Zur Funktion militärischer Metaphern. In: Euchner, Walter / Rigotti, Francesca & Schiera, Pierangelo (Hrsg.): Il potere delle immagini. La metafora politica in prospettiva storica. Bologna 1993, S. 401.

11 vgl. Baldauf, christa: Metapher und Kognition. Grundlagen einer neuen Theorie der Alltagsmeta pher. Frankfurt/Main 1997, S. 259 ff.

12 Baldauf, christa: Metapher und Kognition. S. 213.

13 Fillmore, charles: Frame semantics. In: Korea, Linguistic Society of Linguistics in the Morning Calm. Seoul 1982, S. 111.

14 Bei der Großschreibung handelt es sich um einer Konvention zur Kennzeichnung kon-zeptueller Metaphern, die auch im weiteren Verlauf beibehalten wird.

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men und verständlich wird. Als Beispiel lässt sich der Be griff Scharmützel (W)15 als kleines Gefecht anführen. Diesen versteht man nur in seiner Relationen zu anderen Formen der Auseinandersetzung: In der Veror tung auf einer Skala von Gefechtsgrö-ßen wird er zwar verständlich, aber erst vor dem ganzen Szena rium des Konzeptes Krieg voll erfassbar, sodass das Bild eines altertümli chen Gefechtes kleiner Gruppen evoziert wird. Krieg bil det den frame, sodass jede in der Politik genutzte Kriegsvo-kabel erst in Bezie hung zu diesem Hintergrund Sinn ergibt. Der frame wirkt hier als ein kohärenzstift endes Deutungsschema, das den RezipientInnen eine schlüssige In-terpretation des Geschehens ermöglicht. Diese Kohärenzstiftung kann aber zu einer Unterdrückung anderer Aspekte führen, was den RezipientInnen, solange sie dem frame folgen, nicht auffällt. Solche Deutungsschemata entste hen außerhalb von Tex-ten und entspringen dem Allgemeinwissen, von dem jedes framing Gebrauch macht, weshalb es als kognitiver Vorgang nicht auf Sprache beschränkt ist. „A general con-cept of ‚framing’ involves contextualization or situating events in the broadest sense possible; within linguistic semantics proper the concern is with patterns of framing that are already established and which are specifically associated with given lexical items or grammatical categories.”16 Ein allgemeineres Konzept der frame analysis geht auf den Soziologen Erving Goffman zurück, der die Organisa tion von Alltagserfahrungen beschreibt, für deren Analyse er von der Annahme ausgeht, „dass wir gemäß gewis-sen Organisationsprinzipien für Ereignisse – zumindest für soziale – und für unsere persönliche Anteilnahme an ihnen Definitionen einer Si tuation aufstellen; diese Ele-mente, soweit mir ihre Herausarbeitung gelingt, nenne ich Rah men.“ 17 Unter diesem Aspekt betrachtet ist Krieg als Teil des Rah mens/frame sinnstiftend für das Ereig-nis Politik und zwingt letzterem seine Organisations strukturen auf, was sich in dem benutzten Kriegsvokabular andeu tet. Versteht man dabei den zu Grunde liegenden frame als type und die verschie denen, ihm entspringenden metaphorischen Äuße-rungen als token, führt der wiederholte Gebrauch letzterer nach Lakoff/Johnson zu einer Verstär kung der neurona len Bindung von source- und target domain, d.h. die mensch liche Nervenstruktur nimmt schrittweise die Metapher als mehr oder weni-ger gegeben hin.18

Analog dazu leistet die Wiederholung aus performativer Sicht eine Bestäti gung kul-tureller Vorstellungen bzw. gesellschaftlicher Tatsachen und erzeugt durch mensch-

15 Sämtliche metaphorischen Ausdrücke entstammen einem Korpus von ca. 400 Artikeln der o. g. Untersuchung zur Kriegsmetaphorik in Süddeutscher Zeitung (SZ) und Welt (W).

16 Fillmore, charles: Frame semantics. S. 130.

17 goffman, Erving: Rahmenanalyse. Ein Versuch über die Organisation von Alltagserfah-rungen. Frankfurt/Main 1980, S. 19.

18 lakoff, george/ Johnson, mark: Philosophy in the flesh. New York u. a. 1999, S. 57.

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Thema: Krieg und Frieden

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liche Erfahrung Realität. Die Diskursivierung der Politik ist Krieg-Metapher ge-schieht also über ihre sprachlichen Instandsetzungen in performativen Akten. „Bei der Diskursivierung des Performativen geht es darum, auf den Begriff zu kommen, ein Erlebnis in Worte zu fassen, einen Eindruck, eine Beobachtung oder eine Erfahrung sprachlich zu vermitteln.“19 Sprache und Erfahrung stehen dem nach in einem Wech-selverhältnis: Einerseits entspricht die Sprache erfahrenen Strukturen und anderer-seits ist sie in der Lage, durch ihre Realisation Erfah rungsstrukturen zu prägen. Es zeigt sich also ein Übergang der Metapher vom cognitive- ins cultural web, der als Diskursivierung des frame zu interpretieren ist. Dies geschieht durch das (sprachli-che) Handeln der Angehörigen einer Kultur in der ihnen eigenen Signifikation, zu deren Teil ein metaphorisches Konzept wird. Die Signifikation wird zwar durch den frame geprägt, wirkt sich aber im Sinne der Performativität umgekehrt auch auf die Verwendung und Ausarbei tung desselbigen aus. Gibbs spricht von sogenannten off loaded metaphors, die in öffentliche bzw. kulturelle Repräsentation Einzug erhalten und mit denen man ständig konfrontiert wird.20 Es lässt sich hier also eine Schnitt-menge des kulturel len Bedeutungsgewebes und des cognitive web erken nen. Wird jedoch von off loaded gesprochen, bedeutet dies auch, dass eine konzeptu elle Meta-pher aus dem cognitive web tritt und im kulturellen Netz als frame verankert wird, etwa um Erstgenanntes zu entlasten. Da aber innerhalb eines frames die Deutung (weitgehend) vorgegeben ist, entsteht das, was Kövecses pressure of coherence nennt.21 Dabei werden in einer gegebe nen, kulturell definierten Situation (metapho rische) Aussagen dem frame ange passt. Weitere (metaphorische) Äußerun gen sollten in den vorgegebe nen Deutungsschemata verbleiben, sich also kohärent zu ihnen erweisen.Versteht man den Widerstreit als den instabilen Zustand und den Moment der Spra-che, „in dem etwas, das in Sätze gebracht werden können muß noch darauf war tet“22, so lässt sich fragen, inwieweit dieser Zustand durch etablierte frames nicht schon begrenzt ist, indem die Anzahl prinzipiell möglicher Sätze limitiert wird. Etwa in der beschränkten Wahl zwischen Freund und Feind oder in der Vor gabe von Kriegsvo-kabular. Die Organisation des Widerstreites ließe sich also in diesem Fall als ein Ver-knappungsmechanismus durch Kohärenzdruck verste hen. Wirkt diese Organisation

19 hempfer, klaus, w. u. a. (Arbeitsgruppe Performativität und Wissen(schaft)): Diskursi-vierung des Performativen. In: Fischer-Lichte, Erika/ Wulf, Christoph (Hrsg.): Paragrana. Internationale Zeit schrift für historische Anthropologie. XIII 2004, Praktiken des Perfor-mativen, S. 115.

20 vgl. gibbs, raymonnd w.: Taking metaphor out of our heads and putting it into the cultural world. In: Gibbs, Raymond W. / Steen, Gerard (Hrsg.): Metaphor in cognitive linguistics. Amsterdam 1999, S. 157 ff.

21 vgl. kövecses, Zoltán: Metaphor in culture. Universality and variation. Cambridge 2005, S. 237.

22 lyotard, Jean-François: Der Widerstreit. 2 Aufl. München 1989, S. 33.

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aber im Sinne des pressure of coherence und zwingt das Indivi duum förmlich dazu, etwas kulturell als Krieg zu strukturie ren, dann ist die Vorstellung von Realität durch Regulierungsverfahren er zeugt23 und „Sprache spiegelt Herrschaftsverhältnisse nicht wider, sondern inszeniert die Herrschaft, ist also das Vehikel zur Wiederherstellung sozialer Struktur.“24 Um dieses Vehikel zu beschreiben wird nun anhand des oben erwähnten Korpus das Kon zept des Krieges in seiner Übertragung auf die Politik erläutert werden.

das konzept krieg in der Politik

Wie sich die Organisation des Widerstreits als Inszenierung von Herrschaft und Hierar chie im Kriegsvokabular zeigt, lässt sich primär in der Darstellung der Poli-tik als Konflikt zwischen den verschiedenen Parteien ablesen. Dabei bildet die von Baldauf beschriebene polare Grundkonstellation immer noch das Zen trum, u.a. mit Begriffen, die sich unter einer Kategorie ‚Freund & Feind‘ fassen lassen. Die gegen-überliegende Seite, die man sich zum Feind ge macht hat, wird als Gegner bezeichnet. Diejenigen, die die gleiche Position bezie hen, werden als Mitstreiter verstanden und helfen eine Position halten zu können. Schon diese ersten metaphorischen Ausdrücke evozieren das Bild einer Schlacht karte, in deren Fokus das Lexem Kampf sowie seine Komposita und Derivationen stehen. Diese lassen sich vor allem als Gefechtsformen und Kampfh andlungen erfassen, die im Korpus die höchste Anzahl metaphori scher Ausdrücke aufweisen. Hier findet sich qualitativ und quantitativ das Zent rum der Konzeptualisierung politischen Handelns. Als Gefechtsformen werden die verschie-denen Formen der Auseinandersetzung klassifiziert. Dies sind vor allem Komposi-ta des Lexems Kampf, wie Klassen-, Kultur-, Verteilungs- oder Richtungskampf, bzw. das Kompositum Wahlkampf und dessen weitere Kompo sita. Die Klassifizierung er-folgt also nach den verschiedenen Gebieten des Zielbereichs Politik und spezifiziert Grund und Thema des Kampfes.25 Darüber hinaus werden Streitigkeiten in der eige-nen Partei als Aufruhr oder Aufstand bezeichnet. Ein Erfolg dessen manifestiert sich dann in einem gelunge nen Putsch. Verschiedene Klassifikationsprinzipien neben den Politikfel dern sind zum einen die Hierarchie, also ob ein Kampf von den unte ren Rängen der Partei initiiert ist und versucht, die Entscheidungen der Obe ren zu ver-hindern, oder ob es von führenden Politikern verordnete Interventio nen sind. Zum anderen lassen sich Intensitätssteigerungen, ja geradezu eine Skala identifizieren, die beim Frieden anfängt, sich zum Unfrieden entwickelt und dann über das Gerangel,

23 vgl. Butler, Judith: Das Unbehagen der Geschlechter. Sonderausgabe Frankfurt/Main 2003, S. 45.

24 Butler, Judith: Haß spricht. Zur Politik des Performativen. Berlin 1998, S. 33.

25 Allerdings spricht man auch von Grabenkämpfen, was auf den Herkunftsbereich Krieg zurückgeht.

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den Aufruhr, den Krawall, die Konfrontation und das Scharmüt zel schließlich zum offenen Kampf wird. In Letzterem finden dann nicht nur einzelne Frontalangriffe, sondern eine ganze Kampagne, aus mehreren Gefechten bestehend, statt.Präziser beschrieben wird das politische Agieren selbst in der Darstellung der Kampfhand lungen, aus denen sich die Schlachten zusammensetzen und die in ei-ner Kategorie Kampfhandlung erfasst sind. Intensitätssteigerungen sind auch hier erkennbar, so kann man nur aufbegehren oder Widerstand leisten, aber auch kämp-fen, angreifen oder attackie ren. Während der Begriff des Attackie rens das Bild eines Kavalleristen mit Sä bel evoziert26 und folglich vor allem dann gebraucht wird, wenn es um den individualisierten Kampf zwischen Politi kern geht, wird das Gewehr als Waffe der Massen27 vorwiegend von der Partei als Ganzem genutzt. Zum Beispiel wenn Volker Kauder die Gesundheitsministe rin atta ckiert und damit korrelierend die (verbalen) Attacken auf die Person Ulla Schmidt als Sti che und Hiebe bezeichnet werden, während die Union als Ganzes sich auf Ulla Schmidt einschießt. Diese Ent-personalisierung durch das Gewehr findet ihren Kulminationspunkt in dem Begriff der Heckenschüt zen, wo weder Anzahl noch Identität der Handelnden festzustellen sind. Der einzige erfasste Gebrauch des Verbs schießen, bei dem zwei Indivi duen als Schütze und Ziel genannt werden, ist die Feststellung, dass Merkel Wulfs Spezi Merz abschießen musste. Hier handelt es sich jedoch weniger um einen Kampf, sondern das explizite Abschießen erinnert vielmehr an eine Strafak tion, in Form einer (po-litische) Exekution des Politikers Merz. In diesem Fall ist es sogar wichtig, dass die Namen genannt werden, handelt es sich doch um eine Klarstellung der Hierarchie. Dies zeigt die Übertragung militäri scher Hierar chie auf die Parteien und ist folglich als Herrschaftsinszenierung zu le sen, denn der Politiker Merz hatte die Parteilinie verlassen und gegen die Hierar chie verstoßen.Normalerweise wird sich auf durch Parteistrategien festgelegte Ziele eingeschos-sen, und ein Querschießen wäre als Abweichen aufgrund mangelnder Disziplin in-terpretierbar. Es können ganze Breitseiten abgefeuert werden, um die Stellung der anderen Partei zu schwächen, während diese die bezogene Linie zu halten ver sucht. Mit solchen Linien politischer Vorstellungen geht man dann in die politi schen Ver-handlungen und versucht seine Positionen durchzusetzen. Zwi schen ihnen verläuft die Front und je konträrer die Linien sind, desto verhärte tere Fronten gibt es zwi-schen den Parteien, was ständige Angriffe und Atta cken zur Folge hat, die zunächst auf massiven Widerstand stoßen, bis die Unions front bröckelt. Hier lassen sich Ver-

26 vgl. küster, rainer: Militärmetaphorik im Zeitungskommentar. Darstellung und Doku-mentation an Leitartikeln der Tageszeitungen „Die Welt“ und „Süddeutsche Zeitung“. Göppingen 1978, S. 45.

27 vgl. münkler, herfried: Politische Bilder. Politik der Metaphern. Frankfurt/Main 1994, S. 73ff.

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handlungen als Grabenkämpfe beschrei ben, in de nen es oft mehr um Geländegewinne als um Inhalte geht. Geländegewinne kommen hier ei nem schrittweisen Durchsetzen politischer Überzeugungen gleich. Es kommt also zu keiner wirklichen Lösung, son-dern vielmehr zu ei nem Kompro miss innerhalb des Schemas und keiner wirklichen Neuformulie rung von Gedanken außerhalb des Schemas.Im Hin und Her politischer Verhandlungen verlassen Politiker ihre Stellun gen für ei-nen unerwarteten Vorstoß, was bedeutet, dass sie die Linie der Partei als angestammte Vorstellungen verlassen. Dabei sollten sie sich der Unterstüt zung an derer Parteimit-glieder sicher sein, um Rückendeckung zu erhalten, weswe gen man sich nie zu weit von der Parteilinie entfernen darf. Die inhaltli che Unterstüt zung einer Position, wird so als Störfeuer verstanden, welches Solda ten auf feindliche Stellungen eröffnen, um das Vorrücken der Einheiten zu ermögli chen. Stärkt die eigene Partei dem Politiker den Rücken, dann besteht die Möglich keit, dass sein Vorstoß zu einem Durchbruch führt. Als dieser wird in der Politik die Lösung eines Problems bezeichnet, dessen Verhandlung sich schwierig gestaltet.28 Kann eine Position nicht gehalten werden, muss die Par tei von ihr abrücken. Werden aber zu viele eigene Positionen aufgege-ben, führt dies im nächs ten Wahlkampf zu massiven Verlusten. Die Partei ist dann angeschla gen, wes halb sie kaum noch Widerstand leistet, was der anderen Partei ein Vordrin gen auf gegnerisches Terrain ermöglicht und schließlich zum totalen Rück-zug führen kann, was einen Regierungswechsel oder einen Rücktritt der politi schen Führung zur Folge haben kann.Da Verhandlungen wie Schlachten konzeptualisiert werden, besteht die Notwen-digkeit eine Strategie zu entwickeln und Taktiken festzulegen, deren Spannweite vom Ablenkungsmanöver und Störmanöver bis zur Kapitulation oder Flucht reicht. Doch die Umsetzung dieses taktischen Kalküls hat nicht zwangsläu fig eine direkte gewalt-tätige Handlung sondern auch Varianten wie eine Blockade zur Folge, nämlich wenn die Ministerpräsidenten im Bundesrat Widerstand organisieren.Der Führung einer Partei geht es in Wahlkämpfen darum, Parteimitglieder zu mobi-lisieren bzw. die Rekrutierung von Anhängern voranzutreiben, um möglichst große Verbände in den Wahlkampf zu schicken. Darüber hinaus obliegt es ihr, eine Strate-gie zum Einsatz der Wahlkämpfer zu entwickeln, weshalb sie flankie rende Maßnah-men als Rückendeckung bzw. Unterstützung beschließt. Es wird das Bild einer brei-ten Front evoziert, die, wie in alter Kriegsführung üblich, aus Reihen von Kämpfern

28 Als solcher kann aber auch ein politischer Erfolg gelten, wie die Äußerung Dietmar Bartschs zu den Erfolgen der Linkspartei bei den Wahlen im Januar 2008 in Hessen/ Niedersachsen zeigt. Die Bezeichnung als Durchbruch im Westen lässt sich zudem als historisch aufgeladen interpretieren, was dann aber eher auf Ideologisierung und Emotionalisierung zurückzuführen wäre, genauso wie die Bezeichnung der verlorenen CDU-Wähler als Blutsverluste durch einen Journalisten der ARD.

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besteht. Diese Organisationsformen eröffnen die Frage nach der Parteiorganisation, deren Umsetzung sich als Begrenzungstechnik lesen lässt.Einzelne Politiker werden funktional oder nach ihrem Einsatzgebiet bezeich net: Es wird u. a. vom Streiter oder Frontmann gesprochen, während alle zusam men die Truppe bilden, die wiederum in kleinere Einheiten wie Kompanien oder Verbände gegliedert ist.29 Zu dieser Unterteilung zählen auch die Quartiere und Befestigungen, die z. B. als Schutzwall begütigender Sprachregelungen oder als Boll werk bezeichnet werden und zusammen das Lager ausmachen. Doch wird der Ausdruck im eigenen Lager weniger als Befestigung, sondern eher als Veror tung von Politikern benutzt, lässt sich also vor allem als Unterscheidung verste hen.

militärische disziplin in der Politik

Damit eine Parteihierarchie funktioniert, muss sie zuerst etabliert werden. Das Werkzeug zu einer solchen Etablierung ist die Disziplin, die sich zunächst an die Ver-teilung der Individuen im Raum macht.30 Sichtbares Zeichen ist die Organisa tion in Reihen31 in denen Soldaten antreten und aufmarschieren. So wie die Diszip lin die Kräfte des Körpers steigert und die politischen Kräfte des Individuums schwächt,32 wird auch die Koalition als Einheit durch Fraktionsdisziplin ge stärkt, das Individuum aber in seinen politischen Möglichkeiten beschnitten. Inhaltlich zu stark abweichen-de Vorstöße werden demnach als undiszipliniertes Verhalten verstanden, weshalb die Notwendigkeit entsteht, Parteimitglieder als Wi dersacher aus den eigenen Reihen zu disziplinieren. Die von Foucault beschriebene Disziplinierung im militärischen Mo-dell bewirkt auch in der Politik, dass die Reihen geschlossen gehalten werden und die Partei einheitlich unter der gleichen Parole aufmarschiert. Disziplin und hierarchi-sche Befehlsgewalt bedingen sich hier gegenseitig und eines ist ohne das andere nur schwer vorstellbar. Abwei chen von der gemeinsamen Linie oder Widerstand in den eigenen Reihen kann mit Degradierung bestraft werden, oder, wie oben beschrieben durch politische Exeku tion.Kriegsmetaphorik geht also über das polare Muster zweier im Konflikt stehen der Seiten hinaus und dient zur Strukturierung des politischen Körpers. Tätigkei ten, die unter einer Kategorie wie Disziplin oder unter Taktik und Strate gie beschrieben wer-

29 Diese Einheiten können nach Funktion und Zustand weiter differenziert werden. Nicht aktive Anhänger einer Partei bzw. Nichtwähler werden so als Reserve oder Reservearmee bezeichnet.

30 Foucault, michel: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. 6. Aufl. Frank-furt/Main 2002, S. 181.

31 Hier kann durch das Possessivpronomen eigene die Freund/Feind-Unterscheidung betont werden.

32 vgl. Foucault, michel: Überwachen und Strafen. S. 177.

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den, lassen sich dabei als Strategien zur Erhaltung eines binären Musters von Freund und Feind identifizieren. Das Individuum selbst tritt zurück und wird vorwiegend in seiner Funktion, z.B. als Kämpfer, gesehen. Nur herausragende politische Persön-lichkeiten, die sich in der Füh rung etabliert haben, bekommen eine Identität und können persönlich attackie ren.Es wird auch ein antiquiertes Kriegsvokabular deutlich, das sich ins 17./18. Jahrhun-dert einordnen ließe, also genau in die Zeit, in der Foucault das Entste hen der Diszi-plin verortet.33 Vereinzeltes Auftreten von Äußerungen mit technisch verharmlosen-dem, modernem Kriegsvokabular zeigt auch, dass die Strukturierung auf das Wissen um abstrakte Phänomene zurückgreift. Bei Krieg handelt es sich also weniger um eine Erfahrung oder ein singuläres Ereig nis, sondern um ein vollständiges Konzept, das sich erfahren und medial vermittelt zu einem Organisationsprinzip für das Feld der Politik entwickelt hat. Allerdings gibt es weitere Konzepte für dieses Feld, sodass sich die Frage stellt wie und warum das Kriegskonzept so dominant wurde.

der kriegsframe als akt mit performativer wirkung

Geht man von einem pressure of coherence aus, so ließe sich hier die Titelzeile eines Zeitungsartikels als Beispiel zu Eröffnung eines frame anführen, denn bei ei ner Be-trachtung des Zusammenhangs von Titel und Text fällt zuerst das ver mehrte Wie-deraufnehmen des metaphorischen Ausdrucks aus dem Titel im folgenden Text auf. Ein Titel der Welt lautet Machtkampf in der märkischen CDU, was dem Leser sofort einen Eindruck des Themas und des Ortes der Auseinandersetzung vermittelt. Direkt zu Beginn des Textes taucht das Komposi tum Machtkampf wieder auf. Der Titel wird also wieder aufgegriffen, um das Geschehen zu beschreiben. Durch ihn findet eine Kategorisierung der Vorgänge statt, sodass im Sinne des pressure of coherence eine Explikation inner halb dieser verbleiben sollte. Dementsprechend finden sich in dem Artikel vor allem weitere metaphorische Äußerungen des Herkunftsbereiches Krieg. Die ser scheint also einen festen Rahmen vorzugeben, wofür ein weiterer Artikel in der Süddeutschen Zeitung ein deutliches Beispiel ist. Der Titel von Parteifreun den umzingelt, formu liert schon ein Paradox. Freunde, also eigentlich Mitstreiter, füh-ren die strategi sche Handlung der Umzingelung von Angela Merkel durch und es scheint, als warteten sie auf die Möglichkeit, ihr einen tödlichen Stoß zu ver setzen. Die ersten Ausdrücke von Kriegsmetaphorik im Text sind noch abge mildert und es wird vom Ringen bzw. einer Niederlage gesprochen. Doch diese auch auf den Be-reich des Sports übertragbaren Ausdrücke, werden durch den Titel als frame in ihrer militärischen Bedeutung eindeutig festgelegt. Aller dings beziehen sie sich auf die Verhandlungen mit dem Koalitionspartner SPD, während die Hecken schützen, unter

33 vgl. Foucault, michel: Überwachen und Strafen. S. 173.

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den Unionsministerpräsidenten zu suchen sind. Der wirkli che Widerstand kommt demnach aus der eigenen Partei und macht es notwendig, die Widersacher aus den eigenen Reihen zu disziplinieren. Innerparteili chem Aufbegehren soll also mit militä-rischer Disziplin begegnet werden, um den geplanten Putsch [...] schon im Keim [zu] ersticken. Diese Konstella tion wird be reits im Titel angezeigt, sodass sie im Text nur weiter expliziert werden muss, da der Leser weiß, worauf er sich einzustellen hat. Ihm wird ein militärisches Interpretationsschema aufgedrängt, durch das Ausdrücke wie gerungen eindeu tig militärisch determiniert sind.Es zeigt sich also, dass die Interpretation der geschilderten Vorgänge auf grund ei nes etablierten Kontextes geschieht, dessen Konstituierung als Etablie rung eines frame zu verstehen ist, der sich durch vermehrtes Auftreten verfes tigt.In letzter Konsequenz führt dies dazu, dass Politik, zumindest innerhalb ei ner ent-sprechenden Kommunikationssituation, nur über das Konzept Krieg zu verstehen ist. Sie konstituiert sich dann über die einzelnen Elemente des Krie ges, indem diese Element für Element und Struktur für Struktur auf den Zielbereich der Politik proji-ziert werden. Der Kämpfer entspricht dem Politi ker und die militärische Hierarchie der von Partei und Regierung.Einem solchen Strukturtransfer muss aber eine Interaktion von Umwelt, Kom pe tenz und Performanz zugrunde liegen: Das kognitive Konzept des Krie ges muss erfahren bzw. vermittelt werden, um in den Bereich menschli cher Kompe tenz zu gelangen. Erst das Wissen um ein solches kann dann die Erfah rungskorrelation der zwei Be-reiche und den Strukturtransfer ermögli chen. Dieser manifestiert sich sprachlich in der Performanz und erzeugt über diese Form der Signifikation Bedeutung, wodurch der Strukturtransfer verän dert und weiterverbreitet werden kann. Die sprachliche Erfahrung ist demnach Teil der Tradierung einer Metapher, die dem Individuum durch allgemein aner kannte Signifikation nahegelegt bzw. seine Auswahl prinzipiell möglicher Konzeptualisierungen und damit möglicher Sätze eingeschränkt wird.Die Interaktion von Umwelt, Kompetenz und Performanz lässt sich im Be griff einer kommunikativen Kompetenz fassen, in der das von der Kompetenz her Mögli che, Ausführbare und kulturell Angemessene zusammenwirken.34 Eine Übertragung auf den metaphorischen Prozess würde bedeuten, dass menschli che Sprachkompetenz die Möglichkeit zur Erstellung und Weiterentwicklung von ICMs und deren Transfer bietet. Letzterer wäre das Ausführbare, dessen Performanz als metaphorische Aus-sage aber in angemessener Weise, also in Form kulturell präferierter Signifikation, erfolgen sollte. Die Dominaz des Her kunftsbereichs Krieg lässt diesen als kulturell präferierte Konzeptualisie rung von Politik erscheinen. Das kulturell Angemessene

34 vgl. hymes, dell: Kompetenz und Performanz in der Sprachtheorie. In: Wirkendes Wort. Nr. XXVIII 1978, S. 314–319.

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der Signifikation würde durch die soziokulturelle Erfahrung des Subjekts bestimmt und Diskrepan zen durch einen Kohärenzdruck des frame unterbunden.Die sprachlichen Ausführungen der ‚ Politik ist Krieg-Metapher wä ren demnach Teil eines Schemas von Sprechgewohnheit, eines sprachlichen Kodes als Teil kultur-spezifischer Interaktionsnormen, die den Rahmen Politik ausmachen.

vom physischen kampf zum krieg als ordnungskonzept

Aus semiotischer Perspektive ist von einem ICM Krieg ausgehen, das ange passt auf verschiedene Realitätsausschnitte (metaphorisch) angewendet wird und dessen Vo-kabular als Menge von tokens anzusehen ist. Der einzelne token bezeichnet damit etwas in der realen Welt, das aber zu einem größeren, nach dem Kriegs-ICM struktu-rierten Muster gehört. Das Kriegs-ICM bezeichnet also ein abstraktes Muster in der realen Welt, welches sich aus den von den token bezeichneten Dingen zusammen-setzt. Dies wiederum ist eine Ausarbei tung/Erweiterung des (Zwei-)Kampf-ICM und seiner polaren Konstellation, das durch die Anpassung der tokens auf den Her-kunftsbereich Politik erst zum Konzept Krieg wurde. Die Wahl des ICM Kampf als type lässt sich u. a. über die Bedeutung der basic level category des Schmerzes als eine ständige Verbin dung zu körpernaher Erfahrung erklären. So „deutet die Tatsache, dass bei nahezu jeder Beschreibung sprachlicher Verletzung auf körperliche Metaphern zurückgegriffen wird, auf eine besondere Bedeutung dieser somatischen Dimension für das Verständnis des durch Sprache erzeugten Schmerzes hin.“35 Bei der Ausarbeitung des Kampfes zum Krieg handelt es sich um eine Erweiterung des Organisationsgra-des und der Institutiona lisierung eines Kampfes mit Waffen, der die Beziehung zum Schmerz und den Verwundungen beibehält. Dies findet sich dahingehend indi ziert, dass das Zentrum der Politik ist Krieg-Metapher immer noch bei dem Lexem Kampf sowie seinen Derivationen und Komposita liegt. Gestützt wird diese An-nahme auch durch veraltetes Kriegsvokabular wie attackieren, das vor allem in den persönlichen Auseinandersetzungen genutzt wird und die Zweikampfstruktur be-zogen auf einzelne Politiker noch deutlicher hervortre ten lässt. (Zwei-)Kampf ließe sich demnach als ein grundlegendes kognitives Muster annehmen. Die sprachlichen Manifestierungen im Zielbereich müssen aber angepasst werden, was in diesem Fall auch einer Anpassung von sprachli cher und außersprachlicher Realität gleichkäme. Genauso wie Parteien aus vielen Mitgliedern bestehen und keine Zweikämpfe mehr führen können, han delt es sich nicht mehr um einzelne Kämpfe, sondern um Kam-pagnen, die erst in ihrer Summe und Beziehung untereinander den Krieg ausma-chen. Es scheint also, dass Politik in ihrer Erfahrungsstruktur dem Phänomen Krieg ähnlich ist und dementsprechend auch das Vokabular angepasst und die Partei als

35 Butler, Judith: Haß spricht. S. 14.

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Thema: Krieg und Frieden

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Armee an verschiedenen Fronten kämpfend realisiert wird.36 Das ICM Kampf wurde also den Gegebenheiten angeglichen und ist zu dem sozialen Organisationsprinzip Krieg geworden. Von Kampf als Prototyp des Konflik tes geht die Organisation aus, wird weiterentwickelt und auf andere soziale Bereiche übertragen. „Research that centers on discourse has helped prompt scholars to view conflict as a crucial part of the social construction of reality.”37 Es ist also davon auszugehen, dass im Bereich der Kompetenz die kognitive Erfahrung des Kamp fes als Strukturelement im Sinne eines type genutzt wird. Der Vollzug dieses Musters manifestiert sich in den einzelnen to-kens als Kampfmetaphorik, doch bietet er gegenüber dem Muster einen Überschuss und dies in doppelter Form:Erstens wird durch den Vollzug das Muster verstärkt, denn erst in der Wiederho-lung entfaltet die Performativität ihre Wirkung entweder in einer Verstärkung der neuralen Verbindung von Herkunfts- und Zielbereich oder in ei nem off-loading zur Entlastung des cognitive web. Dies scheint sich nur auf den ersten Blick zu widerspre-chen, da man hier eine Wechselwirkung annehmen kann. Das erfahrene Konzept geht bei dauerhafter Anwendung in die kultu relle Signifikation ein, was das cognitive web zwar entlastet, dies aber in Form einer Verfestigung, ja geradezu Automatisie-rung, geschieht. Letztere ließe sich als ein pressure of coherence beschreiben, der zur Anwendung von Kriegsvokabu lar und Umdeutung ursprünglich fremden Vokabu-lars führt. Beispielsweise wird der Ausdruck Ver band zwar zuerst mit dem Bereich der Wundheilung in Verbin dung ge bracht und erst danach als Zusammenfassung mehrerer militäri scher Einheiten verstanden, doch im entsprechenden Kontext tritt die militäri sche Bedeutung zuerst hervor. Solche Kontextdeterminierungen haben zur Folge, dass politische Probleme und Verhandlungen größtenteils über Krieg kon-struiert werden, sofern in ihnen ein Interessenkonfliktes vorliegt.Zweitens besteht der Vollzugsüberschuss in der Anpassung und Weiterentwick lung des Musters, denn die metaphorischen Ausdrücke müssen sowohl in Übereinstim-mung mit dem Herkunftsbereich als auch mit der Erfah rung in einer außersprach-lichen Welt stehen. Bei der Veränderung des Konzeptes Kampf zum Kriegskonzept lässt sich das älteste Vokabular bei politi schen Zweikämpfen erkennen (Attacke, Scharmützel etc.), während größere po litische Konflikte mit Weltkriegsvokabular (Grabenkämpfe etc.) realisiert wer den. Kom plexe Probleme moderner Realität wer-

36 Es ist aber zu beachten, dass Parteien Zweikämpfe noch in Form von Personifizierungen bestrei ten. Hier liegt eine ähnlich metonymische Verkürzung vor, wie in der ruler for a state-Metonymie bei lakoff, george: Metaphor and War. The Metaphor System Used to Justify War in the Gulf. 20.08.06 http://philosophy.uoregon.edu/metaphor/lakoff-l.htm oder dem Kriegskörper bei Emig, rainer: Krieg als Metapher im zwanzigsten Jahrhun-dert. Darmstadt 2001, S. 107.

37 Briggs, charles l.: Introduction. In: Briggs, Charles, L.: Diorderly discourse. Narrative, conflict and inequality. New York u. a. 1996, S. 4.

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den allerdings auch mit techni schem, verharmlosendem (Kriegs-)Vokabular (Instru-ment, High-Tech-Strate gie) strukturiert.Es wird damit eine Differenzierung im Organisationsgrad erkennbar, die sich den modernen Gegebenheiten angleicht, und einzelne metaphorischen Äußerun gen als tokens passen sich an, was wiederum den zugrunde liegenden type verändern kann. Infolgedessen kann das Konzept des Krieges als ein histo risch gewachsenes Struk-turprinzip bezeichnet werden, dessen historische Entwicklung es in Abhängigkeit zur Kultur stellt. Letztere bildet aber ihre Organi sation erst in der Ausarbeitung eines solchen Phänomens heraus. „Social theorists similarly have come to view social and cultural forms as historically contingent products that emerge through conflict, and the process of differentiating an Other from Self is often deemed to be more crucial to the creation of both identities and communities than the presence of a shared cognitive substratum. Many scholars would thus agree with Simmel’s (1955 [1908]) observation that conflict provides a central force for the constitution of social relations.”38 Konflikt als allgegenwärtiges Phänomen ist schon Teil der Kindheit, und lässt dessen Struk-turierung als einen wesentlichen Prozess menschlicher Sozialisation erschei nen,39 was bedeutet, dass die Übertragung eines Herkunftsbe reichs auf seine verschiedenen Zielbereiche geübt, also wiederholt aus geführt werden muss. „Eine Schlacht verhält sich zu einem Kriegsspiel wie ein Klavier abend zu einer Fingerübung, doch das besagt nichts darüber, in welchem Sinne Kriegsfüh rung und Musik verschiedene Seinsebenen sind.“40 Das Erlernen und Einüben ei ner solchen Strukturierung stellt sozusagen die stetige Wiederholung dar und ge schieht durch die fortlau fende Bestätigung der Or-ganisationsstruktur, wie sie vorhanden ist, wenn eine Metapher vom cognitive web ins cultural web übergeht. Die ständige Wiederholung wird dann durch den pressure of coherence bewirkt und findet sich dann in den Medien kultureller Signifikation wieder.

der Übergang des kriegs in das kulturelle Bedeutungsgewebe

Betrachtet man die Verbreitung der Politik ist Krieg-Metapher, bleibt zu fragen, wie die Entwicklung von einzelnen Konzeptualisierungen hin zum Übergang ins cultural web geschehen konnte. Wie könnte es also zu einer Korrela tion der Erfah-rungsstrukturen von Krieg und Politik gekommen sein? Wie ist die indirectly based metaphor Politik ist Krieg tradiert wor den?41

38 Briggs, charles l.: Introduction. S. 5.

39 ebd.

40 goffman, Erving: Rahmenanalyse. S. 75.

41 Die Übertragung des Konzeptes Krieg ist z. B. durch die Medien gegeben, so in den Un-mengen von (Anti-)Kriegsfilmen, den täglichen Nachrichten oder Printmedien, aber auch durch die Erzählun gen von Kriegsteilnehmern.

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Thema: Krieg und Frieden

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Zur Erklärung bieten sich zwei einander ähnliche Konzepte an, nämlich dass Perfor-mance-Konzept von Turner42 sowie das Konzept der Kultur als performa tives Han-deln von Hymes und Briggs.43 Politisches Handeln vollzieht sich in der Öffentlich-keit, es lässt sich also von einer Arena oder einer politi schen Bühne sprechen, in bzw. auf der die Handelnden agieren, ihr Handeln also zu einer öffentliche Performance machen. Diese erfolgt oft in gleicher Weise und ist durch festgelegte Umgangsformen geprägt, sodass man von ei nem ritualisierten Bereich ausgehen kann. Die öffentli-che Signifikation lässt sich dementsprechend als ritueller Sprechakt zur Integrati-on der Öffentlichkeit in das Bedeutungsgewebe Politik bezeichnen. Spricht man auf der Bühne dann von kreativer Konstituierung politischen Handelns, kann man von Perfor manz im Sinne von Hymes und Briggs sprechen. „Most important for all the present pur pose is the showing that performance, as cultural behaviour for which a person assumes responsi bility to an audience, is a quite specific, quite special category. Performance is not a wastebasket but a key to much of the difference in the meaning of life as between communi ties.”44 Hymes unterscheidet dabei behavior als jede Form der Handlung bzw. des Verhaltens, conduct als behavior unter der Regie sozialer Nor-men und perfor mance als verantwortungsvolles Handeln in Form einer Aufführung. Dabei be tont er die Wichtigkeit spezifischer Begriffe zur Erlangung authentischer Perfor manz,45 was sich auf BerichterstatterInnen und PolitikerInnen übertra gen lässt. Kriegsmetaphorische Aussagen sind hier die richtigen Worte als kultu rell übli-che Form des Sprechens über Politik. Mit ihnen schafft man An schluss an bereits be-stehende Konzepte, nimmt also bestehende frames auf. Die richtigen Worte würden also über das Vorhandensein von kognitiven Struktu ren bei den RezipientInnen und die kulturelle Norm definiert.PolitikerInnen können dann im Sinne von Hymes und Briggs als Personen mit zu-verlässiger, nahezu maßgebender Performanz verstanden werden und framing ließe sich als Strategie mit dem Ziel von Legitimität oder Hegemonie der jeweiligen Re-alitätsdeutung interpretieren.46 Der performative Sprechakt richtet sich an die Öf-

42 vgl. turner, viktor: Dramas, Fields and Metaphors. Symbolic action in human society. 3 Aufl. Ithaca & New York 1983.

43 vgl. Briggs, charles l.: Competence in Performance. The creativity of tradition in mexi-cano verbal art. Philadelphia 1988, sowie hymes, dell: Breakthrough into performance. In: Ben-Amos, Dan (Hrsg.): Folklore, performance and communication. The Hague u. a. 1975, S. 11–74.

44 hymes, dell: Breakthrough into performance. S. 18.

45 ebd., S. 71.

46 Die Erläuterung einer solche framing-Strategie auf Grundlage von Metaphern findet sich u.a. bei lakoff, george: Metaphor and War. Aufschlussreich scheint es zu sein, diese Form der Etablierung von Schemata in Beziehung zu theoretischen Konzepten der Hege-mony zu setzen.

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fentlichkeit und ist auf Wiederholbarkeit angelegt,47 so dass die Re alitätsdeutungen aufgenommen werden können und Performativi tät ent steht, indem man „durch Wiederholung etablierter Praktiken oder Handlungsgewohn hei ten Handlungen vollzieht.“48

Authentische Performanz wäre dann die Anwendung der Politik ist Krieg-Metapher, die wie „die meisten Formen menschlichen Konfliktes [...] eine kollek tive Intentionalität“49 aufweist. Dies bedeutet, dass die institutionelle Tatsa che Krieg und ihre Anwendung in der Politik ist Krieg-Metapher auf den Schultern roher Tatsa-chen, in Form des ICM Kampf ruht.50

Wenn Kultur aber in der Handlung besteht, also in der Ausführung eines lingu isti-schen Kodes, dann formt Sprache eher die soziale Welt, als dass sie sie re flektiert. „The relationship between discourse and practices can be drawn from Foucault’s (1972[1969]:49) emphasis on ‘treating discourse [not] as a group of signs…but as prac-tices that systematically form the objects of which they speak.’”51

Politik, dargestellt im Kriegsvokabular, lässt die institutionelle Tatsache Poli tik als durch das Konzept des Krieges strukturiert betrachten. Folge ist aber, dass der zu-grunde liegende Interessenkonflikt in seiner polaren Struktur eine Entwe der-Oder-Entscheidung nahelegt. Diese wiederum weist dem Sub jekt über die Beantwortung dieser Frage eine Identität zu. Wie das Kriegsvokabu lar im Korpus zeigt, ist dabei eine explizite Identifizierung des Fein des nicht mehr vonnöten, vielmehr konstruiert die Politik ist Krieg-Metapher über ihr polares Muster eine performative Dicho-tomie in Ähnlichkeit zu ihrer polaren Grundstruktur. Es wird ein binärer Rahmen konstitu iert, der einerseits das Subjekt über die Parteizugehörigkeit der einen oder andern Seite,52 andererseits nach seiner Stellung in der Parteihierarchie, zuord-net. Innerhalb dieser wird es diszipliniert und muss sich unterordnen. Da mit wird

47 vgl. krämer, sybille/ stahlhut, marco: Das Performative als Thema der Sprach- und Kulturphiloso phie. In: Fischer-Lichte, Erika/ Wulf, Christoph (Hrsg.): Paragrana. Interna-tionale Zeit schrift für historische Anthropologie. X, 2001, Theorien des Performativen, S. 39.

48 culler, Jonathan: Performative Sprache. In: Culler, Jonathan. Literaturtheorie. Eine kurze Einfüh rung. Stuttgart 2002, S. 144.

49 searle, John r.: Die Konstruktion der gesellschaftlichen Wirklichkeit. Zur Ontologie sozialer Tatsachen. Reinbeck bei Hamburg 1997, S. 34.

50 vgl. ebd., S. 37–45. Searle unterschei det rohe Tatsachen als naturgegebene von insti-tutionellen, die vom Menschen durch soziale Praxis institutionalisiert wurden. Die rohe Tatsache wäre demnach das Kampf-ICM, auf dem die Institution Krieg und das aus ihr abgeleitetet Organisationsprinzip aufgebauen.

51 Briggs, charles l.: Introduction. S. 19.

52 Ausdrücke wie ‚auf der einen Seite’, ‚seitens’, ‚von Seiten der CDU’ sind zwar keine Kriegsmetapho rik, werden in der politischen Berichterstattung aber auch genutzt, um das polare Mus ter anhand räumlicher Metaphorik zu verdeutlichen.

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Thema: Krieg und Frieden

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über das binäre Muster hinaus eine Hierarchie etabliert, die in Korrela tion zu der Bedeutung der einzel nen Personen innerhalb der Partei steht. Mit der Bedeutung wächst die Möglichkeit, sich über das binäre Muster hinaus zu etablieren und aus der diszipli nierten Masse herauszustechen, was mit einem Waffenwechsel vom Gewehr zur Hieb- und Stichwaffe verbunden ist.

organisation oder Begrenzung des widerstreites

Wie genau der ungesagte Hintergrund, das Konzept Krieg, nun als frame den Dis-kurs bzw. den Widerstreit der Diskurse beeinflusst, war die eingangs ge stellte Frage, auf die nun eine befriedigende Antwort gegeben werden kann. Krieg als Kon zept projiziert zuerst einmal ein Freund/Feind-Schema auf den politi schen Diskurs, so-dass Identität in ihm zuerst einmal nur über eine Zuord nung zu einer der beiden (Kriegs-)Parteien entsteht. Auf diese Weise versucht sie der postmodernen Interak-tionspraxis das Prekäre und Flüchtige zu nehmen und Stabilität im binären Code aufzubauen. Um dies zu leisten etabliert sie ein Sys tem der Disziplin, wie es typisch für das militärische Modell ist, sodass nur die Un terordnung und Fügung unter eine Parteilinie zum Auf stieg führt und als Ergebnis eine Identität über die Parteizuge-hörigkeit hinaus zulässt. So kommt es zu der „…Ausweglosigkeit, […], dass man ge-zwungen ist an der Schlacht teilzuneh men oder nicht zu sein.“53 Gab es früher die großen Erzählungen als (ver meintli che) Garanten der Stabilität so lassen sich heute frames und ihnen zugrunde liegende Konzepte sowie deren Ausbau zu kleinen Er-zählungen identifi zie ren. Geht man von einer narrativen Identität aus,54 so ließen sich diese Kriegskon zepte als Identätserzählungen entlarven, die ihren Teilnehmern den binären Code als Wahl auferlegen und durch den Einsatz der Disziplin die Men-ge mögli cher Aussagen begrenzen. Wenn früher das Subjekt und mit ihm ein poten-tieller Diskurs physisch vernichtet wurde, so findet sich eine Übertra gung dieses Konzeptes, wenn auch nicht in letzter, körperlicher Konsequenz in den Disziplinie-rungsverfahren der Parteien als politische Exekutionen wie der. Die Frage, die sich dabei stellt, ist, ob man einen Widerstreit überhaupt befriedi gend organisieren kann, ohne Diskurse zu begrenzen und mögliche Sätze auszu schließen. Aus der hier vor-getragenen Position muss dies stark bezweifelt werden, denn Organisation bedeutet immer Macht über Diskurse. So stellt sich in diesem Sinne auch die Frage der Nähe des Regelapparates der Wittgenstein schen Sprachspiele zu dem concept-Begriff bei Lakoff bzw. der tieferen Struktur eines frames. Dementsprechend scheint es auch aus

53 saviano, roberto: Gomorrha. Reise durch das Reich der Camorra. München 2007, S. 340.

54 vgl. kraus, wolfgang: Das erzählte Selbst. Die narrative Konstruktion von Identität in der Spätmo dern. Herbholzheim 2000, sowie keupp, heiner u.a.: Identitätskonstruktionen. Das Patch work der Identitäten in der Spätmoderne. Reinbeck bei Hamburg 2002.

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wissen schaftstheoretischer Sicht Erfolg versprechen der kleinere Konzepte innerhalb von Zeichen- und Kommunikati onssystemen zu analysieren und sie dann in Bezie-hung zu setzen zu größeren (Theorie-)Modellen, um zuerst eine (mögli che) Diskurs-struktur herauszuarbeiten, bevor die Diskurse selbst in Beziehung ge bracht werden.

literaturBaldauf, christa: Metapher und Kognition. Grundlagen einer neuen Theorie der Alltagsmeta-pher. Frankfurt/Main 1997.

Briggs, charles l.: Competence in Performance. The creativity of tradition in mexi cano verbal art. Philadelphia 1988.

Briggs, charles l.: Introduction. In: Briggs, Charles, L.: Diorderly discourse. Narrative, con-flict and inequality. New York u. a. 1996, S. 3–40.

Butler, Judith: Haß spricht. Zur Politik des Performativen. Berlin 1998.

Butler, Judith: Das Unbehagen der Geschlechter. Sonderausgabe Frankfurt a. M. 2003.

culler, Jonathan: Performative Sprache. In: Culler, Jonathan. Literaturtheorie. Eine kurze Einführung. Stuttgart 2002, S. 137–145.

Emig rainer: Krieg als Metapher im zwanzigsten Jahrhundert. Darmstadt 2001.

Fillmore, charles: Frame semantics. In Korea, Linguistic Society of Linguistics in the Morn-ing Calm. Seoul 1982, S. 111–138.

Foucault, michel: In Verteidigung der Gesellschaft. Frankfurt/Main 2001.

Foucault, michel: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. 6. Aufl. Frankfurt/Main 2002.

gibbs, raymond w.: Taking metaphor out of our heads and putting it into the cultural world. In: Gibbs, Raymond W. / Steen, Gerard (Hrsg.): Metaphor in cogni tive linguistics. Amsterdam 1999, S. 145–166.

goffman, Erving: Rahmenanalyse. Ein Versuch über die Organisation von Alltagserfah-rungen. Frankfurt/Main 1980.

hempfer, klaus, w. u. a.(Arbeitsgruppe Performativität und Wissen(schaft)): Diskursi vierung des Performativen. In: Fischer-Lichte, Erika/ Wulf, Christoph (Hrsg.): Paragrana. Interna-tionale Zeitschrift für historische Anthropologie. XIII 2004 , Praktiken des Performativen, S. 81–128.

hymes, dell: Breakthrough into performance. In: Ben-Amos, Dan (Hrsg.): Folklore, per-formance and communication. The Hague u. a. 1975, S. 11–74.

hymes, dell: Kompetenz und Performanz in der Sprachtheorie. In: Wirkendes Wort. Nr. XXVIII 1978, S. 314–327.

keupp, heiner u.a.: Identitätskonstruktionen. Das Patchwork der Identitäten in der Spätmo-derne. Reinbeck bei Hamburg 2002.

kövecses, Zoltán: Metaphor in culture. Universality and variation. Cambridge 2005.

krämer, sybille/ stahlhut, marco: Das Performative als Thema der Sprach- und Kulturphilo-sophie. In: Fischer-Lichte, Erika/ Wulf, Christoph (Hrsg.): Paragrana. Internationale Zeit-schrift für historische Anthropologie. X, 2001, Theorien des Perfor ma tiven, S. 35–65.

kraus, wolfgang: Das erzählte Selbst. Die narrative Konstruktion von Identität in der Spät-moderne. Herbholzheim 2000.

kuchler, daniel/ lemke, matthias: Postmoderne Identität als Anti-Totalitaris mus. Eine Würdigung Jean-François Lyotards. In: Diskurs. Politikwissenschaftliche und geschichtsphi-

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Thema: Krieg und Frieden

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losophische Interventionen 1+2/2007, S. 15–21.

küster, rainer: Militärmetaphorik im Zeitungskommentar. Darstellung und Dokumenta tion an Leitartikeln der Tageszeitungen „Die Welt“ und „Süddeutsche Zeitung“. Göppingen 1978.

küster, rainer: Politik als Krieg. Zur Funktion militärischer Metaphern. In: Euchner, Walter / Rigotti, Francesca & Schiera, Pierangelo (Hrsg.): Il potere delle immagini. La metafora politica in prospettiva storica. Bologna 1993, S. 395–410.

lakoff, george: Women, fire and dangerous things. What categories reveal about the mind. Chicago 1987.

lakoff, george: Metaphor and War. The Metaphor System Used to Justify War in the Gulf. 20.08.06, http://philosophy.uoregon.edu/metaphor/lakoff-l.htm

lakoff, george: The contemporary theory of metaphor. In: Ortony, Andrew (Hrsg.): Metaphor and thought. 2. Aufl. Cambridge 1993, S. 202–251.

lakoff, george/ Johnson, mark: Philosophy in the flesh. New York u. a. 1999.

lakoff, george/ Johnson, mark: Leben in Metaphern. Konstruktion und Gebrauch von Sprachbildern. 3. Aufl. Heidelberg 2003.

lyotard, Jean-François: Der Widerstreit. 2. Aufl. München 1989.

münkler, herfried: Politische Bilder. Politik der Metaphern. Frankfurt/Main 1994.

schmitt, carl: Der Begriff des Politischen. Hamburg 1933.

saviano, roberto: Gomorrha. Reise durch das Reich der Camorra. München 2007.

searle, John r.: Die Konstruktion der gesellschaftlichen Wirklichkeit. Zur Ontolo gie sozialer Tatsachen. Reinbeck bei Hamburg 1997.

turner, viktor: Dramas, Fields and Metaphors. Symbolic action in human society. 3. Aufl. Ithaca & New York 1983.

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Krieg und Frieden – ein immerwährendes Thema in der Belletristik und in anderen narrativen Medien, sei es in der im Januar 2008 gesendeten mehrteiligen Verfilmung des gleichnamigen Großwerks von Leo Tolstoi1 oder in der massenhaften Produkti-on und Rezeption historischer Romane, die gerade die Extremerlebnisse des Krieges aufgreifen und diese als Tableau für zwischenmenschliche Beziehungen und tragi-sche Verwicklungen nutzen. Doch ist nicht Krieg und Frieden auch die Verknüpfung von Vergangenheit und Gegenwart? Was macht die Thematisierung der Kriegsereig-nisse gerade des vergangenen Jahrhunderts und in erster Linie des Zweiten Weltkrie-ges so interessant und nahezu unentbehrlich für die Gegenwart?Abgesehen von einem „Nicht vergessen dürfen“ scheint derzeit auch ein „Nicht verges-sen wollen“ in der deutschen Erinnerungskultur2 vorzuherrschen. Doch zu bedenken

1 „Krieg und Frieden“ (BRD, Frankreich, Italien, Russland [u.a] 2007; Regie Robert Dorn-helm).

2 Eine umfangreiche Annäherung an den Komplex Erinnerungskultur hat Jan Assmann vorgelegt. Erinnerungskultur ist nach Assmann gruppenbezogen und als universales Phänomen zu verstehen, da keine Gesellschaft auf Erinnerung verzichten könne. Für eine politische Gemeinschaft ist eine gemeinsame Erinnerungskultur unerlässlich, da sie

Thema: Krieg und Frieden A) Geschichte B) Politik C) Kultur

geschichte in geschichten

Die Bedeutung der Belletristik für die heutige Erin-nerungskultur

Marion Helle

Westfälische Wilhelms-Universität, Münster E-Mail: [email protected]

schlüsselwörterErinnerungskultur, Zweiter Weltkrieg, Medien

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Thema: Krieg und Frieden

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ist hierbei, dass es sich bei der Erinnerung immer um eine Konstruktionsleistung handelt, die selektiv vorgeht und von gegenwärtigen Bedürfnissen geleitet nur be-stimmte Teile der Vergangenheit in der Gegenwart erscheinen lässt. Wenn nun von einem „Nicht vergessen wollen“ die Rede ist, so soll im Folgenden zum einen der Frage nachgegangen werden, welche Teile der Vergangenheit derzeit Eingang ins kulturelle Gedächtnis der Gegenwart erhalten und zum anderen, welchen Medien als Erinne-rungsträger hierbei eine zentrale Multiplikatoren- und Speicherfunktion zukommt.In der Geschichts- und Kulturwissenschaft ist seit der Millenniumswende oftmals von einem Erinnerungsboom3 die Rede. Wird Erinnerung maßgeblich von Bedürf-nissen der Gegenwart gesteuert, so kann sie als Abbild der gewünschten Sinnproduk-tion im Jetzt gelten. Vor diesem Hintergrund schließen sich zwei weitere Fragen an: welche Erklärungen lassen sich für diese selektive Form der Geschichtsdarstellung in der Gegenwart finden, und welche Rückschlüsse lassen diese auf die derzeitigen gesellschaftlichen Bedürfnisse zu.

Öffentliches und privates Erinnern

Ein Abbild der gegenwärtigen Gestalt des öffentlichen Umgangs mit der Vergan-genheit4 des Dritten Reiches lässt sich mit Sicherheit in ihrer öffentlichen Darstel-lung in Form von Erinnerungsstätten und dem Begehen von Gedenktagen ablesen. Doch spiegelt dieses öffentlich demonstrierte Gedenken auch die im privaten Leben gewünschte Art der Erinnerung wider? Im öffentlichen Erinnerungsdiskurs5 liegt

die Gruppe zu einer Gedächtnisgemeinschaft zusammenschließt und über die Generati-onenfolge hinweg eine Identität kontinuiert. Der Erinnerung wird also eine wesentliche gesellschaftliche Identifikations- und Integrationsfunktion beigemessen. Vgl. assmann, Jan: Das kulturelle Gedächtnis, Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. München 1992, S. 30; wolfrum, Edgar: Geschichtspolitik in der Bun-desrepublik Deutschland. Der Weg zur bundesrepublikanischen Erinnerung 1948-1990. Darmstadt 1999, S. 17.

3 vgl. assmann, aleida/ Frevert, ute: Geschichtsvergessenheit – Geschichtsversessenheit. Der Umgang mit deutschen Vergangenheiten nach 1945. Stuttgart 1999, S. 11; vgl. Fre-vert, ute: Geschichtsvergessenheit und Geschichtsversessenheit revisited. Der jüngste Erinnerungsboom in der Kritik. In: Aus Politik und Zeitgeschichte, Beilage zur Wochen-zeitung Das Parlament vom 23. September 2003, B 40–41/3 2003, S. 6–13.

4 Wegen der Schwierigkeit, einen angemessenen Terminus für die Thematisierung der na-tionalsozialistischen Vergangenheit zu finden, wird an dieser Stelle nicht der Begriff der Vergangenheitsbewältigung verwendet. Auf den ersten Blick scheint die Formulierung ‚Umgang mit der Vergangenheit‘ im Vergleich zur „Vergangenheitsbewältigung“ neutra-ler, da sie keine semantische Implikation im Sinne eines in der Zukunft abzuschließenden Vorgangs beinhaltet.

5 Unter ‚Erinnerungsdiskurs’ wird hier die soziale Aushandlung von dem, was eine Ge-meinschaft als ihre Vergangenheit ansieht und wie sie diese deutet verstanden. „Erinne-rungsdiskurs“ bezeichnet einerseits die öffentliche Verhandlung von ‚korrektem’ Geden-ken an die Zeit des Dritten Reiches, andererseits ist er aber im Sinne Michel Foucaults

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mittlerweile ein hoher Ritualisierungs- und Abstraktionsgrad vor, der sich vor allem an der Gestaltung von Gedenktagen und -stätten für die Opfer des Holocausts und die Ereignisse des Zweiten Weltkrieges beobachten lässt. Die Belletristik inszeniert die Erinnerung jedoch in einer anderen Weise. Der narrative, fiktiv gestaltete Text in Form eines Romans oder einer Erzählung als Medium der Erinnerung bietet die Möglichkeit, die Vergangenheit in einer dem privaten, mündlichen Erzählen ver-wandten Form darzustellen. Die literarische Erzählung ermöglicht einen anschauli-chen, ästhetischen Zugang zur Vergangenheit. Dieser unterscheidet sich maßgeblich von den abstrakten öffentlichen Denk- und Mahnmalen – als jüngstes Beispiel sei hier das Holocaustmahnmal in Berlin erwähnt6 – sowie von dem an Fakten orien-tierten Wissen aus Geschichtsbüchern und Chroniken. Nicht das eindeutige, klar abgesteckte Wissen über die Geschichte zeichnet die Belletristik als Erinnerungsme-dium aus, sondern ihre Vergangenheitsdarstellung in unscharfen Bildern7.

der opferdiskurs – vergangenheitsdarstellung in unscharfen Bil-dern

Diese „unscharfen Bilder“ in den Romanen und Erzählungen, die gegenwärtig in der Belletristik den Zweiten Weltkrieg thematisieren, bilden vorrangig eine Vergangen-heit nach, die vor allem die Leiden der Deutschen, die nicht in erster Linie als Täter, sondern als „Hitlers erste – und eigentliche – Opfer“8 ins Zentrum des Geschehens stellt. Diese Verschiebung des öffentlichen Erinnerungsdiskurses und das Verwischen der Grenzen zwischen Tätern und Opfern zeichnen sich seit knapp zehn Jahren ab. Gegenwärtig wird dieser Wandel des Erinnerungsdiskurses auch innerhalb des Fern-

zu verstehen. Ihm unterliegen daher bestimmte Regeln, die Sagbares und Unsagbares scheiden. Eine „grounded theory“ des deutschen Erinnerungsdiskurses ist bislang nur von Dariuš Zifonun vorgelegt worden, die allerdings häufig von anderen Begriffstraditio-nen ausgeht als die Untersuchungen eines Gros der Autoren, die den Terminus unbefan-gener verwenden. Vgl. Zifonun, darius: Eine grounded theory des deutschen Erinne-rungsdiskurses. In: Ders.: Gedenken und Identität. Der deutsche Erinnerungsdiskurs. Frankfurt/M. 2002, S. 88–132.

6 Mehr über die Geschichte des Mahnmals, seine Bedeutung sowie die Auseinanderset-zung um dessen Errichtung findet sich bei leggewie, claus/ meyer, Erik: „Ein Ort, an den man gerne geht“. Das Holocaust-Mahnmal und die deutsche Geschichtspolitik nach 1989. Berlin 2005; mittig, hans-Ernst: Gegen das Holocaustdenkmal der Berliner Repu-blik.. Berlin 2005; cullen, michael s. (hrsg.): Das Holocaust-Mahnmal. Dokumentation einer Debatte. Zürich 1999; thünemann, holger: Holocaust- Rezeption und Geschichts-kultur. Zentrale Holocaust-Denkmäler in der Kontroverse. Ein deutschösterreichischer Vergleich. Idstein 2005.

7 vgl. welzer, harald: Schön unscharf. Über die Konjunktur der Familien- und Generatio-nenromane. In: Beilage zum Mittelweg 36. Hamburger Institut für Sozialforschung, Nr. 1, Januar/Februar 2005, S. 53–64.

8 vgl. Frei, norbert: 1945 und wir. Das Dritte Reich im Bewusstsein der Deutschen. Mün-chen 2005, S. 11.

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sehprogramms deutlich, sei es in dem Mehrteiler Die Flucht9 oder dem Kriegsdrama Die Gustloff10, die vor allem die Leiden der Deutschen thematisieren. Begonnen hat die Diskussion um die Darstellung und Darstellbarkeit deutscher Leiden in der Li-teratur und auch in der Belletristik mit der „Sebald-Debatte“11. Knapp fünfzig Jahre nach den letzten Bombenangriffen auf Deutschland stellte der Schriftsteller Winfried Georg Sebald die Behauptung auf, dass der Luftkrieg in der deutschen Nachkriegsli-teratur nie richtig in Worte gefasst worden sei, und damit das Leiden der deutschen Bevölkerung in den Literatur nie richtig ins Zentrum der Betrachtung gerückt wor-den sei. Dadurch seien die Leidensgeschichten der Deutschen im Bombenkrieg nicht ins nationale Bewusstsein getreten. In seiner in Zürich gehaltenen Vorlesung formu-lierte er die These, dass „es uns bisher nicht gelungen ist, die Schrecken des Luftkriegs durch historische und literarische Darstellungen ins öffentliche Bewusstsein zu heben“12. Fakt ist aber, dass eine Anzahl literarischer Werke der Nachkriegszeit existiert, die den Bombenterror thematisieren, die jedoch lange Zeit nicht rezipiert wurden. Vor allem sind hier Gert Ledig, Die Vergeltung (Frankfurt/M. 1999 [1956]); Hans Erich Nossack, Der Untergang, (Frankfurt/M. 1976 [1947]) und Alexander Kluge, Der Luft-angriff auf Halberstadt am 8. April 1945 (Frankfurt/M. 1977) zu nennen. Nach um-fassenden Debatten in den Feuilletons über das Erzähltabu des Luftkriegs und dessen Auswirkung auf die deutsche Gegenwartskultur mündete die „Sebald-Debatte“ in der heutigen Auseinandersetzung um die Legitimierung der Darstellung der deut-schen Leiden und dem neuen deutschen Opferdiskurs.13

kommunikatives und kulturelles gedächtnis

Unbeachtet blieb in der „Sebald-Debatte“ die Unterscheidung in die zwei Erinne-rungsmodi des kommunikativen und des kulturellen Gedächtnisses14. Ausgehend

9 „Die Flucht“ (BRD 2007; Regie: Kai Wessel).

10 „Die Gustloff“ (BRD 2007; Regie: Joseph Vilsmaier).

11 vgl. kettenacker, lothar (hrsg.): Ein Volk von Opfern? Die neue Debatte um den Bom-benkrieg 1940–1945. Berlin 2003.

12 vgl. sebald, winfried georg: Luftkrieg und Literatur. München/Wien 1999; kritisch dazu: hage, volker: Zeugen der Zerstörung. Die Literaten und der Luftkrieg. Frankfurt /M. 2003.

13 vgl. Friedrich, Jörg: Der Brand. Deutschland im Bombenkrieg 1940–1945. München 2002.

14 In der Gedächtnisforschung haben sich mittlerweile verschiedene Modi des Gedächtnis-ses zu feststehenden theoretischen Termini etabliert. Ausgehend von unterschiedlichen Gedächtnishorizonten, wie etwa denjenigen von Individuen, der Gesellschaft, unter-schiedlichen Kulturen und Generationen existieren verschiedene, miteinander in Verbin-dung stehende Gedächtniskonzeptionen. Zu nennen ist hier die Theorie Halbwachs’ zum kollektiven Gedächtnis, die als Grundlage für Jan und Aleida Assmanns Auffassung des kulturellen Gedächtnisses dient. Sie brechen den Begriff des kollektiven Gedächtnisses

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von der sozialen Prägung des kollektiven Gedächtnisses15 entwickelten Jan und Alei-da Assmann den Terminus des „kommunikativen Gedächtnisses“, der den zwischen-menschlichen Austausch und damit die soziale Verfertigung der Gedächtnisinhalte bezeichnet. Das kommunikative Gedächtnis ist im „Zwischenbereich zwischen Indi-viduen“ zu verorten, und „bildet sich im Verkehr der Menschen untereinander aus“16. Damit an ein Ereignis der Vergangenheit erinnert werden kann, bedarf es bei dieser Art des Gedächtnisses in der mündlichen Alltagskommunikation der Teilnahme von Zeitzeugen, die einen persönlichen, affektiv geprägten Zugang zu den Ereignissen der Vergangenheit, vor allem zu Kriegserlebnissen ermöglichen.17

Es kann auf dieser Ebene der privaten Erinnerung innerhalb des kommunikativen Gedächtnisses nicht von einer Tabuisierung der deutschen Opfer die Rede sein. Eher Gegenteiliges ist der Fall. Harald Welzer führte eine Mehrgenerationenstudie18 durch, welche gravierende Unterschiede zwischen dem Familiengedächtnis und der offiziellen deutschen Erinnerungskultur offenbarte.19 Diese Diskrepanz weist darauf hin, dass „kognitives Geschichtswissen und emotionale Geschichtsgewissheit zwei völlig

auf und entwickeln zwei neue Modi des Erinnerns: das kommunikative Gedächtnis und das kulturelle Gedächtnis. Was Halbwach zuvor unter „tradition“ subsumierte, bildet den zentralen Aspekt des kulturellen Gedächtnisses. Medien und Institutionen dienen als ex-terne Speicher, sodass ein komplexer Überlieferungsbestand von symbolischen Formen und Artefakten entsteht. Ausgehend von der sozialen Prägung des kollektiven Gedächt-nisses entwickeln Jan und Aleida Assmann den Terminus des „kommunikativen Gedächt-nisses“, der den zwischenmenschlichen Austausch und damit die soziale Verfertigung der Gedächtnisinhalte bezeichnet. Vgl. halbwachs, maurice: Das kollektive Gedächtnis. Frankfurt/M.1985 [1950]; assmann, Jan: Religion und kulturelles Gedächtnis; zehn Stu-dien. München 2000; assmann, Jan: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. München 1992; assmann, aleida: Erinne-rungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses. München 1999.

15 vgl. halbwachs, maurice: Les cadres sociaux de la mémoire, dt.: Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen. Ohne Ort 1985 [1925].

16 vgl. assmann, Jan: Religion und kulturelles Gedächtnis, S. 13.

17 Anders lautet die Definition Aleida Assmanns, die das diffuse kommunikative Gedächtnis auf das Individuum und die Generation bezieht, das politische kollektive Gedächtnis in ein Opfer-/Sieger- und ein Täter-/Verlierergedächtnis differenziert und schließlich das kulturelle Gedächtnis als die Steigerungsform der beiden anderen Gedächtnisse begreift, das sich auf Institutionen und Medien stützt. Vgl. assmann, aleida: Erinnerungsräume, S. 35–52.

18 Unter anderem Harald Welzers Studien zum Mehrgenerationengedächtnis, vgl. welzer; harald/moller, sabine/tschuggnall, karoline: „Opa war kein Nazi“. Nationalsozialismus und Holocaust im Familiengedächtnis. Frankfurt/M. 2002.

19 In der qualitativen Studie wurden Angehörige von vierzig west- und ostdeutschen Fa-milien zu ihren Erinnerungen aus der Zeit des Nationalsozialismus befragt. Es sollte der Frage nachgegangen werden, was die Bundesbürger über Einstellungen und Taten ihrer Eltern und Großeltern während des Dritten Reiches aus Familiengesprächen wissen. Zu den konkreten Ergebnissen der Repräsentativbefragung vgl. ebd.

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verschiedene Dinge sind“20. Es existieren folglich zwei Vergangenheitserzählungen: der Versuch einer pluralen, demokratischen und öffentlichen Erinnerungskultur und eine private Erinnerung, die trotz geschichtlicher Aufklärung an eine andere Vergangenheit erinnert.

narrative Erinnerungsmedien als speicher der vergangenheit

Durch das Aussterben der Zeitzeugen werden Speichermedien benötigt, die diese im Privaten kommunizierten Inhalte vor dem Vergessen bewahren. So werden die Erzählungen des kommunikativen Gedächtnisses, die sich vorrangig auf die privaten Leidenserfahrungen der Deutschen konzentrieren, nun in andere Erinnerungsme-dien übertragen, die der mündlichen Vermittlung der Vergangenheit ähneln. Genau in diesem Punkt dient die Belletristik als fiktionale Wiedergabe der Geschichte dem kommunikativen Gedächtnis als „Ersatzmedium“. Literatur arbeitet in ähnlicher Wei-se wie der Vorgang des Erinnerns. Damit eine kohärente Geschichte entstehen kann, kann der Inhalt der Narration innerhalb des kommunikativen Gedächtnisses oftmals nicht der historischen Wahrheit entsprechen. Die Erzeugung von Narrativität und die fiktionalen Erzählstrukturen in Romanen scheinen aber Vorzüge gegenüber dem faktenorientierten Geschichtswissen der öffentlichen Erinnerungskultur zu besitzen. Die Wirksamkeit erzählter Erinnerung ist ungleich höher als eine geschichtliche Fak-tendarstellung.21 Kohärenz und Kausalität sind Charakteristika linearer Erzählungen, die es dem sich in der Gegenwart Erinnernden ermöglicht, Versatzstücke erinnerter Geschichte in ein großes Ganzes einzumontieren, und diesen Fragmenten dadurch Sinn zu verleihen. Um ein kohärentes Erzählmuster in der Belletristik verwenden zu können, muss die Vergangenheit so konstruiert werden, dass sie lückenlos einen Sinn ergibt. Wie beim Lesen eines Textes werden Leerstellen in der Geschichtsdar-stellung mit individuellen Vorstellungen geschlossen.22 Durch diesen kreativen, und dadurch meist realitätsverfälschenden Akt entstehen Erzählungen, die aufgrund ihrer Kohärenz und Plausibilität emotional abgespeichert werden und zur späteren Erinnerung verfügbar sind. Die Erzählmodelle dienen als Vorlage für Erinnerun-gen, in denen Mythen23 der Vergangenheit und Fragmente des gegenwärtigen Lebens

20 vgl. welzer, harald: Von der Täter- zur Opfergemeinschaft: zum Umbau der deutschen Erinnerungskultur. In: Erinnerung und Verstehen. Der Völkermord an den Juden im po-litischen Gedächtnis der Deutschen, hrgs. von Erler, Hans. Frankfurt/M./New York 2003, S. 102.

21 vgl. welzer, harald: Das kommunikative Gedächtnis. Eine Theorie der Erinnerung. Mün-chen 2002, S. 44.

22 vgl. iser, wolfgang: Der Akt des Lesens. München 1984, S. 284; Eco, umberto: Lector in fabula. München 1987, S. 83.

23 „Das Gedächtnis produziert Sinn, und Sinn stabilisiert das Gedächtnis. Es ist stets Sache einer Konstruktion, einer nachträglich hinzugeschaffenen Bedeutung.“ assmann, aleida:

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zu einem für das Individuum als stimmig wahrgenommenen Geschichtsbild mon-tiert werden. Diese kunstvollen Bilder entstehen durch Konfabulation24, d.h. durch Nachdichten und Ausschmücken der Geschichten beim wiederholten Erzählen. Der Generator der Erinnerung ist also die Sprache, und die Narration ist die elementare Form der Strukturierung von Ereignissen, die diese auf einer Zeitachse und in einem Kausalzusammenhang organisiert.25 Nicht der an Fakten orientierte Ablauf, also die „mimesis“26 als getreue Nachahmung der historischen Ereignisse ist von Bedeutung für die Erinnerung, sondern die „diegesis“, die Modellierung der Vergangenheit in Form einer Narration. Die Merkmale einer gelungenen Geschichte, der Aufbau in Anfang, Mitte und Ende und die Strukturierung auf einen Endpunkt hin, hat das In-dividuum häufig so internalisiert, dass bereits die Wahrnehmung von Erzähltem und Erlebtem in diese Vorlage eingepasst wird. Schon das gemeinsame Gespräch über die Vergangenheit basiert auf diesen kulturell angeeigneten narrativen Grundmustern.Nun handelt es sich bei so gestalteten literarischen Publikationen auf dem Buchmarkt aber nicht um die private Weitergabe eines Schriftstücks innerhalb eines Generati-onenverbandes, sondern um breitenwirksame Veröffentlichungen, die die Themen des kommunikativen Gedächtnisses aufgreifen. Somit sind sie Teil der Öffentlichkeit und spiegeln zum einen die Bedürfnisse der privaten Person wider, lassen aber auch auf einen Wandel des kulturellen Gedächtnisses schließen, da sie dieses als schriftlich fixierte Erinnerungsmedien, ebenso wie Museen und Denkmäler, bereichern und prägen. Medien und Institutionen dienen als externe Speicher, sodass ein komple-

Erinnerungsräume, S. 136. Damit wird nach Jan Assmanns Definition Geschichte zum Mythos. Bei dieser Auslegung steht der Begriff nicht im Widerspruch zu Realität und Faktizität. Vielmehr werden im Mythos Elemente aus dem Speichergedächtnis ausge-wählt und in eine stringente, schlüssige Form gebracht, die das Jetzt erklärbar, die Ge-meinschaft definierbar und zukünftige Handlungen daraus ableitbar machen. Geschichte wird in einem „Akt der Semiotisierung“ bedeutsam gemacht. „Mythos ist der (vorzugs-weise narrative) Bezug auf die Vergangenheit, der von dort Licht auf die Gegenwart und Zukunft fallen lässt.“ assmann, Jan: Das kulturelle Gedächtnis, S. 77. Es handelt sich bei ‚Mythos‘ also nicht allein um Göttererzählungen wie sie bei Griechen und Römern vorherrschten, sondern um sinngeladene Geschichte(n). Besonders Nationen sind auf die ‚mythische’ Herleitung ihrer Existenz angewiesen. Ebd., S. 76 f. Vgl. auch assmann, aleida/ Frevert, ute: Geschichtsvergessenheit – Geschichtsversessenheit, S. 151–157. In allgemeiner Verwendung wird unter mythischem Erzählen die auf einer mündlichen Überlieferung basierende Fabel oder Erzählung verstanden, die retrospektiv als Mythos bezeichnet wird. Vgl. wansing, rudolf: Art. ‚Mythos‘.

24 vgl. welzer, harald: Das kommunikative Gedächtnis, S. 42.

25 vgl. white, hayden: Die Bedeutung von Narrativität in der Darstellung der Wirklichkeit. In: Ders.: Die Bedeutung der Form, S. 11–39.

26 Zur aristotelischen Differenz zwischen ‚mimesis‘ und ‚diegesis‘ vgl. aristoteles: Poetik, übersetzt und hrsg. von Fuhrmann, Manfred. Stuttgart 1982, S. 7–15; auerbach, Erich: Mimesis, Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur. Bern/München 1964; genette, gerard: Die Erzählung. München 1984.

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xer Überlieferungsbestand von symbolischen Formen und Artefakten als „Zeugen der Vergangenheit“ entsteht.27 Dieser erhebt nicht den Anspruch der gemeinsamen Erfahrung, sondern bildet eine langfristige historische Perspektive aus, die „kommu-niziert wird, identitätsstiftend wirkt und in einer Vielzahl von Medien codiert ist“28.

narrative identitätskonstruktion in der Postmoderne – das indivi-duum als teil eines stimmigen ganzen

Vor allem die identitätsstiftende Funktion der Belletristik macht sie so bedeutsam für den Erinnerungsdiskurs. Die bereits angesprochene „Verwandtschaft“ von kom-munikativem Gedächtnis und fiktionalen narrativen Erinnerungsmedien ist als ein Grund für die Konjunktur zu sehen. Narrative Medien sind dazu in der Lage, eine große Vielzahl von gedächtnisrelevanten Informationen in eine temporal-kausale Anordnung zu bringen und ermöglichen damit einen sinnhaften, kollektiven Bezug auf zeitliche Prozesse. Sie leisten nicht nur eine Speicherung der Vergangenheit, son-dern „erzeugen Welten des kollektiven Gedächtnisses nach Maßgabe ihres spezifischen gedächtnismedialen Leistungsvermögens“29.Die Bevorzugung eines ästhetischen, narrativen Zugangs zur Geschichte des Drit-ten Reiches beruht auch auf einem anderen maßgeblichen Bedürfnis der Gegenwart: Sinn- und Identitätsstiftung in der Postmoderne. Nachdem sich das Ende der „großen Erzählungen“30 in der Postmoderne abzeichnet, fehlt in der Gegenwart deren ehemals richtungsweisende und identitätsstabilisierende Wirkung. Diese vermeintlich stabi-len Identifikatoren, die allgemein verbindlich unter anderem in Staat, Religion und Ideologie zu finden waren, werden in der Postmoderne durch unüberschaubar viele Identifikationsmöglichkeiten ersetzt. Zunehmende Mobilität und Migration sowie Raum und Zeit überwindende Informations- und Kommunikationstechnologien haben zur Folge, dass die nationalen Identitäten schwammig werden. Lässt sich in der Gegenwart eine Entterritorialisierung nationaler kultureller Muster und deren Überführung ins Kosmopolitisch-Globale feststellen31, so stellt sich die Frage, wie dann eine postnationale Erinnerungskultur gestaltet ist? Kann aus dem zunehmend

27 vgl. assmann, aleida/ Frevert, ute: Geschichtsvergessenheit – Geschichtsversessenheit, S. 49.

28 vgl. ebd., S. 49.

29 vgl. Erll, astrid: Medium des kollektiven Gedächtnisses – ein (erinnerungs-) kulturwis-senschaftlicher Kompaktbegriff. In: Medien des kollektiven Gedächtnisses. Konstrukti-vität – Historizität – Kulturspezifität, hrsg. von Ders./Nünning, Ansgar. Berlin 2004, hier S. 6.

30 vgl. lyotard, Jean-Francois: La Condition postmoderne: Rapport sur le savoir. Paris 1979.

31 vgl. appadurai, arjun: Globale ethnische Räume. In: Beck, Ulrich (Hrsg.): Perspektiven der Weltherrschaft, Frankfurt/M. 1998, S. 11–44.

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hybriden, unscharfen Charakter des Nationalstaates im Zuge der Europäisierung und Globalisierung auch die Schlussfolgerung gezogen werden, dass sich das nati-onale kulturelle Gedächtnis nachhaltig verändert? Folgt man dem Gedankengang, dass sich durch die Erosion der Nationalstaaten das kulturelle Gedächtnis und damit die staatlichen Erinnerungsrahmen auflösen, so kann gegenwärtig aus einer Viel-zahl von ‚Geschichten’ ausgewählt und an verschiedenen Gedächtnissen partizipiert werden.32 Die Fragmentierung eindeutiger Erinnerungsräume und die „Entwicklung eines globalen Gedächtnisses, das auf gemeinsamen globalen Erfahrungen beruht“33, führt offenbar zu einer beliebigen Zusammensetzung des Gedächtnisses, aus dem die Erinnerung geschöpft wird.Mag die Globalisierung und die damit mögliche Entgrenzung der Erinnerung die Hoffnung auf ein nationenübergreifendes Menschheitsgedächtnis wecken34, so darf der hohe Grad der Komplexität dieses globalen Bezugsrahmens nicht außer Acht geraten. Menschen benötigen einen engeren Erinnerungsrahmen als den globalen Gedächtnisraum. Derzeit scheint nicht ein Wechselverhältnis der Erinnerung im Sinne der Globalisierung35 vorherrschend zu sein, sondern eine einseitige Gewich-tung einer Erinnerung, die auf privater Erinnerung basiert und somit von einer „In-timisierung des Nationalsozialismus“36 gesprochen werden kann. Die verstärkte Rolle der „Gedächtnisorte“37 und die „Rückkehr der Erzählung“38 sind als Folgen der sich verabschiedenden Zeitzeugenschaft und der Entgrenzung der kulturellen, nationa-

32 vgl. koselleck, reinhard: Vergangene Zukunft. Zur Semantik der geschichtlichen Zeiten. Frankfurt/M. 1979, S. 130 f. und S. 260 f.

33 vgl. Pietersen, Jan nederveen: Der Melange-Effekt. Globalisierung im Plural. In: Pers-pektiven der Weltherrschaft. Frankfurt/M. 1998, S. 99.

34 vgl. levy, daniel/sznaider, natan: Erinnerung im globalen Zeitalter: Der Holocaust. Frankfurt/M. 2001.

35 vgl. robertson, ronald: Globalisierung. Homogenität und Heterogenität in Zeit und Raum. In: Perspektiven der Weltherrschaft, Frankfurt/M. 1998, S. 192–220.

36 vgl. assmann, aleida: Geschichte im Gedächtnis. Von der individuellen Erfahrung zur öffentlichen Inszenierung. München 2007, S. 75.

37 In seiner Studie zu den „Lieux de mémoire“ verdeutlicht Pierre Nora sein pluralisti-sches Verständnis des kulturellen Gedächtnisses, welches sich aus einer Sammlung von Erinnerungsträgern zusammensetzt. Es gibt für ihn kein spontanes Gedächtnis, sondern ein aus Erinnerungsorten zusammengesetztes Erinnern. Jedes Individuum hat bestimmte Gedächtnisorte, welche wiederum als Projektionsflächen für ein Heimat- und Identitäts-bedürfnis fungieren. Sie sind Anhaltspunkte für ein nationales Gedächtnis und somit für eine nationale Identität. Vgl. nora, Pierre: Zwischen Geschichte und Gedächtnis. In: Kontexte und Kulturen des Erinnerns, hrsg. von Echterhoff, Gerald/Saar, Martin. Kons-tanz 2002, S. 141–163.

38 vgl. koselleck, reinhart: Einführung. In: White, Hayden: Auch Klio dichtet oder die Fiktion des Faktischen. Studien zur Topologie des historischen Diskurses. Stuttgart 1986; nora, Pierre: Zwischen Geschichte und Gedächtnis, S. 29.

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len Erinnerungskultur zu betrachten. Auf kleinräumiger Ebene erscheinen narrative Texte innerhalb der Belletristik als Erinnerungsorte39, die einen Rahmen für die Er-innerung im großen globalen Gedächtnisraum abzugrenzen und als Gedächtnisspu-ren einen Weg in die Vergangenheit zu weisen. Denn „[d]ie Orte des Gedächtnisses sind unser Augenblick der nationalen Geschichte“40.

Familienromane als besondere identitäts- und Erinnerungsorte

Einen besonders bedeutsamen narrativen Erinnerungsort innerhalb der Belletristik bildet derzeit der Familienroman. Denn auch anhand der Wahl und Rezeption Gen-res lässt sich eine Diskursabhängigkeit festmachen. Ist das Individuum innerhalb des kommunikativen Gedächtnisses noch in einen festen Generationenzusammenhang integriert, löst sich dieser zum einen durch das Ende der Zeitzeugenschaft auf, zum anderen wird die Familie in ihrem traditionellen Charakter selbst immer stärker durch alternative Lebens- und Gemeinschaftsmodelle verdrängt. Somit bietet die Einbindung einer individuellen Vergangenheitsrekonstruktion in ein Familiengebil-de innerhalb einer genealogischen Erzählung die Befriedigung dieser beider Gegen-wartsbedürfnisse: der private Erinnerungscharakter des mündlichen Erzählens und das Aufgehobensein in einer familialen, überschaubaren Ordnung. Sowohl auf in-haltlicher als auch auf formaler Ebene lässt sich ein Rückgriff auf Modelle erkennen, die eine hohe Geltungsstabilität in der Vergangenheit bewiesen haben. Die Folge ist eine Wiederbelebung von gesellschaftlichen Diskursen, die traditionell Stabilität ver-sprechen. Diese können im Geltungsbereich der Familie, der Nation oder der Heimat verortet sein, die eigentlich in der Postmoderne als Strukturen selbst bereits obsolet geworden sind. Die nationale Vergangenheitserzählung in Form einer fiktiven Nar-ration, vor allem im Genre des Familienromans, scheint also sowohl inhaltlich als auch auf narrativer Ebene als Kompensation des Endes der Zeitzeugenschaft seine Berechtigung zu haben.

der Familienroman - ein attraktives genre für die private Erinne-rung

Will man den Familienroman gattungstypologisch klassifizieren, so bezeichnet er im weitesten Sinne einen literarischen Stoff, in dem Probleme und Ereignisse einer Familie über einen längeren Zeitraum hinweg thematisiert werden. In reiner Aus-prägung ist diese Romanform meist nur in der Unterhaltungsliteratur zu finden; in

39 vgl. assmann, aleida: Erinnerungsorte und Gedächntnislandschaften. In: Loewy, Hanno/Moltmann, Bernhard (Hrsg.): Erlebnis – Gedächtnis – Sinn. Authentische und konst-ruierte Erinnerung. Frankfurt/M./New York 1996, S. 13–29; dies.: Erinnerungsräume, S. 328–339.

40 vgl. nora, Pierre: Zwischen Geschichte und Gedächtnis, S. 40.

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anspruchsvollerer Literatur dient sie oft als Rahmen zur Darstellung psychologischer und soziokultureller Probleme.41 Thema und Rahmen der Familienromane sind Genealogien.42 Komplexe Familienstrukturen werden in diesem Genre abgebildet. Genealogien sind Aufzählungen von Namen und Abfolgen von Generationen43, die miteinander in Satzkonstruktionen verbunden werden, die das Zeugen, Hervorbrin-gen und Abstammen der Mitglieder einer Familie thematisieren. Das Konstrukt der Genealogie lässt sich also als „begrenztes, verkettetes Netz [beschreiben], in dem Indi-viduen in eine sinnvolle Anhängigkeit gebracht werden. Die Position, die jedes Indivi-duum innerhalb dieses Netzes einnimmt, beschreibt seine Identität.“44

Diese identitätsstiftende Verortung kann auch auf der literarischen Ebene erfolgen. Seit dem 18. Jahrhundert ist die literarische Reflexion über familiäre Beziehungen so beliebt, dass in dieser Zeit metaliterarische Termini wie ‚Familiendrama‘ und ‚Famili-enroman‘ entstehen, und diese sich zu charakteristischen Gattungen und Medien des 18. und 19. Jahrhunderts entwickeln.45 Die Familie als Zentrum des Erinnerns und als Gedächtnisgemeinschaft war als sozialer Kern der Gesellschaft also im „bürgerli-chen Zeitalter“46 am stärksten ausgeprägt. Zu nennen ist in diesem Zusammenhang

41 vgl. Der Literatur Brockhaus, Bd.1, hrsg. von Werner Habicht, Mannheim 1988, S. 646; zu nennen sind als klassische Beispiele für den Familienroman sind mann, thomas: Buddenbrooks. Verfall einer Familie. Frankfurt/M. 2004 (1901); Freytag, gustav: Die Ahnen. München 1953 (1973–81).

42 Die Lehre von der Abstammung der Geschlechter und die daraus resultierenden rechtli-chen, geschichtlichen und gesellschaftlichen Beziehungen wurden meist in Ahnen- und Sippschaftstafeln sowie Abstammungsreihen festgehalten. Genealogien spielen eine wichtige Rolle im mittelalterlichen Lehnswesen. Im 16. Jahrhundert begann die Be-schäftigung mit der Genealogie, die vor allem die Pflege der Abstammungsreihen der Adelshäuser beinhaltete. Sie diente auch der Erforschung des Erbgangs. So stützte sich vor allem der Nationalsozialismus in der Rassengesetzgebung auf die Genealogie. Vgl. otto, hermann/stachowitz, werner: Abriß der Vererbungslehre und Rassenkunde, einschließlich der Familienkunde, Rassenhygiene und Bevölkerungspolitik. Frankfurt/M. 1941; Franke, gustav (hrsg.): Vererbung und Rasse. Eine Einführung in die Vererbungs-lehre, Familienkunde, Rassenhygiene und Rassenkunde. München 1943.

43 In welchen Zusammenhängen die Verwendung des Begriffs „Generation“ in Diskursen über kulturelle Entwicklungen dient, worauf zu welchen Zeitpunkten ihre Anziehungs-kraft beruht, und welche Effekte Generationenkonstrukte intendieren oder auch tatsäch-lich haben, kann hier nicht weiter konkretisiert werden, vgl. hierzu haubrichs, wolfgang [u.a.] (hrsg.): Generationen. Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik, Heft 120. Stuttgart 2000.

44 vgl. ebd., S. 3.

45 vgl. kanz, christine/anz, thomas: Familien und Geschlechterrollen in der neueren deutschen Literaturgeschichte. Fragestellungen, Forschungsergebnisse und Untersu-chungsperspektiven. In: Jahrbuch für Internationale Germanistik, hrsg. von Benzinger, Rudolf/ Eichhoff, Jürgen [u.a.]. Frankfurt/M. 2000, Heft 1, S. 20.

46 vgl. Peuckert, rüdiger: Familienformen im sozialen Wandel. Stuttgart 2004, S. 20–27; gestrich, andreas: Geschichte der Familie im 19. und 20. Jahrhundert. München 1999.

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auch Leo Tolstois Krieg und Frieden47 als großer Familienroman vor dem Hinter-grund der Napoleonischen Kriege, der genealogische Zusammenhänge in kunstvol-len Verbindungen darstellt.Das sich über mehrere Generationen erstreckende Beziehungsgeflecht der Genealo-gien übte eine große Wirksamkeit auf seine Mitglieder aus.48 Die damalige Populari-tät des Familienromans kann durchaus mit der Beliebtheit der heutigen Familiense-rien im Fernsehen verglichen werden.49

Ab dem 19. Jahrhundert begann sich jedoch durch das Ende der „großen Erzäh-lungen“ eine Pluralität des Gedächtnisses abzuzeichnen. Auch das bürgerliche Fa-miliengedächtnis erhielt verschiedene Facetten, und es kam „zur Ausbildung von Gegenmodellen kollektiver wie familiärer Vergangenheitszuschreibungen.“50 Die feste Einbettung in das soziale Konstrukt Familie löste sich bis zur Gegenwart immer mehr auf und verschwindet in der Postmoderne schließlich fast vollständig. Da sich durch Pluralisierung und die zunehmende Unverbindlichkeit von Lebensformen eher eine Tendenz zur Individualisierung51 abzeichnet, befindet sich die Institution der Familie seit längerem in einer Krise.52 Diesen Individualisierungs- und Fragmentierungspro-zessen laufen jedoch derzeit Tendenzen der Rückbesinnung auf die Familie entge-gen, die sich unter anderem in einer neu entfachten Stammbaumforschung53 und in der bereits erwähnten Konjunktur der Familienromane abzeichnet. Studien zum Generationenverhältnis und zur familialen Tradierung der NS-Vergangenheit haben zudem gezeigt, „welch beträchtlichen Einfluss Erfahrungen der Eltern- und Großel-terngeneration auf die Konstitution der nachfolgenden Generationen nehmen können insbesondere dann, wenn diese Erfahrungen verschwiegen und geleugnet werden“54.

47 vgl. tolstoi, leo: Krieg und Frieden. Übersetzung von Röhl, Hermann, zuerst 1901, zuletzt Leipzig 2001.

48 vgl. gebhardt, miriam: Das Familiengedächtnis. Erinnerung im deutsch-jüdischen Bür-gertum 1890–1932. Stuttgart 1999.

49 vgl. mikos, lothar: Familienserien und die Erzählung sozialer Dramen. Struktur und Funktion eines populären Fernsehgenres. In: Der Deutschunterricht 46 (1994) 1, S. 61–79.

50 vgl. wischermann, clemens: Einleitende Überlegungen. In: Ders. (Hg.), Vom kollektiven Gedächtnis zur Individualisierung der Erinnerung. Stuttgart 2002, S. 19.

51 Zur Problematik der Individualisierung der Gesellschaft vgl. auch Beck, ulrich: „Ein eigenes Leben“. Sizze zu einer biografischen Gesellschaftsanalyse. In: Ders./ Vossenkuhl, Wilhelm [u.a.]: „Eigenes Leben“. Ausflüge in die unbekannte Gesellschaft, in der wir leben. München 1995, S. 9–15.

52 vgl. villwock, Jörg: Die Familie. Hamburg 1999.

53 vgl. gebhardt, miriam: Das Familiengedächtnis.

54 vgl. rosenthal, gabriele: Historische und familiale Generationenabfolge. In: Kohli, Martin/Szlydlik, Marc (Hrsg.): Generationen in Familie und Gesellschaft. Opladen 2000, S. 167. Neben der bereits erwähnten Mehrgenerationenstudie von Harald Welzer widmet

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aktuelle Beispiele heutiger narrativer Erinnerungsliteratur

Das Bedürfnis der Eingliederung in ein überschaubares Ganzes spiegelt sich im post-modernen Familienroman wider, und dieser hat derzeit in der Belletristik Konjunk-tur55. Schaut man sich die Verleihung des Deutschen Buchpreises im Jahr 2007 an, so ist „Die Mittagsfrau“ von Julia Franck eine genealogische Erzählung, die vor dem Hintergrund des Kriegsendes 1945 Familiengeschichten und Erlebnisse von Verlust, Angst, Liebe und Sexualität in das derzeitige Bewusstsein des Lesepublikums und da-mit der Öffentlichkeit rückt. Zwischenmenschliche Verbindungen und Abhängigkei-ten innerhalb einer Genealogie werden über eine Generationenfolge hinweg erzählt. Bekannte Muster aus Erzählungen über die Kriegs- und vor allem Nachkriegszeit werden aufgegriffen und neu miteinander verwoben. Innerhalb dieser gesponnenen Fäden findet sich die Protagonistin wieder, die Julia Franck in eine narrative Leitlinie zwischen den Weltkriegen eingliedert. Dieser Rahmen zwischen den beiden Welt-kriegen fungiert als Tableau für Ver- und Entwicklungen auf der persönlichen Ebene, die gleichzeitig eine enge Verknüpfung mit den historischen Ereignissen zeigen.Besonders eindrucksvoll realisiert Dieter Forte in seiner Romantrilogie Das Haus auf meinen Schultern diese genealogische Herleitung des Subjekts innerhalb der Ge-schehnisse des Zweiten Weltkriegs. Ausgestattet mit zahlreichen Charakteren und phantastischen Geschichten, die alle in die sinnvolle Reihenfolge der Genealogie gebracht werden, erschafft der Text eine Familiensaga, die die Wirren des Zweiten Weltkriegs für das Individuum der Gegenwart als facettenreiches Familienbild fass-bar machen. Die Vergangenheitsdarstellung, die auf einem autobiographischen Erin-nerungsakt basiert, enthält einen hohen Anteil fiktiver Elemente. Es handelt sich um Kindheitserinnerungen, deren Authentizität fraglich ist. Dadurch werden jedoch fik-

sich vor allem die Soziologin Gabriele Rosenthal der Untersuchung von Familienge-dächtnissen, indem sie den familialen Dialog in Drei-Generationen-Familien analysiert. Vgl. rosenthal, gabriele: Erlebte und erzählte Lebensgeschichte – Gestalt und Struktur biographischer Selbstbeschreibungen. Frankfurt/M. 1995; dies.: Der Holocaust im Leben von drei Generationen – Familien von Überlebenden der Shoa und von Nazi-Tätern. Gießen 1997; dies./mansel, Jürgen/tölke, angelika: Generationen – Beziehungen, Aus-tausch und Tradierung. Opladen 1997.

55 Für das die derzeitige Konjunktur des Genres Familienroman sollen hier einige Beispiele genannt werden, die dem aktuellen Erinnerungsdiskurs zuzurechnen sind: Vgl. Franck, Julia: Die Mittagsfrau. Frankfurt/M. 2007; wackwitz, stephan: Ein unsichtbares Land. Familienroman. Frankfurt/M. 2003; hahn, ulla: Unscharfe Bilder. München 2003; timm, uwe: Am Beispiel meines Bruders. Köln 2003; Forte, dieter: Das Haus auf meinen Schultern. Frankfurt/M. 2003; grass, günter: Im Krebsgang. Eine Novelle. Hamburg 2002; Pollack, martin: Der Tote im Bunker, Bericht über meinen Vater. Wien 2004; Bruhns, wibke: Meines Vaters Land. Geschichte einer deutschen Familie. München 2004; dückers, tanja: Himmelskörper. Berlin 2003; Jirgl, reinhard: Die Unvollendeten. München 2003; Beyer, marcel: Spione. Köln 2000; leupold, dagmar: Nach den Kriegen. Roman eines Lebens. München 2004.

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tive Geschichten innerhalb des Werkes legitimiert, und Forte entzieht sich bezüglich des Wahrheitsgehaltes seiner Darstellung jeder Verpflichtung. Das Füllen der Leer-stellen der Erinnerung durch Fiktion, das charakteristisch für die mündliche, priva-te Kommunikation der Geschichte ist, wird innerhalb des Textes in idealtypischer Weise praktiziert und spiegelt die narrative Nähe zum kommunikativen Gedächtnis wider. Ebenso wie im Familiengedächtnis, das die eigenen Leiden und Erlebnisse während Kriegs- und Nachkriegszeit kommuniziert, geht es nicht vorrangig darum, die historische Realität zu erforschen, sondern sich innerhalb es familialen Kollektivs seiner eigenen Identität zu vergewissern. Dazu bieten sich vor allem emotionale, ein-prägsame Erzählungen an. Hauptkriterium für das Erstellen einer Geschichte über die Vergangenheit der eigenen Familie ist dabei die kausale, kohärente und kontinu-ierliche Abfolge der Geschehnisse und eine Ausstattung der Familienmitglieder mit möglichst positiven Eigenschaften. Alle Figuren in der Romantrilogie weisen diesen stark konstruierten Charakter auf, der jedoch einprägsam, veranschaulichend und greifbar im Sinne einer „Oral history“56 auf den Leser wirkt.Es wäre jedoch zu einfach, von „dem Familienroman“ der Postmoderne in der ge-genwärtigen Belletristik zu sprechen. Vergleicht man Fortes Trilogie beispielsweise mit Julia Francks, Die Mittagsfrau oder Uwe Timms Am Beispiel meines Bruders zeigt sich, dass das Genre über verschiedene literarische Gestaltungsmöglichkeiten ver-fügt. Ganz anders als Fortes Familienroman geht beispielsweise der Text Uwe Timms mit dem Thema der Erinnerung um. Am Beispiel meines Bruders ist ebenfalls ein Werk, das sich das Verhalten und die Erinnerung einer Familie während der Kriegs- und Nachkriegszeit zum Thema macht. Der „Motor“ des Romans ist ein Familiengeheim-nis. Die Erforschung dieses Geheimnisses um die Handlungen des Bruders als Mit-glied der SS-Totenkopf-Division während des Zweiten Weltkrieges geschieht aber nicht durch eine vollständige Rekonstruktion der familialen Geschichte, sondern der fragmentarische Charakter der Erinnerung wird selbst zum Thema. Am Beispiel ei-nes Familienmitglieds wird die Vergangenheit erforscht, um einen Rückschluss auf die eigene Identität und damit auf das eigene Leben zu erzielen. Im Zentrum des

56 „Oral History“ bezeichnet die mündliche Tradierung und Organisation geschichtlicher Erfahrung. Neben der mündlich kommunizierten Geschichtserfahrung bezeichnet „Oral History“ auch einen neuen Zweig der Geschichtswissenschaft, der diese Art der Erinnerung als Quellenmaterial untersucht. Die auf persönlicher Erfahrung basierenden Kommunikationsinhalte werden von einer Generation geteilt, die als Zeitzeugenschaft bezeichnet wird. Vgl. spuhler, georg [u.a.]: Vielstimmiges Gedächtnis. Beiträge zur Oral History. Zürich 1994; vorländer, herwart (hrsg.): Oral History. Mündlich erfragte Geschichte. Göttingen 1990; niethammer. lutz (hrsg.): Lebenserfahrung und Kollek-tives Gedächtnis. Die Praxis der ‚Oral History‘. Frankfurt/M. 1980; tonkin, Elizabeth: Narrating Our Pasts. The social constrution of oral history. Cambridge 1992.

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Textes steht allerdings nicht das Ergebnis der Vergangenheitsrecherche, sondern der Vorgang der Recherche. Wie eine große Collage, in der das Zentrum und das Ziel nicht erkennbar sind, ist dieses Erinnerungsprojekt angelegt. Fragmentarisch stehen individuelle und offizielle Elemente der Erinnerung unverbunden nebeneinander. Der Fiktionalisierungsgrad des Textes ist dementsprechend gering. Die Figuren der Familie erscheinen selbst als Träger eines Familiengedächtnisses, welches in seiner Unzulänglichkeit dekonstruiert wird. Im Text wird vorgeführt, wie andere Doku-mente und literarische Werke über den Zweiten Weltkrieg für den eigenen Erinne-rungsprozess herangezogen werden. Durch ihre Rezeption wird deutlich, wie sich diese vor die Wahrnehmung der eigenen Geschichte schieben können und die Erin-nerung inhaltlich und bildlich prägen. Weder eine kausale Aufeinanderfolge, noch ein Lückenfüllen durch fabulierte Geschichten verbindet sie miteinander. Über ih-nen schwebt allein der derzeitige Erinnerungsdiskurs, der der Erinnerungscollage inhaltlich durch einen essayistischen Bericht einen Rahmen verleiht. Der ausgepräg-te fragmentarische, die Vorgänge des Erinnerns dekonstruierende Charakter des Fa-milienromans Timms unterscheidet ihn maßgeblich vom literarischen Werk Fortes. Aus vielen verschiedenen Perspektiven wird das Geheimnis der Vergangenheit in Augenschein genommen, das Erkennen der Wahrheit verbleibt jedoch im Bereich des Unmöglichen. Mit dieser Form der Darstellung zeichnet sich Timms Erinne-rungsprojekt als sehr authentische Veranschaulichung des memorialen Aktes im derzeitigen Erinnerungsdiskurs aus. Medien, erinnerte Gespräche und historische Dokumente werden bei der Erforschung zwar hinzugezogen, mehr als eine Schär-fung des distanzierten Blicks auf die Geschichte ist jedoch nicht möglich. Das Erin-nerungsprojekt ist maßgeblich von den erinnerungspolitischen und literarästheti-schen Diskursen seiner Entstehungszeit geprägt. Es ist daher auch nur eine mögliche Sichtweise des Vergangenen, niemals aber erfasst diese die historische Wahrheit.

schlussbetrachtung – die rolle der geschichten für die geschichte

Literatur ist nicht nur eine zentrale Stütze, sondern auch Anstoß der Erinnerung. Dadurch wirkt sie im Zentrum des öffentlichen Lebens. Ihre literarische Gestaltung bestimmt die Art der evozierten Erinnerung nachdrücklich. Jeder Roman vermittelt ein spezielles Bild von Erinnerung. Was wann erinnert wird, bestimmt der Erinne-rungsdiskurs eines Kollektivs. Der massenhaften Rezeption eines Buches geht also ein Diskurs voraus. Folglich müssen der Boom der Familienromane und die Pub-likationstendenzen innerhalb der Belletristik auf eine bestimmte gesellschaftliche Strömung zurückzuführen sein.Kritisch zu beobachten ist nun, wie sich die Inhalte der Literatur in das kulturelle Gedächtnis der Bundesrepublik einschreiben. Mit den Zeitzeugen stirbt auch das

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kommunikative Gedächtnis des Nationalsozialismus aus. Stattdessen werden Erin-nerungen schriftlich fixiert und gelangen nach Erscheinen eines literarischen Werkes auf dem Buchmarkt in die öffentliche Diskussion. Sie speisen sich also in den Erinne-rungsdiskurs ein. Im privaten Gedächtnis kursierten vorrangig Erzählungen, in de-nen die Deutschen zu Opfern des Nazi-Regimes gemacht wurden. Ihre Leiden stehen im Vordergrund dieses Gedächtnisses. Sieht man also den Familienroman und ande-re Erzählungen der Belletristik als Verschriftlichung dieser mündlichen Inhalte an, so entsteht das Problem, dass inoffizielle Gedächtnisinhalte auf literarischem Wege in die öffentliche Doktrin transferiert werden. Nach dem Aussterben der Zeitzeugen werden diese Medien die einzigen Träger der Erinnerung sein, die in ihrer ästheti-schen Gestaltung an das kommunikative Gedächtnis anknüpfen. Da es sich jedoch um subjektive Vergangenheitsbilder handelt, deren Wahrheitsgehalt fragwürdig ist, muss ihr Einfluss auf den öffentlichen Erinnerungsdiskurs auch weithin aufmerksam mitverfolgt werden.

literatur (auswahl)assmann, aleida: Geschichte im Gedächtnis. Von der individuellen Erfahrung zur öffentli-chen Inszenierung. München 2007.

Erll, astrid: Medium des kollektiven Gedächtnisses – ein (erinnerungs-) kulturwissenschaftli-cher Kompaktbegriff. In: Medien des kollektiven Gedächtnisses. Konstruktivität – Historizität - Kulturspezifität, hrsg. von Ders./Nünning, Ansgar. Berlin 2004, S. 3–25.

Frei, norbert: 1945 und wir. Das Dritte Reich im Bewußtsein der Deutschen. München 2005.

Frevert, ute: Geschichtsvergessenheit und Geschichtsversessenheit revisited. Der jüngste Erinnerungsboom in der Kritik. In: Aus Politik und Zeitgeschichte, Beilage zur Wochenzei-tung Das Parlament vom 23. September 2003, B 40–41/3 2003, S. 6–13.

halbwachs, maurice: Les cadres sociaux de la mémoire, dt.: Das Gedächtnis und seine sozi-alen Bedingungen. Ohne Ort 1985 [1925].

nora, Pierre: Zwischen Geschichte und Gedächtnis. In: Kontexte und Kulturen des Erin-nerns, Hrsg. von Echterhoff, Gerald/Saar, Martin. Konstanz 2002, S. 141–163.

rosenthal, gabriele: Historische und familiale Generationenabfolge. In: Kohli, Martin/Szyd-lik, Marc (Hrsg.): Generationen in Familien und Gesellschaft. Opladen 2000, S. 162–179.

welzer, harald: Schön unscharf. Über die Konjunktur der Familien- und Generationenroma-ne. In: Literatur. Beilage zum Mittelweg 36. Hamburger Institut für Sozialforschung, Nr. 1, Januar/Februar 2004, S. 53–64.

welzer, harald: Von der Täter- zur Opfergemeinschaft: Zum Umbau der deutschen Erin-nerungskultur, in: Erinnern und Verstehen. Der Völkermord an den Juden im politichen Gedächtnis der Deutschen, Hrsg. von Erler, Hans. Frankfurt/M./New York 2003, S. 100–109.

white, hayden: Die Bedeutung von Narrativität in der Darstellung der Wirklichkeit. In: Ders.: Die Bedeutung der Form. Erzählstrukturen der Geschichtsschreibung, Frankfurt/M. 1990, S. 11–39.

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„[…] In the middle of it all is Hitler, of course.”“He was on again last night.”

“He’s always on. We couldn’t have television without him.”1

Ein Blick in das Abend- und Sonntagnachmittagsprogramm der Nachrichten-, In-formations- und Ereigniskanäle der deutschen Fernseh landschaft lässt schnell erken-nen, dass die Analyse, die Don DeLillo 1984 in seinem Roman White Noise seinen Figuren ironisch in den Mund legt, nichts an ihrer Aktualität eingebüßt hat.2 Wie

1 delillo, don: White Noise. London 2002, S. 63.

2 Der folgende Aufsatz basiert auf einem Kapitel der schriftlichen Hausarbeit im Rahmen der Ersten Staatsprüfung des Verfassers, die Ende des Jahres 2005 unter dem Titel „Adolf Hitler im deutschen Spielfilm. Zur Rolle des Films im Erinnerungsdiskurs“ am historischen Seminar der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster angefertigt wurde. Darin wurden die Filme „Der letzte Akt“ (Österreich 1955, Regie: Georg Wilhelm Pabst), „Hitler, ein Film aus Deutschland“ (BRD 1977, Regie: Hans Jürgen Syberberg) und „Der Untergang“ (Deutschland 2004, Regie: Oliver Hirschbiegel) auf ihre Strategien zur Her-stellung von Authentizität, das von ihnen konstruierte Hitler-Bild und ihre Situierung im jeweils zeitgenössischen Erinnerungsdiskurs untersucht, um ihre öffentliche Rezeption

Thema: Krieg und Frieden A) Geschichte B) Politik C) Kultur

hitler von vorn

Zum Verhältnis von Spielfilmen und Erinnerungsdis-kurs

Benedikt Berghoff

Westfälische Wilhelms-Universität, Münster E-Mail: [email protected]

schlüsselwörterSpielfilm,Erinnerungsdiskurs, Nationalsozialismus

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Thema: Krieg und Frieden

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in Endlosschleife werden dort die immer gleichen Ausschnitte aus Wochenschau- und Propagandamaterial wiederholt, die lose durch einen Erzählerbericht und die Kommentare von Zeitzeugen zusammengehalten werden. Zappt man sich aus den Sparten ka nälen zurück ins Vollprogramm der großen öffentlich-rechtlichen und pri-vaten Fernsehsender oder tauscht Fernseh- gegen Kinosessel ein, stößt man immer öfter auf die gleichen Bilder, hier allerdings spielfilmisch adaptiert.In den letzten Jahren erleben große nationale Kino- und Fernseh produkti onen, die die Zeit des Zweiten Weltkriegs und des Nationalsozialismus thematisieren, eine un-geheure Konjunktur. Seit sich das Ende des Dritten Reiches zum sechzigsten Mal jährte, und das Gedenkjahr 2005 quasi durch das Erscheinen des Films Der Unter-gang (Deutschland 2004, Regie: Oliver Hirschbiegel) eingeläutet wurde, erfreuten sich zahlreiche weitere Verfilmungen dieses Teils der deutschen Vergangenheit eines großen Publikums. Eine unvollständige Reihe dieser Filme umfasst Titel wie Napola – Elite für den Führer (Deutschland 2004, Regie: Dennis Gansel), Sophie Scholl – Die letzten Tage (Deutschland 2005, Regie: Marc Rothemund), Speer und Er (Deutsch-land 2005, Regie: Heinrich Breloer), Dresden (Deutschland 2005, Regie: Roland Suso Richter), Die Flucht (Deutschland 2007, Regie: Kai Wessel) und jüngst den ZDF-Zweiteiler Die Gustloff (Deutschland 2008, Regie: Joseph Vilsmaier). Aber auch Dani Levys Film Mein Führer – Die wirklich wahrste Wahrheit über Adolf Hitler (Deutsch-land 2007, Regie: Dani Levy) ist in seiner Parodie der zuvor genannten Filme, und besonders des Untergangs, durchaus dieser filmischen Konjunktur zuzuordnen.Norbert Frei kommentierte diese Situation in seinem 2005 erschienenen Buch 1945 und wir mit dem Satz „So viel Hitler war nie!“ und ging gar davon aus, dass die „medi-ale Gegenwart des ‚Führers’“, diejenige „in den Monaten vor dem ‚Untergang’ im Bun-ker“ übertreffe.3 Frei ersetzt hier die historische Referenz, also die Anspielung auf das Ende des Dritten Reiches, durch den in Anführungs zeichen gesetzten Filmtitel. Damit impliziert er, dass Der Untergang bereits kurz nach seinem Erscheinen eine Deutungs-hoheit über sein historisches Sujet erlangt hat. Was er hier sehr pointiert umreißt, ist eine Situation, die durch die immer größere mediale Präsenz von Geschichtsbildern, die nicht mit den Ergebnissen der aktuellen historischen Forschung übereinstimmen müssen, gekennzeichnet ist.4 Die Populärkultur setzt sich gleichsam für eine Mehrheit

zu erklären.

3 Frei, norbert: 1945 und wir. Das Dritte Reich im Bewusstsein der Deutschen. München 2005, S. 7.

4 Dass filmische und geschichtswissenschaftliche Auseinandersetzungen mit Geschich-te dennoch auch in einem komplexen wechselseitigen Beeinflussungszusammenhang stehen, wurde von Wolfgang Bösch gezeigt: Bösch, Frank: Film, NS-Vergangenheit und Geschichtswissenschaft. Von „Holocaust“ zu „Der Untergang“. In: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 55.1 (2007), S. 1–32.

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der Gesellschaft als Interpret der Geschichte an die Stelle der historischen Wissen-schaft.5 Eine Situation, die weiterhin eine Flut von visuellen Dar stel lungen historischer Inhalte in einem ‚Erinnerungsboom’6 hervorbringt.Ob dieser Erinnerungsboom wirklich für ein gestiegenes Interesse des deutschen Publikums an historischen Themen spricht, oder gar von der eher affektiven in eine kognitive Hinwendung zur Geschichte ‚umgeleitet’ werden kann, wie es sich die Ge-schichtsdidaktik durch die stärkere Einbeziehung verschiedener Medien der öffentli-chen Geschichtskultur in den Schulunterricht verspricht, bleibt jedoch fraglich. Hier fehlen einerseits empirische Daten zur Rezeption historischer Spielfilme auf Seiten der Zuschauer, andererseits wird der historische Film häufig darauf reduziert, dass der Zu-schauer auch wirklich an seinem historischen Inhalt interessiert ist. Dabei ist die his-torische Dimension des Filmes nur ein Rezeptionsangebot unter mehreren (neben ‚Staraufgebot’ in der Besetzungsliste, plausiblen Figuren, mit denen sich Zuschauer identifizieren können, spannenden oder melodramatischen Plots, der Inszenierung des Films als Medienereignis7 und dem betriebenen Aufwand für Werbung und Ver-marktung). Anders als in Geschichts wissenschaft und Geschichtsdidaktik steht nicht die historische Erkenntnis und ihr Zustandekommen im Vordergrund sondern das Gütekriterium ‚unterhaltend – oder nicht’.8

Im Zusammenhang mit dem Film Der Untergang wird seit seiner Veröffentlichung virulent diskutiert, ob er eine Zäsur im öffentlichen Umgang mit der Zeit des Nati-onalsozialismus darstelle. Dabei stehen zwei Gesichtspunkte im Vordergrund: Zum

5 „Historiker [verlieren] an Bedeutung, besonders wenn man deren momentane Margina-lisierung mit ihrer erheblich prominenteren Rolle bei der Schaffung nationalstaatlicher Symbole während der Ersten Moderne vergleicht. Die Populärkultur übernimmt deren Platz.“ levy, daniel/sznaider, natan: Erinnern im globalen Zeitalter: Der Holocaust. Frankfurt/M. 2001, S. 30.

6 Frevert, ute: Geschichtsvergessenheit – Geschichtsversessenheit revisited. Der jüngste Erinnerungsboom in der Kritik. In: Aus Politik und Zeitgeschichte B 40–41/2003, S. 6–13. assmann, aleida/ Frevert, ute: Geschichtsvergessenheit – Geschichtsversessenheit. Vom Umgang mit deutschen Vergangenheiten nach 1945. Stuttgart 1999, S. 10.

7 Unter Medienereignis soll hier in erster Linie verstanden werden, dass Kino- und Fernsehfilme bis zu ihrem Erscheinen durch ein hohes Maß an Werbung und Berichter-stattung in Presse und Fernsehen vorbereitet werden. Auch wird die Ausstrahlung von historischen Fernsehfilmen oft im Rahmen von Themenabenden durch weitere Dokumen-tationen zum Thema des Films flankiert. Als Medienereignisse können nach Derrida jene Ereignisse bezeichnet werden, die nur durch ihre mediale Repräsentation zum Ereignis werden. Dies kann dazu führen, dass ein Ereignis erst durch die Medien seine Form erhält und in seinen referentiellen Eigenschaften in Frage steht. Es kommt zu einer Vir-tualisierung des Ereignisses. isekenmeier, guido: Medienereignis. In: Nünning, Ansgar (Hrsg.): Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Ansätze – Personen – Grundbegrif-fe. Stuttgart/ Weimar 32004. derrida, Jacques: Eine gewisse unmögliche Möglichkeit, vom Ereignis zu sprechen. Berlin 2003, S. 22.

8 Bösch, Frank: Film, NS-Vergangenheit und Geschichtswissenschaft, S. 26.

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einen habe der Film mit einem Darstellungsverbot gebrochen. Der Untergang sei der erste deutsche Film, der Hitler ‚von vorn’ (denn zuvor sei er meist nur kurz, im Halbschatten oder von hinten zu sehen gewesen) und als Mensch, mit menschli-chen Zügen und Charaktereigenschaften, zeige.9 Zum anderen stelle der Film das Leiden der deutschen Zivilbevölkerung, die zwischen den mörderischen Befehlen der NS-Führungsriege und den heranrückende russischen Verbänden gefangen sind, so stark in den Vordergrund, dass der Film im Kontext eines neuen Opferselbstbildes der Deutschen zu sehen sei, der durch Bücher wie Jörg Friedrichs Der Brand, Günter Grass’ Im Krebsgang oder die Debatten um das Zentrum gegen Vertreibungen vorbe-reitet worden sei.10 Filme wie Dresden, Die Flucht oder Die Gustloff wären demnach weitere Symptome für eine Verschie bung des deutschen Erinnerungsdiskurses11 von einem Gedenken der Opfer der Deutschen hin zu einem Gedenken der Deutschen als Opfer.Aus der Perspektive des Historikers ist allerdings zu fragen, ob die Diskussion die-ser durch den Film angestoßenen Inhalte und vermeintlichen Tabubrüche nicht ins Leere führt und gleichzeitig dem kommerziellen Kalkül des Films folgt. Gerade die Inszenierung als Tabubruch ist ein Garant für ein Maximum öffentlicher Aufmerk-samkeit. Die Idee von diffusen Bild- und Darstellungsverboten ist vor dem Hinter-

9 Für eine Zusammenstellung der Presseartikel zum Film der Untergang siehe: danyel, Jürgen/kockisch, andré: Pressestimmen zum Kinofilm „Der Untergang“. 02.03.2008, Zeitgeschichte-online, http://www.zeitgeschichte-online.de/Portals/_rainbow/documents/pdf/presse_untergang.pdf.

10 Ende der neunziger Jahre kam es besonders im Bereich der Germanistik zu einem Dis-kurs über die Renaissance der Bombenkriegsliteratur, die dann in einer Kontroverse zu Jörg Friedrichs Buch „Der Brand“ kulminierte. Friedrich, Jörg: Der Brand. Deutschland im Bombenkrieg 1940-1945, München 2002. Weiterhin erschien ungefähr zeitgleich Günter Grass’ Buch „Im Krebsgang“, das sich der Thematik von Flucht und Vertreibung widmete. grass, günter: Im Krebsgang. Eine Novelle. Hamburg 2002. Eine Veröffent-lichungsflut von Sachbüchern und Romanen zu diesen Sujets folgte. Zu diesem ‚neuen Opferdiskurs’ siehe einführend: niven, Bill: Germans as Victims. Remembering the Past in Contemporary Germany. New York/Basingstoke 2006. welzer, harald: Von der Täter- zur Opfergesellschaft: Zum Umbau der deutschen Erinnerungskultur. In: Erler, Hans (Hrsg.): Erinnern und Verstehen. Der Völkermord an den Juden im politischen Gedächt-nis der Deutschen. Frankfurt/M. 2003, S. 101–106.

11 Unter ‚Erinnerungsdiskurs’ wird hier die soziale Aushandlung von dem, was eine Ge-meinschaft als ihre Vergangenheit ansieht und wie sie diese deutet verstanden. ‚Erinne-rungsdiskurs’ bezeichnet einerseits die öffentliche Verhandlung von ‚korrektem’ Geden-ken an die Zeit des Dritten Reiches, andererseits ist er aber im Sinne Michel Foucaults zu verstehen. Ihm unterliegen daher bestimmte Regeln, die Sagbares und Unsagbares scheiden. Eine „grounded theory“ des deutschen Erinnerungsdiskurses ist bislang nur von Dariuš Zifonun vorgelegt worden, die allerdings häufig von anderen Begriffstraditio-nen ausgeht als die Untersuchungen eines Gros der Autoren, die den Terminus unbefan-gener verwenden. Zifonun, dariuš: Eine grounded theory des deutschen Erinnerungs-diskurses. In: Ders.: Gedenken und Identität. Der deutsche Erinnerungsdiskurs. Frankfurt 2002, S. 88–132.

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grund einer Vielzahl von im In- und Ausland produzierten ‚Hitler-Spielfilmen’ und Dokumentationen, die den ‚Privatmann’ Hitler beleuchteten, nicht haltbar.12 Auch die Darstellung des Leidens der deutschen Zivilbevölkerung und die öffentliche The-matisierung von Flucht, Vertreibung und Bombenkrieg ist sicherlich nicht ein No-vum des beginnenden 21. Jahrhunderts.13

Wesentlich interessanter und gewinnbringender ist es, zu untersuchen, wie es Fil-men gelingt, eine Deutungshoheit über ihre historischen Inhalte zu erlangen und sich filmsprachlich zur Vergangenheit in Bezug zu setzen. Nur so kann verstanden werden, ob und wie Filme in Konkurrenz zur geschichtswissenschaftlichen Deutung von Vergangenheit treten, und warum ihnen gerade am Beginn des 21. Jahrhunderts eine so wichtige Rolle im Erinnerungsdiskurs zukommt. Die Authentifizierungsstra-tegien von aktuellen historischen Spielfilmen und insbesondere des Films Der Unter-gang stehen dabei im direkten Bezug zum Ende der Zeitzeugenschaft und dem Ende des kommunikativen Gedächtnisses.

der historische spielfilm als gedächtnismedium

Der Film ist ein Gedächtnismedium par excellence, da er ein narratives Medium ist.14 Er weist also in der Regel eine triadische Struktur einer klassischen Erzählung auf.15

12 Charles P. Mitchell listet über einhundert solcher internationalen Spielfilme aus unter-schiedlichsten Genres und unterschiedlichster Qualität auf. mitchell, charles P.: The Hitler Filmography: Worldwide Feature Film and Television Miniseries Portrayals, 1940 through 2000. Jefferson, NC 2002. Für den deutschsprachigen Filmmarkt siehe: töte-berg, michael: Hitler – Eine Filmkarriere. Der letzte Akt und andere Filme über das Ende des Führers. In: Fest, Joachim/Eichinger, Bernd (Hrsg.): Der Untergang. Das Filmbuch. Reinbek 82005, S. 405–434. Für eine Untersuchung der Physiognomie Hitlers als popkul-turelles Symbol für Hitler-Mythos und Holocaust siehe: atze, marcel: Unser Hitler. Der Hitler-Mythos im Spiegel der deutschsprachigen Literatur nach 1945. Göttingen 2003, S. 371 ff. Zum Verhältnis des Films „Der Untergang“ zu den Dokumentarfilmen der neun-ziger Jahre (besonders von Guido Knopp) siehe: Bösch, Frank: Film, NS-Vergangenheit und Geschichtswissenschaft. Von „Holocaust“ zu „Der Untergang“. In: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 55.1 (2007), S. 1-32.

13 Frei, norbert: 1945 und wir, S. 12. Vgl. dazu auch: schieder, theodor (Bearb.): Dokumentation der Vertreibung aus Ost-Mitteleuropa. Hrsg. v. Bundesministerium für Vertriebene, Flüchtlinge und Kriegsgeschädigte. 5 Bde. Bonn 1953–1961 [unveränderter Nachdruck als Taschenbuch: München 1984].

14 straub, Jürgen: Narration. In: Pethes, Nicolas/Ruchatz, Jens: Gedächtnis und Erinne-rung. Ein interdisziplinäres Lexikon. Reinbek 2001, S. 399–402.

15 kaes, anton: History and Film: Public Memory in the Age of Electronic Disseminati-on. In: History & Memory 2 (1990), S. 111–129, hier S. 112. Natürlich gelten die hier vorgenommenen Generalisierungen vor allem für Mainstream-Filme, also solche, die ein sehr breites Publikum finden und finden wollen. Für den Experimentalfilm gelten andere Regeln. Für eine Tennung von Experimental- und Mainstreamfilm in der Auseinander-setzung mit historischen Inhalten siehe: rosenstone, robert a.: The Historical Film: Looking at the Past in a Postliterate Age. In: The Historical Film. History and Memory in

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Thematisiert ein Spielfilm vergangene Geschehnisse, handelt es sich um einen histo-rischen Spielfilm.16 Der Rezipient muss in der Lage sein, anhand bestimmter Details die Handlungszeit sehr schnell einzuordnen.17 Historische Spielfilme geben dem Zu-schauer daher zu Anfang bestimmte Signale, um ihm zu zeigen, dass das Gezeigte in der Vergangenheit situiert ist. Die Notwendigkeit für ein solches Verfahren ent-springt aus der Tatsache, dass der Film nur ein Tempus kennt, nämlich das Präsens.18 Kann der historische Roman sprachlich einen Vergangenheitsbezug herstellen, bleibt dies dem Film verwehrt. Der historische Spielfilm nutzt zu diesem Zweck die ihm eigenen visuellen, semiotischen Mittel. Er rekurriert auf ein kulturgebundenes Allge-meinwissen, ein kulturelles Gedächtnis.19 Jede Kultur verfügt über bestimmte Daten, Ereignisse, Personen und Bilder, die für sie Sinn tragen. Filme greifen diese kultu-rellen Eckpunkte visuell und narrativ auf und fügen sie zu einer neuen Kohärenz zusammen. Sie entnehmen somit gesellschaftlichen Diskursen über Vergangenheit sinnstiftende Elemente und vereinen sie in einem neuen Sinnzusammenhang.Historische Spielfilme rücken Vergangenheit in die Jetzt-Zeit und zwar in der Regel in Form einer authentischen Repräsentation, wobei der Begriff ‚authentisch’ nicht mit ‚wahr’ oder ‚richtig’ zu vergleichen ist. Er wird nur für Darstellungen, Repräsen-tationen, verwendet und enthält neben dem Anspruch der korrekten Überlieferung den Zusatz der richtigen Atmosphäre.20 Diese Atmosphäre speist sich aber eben nicht

Media. New Brunswick, NJ 2001, S. 50–66.

16 Die Begrifflichkeiten sind in der Literatur uneindeutig. Hier wird sich an Kaes orientiert, der ‚historischer Spielfilm’ in Analogie zum historischen Roman verwendet. Der Begriff ‚Historienfilm’ evoziert eher die Assoziation von Kostüm- oder Sandalenfilmen, und eig-net sich damit weniger für die allgemeine Bedeutung einer filmischen Bearbeitung histo-rischer Inhalte. kaes, anton: History and Film, S. 112. Ob diese ‚historiophoty‘, „the re-presentation of history and our thought about it“ (Hayden White), die Qualitätsstandards einer geschichtswissenschaftlichen, schriftlichen, Auseinandersetzung (‚historiography‘) mit Geschichte erreichen wird oder kann, wird in der Literatur virulent diskutiert. Siehe hierzu vor allem: rosenstone, robert a.: History in Images/History in Words: Reflections on the Possibility of Really Putting History onto Film. In: The American Historical Review 93 (1988), S. 1173–1185. white, hayden: Historiography and Historiophoty. In: The American Historical Review 93 (1988), S. 1193–1199.

17 sorlin, Pierre: How to look at an „Historical“ Film In: Landy, Marcia (Hrsg.): The Histori-cal Film. History and Memory in Media. New Brunswick, NJ 2001, S. 25–49, hier S. 37.

18 kaes, anton: History and Film, S. 114. Vgl. dazu auch: schneider, irmela: Film. In: Pethes, Nicolas/ Ruchatz, Jens, Gedächtnis und Erinnerung, S. 173 f.

19 Zu den Begriffen ‚kulturelles Gedächtnis’ und ‚kommunikatives Gedächtnis’ siehe grund-legend: assmann, Jan: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 1992, S. 77. assmann, aleida: Erinnerungs-räume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses. München 1999.

20 rother, rainer: „Authentizität“. Filmische Strategien zur fiktionalen Darstellung von Ge-schichte. In: Tholen, Georg C./ Scholl, Michael O. (Hrsg.), Zeit-Zeichen. Aufschübe und Interferenzen zwischen Endzeit und Echtzeit. Weinheim 1990, S. 305–319, hier S. 305.

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nur aus der möglichst akkuraten Nachbildung von Kulissen, Kostümen, dem Drehen an Originalschauplätzen, der minutiösen Detailgenauigkeit des Nachspielens über-lieferter Geschehnisse usw.,21 vielmehr geht es auch um Anknüpfungspunkte an das Vorwissen des Zuschauers, um das Gezeigte für ein gegenwärtiges Publikum plausi-bel zu machen.Historische Spielfilme ziehen aus der Darstellung der Vergangenheit in möglichst akkurater Manier eine Legitimation, sich selbst als Interpret dieser Vergangenheit zu etablieren. Sie sind deshalb nicht nur Repräsentationen der Vergangenheit, sondern stellen ein komplexes Wechselspiel gegenseitiger Referen tialität dar. Gegenwart und Vergangenheit stehen in einem Authenti fi zierungs kreislauf.22 Sowohl Filme als auch Individuen orientieren ihre Erzählungen über Vergangenheit häufig an klassischen Formen wie Mythen oder klassischen Dramen.23 Unter dem Begriff der ‚Quellenam-nesie’24 hat Harald Welzer sogar gezeigt, dass das Gedächtnis assoziativ verfährt und Elemente, die für das Individuum Sinn tragen, mit anderen Gedächtnisinhalten ver-knüpft. So kann es zu Erscheinungen kommen, dass Filmhandlungen in eigene ver-gangene Erlebnisse integriert werden, ohne dass es die betreffende Person bemerkt. Der Film kann sich also als wirkmächtiges kulturelles Produkt nachweisbar in Ge-schichtsbilder von Individuen und – der Gedanke liegt nahe – Kollektiven einschrei-ben. Innerhalb dieses Mediendispositivs25 haben sich Filme wiederum an bestimmte

21 Für eine Diskussion von Mitteln zur Herstellung historischer Authentizität in Filmen siehe: davis, natalie Zemon: „Jede Ähnlichkeit mit lebenden oder toten Personen…“: Der Film und die Herausforderung der Authentizität. In: Rother, Rainer (Hrsg.), Bilder schreiben Geschichte: Der Historiker im Kino. Berlin 1991, S. 37–64.

22 Dieser Gedanke wurde in seiner Untersuchung zum kommunikativen Gedächtnis von Welzer im individuellen Gedächtnis nachgewiesen. Er beschreibt den Film als Bedingung der Möglichkeit, sich über Vergangenheit auszutauschen. Da das individuelle Gedächtnis eine Affinität zur Narrativität hat, verschwimmen klare Trennungen zwischen den Prozes-sen der Vergangenheitsrekonstruktion von narrativen Medien und Individuen. welzer, harald: Das kommunikative Gedächtnis. Eine Theorie der Erinnerung. München 2002, S. 187.

23 Welzer hat gezeigt, dass Individuen ihre Vergangenheitserzählungen an kulturspe-zifischen Erzählmustern ausrichten. Ebd., S. 172. Er nimmt damit Bezug auf Hayden White, der diesen Vorgang in der Historiographie als ‚narrativization‘ bezeichnet. white, hayden: Die Bedeutung der Narrativität in der Darstellung von Wirklichkeit. In: Ders., Die Bedeutung der Form. Erzählstrukturen der Geschichtsschreibung, Frankfurt/M. 1990, S. 11–39.

24 welzer, harald: Das kommunikative Gedächtnis, S. 40 ff.

25 Zum Dispositiv-Begriff siehe als Grundlage: Foucault, michel: Dispositive der Macht. Über Sexualität, Wissen und Wahrheit. Berlin 1978. Zur Verwendung des Begriffs in der Medienwissenschaft für Medienverbunde siehe: hickethier, knut: Film und Fernseh-analyse. Stuttgart 32001. Und besonders: ders.: Film und Fernsehen als Mediendispo-sitive in der Geschichte. In: Ders./ Müller, Eggo/ Rother, Rainer (Hrsg.): Der Film in der Geschichte. Dokumentation der GFF-Tagung, Berlin 1997 (Schriften der Gesellschaft für Film- und Fernsehwissenschaft; Bd. 6), S. 63–73.

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kulturell geformte Vorgaben zu halten, um überhaupt als Vergangenheitsrepräsenta-tionen wahrgenommen zu werden.Die dem historischen Film eigenste Form der Anknüpfung an die Vergangenheit, ist das Anknüpfen an kollektive Bildgedächtnisse. Filme integrieren Bilder, die ent-weder aus anderen Kontexten herausgelöst und im Film gezeigt werden, oder sie bedienen sich bestimmter konventionalisierter Bilder, die so oder so ähnlich in der jeweiligen Gesellschaft oder Kultur und daher auch in anderen Filmen kursieren und als bekannt gelten, oder sie kopieren den Stil der Darstellung sinntragender Bilder, indem sie beispielsweise ihre Bilder in Schwarzweiß drehen, wenn die Filmhandlung in einer Zeit spielt, die den Zuschauern nur in Schwarzweißaufnahmen bekannt ist.

der untergang – ein historisches dokument?

Zur Inszenierung von Authentizität in Der Untergang vermerkt Michael Wildt, dass der Film sich nicht als Zeichen für das historische Ereignis des Endes des Dritten Reiches etabliere, sondern sich umgekehrt selbst zum Referenten der Historie ma-che, er inszeniere „sich als Quelle“. 26 Auf der Grundlage des Gedankens von Wildt, soll hier noch weiter gegangen werden, indem die genauen filmischen und außerfil-mischen Verfahren dargestellt werden, die der Film zu diesem Zweck nutzt.Das durch den Film vertretene Geschichtsbild war im Vorfeld des Erscheinens immer wieder von Regisseur Oliver Hirschbiegel und Produzent und Drehbuchautor Bernd Eichinger geäußert worden. Nicht nur wurde betont, dass der Film sich streng an die vorhandenen Dokumente halte,27 sondern auch, dass Geschichte so gezeigt werde, wie sie gewesen sei, ohne moralischen Anspruch oder Wertung.28

Die Vorstellung, dass ein Film, der immer auch eine kollektive Konstruktionsleistung ist,29 im Jahre 2004 als objektive Darstellung einer Vergangenheit ‚wie sie war’ gelten

26 wildt, michael: „Der Untergang“: Ein Film inszeniert sich als Quelle. In: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History, Online-Ausgabe 2 (2005), 11.11.2005, www.zeithistorische-forschungen.de/16126041-Wildt-1-2005, Abschnitt 1.

27 Bernd Eichinger im Interview mit dem Spiegel: „Ich halte mich streng an die Dokumente. […] Was nicht belegt ist, kommt nicht vor“. n. n., „Ich halte mich an die Geschichte“. In: Der Spiegel 17 (2003), 19.04.2003.

28 westphal, anke: Daher kommen wir. Der Regisseur Oliver Hirschbiegel über seinen Film. In: Berliner Zeitung, 11.09.2004.

29 Schon Siegfried Kracauer betrachtete den Film als Ausdruck für kollektive mentale Dis-positionen. kracauer, siegfried: From Caligari to Hitler. A Psychological History of the German Film. Princeton, NJ 1947. Zur Produktion eines Films ist stets ein mehr oder we-niger großer Stab von Menschen nötig. Filme – selbst Autorenfilme – sind nicht Ausdruck der Intention einer Einzelperson. Es fließen diverse Ansichten in den Drehprozess und die Fertigstellung ein, vom Kameramann über die Schauspieler bis zum Produzenten. Gleichzeitig suchen Filme in der Regel ein Publikum. Sie wollen und müssen rezipiert werden. Man kann daher davon ausgehen, dass Filme immer von einem Kollektiv für ein

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soll, muss in Zeiten konstruktivistisch geprägter Erkenntnistheorien durchaus be-fremdlich anmuten. Diese Idee verrät aber sehr viel darüber, wie der Film Deutungs-hoheit über sein historisches Thema erlangt. Denn in der Tat ist die Darstellung in Der Untergang eine konstante Suggestion, der Zuschauer habe es mit dokumentari-schem Material zu tun. Der Film verweist dabei nicht auf die Geschichte selbst, son-dern auf mediale Inszenierungen von Geschichte und kollektive Bildgedächtnisse. Er schiebt sich sozusagen in die medial geprägten Geschichtsbilder seiner Rezipienten hinein und besetzt sie.Ein prägnantes Beispiel für diese Vorgehensweise ist noch nicht der Film selbst, son-dern das Kino-Plakat.30 Es ist dem wohl letzten Foto Adolf Hitlers nachempfunden, das ihn mit seinem SS-Adjutanten Julius Schaub bei der gemeinsamen Besichtigung eines Bombenschadens in der Reichskanzlei zeigt.31 Auf dem Kinoplakat ist die-se Szene sehr detailgetreu nachgestellt. Der Lichteinfall jedoch ist stark verändert. Der Bildausschnitt löst sich um einen Lichtkegel herum ins Schwarze auf. Außer-dem ist das Bild trotz der dominierenden blassen Grautöne, die den Charakter eines Schwarzweißfotos implizieren, in Farbe gehalten. Doch nicht Adolf Hitler steht auf diesem Foto in den Trümmern der Reichskanzlei, sondern Bruno Ganz, verkleidet als Adolf Hitler.Was die Quellengrundlage des Films betrifft, so beriefen sich die Filmemacher im Vorfeld stets auf Joachim C. Fests historische Skizze Der Untergang32 sowie auf Traudl Junges Erinnerungen Bis zur letzten Stunde33. Traudl Junge hatte 2002 ihre Erinne-rungen an die Zeit als Adolf Hitlers Sekretärin in Buchform gefasst und war im sel-ben Jahr in dem Interview-Film Im Toten Winkel. Hitlers Sekretärin (Österreich 2002, Regie: André Heller, Othmar Schmiderer) aufgetreten. Sie starb kurz nach der Pre-miere im Frühjahr 2002. Die Veröffentlichung der Quellengrundlage in der Presse wirkt sich authentifizierend auf den Film aus. Als Instanzen für seine Glaubwür-digkeit dienen der renommierte und in der Öffentlichkeit bekannte Journalist und Historiker Joachim C. Fest und die Augenzeugin Traudl Junge.Gedreht wurde der Film in St. Petersburg, wo die Kulissen für die Außenaufnahmen mit großer Genauigkeit aufgebaut wurden, und in den Bavaria Studios München, in denen der Führerbunker nach den Plänen in Fests Buch für die Innenaufnahmen er-

Kollektiv produziert werden.

30 Dieses findet sich in Wildts Essay: wildt, michael: „Der Untergang“, Abschnitt 2.

31 hoffmann, heinrich: Hitler, Adolf. Gruppenb (in Uniformmantel; m. Mütze; Besichtigung e. Bombenschadens). Foto. Bayerische Staatsbibliothek. Fotoarchiv Hoffmann, Bild-Nr. hoff-54607.

32 Fest, Joachim: Der Untergang. Hitler und das Ende des Dritten Reiches. Berlin 2002.

33 Junge, traudl/ müller, melissa: Bis zur letzten Stunde. Hitlers Sekretärin erzählt ihr Leben. München 2002.

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richtet wurde. Die gesamte Ausstattung ist durchgängig originalgetreu nachgebildet oder mit zeitgenössischen Fahrzeugen, Waffen, Uniformen etc. ergänzt worden.Weitere Authentifizierungsstrategien zeigen sich, wie in den theoretischen Überle-gungen vorausgeschickt, in der genauen Betrachtung der Eingangs sequenz.34 Der Film startet mit einem sehr kurzen Vorspann, der Produkti ons firma und Produzen-ten nennt und den Titel „Der Untergang“ einblendet. Daraufhin wird ein Ausschnitt aus dem Film Im Toten Winkel. Hitlers Sekretärin gezeigt. Die 81-jährige Traudl Junge sagt darin in Nahaufnahme, dass sie nun in der Rückschau auf ihr Leben „diesem kindischen jungen Ding [also sich selbst] bös’ sein muss“, dafür dass es „dieses Monster“ nicht erkannt habe und einschätzen konnte, worauf es sich eingelassen habe. Nach diesem Ausschnitt beginnt die Spielfilmhandlung, in der man nur schemenhaft eine Gruppe von Frauen, angeführt von einer SS-Wache, durch die Nacht gehen sieht. Traudl Junge – jetzt gespielt von Alexandra Maria Lara – läuft in eine nahe Einstel-lung hinein. Ihr Gesicht wird von einer Taschenlampe angestrahlt. In dieser Abfolge von Szenen, die immer wieder von langsamen Schwarzblenden unterbrochen wer-den, gibt der Film zuerst seinen Titel an, geht dann dazu über, seinen Authentizitäts-anspruch und einen Teil seiner Quellengrundlage zu nennen und etabliert schließ-lich als seine Protagonistin und Identifikationsfigur die jugendliche Traudl Junge. Bei der Einblendung des Interviewfetzens aus Im Toten Winkel teilt Der Untergang mit, dass er sich in seiner Gestaltung am Bericht einer Zeit- und Augenzeugin orientieren wird, die das folgende Geschehen aus nächster Nähe als Sekretärin miterlebt hat. Dazu werden intertextuelle bzw. intermediale Referenzen aufgebaut, die auf andere Medien – nämlich André Hellers Interview-Film und Traudl Junges Buch – verwei-sen. Der Untergang setzt filmisch nur auf den Zeitzeugen als Beleginstanz der Hand-lung. Diese Vorgehensweise steht im Zusammenhang mit dem Ende der Zeitzeugen-schaft und der Dominanz von Konventionen eines Dokumentationsstils, wie er für den deutschen Fernsehmarkt beispielsweise von Guido Knopp vertreten wird.Mit dem Sterben der letzten Erfahrungsgeneration des Zweiten Weltkrieges und dem Übergang vom kommunikativen zum kulturellen Gedächtnis des Nationalsozialis-mus entstanden vor einigen Jahren Projekte, die es sich zum Ziel gesetzt hatten, die letzten oralen Berichte der Zeitzeugen des Holocaust und des Zweiten Weltkrieges in Medien – hauptsächlich auf Film – zu bannen, um sie auf diese Weise für die Nach-welt zu erhalten.35 Durch diesen Trend zum Erhalt der mündlichen Überlieferung

34 Ausführungen und Zitate beziehen sich auf die DVD-Version des Films: hirschbiegel, oliver: Der Untergang. DVD. 150 min. Deutschland 2005 (Deutschland 2004).

35 Die erste und umfangreichste Sammlung von Opferberichten legte dabei Steven Spiel-berg mit der von ihm gegründeten Shoa Foundation an. Für den deutschsprachigen Raum folgte Guido Knopp mit seinem ‚Jahrhundertbus’ und dem Verein ‚Die Augen der Geschichte’. Knopp hat es sich zum Ziel gesetzt innerhalb von zehn Jahren 50.000 Zeit-

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wurde auch die Rolle von Zeitzeugen in Dokumentationen immer dominanter, wo-bei sie aber oft nur in kurzen Ausschnitten als Stichwortgeber oder Verifikation des Off-Kommentars der Dokumentation dienen. Dies wird gerade bei den Knopp-Pro-duktionen häufig kritisiert.36 Der Zeitzeuge als Beleginstanz des filmischen Berichtes über die Geschichte wurde dadurch zu einer Konvention des Dokumentarfilmgen-res, wobei eine kritische Reflexion der oralen Tradierung von Gedächtnisinhalten wie sie beispielsweise von Harald Welzer unternommen wird, oder wie sie gerade in der wissenschaftlichen Arbeit im Bereich der Oral History betrieben wird, selten stattfindet.37

In Der Untergang ist der Einfluss dieser Art der historischen Darstellung von his-torischem Geschehen durch den Zeitzeugenbericht Traudl Junges zu erkennen. Er deutet darauf hin, dass in der Rezeptionserwartung des Publikums scheinbar keine Problematisierung des Zeitzeugenberichtes stattfindet, und er für das Gros der Zu-schauer als Beleg der Authentizität gilt.38

Die Einspielungen von Teilen des Interviews aus Im Toten Winkel umschließen den Film als Rahmenhandlung. Der Film wird also von dokumen tarischem Material umgeben, das einen Authentizitäts- und Realitätsbeleg schafft. Allerdings ist dieses kein zeitgenössisches Material des Zweiten Weltkriegs sondern der Gegenwart der

zeugenberichte allein in Deutschland zu sammeln.

36 kansteiner, wulf: Die Radikalisierung des deutschen Gedächtnisses im Zeitalter seiner kommerziellen Reproduktion: Hitler und das „Dritte Reich“ in den Fernsehdokumentati-onen von Guido Knopp. In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 51 (2003), S. 626–648. wiegel, gerd: Familiengeschichte vor dem Fernseher. Erinnerte NS-Geschichte in den Dokumentationen Guido Knopps. In: Klundt, Michael (Hrsg.), Heldenmythos und Opfertaumel. Der Zweite Weltkrieg und seine Folgen im deutschen Geschichtsdiskurs. Köln 2004, S. 82–99. welzer, harald: Von der Täter- zur Opfergesellschaft: Zum Umbau der deutschen Erinnerungskultur. In: Erler, Hans (Hrsg.): Erinnern und Verstehen. Der Völkermord an den Juden im politischen Gedächtnis der Deutschen. Frankfurt/M. 2003, S. 101–106, hier S. 104.

37 Die Problematik des Zeitzeugenberichtes liegt hauptsächlich im so genannten distribu-tiven Speicherverfahren des Gehirns. Dabei sorgt der Abruf einer Erinnerung für eine erneute Einschreibung ins Gedächtnis des Erzählenden, in der die Abrufsituation mitko-diert ist. Außerdem werden sie immer wieder aufs Neue in Assoziationsketten vernetzt. Erinnerungen sind damit ständigen Prozessen der Veränderung unterworfen, obwohl sie subjektiv als wahr und stabil betrachtet werden. welzer, harald: Das kommunikative Gedächtnis. niethammer, lutz (hrsg.): Lebenserfahrung und Kollektives Gedächtnis. Die Praxis der ‚Oral History‘. Frankfurt/M. 1980. tonkin, Elizabeth: Narrating Our Pasts. The Social Construction of Oral History. Cambridge 1992.

38 „Sobald ein Zeitzeuge von seinen Erlebnissen berichtet, scheint er mit einem Authentizi-tätsvorteil ausgestattet zu sein, der diejenigen, die so etwas nicht erlebt haben, tenden-ziell in ein defensives und affirmatives Mitdenken und Mitfühlen zwingt, das kritische Nachfragen als undenkbar, mindestens aber als unpassend erscheinen lässt.“ welzer, harald/moller, sabine/tschugnall, karoline: Opa war kein Nazi. Nationalsozialismus und Familiengedächtnis. Frankfurt/M. 2002, S. 209.

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Produktionszeit. Der Film setzt sich hier zu der Erzählung einer Augenzeugin, nicht aber zu der Zeit selbst in Bezug.Durch die nächste Einstellung wird der Zeitsprung in die Vergangenheit visualisiert. Die Spielfilmhandlung wird mit dem Bild des angestrahlten Gesichts Traudl Junges eröffnet, die die Nahaufnahme der alten Frau im Dokumentarfilm fortführt. Dies lässt die Nennung des Namens überflüssig werden, verschafft Klarheit über die Iden-tität der gezeigten Person und etabliert sie als Protagonistin und Identifikationsfigur für die folgende Handlung. Auch der zeitliche Abstand wird so verdeutlicht, was auch durch das Kostüm des Mannes mit Stahlhelm im Gegenschuss unterstützt wird.Man hat es hier also vordergründig mit zwei Zeitebenen zu tun. Die nicht-fiktionale Rahmenhandlung von 2002 umschließt die historische Spielfilmhandlung, die mit der Anstellung Traudl Junges als Sekretärin 1942 beginnt und dann in einem weiteren Zeitsprung in die Haupthandlung vom 20. April bis zum 2. Mai 1945 übergeht. Die Zeitpunkte der Spielfilmhandlung sind durch Texteinblendungen zusätzlich kennt-lich gemacht, was wiederum die Authentizität erhöht, da eine konkrete Orts- und Zeitangabe angezeigt wird.39 Man könnte also von einer Rahmenhandlung sprechen, die durch die Zeitangaben und Schwarzblenden von der historischen Handlung ab-gegrenzt ist und dennoch thematisch und personell mit ihr in Bezug steht. Dass die Behandlung von Zeit aber ungleich komplexer zu betrachten ist, zeigt sich in der musikalischen Untermalung der beschriebenen Sequenz. Mit der Einblen-dung von Produktion und Titel beginnt im Hintergrund ruhige, leicht melancholi-sche Piano-Musik mit zunehmenden Streicher-Akzenten. Diese setzt sich über die gesamte Interview-Einspielung fort und endet erst weit in der Spielfilmhandlung, als die Sekretärinnen das Führerhauptquartier ‚Wolfsschanze’ betreten. Diese akus-tische Klammer verbindet den Vorspann mit dem Interview und der Spielfilmszene und stellt eine Verbindung der einzelnen Teile bzw. eine gewisse Gleichzeitigkeit her. Dies ist auch der Fall wenn Traudl Junge schon spricht, bevor sie im Bild zu sehen ist. Zudem findet kein Bruch in der Farbgebung der Bilder statt. Während beispielsweise bei Steven Spielbergs Schindlers Liste (Originaltitel: Schindler’s List, USA 1993, Regie: Steven Spielberg) eine Differenzierung zwischen der Jetztzeit und der Spielfilmzeit durch den Schnitt von Farbfilm zu Schwarzweißfilm vorge nommen wird, ist die-se bei Der Untergang nicht vorhanden. In Schindlers Liste wird Authentizität gerade durch das Drehen in Schwarzweiß hergestellt, da Foto- und Filmbilder des Dritten Reiches in der Regel farblos im kollektiven Bildgedächtnis des Publikums gespei-chert sind. In Der Untergang ist das Gegen teil der Fall. Dies lässt zwei Schlüsse zu:

39 Dies ist ein Verfahren, das auch bei fiktionalen Spielfilmhandlungen genutzt wird: korte, helmut: Einführung in die Systematische Filmanalyse. Ein Arbeitsbuch. Berlin 32004, S. 14.

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Entweder haben sich in den letzten zehn Jahren durch die Auswahl von Farbbildern des Dritten Reiches oder Nachkolorierung dieser zeitgenössischen Bilder die Rezep-tionserwartungen des Publikums derart verändert, dass die Vergangenheit nun auch in Farbe imaginiert werden kann,40 oder der Film holt die Handlung bewusst an den Zuschauer heran und ruft eine Gleichzeitigkeit von historischem Zeitpunkt und Re-zeptionszeitpunkt hervor. In beiden Fällen wäre ein höheres Identifi kationspotential des Zuschauers mit der Filmhandlung gegeben und die Realitätsillusion für den heu-tigen Rezipienten erhöhte sich. Im Gegensatz zu Schindlers Liste, aber auch anderen historischen Spielfilmen, die sich narrativer Mittel wie Zeitsprünge oder Flashbacks bedienen, sind die Zeitebenen in Der Untergang diffuser strukturiert und weniger stark voneinander abgeschlossen. Erfahrungszeitpunkt des Zuschauers, Interview-Zeitpunkt 2002 und Spielfilmhandlung 1942 und 1945 überlappen sich und werden nicht klar voneinander getrennt. Das bedeutet, dass zwar auf der Handlungsebene und in der Ausstattung durch Kostüme und Szenerie eine klare Einordnung der verschiedenen Zeitstufen gegeben ist, gleichzeitig aber ein permanenter Subtext der Gleichzeitigkeit eingewoben wird.Die Kameratechnik trägt in Der Untergang einen Hauptteil der Herstellung von Au-thentizität. Der Film ist fast durchgängig ‚aus der Hand’ gefilmt. In der Regel wird eine Handkamera verwendet, die vom Kameramann auf der Schulter getragen wird.41 Das Bild wackelt nach Schwenks oder mitunter auch unvermittelt leicht nach. Es gibt kaum kontinuierliche Kamerafahrten oder statische Aufnahmen. Stattdessen wirken die Abfolgen besonders in Szenen, in denen sich sie Kamera bewegt, holprig. Zusam-men mit den dominierenden Halbnah- und Nahaufnahmen erweckt diese Technik den Eindruck eines Dokumentarfilms. Sie suggeriert Realismus und dokumentari-sche Nähe.42 Diese Technik wurde in Der Untergang so detailgetreu durchgeführt, dass sogar bei Explosionen die Kamera wie durch eine Druckwelle mitwackelt. Wie sonst auch in den Kriegs- und Kampfszenen von Wochenschauberichten erkenn-bar, werden so die Effekte des Krieges auf die anwesenden Kameraleute nachge ahmt.

40 Beispiele für einen Typus von Dokumentarfilm, der sich nur aus zeitgenössischem Farbfilm-Material speist, sind die Dokumentationen des Spiegel-Autors Michael Kloft „Der Zweite Weltkrieg in Farbe“ (Deutschland 1999, Regie: Michael Kloft) und „Das Dritte Reich in Farbe“ (Deutschland 1999, Regie: Michael Kloft).

41 Im Making-of, das sich auf der DVD-Langversion findet, sieht man, dass selbst die üb-licherweise mit einem Kran oder Dolly aufgenommenen Fahrten mit einer Handkamera gedreht wurden. Zu diesem Zweck wurde der Kameramann in einen Rollstuhl gesetzt und durch das Set gefahren. Das leichte Wackeln und die abrupten Schwenks werden so auch bei Fahrten hergestellt. hirschbiegel, oliver: Der Untergang. Premium Edition. 3 DVDs, 177 min., Deutschland 2005 (Deutschland 2004), Bonus-DVD 2, Titel 55.

42 Zur Technik des Einsatzes der Handkamera siehe zum Beispiel: kühnel, Jürgen: Einfüh-rung in die Filmanalyse. Teil 1: Die Zeichen des Films. Siegen 2004 (Reihe Medienwis-senschaften; Bd. 4), S. 157.

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Diese Technik erweckt unterschwellig den konstanten Eindruck, als sei die Filmcrew und somit der Zuschauer bei dem historischen Ereignis wirklich anwesend gewesen, und ist besonders durch den Film Der Soldat James Ryan (Originaltitel: Saving Priva-te Ryan, USA 1998, Regie: Steven Spielberg) als dominierende Kameratechnik in die Kriegsfilme seit Ende der neunziger Jahre eingeführt worden.Die Integration des Zuschauers in die Handlung wird auch anhand der Szene in Hit-lers Büro in der ‚Wolfsschanze’ deutlich. Als Traudl Junge den Raum betritt, wird sie aus leichter Untersicht in der Tür stehend gefilmt. Schuss und Gegenschuss drehen sich im folgenden Gespräch mit Hitler um einen fixen Punkt mitten im Raum aus Sitzhöhe. Dort stehen – nur durch die leicht ins Bild ragende Tischkante erkennbar – ein Tisch und ein Stuhl. Der Eindruck ist also derjenige, dass der Zuschauer schon im Raum sitzt bevor Traudl den Raum betritt und im Folgenden von seiner Warte aus dem Gespräch folgt. Der Rezipient wird nicht wie ein unbeteiligter Betrachter eines Bühnengeschehens installiert, sondern als Beteiligter, der in seiner Rezeption in das Geschehen auf der Leinwand involviert werden kann.Identifikationsangebot und Glaubwürdigkeit der Filmhandlung werden ferner mit Elementen unterstützt, die nicht in erster Linie historisch-authentisch sind, sondern sich in gegenwärtigen oder universellen Diskursen bewegen. Ohne hier zu frei in-terpretieren zu wollen, steht die Anfangsszene, in der sich fünf Frauen auf die Stelle als Sekretärin des ‚Führers’ bewerben, von denen am Ende eine von Adolf Hitler persönlich ausgewählt wird, visuell in einem Zusammenhang mit den noch immer sehr beliebten Casting-Shows. Als Traudl Junge die Stelle erhält, fallen die übrigen Bewerberinnen ihr sofort um den Hals, beglückwünschen sie und freuen sich mit ihr. Von Groll oder Enttäuschung ist hier ebenso wie bei der Verkündung von Jury-Entscheidungen bei Popstars oder Deutschland sucht den Superstar keine Spur.In dieser Hinsicht lassen sich also viele Szenen finden, die durch mediale Vorerfah-rungen der Rezipienten des Films authentifiziert werden, seien dies nun Erfahrun-gen mit heutigen Medienbildern oder vergangenen.

der Film und die medialisierung der Erinnerung

Die herausgearbeiteten Authentifizierungsstrategien zeigen, dass Der Untergang in seiner Etablierung als Repräsentation der Vergangenheit in erster Linie auf medialen Konsumerfahrungen seiner Rezipienten basiert. Er stellt zu diesem Zweck die Art und Weise der Aufnahme von dokumentarischem Filmmaterial des Zweiten Welt-krieges nach und setzt seine Handlung, die in punkto Kostüm, Szenenbild und his-torischer Darstellung akkurat nachgebildet ist, dort hinein. In dieser Vorgehensweise zeigt sich stark der Zeitpunkt der Filmproduktion. Der Film kann nicht mehr an persönliche Erfahrungen der Zuschauer anknüpfen, da die meisten Zeitzeugen be-

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reits tot sind. Deshalb setzt er sich zu den Informationen über den Zweiten Weltkrieg in Verbindung, die einem Publikum nach Ende des kommunikativen Gedächtnisses noch zugänglich sind: Film- und Fernsehbilder.Der Untergang fällt in seiner Darstellung der Vergangenheit nur auf sich selbst als Film zurück. Er bildet einen autoreferentiellen, geschlossenen Kosmos. Dies lässt sich an den Bildern auf Magda Goebbels Schreibtisch erkennen, auf denen nicht Adolf Hitler und die Goebbels-Kinder aus den vierziger Jahren abgebildet sind, son-dern Bruno Ganz mit Bürstenbart und die Schauspieler in den Rollen der Goebbels-Kinder. Diese Geschlossenheit wird durch die Rahmung der Handlung noch ver-stärkt. Selbst zum Schluss, als die Lebensgeschichten der beteiligten Personen noch einmal auf Texttafeln eingeblendet werden, sind nur Fotos der Schauspieler daneben zu sehen.43

Der Film inszeniert die Eindeutigkeit eines Geschichtsbildes im Grunde mit einem postmodernen medialen Zitatenschatz. Dabei nimmt der Zuschauer wie ein stiller Beobachter an den gezeigten Situationen teil und wird durch die Kameraperspektive zum Zeitzeugen.44 Eine Distanzierung des Zuschauers oder Reflexion des Gezeigten wird nicht erlaubt, der Rezipient wird selbst Teil der Handlung.Am Beginn des 21. Jahrhunderts lässt sich eine so starke Medialisierung des Ge-dächtnisses an NS-Zeit und Zweiten Weltkrieg erkennen, dass ein Film sich in seiner Bezugnahme auf diese Zeit allein auf andere Medien stützen kann. Der Untergang muss sich nur noch die Charakteristika anderer Medien zunutze machen. Eichin-gers Film steht damit eindeutig am Ende des kommunikativen Gedächtnisses zum Nationalsozialismus, da er einerseits einen Zeitzeugen bericht aufzeichnet, um ihn der Nachwelt zu erhalten (bezeichnenderweise ist dieser Zeitzeuge – Traudl Junge – beim Filmstart schon tot) und andererseits sich in seiner Bezugnahme auf das Jahr 1945 auf vorhandene Medien stützt, indem er sie imitiert. Das bedeutet, dass auch sein Publikum an diese Medien gewöhnt sein muss, und dass es den Nationalsozialis-mus deshalb nur noch medial vermittelt erfahren haben kann. Der Film Der Unter-gang ist somit als Zeichen einer finalen Entkörperung von Gedächtnisinhalten zu be-

43 Diese Vorgehensweise ist nicht zwangsläufig nötig, um eine geschlossene Erzählung zu bilden. In der Serie „Holocaust“ werden gerade Originalfotos in die fiktive Spielfilm-handlung eingebracht, die auf das historische Ereignis als Referent verweisen. Bei dem Film „Schindlers Liste“ gehen in einem dokumentarischen Teil am Schluss des Films die Schauspieler zusammen mit den überlebenden Zeitzeugen, die sie spielen, zu Oskar Schindlers Grab und legen einen Stein darauf. In beiden Fällen wird ein Bruch der Realitätsillusion des Mediums Film riskiert, um eine stärkere Referenz zum historischen Ereignis aufzubauen. „Der Untergang“ bleibt vor diesem Hintergrund jedoch eigenartig geschlossen.

44 heer, hannes: Hitler war’s. Die Befreiung der Deutschen von ihrer Vergangenheit. Berlin 2005, S. 22.

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trachten. Problematisch ist der Film nicht aufgrund seiner Interpretation des Endes des Dritten Reiches, sondern wegen seiner Inszenierung als historisches Doku ment. Er verführt sein Publikum dazu, ihn als ‚wahre’ Repräsentation seines historischen Themas anzuerkennen, ohne seinen Konstruktcharakter filmisch zu reflektieren und sich einer diskursiven Auseinandersetzung zu öffnen.45

literatur (auswahl)assmann, Jan: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. München 1992.

Bösch, Frank: Film, NS-Vergangenheit und Geschichtswissenschaft. Von „Holocaust“ zu „Der Untergang“. In: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 55.1 (2007), S. 1–32.

Frei, norbert: 1945 und wir. Das Dritte Reich im Bewusstsein der Deutschen. München 2005.

Fröhlich, margit/schneider, christian/visarius, karsten (hrsg.): Das Böse im Blick. Die Gegenwart des Nationalsozialismus im Film. München 2007.

niven, Bill: Germans as Victims. Remembering the Past in Contemporary Germany. New York/Basingstoke 2006.

welzer, harald: Das kommunikative Gedächtnis. Eine Theorie der Erinnerung. München 2002.

45 Diese Gefahr sieht Andreas Kilb darin gegeben, dass Szenen aus „Der Untergang“ schon jetzt in Fernsehberichten als Beleginstanz für deren historische Darstellung verwendet werden. kilb, andreas: Ein Mahnmal, ein Reißer, ein Meisterwerk? Das Ende Adolf Hit-lers im Kino: „Der letzte Akt“ von Georg Wilhelm Pabst und „Der Untergang“ von Oliver Hirschbiegel im Vergleich. In: Fröhlich, Margit/ Schneider, Christian/ Visarius, Karsten (Hrsg.): Das Böse im Blick. Die Gegenwart des Nationalsozialismus im Film. München 2007, S. 87–97.

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Der Bolognaprozess gleicht einer Artischocke, ist exotisch, mühsam zu entblättern und es dauert einige Zeit bis man zum eigentlichen Essen kommt, das Herz quasi entdeckt. Und auch das Besteck für den Verzehr ist nicht festgelegt – nimmt man Messer, Gabel oder Löffel oder alles gleichzeitig und welcher Dip passt am besten zu einer Artischocke. Welches Blatt entferne ich zuerst und findet sich hier schon etwas Artischockenfleisch? Den Bolognaprozess mit seinen vielen Facetten zu erfassen, be-deutet also wie beim Artischockenessen ausdauernd zu sein, um ihn verstehen zu können oder gar umzusetzen, um ihn zu genießen.Die Umgestaltung des europäischen Hochschulraumes bis 2010 hatten sich 1997 die Bildungsminister/innen in Lissabon vorgenommen und das 1998 in der Sorbonne-Erklärung verdichtet. Dies trägt den anmutigen Titel „Harmonisierung der Architek-tur der europäischen Hochschulbildung“. Höhepunkt war dann 1999 die Erklärung von Bologna The European Higher Education Area an der 29 Staaten beteiligt waren. Der Teilnehmerkreis hat sich bis heute ständig erweitert und geht jetzt über Europa hinaus – unsere Artischocke wird somit zu einem Exportschlager.Für diesen Aufsatz soll der Bolognaprozess in den Blick der Geschlechterperspektive

Tagungsberichte

anmerkungen zur geschlechterperspektive im „Bolognaprozess“

Rita Stein-Redent

Hochschule Vechta (IBS), Vechta E-Mail: [email protected]

schlüsselwörterBologna-Prozess, Europa, Gender Mainstreaming

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genommen werden. Diese erscheint mir allerdings bis zum jetzigen Zeitpunkt eher ein Dip für die Artischocke zu sein, ob gut oder weniger gut schmeckend, überlasse ich den Verzehrenden. Die Betrachtung der Vielzahl von Erklärungen, die zu und nach Bologna erschienen sind, führt zu der Feststellung, dass außer – soweit mir bekannt - in der Berlin Erklä-rung Realising the European Higher Education Area vom 19.9. 2003 keinerlei Hinwei-se auf Gender zu finden sind (und Berichte über das Zustandekommen dieser Erklä-rung sprechen davon, dass auch dies nur durch die Intervention der BuKoF geschah). In der Präambel des Berlin-Kommuniques ist also nach zulesen: „Die Ministerinnen und Minister bekräftigen erneut die Bedeutung der sozialen Dimension des Bologna-Prozesses. Die Notwendigkeit, die Wettbewerbsfähigkeit zu verbessern, muss mit dem Ziel, der sozialen Dimension des Europäischen Hochschulraumes größere Bedeutung zu geben, in Einklang gebracht werden; dabei geht es um die Stärkung des Zusammenhalts sowie den Abbau sozialer und geschlechtsspezifischer Ungleichheit auf nationaler und europäischer Ebene. In diesem Zusammenhang bekräftigen die Ministerinnen und Mi-nister ihre Auffassung, dass Hochschulbildung ein öffentliches Gut und eine vom Staat wahrzunehmende Verpflichtung ist.“1 Mit dem in diesem Zitat wiederzufindenden Halbsatz wird auf die Rolle der Hochschulen im Hinblick auf den Abbau sozialer und geschlechtsspezifischer Ungleichheiten verwiesen, den diese bei der Umsetzung des Bologna-Prozesses einnehmen sollten. Warum ich dieses als Möglichkeit und sehr vorsichtig formuliere, darauf werde ich an andere Stelle zurückkommen.Es ist schon irgendwie seltsam, dass es bis heute wenige Untersuchungen dieses weit-reichenden Reformvorhaben und dessen Auswirkungen auf Frauen und Männer im Sinne des Gender Mainstreaming existieren, und dass sich auch kaum Konturen ei-ner europäischen Frauenförderung, abgleitet aus diesem Prozess, erkennen lassen, obgleich Gender Mainstreaming schon vor Bologna da war, genauso wie nationa-le Frauenförderpolitik in den einzelnen europäischen Ländern. So findet sich zum Beispiel in der Studie zu Bachelor und Master in Deutschland. Empirische Befunde zur Studienstrukturreform von Stefanie Schwarz-Hahn und Meike Rehburg, die im September 2003 erschien und die im Auftrag des BMBF erstellt worden war, auf den 127 Seiten kein Hinweis auf geschlechtsspezifische Zuordnung zu den BA und MA Studiengängen.Bologna stellt die Weichen, damit neue Studienstrukturen der Länder unter einander vergleichbarer werden.2 Dieser Reformprozess wird als eigener europäischer Prozess

1 www.bmbf.de/pub/berlin_communique.pdf.

2 Der Bologna-Prozess auf der internationalen Ebene entwickelt sich laufend fort. Die Mitgliedsländer ziehen anlässlich der zweijährlichen Ministertreffen Bilanz in nationa-len Fortschrittsberichten, den so genannten Länderberichten: Länderberichte 2003 auf

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geführt mit eigenständiger Profilgebung, die nicht nur europäisch sondern gleichzei-tig weltweit kompatibel sein soll. Der Bolognaprozess hat damit eine tief greifende Umorientierung des Hochschulwesens zum Ziel.Mit Bologna wird eine neue Ebene der bildungspolitischen Eigenverantwortlichkeit der Hochschulen eingeführt: Hochschulen werden Anbieter von Studienangeboten, die am Markt orientiert sind; werden Akteure auf diesem ökonomisch geführten Wettbewerbsmarkt. Hochschulen müssen dabei immer mehr unternehmerische Kompetenz und Fähigkeit beweisen, wobei politische Rahmenbedingungen zu be-achten sind. Im Wettbewerb mit andern Hochschuleinrichtungen werden Qualitäts-sicherung, Standardisierung und Akkreditierung von Studienangeboten zu wichti-gen Indikatoren. Man darf nicht zurückbleiben, denn der Markt fordert dies ein. Es gibt ausreichend Mitwettbewerber auf diesem. Hochschulen müssen daher auf das zweistufige System umstellen, ob gewollt oder nicht und den Bologna-Prozess mit-tragen, um nicht außen vor zu bleiben.

Einige anmerkungen zur dynamik des Bologna-Prozesses

Unser Hochschulsystem und unsere Hochschulpolitik werden zunehmend europä-isch gestaltet. Hochschulen befinden sich hierbei Spannungsfeld von Internationali-sierungsprozessen, denen sie ausgesetzt zu sein und Internationalisierungsprozessen, die sie selbst betreiben. Bologna ist hierfür das Zauberwort, das dieses Spannungsfeld auflösen und die europäischen Hochschulreformen vorantreiben soll. Die Schaffung eines gemeinsamen Hochschulraumes ist das angestrebte Ziel. Der Erfolg des Bolo-gna-Prozesses wird auf den zweijährig stattfindenden Ministertreffen von Bologna, Prag, Berlin und Bergen gemessen. Dabei fällt auf, dass selbst die Fachöffentlichkeit den Prozess in seiner gesamten Tragweite nicht einschätzen kann, denn die verab-schiedeten Kommuniques weisen nur auf ausgewählten Problemfeldern hin. Bolog-na macht deutlich, dass es um mehr als um Mobilitäten und abgestufte Studiengänge geht. Bologna geht über Europa hinaus und wird erstaunlicherweise von den Unter-zeichnerstaaten nicht nur bejaht sondern auch energiereich umgesetzt.Diese Umsetzung ist um so erstaunlicher, da die Reformen von Bologna ohne klare Zuständigkeit der EU erfolgen, gleichwohl eine stringente europäische Hochschul-politik verfolgen mit bestimmten Etappen und Strukturen und mit dem Jahr 2010 als Zielparameter. Nicht zu vergessen ist der Umstand, dass Bologna sich auf strategische

der Website der Ministerkonferenz in Berlin, Länderberichte 2005 auf der Website der Ministerkonferenz in Bergen. Für den europäischen Vergleich: Zweijährlich erstellt die European University Association (EUA) mit Förderung der Europäischen Union die so genannten Trends-Studien (Trends in European Higher Education). Sie analysieren und vergleichen den Stand der Umsetzung in den nationalen Hochschulsystemen. Letzte Veröffentlichung ist der Trends IV-Report.

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Bereiche konzentriert, die zum Gelingen der Lissabonstrategie beitragen sollen. Die Lissabon-Strategie ist eine neue strategische Zielsetzung der EU, die der Europäische Rat auf einer Sondertagung in Lissabon im März 2000 beschlossen hat. Demnach soll die EU bis zum Jahre 2010 zum wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissens-basierten Wirtschaftsraum der Welt gemacht werden.Die Zukunft und Gestaltung des einheitlichen europäischen Hochschulraumes3 ver-fügt nicht nur über eine genaue Zielrichtung, sondern hängt im wesentlichen von gesellschaftlichen, politischen und sozialen und heute vermehr auch von demografi-schen Rahmenbedingungen ab, von nationalen Bildungskonzepten, der Notwendig-keit von Wettbewerb. Zur Erreichung dieses Ziels bedarf es einer globalen Strategie, die den Übergang zu einer wissensbasierten Gesellschaft durch Bildungsgestaltung gewährleistet – in mancher Hinsicht auch durch die Schaffung einer völlig neuen Bildungslandschaft. Und sicher wird die erwartete EU-Verfassung auch bestimmte Rahmen hierfür setzen.Ein weiteres Konzept, das durch die Lissabon Strategie für EU-Politiken so auch für den Bildungsbereich und damit auch für Bologna vorgeben wurde, ist die offe-ne Methode der Koordinierung. Bei der offenen Koordinierungsmethode werden auf EU-Ebene gemeinsame Zielsetzungen und Leitlinien definiert, die dann auf natio-naler und regionaler Ebene umgesetzt werden. Die Umsetzung bleibt den einzelnen Mitgliedstaaten überlassen, die EU nimmt eine ständige Bewertung der Ergebnisse aus den Mitgliedstaaten vor. Die offene Koordinierungsmethode wird im Einklang mit dem Subsidiaritätsprinzip angewendet. Diese Methode gibt unter Berücksichti-gung der jeweiligen Zuständigkeiten den Rahmen für die Bildungszusammenarbeit zwischen den EU-Mitgliedstaaten vor. Sie will zu einer Annäherung der nationalen Politiken beitragen und besteht unter anderem in der gemeinsamen Ermittlung und Festsetzung der zu erreichenden Ziele und gemeinsam festgelegten Messinstrumen-ten. Im Bildungsbereich wird besonderes Augenmerk auf die gemeinsamer Förde-rung von Innovationen im Rahmen der Bildungs- und Berufsbildungsprogramme. Mit der Anwendung der offenen Koordinierungsmethode in der Bildung soll die Au-tonomie der EU-Mitgliedstaaten und das Bestreben nach einem europäischen Bil-dungsraum mit einer kohärenten Bildungspolitik4 gewährleistet werden.

3 Der Europäische Rat in Barcelona (März 2002) hat die Bildung wiederum als wichtigen Politikbereich der EU definiert, indem er deklariert, dass sich das europäische Sozialmo-dell auch auf einen hohen Bildungs- und Ausbildungsstand stützt und dass die europäi-schen Systeme der allgemeinen und beruflichen Bildung bis 2010 zu einer „weltweiten Qualitätsreferenz“ werden sollen.

4 Die offene Methode der Koordinierung ist „als Instrument für die Entwicklung einer kohärenten und umfassenden Strategie für die allgemeine und berufliche Bildung im Rahmen der Artikel 149 und 150 des Vertrages“ zu führen. Dokument 6365/02.EDUC 27, Brüssel 20.2.2002, Kap.4.

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Neben diesem Politikinstrument der die Realisierung des Bologna Prozesse, der den oben genannten Spagat schaffen soll, noch einige Anmerkungen zur Legitimation des Bologna Prozesses: Der Vertrag von Bologna und die damit in Verbindung stehenden Dokumente sind keine völkerrechtlichen Verträge, sondern politische Vereinbarun-gen der Ministerinnen und Minister, sind also Absichtserklärungen ohne rechtliche Verbindlichkeit mit Auswirkungen auf die nationale Hochschulpolitiken der Unter-zeichnerstaaten. Das heißt der Bologna Prozess ist nicht Ergebnis des Willensbildung innerhalb der EU sondern läuft neben der europäischen Bildungspolitik ab, scheint aber heute wesentlichster Inhalt dieser zu sein. Als Nichtjuristin, sei es mir gestattet, auf einige Folgen zu verweisen – so gibt es zum Beispiel keine rechtlich verbind-lichen Ansprüche für die Ausgestaltung der nationalen Hochschulpolitik und der Beziehungen zwischen den Signatarländern. Offen bleiben auch solche Fragen, wie sich die Beziehungen zu den außereuropäischen Unterzeichnern wie zum Beispiel Armenien, Azerbaidshan, Georgien gestalten oder woher der Bologna Prozess seine Legitimation bekommt, auch Angesichts der Föderalismusdebatte, die derzeit durch unsere Lande geht, wollte sagen, geistert? Und nicht zuletzt stellt sich die Frage, wie sieht die Beteiligung der für Bildungspolitik zuständigen Einrichtungen bei der Um-setzung von Bologna im einzelnen aus? Gibt es schon so etwas wie eine neue Bil-dungskultur im Hinblick auf die Umsetzung des Bolognaprozesses?Es ist schon erstaunlich, dass dieser Prozess trotz dieser eben genannten Einwände ein hohes Maß an politischer Verbindlichkeit ausgelöst hat und mit so viel Energie wie, erwähnt, umgesetzt wird. Er hat nicht nur zu einer europaweiten Neuordnung des gesamten Politikfeldes Higher Education geführt, sondern auch der Bildung ei-nen neuen Stellenwert zu kommen lassen. An dieser Stelle ist weiter zu denken und zu überlegen ob es nicht weiterer Legitimationen bedarf, um den Bologna Prozess zu dem gewünschten Ergebnis zu bringen und vorhandene Schwachstellen zu be-seitigen.

wie sieht es nun mit der geschlechterperspektive aus?

Die Europäische Union hat die Gleichstellung der Geschlechter stets auf die Tages-ordnung gesetzt, auch weil die Gleichbehandlung von Frauen und Männern zu einer wichtigen gesellschaftspolitischen Zielkomponente wurde. Anfängliche Maßnahmen in diesem Bereich zielten darauf ab, die Funktionsweise des europäischen Binnen-marktes zu verbessern (Art. 141 EG-Vertrag: gleiche Arbeit mit gleicher Bezahlung unabhängig vom Geschlecht). Auch wenn diese Überlegung sehr stark durch den Markt und wirtschaftliche Interessen geprägt waren, wurden zunehmend Konzepte entwickelt, die auf die Gleichberechtigung der Geschlechter fokussierten. Dies bele-gen zahlreiche Gender-Mainstreaming-Aktivitäten (Art. 2 und Art. 3 Abs. 2 EGV), die die Rückkopplung der Gleichstellungsfrage auf die Politikgestaltung ins Visier

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genommen haben. Der Ansatz des Gender Mainstreaming geht auf die 4. Weltfrau-enkonferenz in Peking zurück. Durch die Unterzeichnung des Amsterdamer Vertra-ges ist Gender Mainstreaming für alle Mitgliedsstaaten der EU verbindlich gewor-den. Gender Mainstreaming bezeichnet den Prozess und die Vergehensweise, die Geschlechterperspektive in die Gesamtpolitik aufzunehmen. Es soll einen Beitrag zum Abbau von Geschlechterhierarchien leisten. Durch die Implementierung ent-sprechender Maßnahmen und Instrumente in allen Politikbereichen soll Gender Mainstreaming eine umfassende Handlungsstrategie zur Umsetzung von Chancen-gleichheit für Frauen und Männer in allen Bereichen des öffentlichen Lebens dar-stellen. Dabei sollen die unterschiedlichen Perspektiven der Geschlechter ins Zent-rum von Organisationen, deren Leitbilder, Programme und Inhalte gerückt werden. Wissen über Geschlechterfragen soll in das gesamte politische Handeln einbezogen werden und Geschlecht (Gender) wird damit zur zentralen Kategorie für die Lösung politischer, sozialer und ökonomischer Sachverhalte und Problemlagen. Frauen- und Geschlechterfragen finden damit nicht mehr nur in Sonderprogrammen Berücksich-tigung, sondern sollen in alle politische Programme und Aktionen integriert werden. Das letzte FRP war ein Versuch zu gendern.Geschlechterdemokratie und Gender Mainstreaming weisen zwar Parallelen auf, sind aber nicht gleichzusetzen. Beide Ansätze verfolgen das Ziel die bestehenden patriarchalisch intendierten Geschlechterverhältnisse zu verändern. Die EU will ihr formuliertes Ziel einer Chancengleichheit erreichen und dabei Gender Mainstrea-ming als Instrument einsetzen. In diesem „work in progress Prozess“ befinden wir uns heute in den EU-Mitgliedsländern.Der Definition von Gender Mainstreaming liegt die Annahme zugrunde, dass sich die Lebenssituation von Frauen und Männern gravierend unterscheidet. Dazu ge-hören alle Unterscheide zwischen Männern und Frauen in der Verteilung wichti-ger Ressourcen (Geld, Raum, berufliche Position, Zugang zu neuen Technologien, Gesundheitsversorgung), sowie unterschiedlichen Normen und Werte. Nicht jede Dimension ist allerdings für Frauen und Männer gleichermaßen von Bedeutung.Mit dem Gender Mainstreaming Ansatz wird die traditionelle Frauen- und Gleich-stellungspolitik erweitert, da hier die Realisierung der Chancengleichheit der Geschlechter zur allgemeinen Aufgabe aller politischen Handlungsfelder und Maßnahmen wird. Dazu gehören geschlechtsbezogene Lebenslagen, Diskriminie-rungsaspekte, Lebensentwürfe beider Geschlechter, die Gegenstand politischer Ent-scheidungen und Auseinandersetzungen werden. Diese Politikstrategie beinhaltete die Ausgestaltung einer umfassenden Politik von Geschlechterverhältnissen, nicht mehr allein nur der Frauengleichstellungspolitik. Die neu zu schaffenden Studien-strukturen durch die Harmonisierung des europäischen Hochschulraumes bieten Möglichkeiten neue Chancen für Frauen bereit zu halten. Das setzt aber voraus, dass

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ausreichend Informationen, Beratung und Netzwerkbildung bei deren Umsetzung zugelassen und auch in Anspruch genommen werden. Der Bologna- Prozess ist kein selbstlaufender Prozess, sondern muss aus Geschlechterperspektive ständig einge-klagt werden.

Folgerungen oder wie kommt der dip auf die artischocke

Reformen, wie sie durch Bologna hervorgerufen worden sind, bedeuten Modernisie-rung der Hochschulen in Studium und Lehre, sind gleichzeitig interessengeleitet und beinhalten auch die Neuverteilung der Ressourcen.Der Reformprozess, so wie er sich derzeit gestaltet, wird prozessorientiert und de-zentral geführt, d.h. es gibt, wie schon erwähnt, keine verbindlichen Regelungen. D.h. auch die verschiedenen Bundesländer verfügen über verschiedene Lösungs-ansätze. Es hat zur Zeit den Anschein, dass die Reformen einen Top-down Ansatz folgen, ohne dass sie durch einen Bottom-up Prozess nachhaltige Unterstützung erfahren, es eine Diskrepanz zwischen Durchführenden und „Betroffene“ gibt. Die gegenwärtige Bildungspolitik in unserem Lande räumt insbesondere den Akteuren auf der Hochschulebene ein hohes Maß an Entscheidungsfreiheit ein, wenn es um die Ausgestaltung der neuen Studiengänge geht. Besonders die Qualitätssicherung der neuen Studiengänge durch ihre Akkreditierung scheint sehr wichtig zu sein. Gleichwohl bleibt die Frage offen, wie unter anderem die sozialen Dimension von Bologna und die Wahrung der Chancengleichheit von Frauen und Männern und Konsequenzen der neuen Ausbildungsstruktur und auch deren -inhalte in die Quali-tätssicherung aufgenommen werden. Solche Anforderungen bestehen auf Grundlage der Artikel 2 und 3 des EG-Vertrages, der die Gleichstellung von Frauen und Män-nern als generelle Aufgabe definiert. Selbst wenn die so genannte Genderrichtlinie 2002/73/EG die Hochschulausbildung im Gegensatz zur Berufsausbildung nicht zu berücksichtigen scheint, besteht eine EG-verfassungsrechtliche Notwendigkeit, bei der Umsetzung des Bologna-Prozesses die Geschlechterperspektive zu beachten. Ob die Bildungsministerinnen und -minister in der Bologna-Erklärung den Geschlech-terbezug schlicht übersehen haben, muss offen bleiben. Im Übrigen bestehen auch binnenstaatliche Anforderungen, etwa auf der Grundlage des Art.3Abs.2 GG, des §3Abs.3 HochschulG NRW so wie aufgrund des AGG – Allgemeines Gleichbehand-lungsgesetz aus dem Jahre 2006.Ein großes Manko hierfür sind umfassende Studien zum einen über die Folgen von BA und MA und zum anderen auch über die Sensibilität geschlechtsspezifischer Perspektiven im Hinblick auf die Umsetzung von Bologna. Das hängt auch damit zusammen, dass es kaum ein Hinterfragen geschlechtsspezifischer Stereotype in der Hochschullandschaft gibt, dass in Hochschulen ein hohes Maß von Autonomie exis-tiert und Fürsorgeaspekten weniger Raum eingeräumt wird, dass Verantwortungen

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über Reformen oder Neuerungen an Hochschulen Sache der scientific communi-ty sei. Fakt ist aber, dass auch an den Hochschulen eine geschlechtsspezifische Ar-beitsteilung da ist, mit der gesellschaftlich üblichen Anerkennungsverteilung. Bolo-gna bietet, die Chance daran was zu ändern, birgt aber gleichzeitig die Gefahr, dass deine geschlechtsspezifische Studienfachwahl vielleicht zunehmen wird, dass neue geschlechtsspezifische Hierarchien im Hochschulsektor durch Bologna entstehen. Daher ist in die Standards und in die Kriterien bei der Bewertung und Akkreditie-rung der neuen Studiengänge die Geschlechterdimension einzubeziehen als neuer Dimension für die Hochschulentwicklung durch Bologna. Die Umgestaltung der Bil-dungs- und Forschungseinrichtungen sollten im Interesse von Frauen und Männern geschehen und helfen eine Geschlechterdemokratie als normatives Ziel und Leitbild für die hochschulpolitische Praxis zu erreichen.Man kann nur hoffen, dass die Dipzubereitung für die Artischocke gemeinsam ge-lingt, für alle Beteiligten schmackhaft ist - wenn nicht gibt es ja noch Kräuterlikör zur Verdauung.

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Am 30. November 2007 fand am Institut für Bildungs- und Sozialwissenschaften der Hochschule Vechta eine internationale Tagung zum Thema „Der europäische Hochschul- und Forschungsraum: Traditionen, Gemeinsamkeiten und Perspektiven weiblicher Bildung“1 statt. Referentinnen waren Wissenschaftlerinnen aus der Russi-schen Föderation, Österreich und Deutschland2. Zu den Teilnehmerinnen gehörten unter anderem auch Studierende der Hochschule Vechta, die diese Tagung mit dem gestellten Thema als Möglichkeit ansahen, vertiefende Erkenntnisse darüber zu er-halten. Die Vorträge spannten einen großen Bogen zum Thema weiblicher Bildung in den beteiligten Ländern. Es zeigte sich besonders im Hinblick auf den Austausch der Erfahrungen, dass eine „Europäisierung“ der Bildungs- und Hochschulland-schaft auch in der russischen Föderation stattfindet und das der Bologna-Prozess mit seiner Umsetzung und seinen Auswirkungen ist eine gemeinsame Perspektive

1 Die Tagung fand im Rahmen einer Gastprofessur für Frauen- und Geschlechterforschung im Rahmen des Maria Goeppert-Mayer Programm des Landes Niedersachsen im Winter-semester 2007/2008 an der Hochschule Vechta statt.

2 Organisiert wurde die Tagung von Frau PD Dr. Ch. Schües und Frau PD Dr. R. Stein-Redent.

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tagungsbericht

Traditionen, Gemeinsamkeiten und Perspektiven weiblicher Bildung

Rita Stein-Redent

Hochschule Vechta (IBS), Vechta E-Mail: [email protected]

schlüsselwörterBildung, Gender, Russland

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beinhaltet. Dabei ist, so die geführte Tagungsdiskussion die Verankerung der Frau-en- und Geschlechterforschung und die Herstellung einer Geschlechtergerechtigkeit in die Internationalisierung des Bildungs- und Hochschulbereiches unbedingt mit einzuordnen.Der Stellenwert von Bildung und des Zugangs zu Bildung für beiderlei Geschlechter wird von den Tagungsteilnehmerinnen hoch bewertet und wird als sozialer Mobi-litätsfaktor in allen entwickelten Gesellschaften verstanden. Bildung, insbesondere Hochschulbildung genießt in allen Gesellschaften einen hohen Stellenwert.

Frauen- und geschlechterforschung in russland

Dr. Walentina Uschakowa von der Universität St. Petersburg, Leiterin des Zentrums für Frauen- und Geschlechterforschung an der Fakultät für Soziologie hatte sich das Thema: Frauen- und Geschlechterforschung in der soziologischen Ausbildung und modernen Politik in Russland ausgewählt. Sie verwies darauf, dass die Geschichte der Frauenbewegung in Russland reich an Ereignissen und Traditionen ist, wenn es um die Durchsetzung weiblichen Interessen geht. Die sowjetische Zeit wird in der Geschichtsschreibung von heute als Politik eines staatlichen Feminismus bezeichnet. Es sind viele Erfahrungen vorhanden mit positiven Erfolgen aber auch mit negati-ven Folgen, die es gilt wissenschaftlich auszuarbeiten. Im 20. Jahrhundert erhielten Frauen alle Menschen – und Bürgerrechte und haben diese auch glänzend wahr-genommen. Was das Bildungsniveau und die Einbeziehung in die Erwerbstätigkeit außerhalb von Haus und Familie angeht, waren die Frauen Russlands Weltmeister. Gleichzeitig kann das sowjetische Geschlechtermodell auf der einen Seite als „zwei-fache Beschäftigung“ von Frauen charakterisiert werden und andererseits als „Verge-sellschaftung“ des Mannes. Bezug nehmend auf die Familie, wurde eine rigide Politik des Paternalismus umgesetzt. Unter den Bedingungen der postsowjetischen Refor-men kann man eine Widerbelebung patriarchaler Geschlechtermodelle ausmachen.Unter den Bedingungen der Globalisierung entsteht ein neues Problem: die Einbe-ziehung von Frauen in kriminelle Geschäfte (Rauschgifthandel, Menschenhandel, Ausbeutung und Segregation auf dem Arbeitsmarkt). Als Ausweis positiver Ten-denzen kann man die Wiederbelebung der Frauenbewegung in Russland nennen, die aktive Teilnahme von Frauen in unternehmerischen Tätigkeiten, das hohe Ad-aptionspotenzial von russischen Frauen. Die Geschlechterpolitik ist Kern der Fa-milien- und Sozialpolitik. Ihre Ausarbeitung ist Gegenstand einer Zusammenarbeit von Wissenschaft, staatlichen Einrichtungen und Strukturen der Bürgergesellschaft. Frau Uschakowa wies in ihrem Vortrag darauf hin, dass Ziele und Aufgaben, die im Rahmen eines langfristigen Nationalen Programms von der russischen Regierung (verabschiedet 2006) für das Erreichen einer Geschlechtergleichheit festgeschrieben wurden, teilweise auch Ergebnis der Aktivitäten des Sektors für die Realisierung ei-

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ner Politik für gleiche Rechte und gleiche Möglichkeiten von Frauen und Männern in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens bei der Stadt St. Petersburg sind. Dieser Sektor wurde im März 2001 im Rahmen des Komitees für Beschäftigung und soziale Sicherung der Bevölkerung durch die Regierung der Stadt St. Petersburg ge-schaffen mit dem Ziel alle Anstrengungen in staatlichen Strukturen genauso wie in gesellschaftlichen Vereinigungen und nichtkommerziellen Organisationen zu bün-deln und zu koordinieren.2005 wurde an der Fakultät für Soziologie der St. Petersburger Staatlichen Universi-tät das erste MA- Programm für „Gender Studies“ in Russland eröffnet, im Rahmen derer hochqualifizierte Spezialisten mit einer Genderkompetenz ausgebildet werden. Das Programm ist Ergebnis der Zusammenarbeit von Wissenschaftlerinnen der Pe-tersburger Staatlichen Universität, der Universität Wien (Österreich) und der Uni-versität Bielefeld (Deutschland) im Rahmen eine Tempus-Tacis-Programms, finan-ziert durch die EU. Diese hier ausgebildeten Spezialisten können auch in Russland mit der Umsetzung der Politik von Gender Mainstreaming beginnen, die auf eine (Re)organisation, Verbesserung, Entwicklung und Veränderung politischer Prozesse ausgerichtet ist mit dem Ziel der Erreichung gleicher Möglichkeiten für Frauen und Männer auf allen Ebenen des politischen und gesellschaftlichen Lebens.

geschichte weiblicher Bildung in russland

Frau Dr. Lomonossowa von der soziologischen Fakultät der Universität St. Peters-burg beschäftigte sich in ihrem Referat mit dem Thema: Geschichte weiblicher Bil-dung in Russland im 20. Jahrhundert. Sie zeigte, dass es Möglichkeit des Zugangs zur mittleren Bildung für Frauen in der Mitte des 19. Jahrhunderts in Russland gegeben hat, die als Fundament für ihr „Recht auf Hochschulbildung“ anzusehen sind.1859 eröffnete zum Beispiel die St. Petersburger Universität und danach andere Univer-sitäten des Landes den Frauen die Möglichkeit als Gasthörerinnen an der Univer-sitätsausbildung teilzunehmen. 1863 – erließ das Ministerium für Volksbildung per Dekret ein Verbot des Erhalts einer Hochschulausbildung für Frauen. Durch private Initiativen der Frauenbewegung in Russland hat sich ein System „Höherer Frauen-kurse“ Ende des 19. Anfang des 20. Jahrhunderts herausgebildet. In ihrem Referat verwies Frau Lomonossowa darauf, dass besonders die historischen Ereignisse in der Zeit von 1905 bis 1918 zur Einbindung von Frauen in das System universitärer Bildung führten und letztlich kam es im Ergebnis zu einer Ausweitung der Bildungs-möglichkeiten für Frauen. Frau Lomonossowa unterstrich, dass mit Gründung der UdSSR die Integration von Frauen in das System der Hochschulausbildung in der eine der grundlegenden Charakteristiken dieser Gesellschaft mit darstellt und bis in die heutige Zeit gilt. Frau Dipl.Soz. Dipl.Soz. Lydia Plöger vom Interdisziplinä-ren Zentrum für Frauen- und Geschlechterforschung der Universität Bielefeld hielt

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einen Vortrag zum Thema: Hochschulabsolventinnen – zwischen Hochschule und Arbeitsmarkt. Der Beitrag beleuchtete die Berufseinstiegssituation von Hochschul-absolventinnen, zeigte Probleme und Handlungsstrategien auf. Ein erfolgreicher Einstieg in ein Berufsfeld hängt, so Frau Plöger, unter anderem von einer Reihe nicht beeinflussbarer Faktoren ab. So hat eine Bewerberin weder auf die konjunktu-relle Arbeitsmarktlage, auf sektorale Besonderheiten der Personalrekrutierung noch auf die Muster traditioneller Einstiege in akademische Berufslaufbahnen einen Ein-fluss. Als hochqualifizierte Frau muss sie unter anderen Konkurrenzbedingungen als ihre männlichen Mitbewerber ihre Qualifikation auf dem Arbeitsmarkt anbieten. In dem Beitrag ging es Frau Plöger insbesondere um Fragen der Einflussnahme und um mögliche Handlungsstrategien für Absolventinnen von Hochschulen in diesem Arbeitsmarkteinstiegsprozess.

vereinbarkeit von Familie und Beruf – ein Frauenthema?

Im Anschluss daran beschrieb Frau Mag.a Hildegard Steger-Mauerhofer aus Wien ehem. Mitarbeiterin im Renner-Institut, Abtlg. Frauenpolitik, jetzt tätig in den Frau-enstudien Wien in ihrem Referat zum Thema: Die Vereinbarkeit von Beruf und Fa-milie – warum ein Frauenthema? die Situation von Frauen in Österreich. So wurde zum Beispiel 1996 in Österreich von der damaligen Frauenministerin Drin. Helga Konrad eine Kampagne mit dem Slogan „Ganze Männer machen Halbe-Halbe – Ganze Männer gefragt“ initiiert; damit verbunden war ein Gesetzesinitiative zum Ehe- und Familienrecht, die die partnerschaftliche Teilung der Versorgungsarbeit verankern sollte. Warum ist dieses Thema so zentral? – fragte Frau Steger-Mauerho-fer – weil, so die Referentin, die Ungleichverteilung der Versorgungsarbeit zwischen den Geschlechtern, massiv Frauenbenachteiligung erzeugt. Beispielsweise in Bezug auf Chancen am Arbeitsmarkt, Karrieremöglichkeiten, Einkommen und politische Repräsentanz von Frauen. Ziel war es, Gesetze zu schaffen und Bewusstseinsprozesse durch die Kampagne „Halbe/Halbe“ einzuleiten. Damit sollte zur Gleichberechti-gung und Gleichstellung beigetragen werden, um dem Ziel der Geschlechterdemo-kratie näher zu kommen. Auf dem Weg zur Geschlechterdemokratie gibt es aber, so die Referentin, viele Hindernisse, zum Beispiel ein wesentliches ist: die Trennung in öffentlich und privat – diese Trennung erzeugt nach wie vor hierarchische und patriarchale Verhältnisse zwischen den Geschlechtern und erhält diese aufrecht. Ge-gen diese „Unordnung“, die laufend Ungleichbehandlung hervorbringt, ist der Staat aufgefordert sich einzumischen. Gegen diese Einmischung des Staates in so genannte „private Angelegenheiten“ haben sich die konservativen Kräfte in Österreich stark zur Wehr gesetzt. Dass die Einmischung des Staates jedoch erforderlich ist, zeigen gesetzliche Maßnahmen gegen Gewalt an Frauen und Kindern. Auch dieses Unrecht kann nicht privat bleiben, dem Staat obliegt es gesetzliche Regelungen zu schaffen.

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Die geschlechtsspezifische Rollenzuschreibung: der Frau Haus, Herd, Kinder- und Pflegebetreuung – also privat; dem Mann der öffentliche Raum und die Erwerbstä-tigkeit – also öffentlich, sollte mit der Kampagne und der Gesetzesinitiative aufge-brochen werden. Eine Geschlechterdemokratie zu erreichen, so das Fazit von Frau Steger-Mauerhofer bedeutet, den Frauen die Hälfte der bezahlten Arbeit und der Macht, den Männern die Hälfte der unbezahlten Arbeit und der Familie zukommen zu lassen.

Frauen im Paradigma der „wissensgesellschaft“

Frau Mag.a Marion Löffler vom Institut für Politikwissenschaft der Universität Wien hielt ein Referat zum Thema: Frauen im Paradigma der Wissensgesellschaft. „Wis-sensgesellschaft“, so Frau Löffler, steht für eine Variante der (kommenden) postin-dustriellen Gesellschaft. Im Paradigma der Wissensgesellschaft ist Wissen – forma-le Bildung und andere Formen von Wissen – die zentrale ökonomische Ressource. Bildung in der Wissensgesellschaft gilt immer weniger als öffentliches Gut, sondern als private und zu privatisierende Aneignung von Produktionsmitteln in Form der Erhöhung des individuellen Humankapitals. Durch lebenslanges Lernen obliegt die Verantwortung für die Aktualität des (sehr schnell veralteten) Wissens und damit die Verwertbarkeit am Arbeitsmarkt dem/der einzelnen ArbeitnehmerIn. An österrei-chischen Universitäten, so die Referentin, hat die Frauenstudierendenquote heute die 50%-Marke erreicht. Die geschlechtsspezifische Bildungsselektion findet also nicht mehr im formalen Hochschulzugang statt, sondern zum einen über die nach wie vor sehr ungleich verteilte Studienwahl und zum anderen in späteren Phasen der Be-rufs- bzw. Wissenschaftskarrieren. Die Quote der Professorinnen in Österreich und in Deutschland hingegen liegt bei 10%, was weit hinter die Studentinnenzahl fällt. In der feministischen Forschung zu Universität und Wissenschaft wurde diese Unterre-präsentation von Frauen in der Forschung auf informelle Hürden und die korpora-tistische – um nicht zu sagen männerbündische – Organisationsform der Universitä-ten sowie ihrer Rekrutierungsstrategien zurückgeführt. Auch die Auswahlverfahren für Spitzenpositionen in der Wirtschaft folgen analogen Mustern. In der Diskussion um die entstehende Wissensgesellschaft werden nun, nach Frau Löffler, zwei völlig disparate Tendenzen beschrieben. Was die Universitäten betrifft, so werden – nicht zuletzt um deren Konkurrenzfähigkeit zu steigern – externalisierte und formalisierte Verfahren der Leistungskontrolle und Evaluation forciert. Dieser Prozess der Forma-lisierung bislang informeller nichtöffentlicher Verfahren könnte gerade für Frauen eine Verbesserung der Zugangschancen zu universitären Stellen bedeuten. Die Situ-ation am Arbeitsmarkt stellt sich jedoch geradezu gegenläufig dar. Der Arbeitsmarkt der Wissensgesellschaft braucht nicht nur Arbeitskräfte, die einen akademischen Bil-dungsabschluss vorweisen, sondern solche, die sich jederzeit umorientieren können.

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Diese Veränderungen der Arbeitswelt werden seit geraumer Zeit unter den Schlag-worten „Flexibilisierung“, „Prekarisierung“ und nicht zuletzt „Informalisierung“ dis-kutiert. In ihrem Beitrag hat Frau Löffler den Versuch unternommen, die scheinbar gegensätzlichen Tendenzen einer Formalisierung im Bildungs- und Wissenschafts-system und einer Informalisierung am Arbeits- und Forschungsmarkt zusammen zu denken, und ihre wechselseitigen Bedingungen herauszuarbeiten. Diese Tendenzen sind dabei in einen größeren Kontext der Transformation von Staatlichkeit, von Po-litik und nicht zuletzt von Geschlechterverhältnissen einzubetten.

Jugend im heutigen russland

Frau Prof. Dr. Irina Mavrina von der Pädagogischen Universität Omsk widmete sich in ihrem Referat der Jugend im heutigen Russland. Die heutigen russischen Jugend-lichen sind die Jugendlichen, die die Generation der Nachperestroika-Zeit bildet. Sie sind nach 1989 geboren, haben Erziehung und Sozialisation unmittelbar mit dem Aufbau der neuen gegenwärtigen russischen Gesellschaft erfahren. Anders als ihre Eltern befinden sie sich nicht im Konflikt die sowjetische Vergangenheit zu verurtei-len bzw. gut zu heißen. Sie finden sich in der heutigen Gesellschaft zurecht. Dieses Zurechtfinden ist einerseits geprägt durch den Zusammenbruch von Verhaltens-mustern der sowjetischen Zeit und der Suche nach neuen Lebensinhalten und ande-rerseits durch die komplexen und nicht immer reibungslosen sozio-ökonomischen Umgestaltungen der Gesellschaft in den 1990er Jahren, die ihre Kindheit und Jugend bestimmten. Ihre Eltern können/konnten kaum ihre Werte, Sozialisationserfahrun-gen an sie weitergeben, da ihre Biografie eine völlig andere ist. Die russische Jugend ist, so Frau Mavrina, zusammenfassend zweifach zu charakterisieren – zum einen sind Jugendliche sehr pragmatisch mit einer ausgeprägten Verantwortung für ihre eignes Leben, Unabhängigkeit, Mobilität und dem Wissen um den hohen Wert von Bildung für eine gesicherte Zukunft. Zum anderen gibt es keine Schutzräume für Jugendliche mehr, sind die Fremdeinflüsse auf die Jugendlichen gewachsen so zum Beispiel der zunehmende Materialismus in der russischen Gesellschaft, an dem die Jugendlichen partizipieren wollen und bei nicht Gelingen zu abweichenden Verhal-ten führen kann. Die sichtbare und unsichtbare soziale Spaltung der Gesellschaft in unten und oben ist für Jugendliche in Russland im alltäglichen Leben immer präsent unabhängig ob sie in einer Großstadt wohnen oder auf dem Lande. Heute stellt sich für russische Jugendliche immer mehr die Frage nach Bildung. In ihrer Haltung zu Bildungsfragen sind nach einer Studie aus dem Jahre 2005 russische Jugendliche ge-spalten, nicht was Bildung angeht, sondern im Hinblick auf ein lebenslanges Lernen. Hier unterscheiden sich Jugendliche aus großen Städten von den Jugendlichen, die in kleinen und mittleren Städten bzw. in Dörfern wohnen. Frau Mavrina wies in ihrem Beitrag darauf hin, dass die oben erwähnte zweifache Charakterisierung der

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russischen Jugendlichen aber nicht im Widerspruch zueinander steht sondern mit-einander korreliert. Auf der einen Seite zeigt sich ein Pragmatismus im Festhalten von russischen traditionellen Werten wie zum Beispiel bei Familienbildungs- und –planungsprozessen, der an der Repräsentation einer aktuellen Studie durch Frau Mavrina deutlich wurde. Zum anderen sind das starke Bekenntnis russischer Ju-gendlicher zur russischen Nation und zur russischen Orthodoxie ein Verweis auf die „Zerrissenheit“ und Suche der Jugendlichen nach Werten und Orientierungen für ihre Lebensgestaltung. In dieser Hinsicht gibt es keinen Generationenkonflikt, da auch ihre Eltern sich dieser Werteorientierung, so Frau Mavrina, anschließen.

geschlechterforschung in russland

Frau Mag.a Therese Garstenauer von der Universität Wien hielt zum Abschluss der Tagung einen Vortrag mit dem Titel: Frauen- und Geschlechterforschung in Russ-land: Isolation, Aufholen, Autonomie? Sie wies darauf hin, dass Frauen- und Ge-schlechterforschung in der Sowjetunion bzw. in Russland um 1990 unter Bezeich-nungen wie gendernye issledovanija oder feminologija gewissermaßen neu gegründet wurde. Dabei wurde zum Teil sehr stark auf westliche (also US-amerikanische und westeuropäische) Arbeiten Bezug genommen. Durch die weitgehende Isolation sow-jetischer Geistes- und SozialwissenschaftlerInnen von ihren westlichen KollegInnen konnten viele Diskussionen von denen manche schon über 20 Jahre lang geführt worden waren, erst wenn überhaupt, dann mit großer Verspätung rezipiert werden. Die Rezeptionslage in den 1990ern – und wohl auch noch darüber hinaus – ist, so Frau Garstenauer, charakterisiert durch selektive Übersetzungen, die oft nur frag-mentarisch und in zweifelhafter Qualität vorliegen. Sie richtete in ihrem Referat ih-ren Blick auf solche Ungleichzeitigkeiten um zum einen nach den Konsequenzen von voneinander isolierten Entwicklungen zu fragen. Zum anderen fragte sie auch nach wie durchgängig die Isolation tatsächlich war, inwiefern es trotz widriger Umstände eine gegenseitige Rezeption gab. Schließlich widmete sie sich in ihrem Referat auch solchen Fragestellungen wie zum Beispiel, welche sowjetischen Traditionen der Er-forschung von Geschlecht(erverhältnissen) gibt es und in welcher Weise wird von der neuen Frauen- und Geschlechterforschung der 1990er Jahre darauf Bezug ge-nommen oder gerade nicht.

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das abkommen von wassenaar

Non-Proliferation als Herausforderung für die Inter-nationale Gemeinschaft

Martin Schwarz

Hochschule Vechta (IBS), Vechta E-Mail: [email protected]

schlüsselwörterProliferation, Exportkontrolle, COCOM, Vertrag von Wassenaar

Der Begriff der Proliferation und mehr noch die damit gekennzeichnete Problema-tik hat sich inzwischen in der Fachliteratur etabliert. Im engeren Sinne wird unter dem aus dem Lateinischen und Englischen abzuleitenden Begriff der Proliferation die Weitergabe und der Besitz von Kernwaffen oder die Mittel zu deren Herstellung an Staaten verstanden, die zuvor noch keine Atomwaffen entwickelt hatten. Längst muss der Begriff jedoch auf biologische und chemische Waffen sowie ballistische Trägersysteme erweitert werden, die ebenfalls zur massenhaften Vernichtung von menschlichem Leben eingesetzt werden können. Da sie dank des technologischen Fortschritts wesentlich leichter zu erlangen sind, als etwa die notwendigen Komponen-ten zum Bau einer so genannten Schmutzigen Bombe (angereichertes Uran unter-halb der kritischen Masse und konventioneller Sprengstoff), haben sich die Risiken in diesem Bereich regelrecht potenziert. In dieser Hinsicht ist Maier zuzustimmen, der zwei Arten von Proliferation unterscheidet: Bei der vertikalen Proliferation geht es um die zahlenmäßige Zunahme oder qualitative Verbesserung von Waffen und Waffensystemen innerhalb eines Landes. Als Auslöser gilt der Wettlauf von Staaten, wie dies nahezu idealtypisch im Kalten Krieg vorexerziert wurde. Dagegen meint die horizontale Proliferation die Verbreitung von Waffen und Waffensystemen auf Staa-

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ten, die diese bislang nicht besaßen – entweder, weil sie nicht über die notwendigen technologischen Voraussetzungen verfügten, oder weil sie von den Atommächten gezielt am Erwerb gehindert wurden.1 Das Nichtverbreitungsregime, das bis zur Dis-membration der Sowjetunion in Kraft war, wird durch die sich seither etablierende multipolare Weltordnung erneut herausgefordert. Umso dringlicher stellt sich die Frage, inwieweit die bestehenden Spielregeln heute noch die Problemlagen abbilden können und inwieweit Modifizierungen, wie sie etwa 1995 in Wassenaar erfolgten, Er-folg versprechend im Sinne einer Stabilisierung der Verhältnisse sein können.

die bisherige sicherheitspolitische Zielsetzung

Damit wird eine Problematik thematisiert, die noch aus der Zeit des Kalten Krie-ges herrührt, in dem sich die beiden Atommächte USA und Sowjetunion durch die reine Existenz ihrer Atomwaffenarsenale und Erstschlagpotenziale in Schach hielten. Angesichts der Konsequenzen, die sich aus dem exklusiven Besitz und der Kontrolle von waffenfähigen angereicherten Uran ergeben, hatten sich die Supermächte schon frühzeitig darum bemüht, die absolute Zunahme von Kernwaffen bzw. deren inter-nationale Verbreitung unter Kontrolle zu bringen. Innerhalb weniger Jahre zogen je-doch Großbritannien (1952), Frankreich (1960) sowie China (1964) gleich, womit die Vetomächte des Sicherheitsrates auch offiziell zu Atommächten avancierten. Spätes-tens mit dem Zusammenbruch der UdSSR und damit dem „Auseinanderbrechen von Staatsgewalt und Nuklearstatus“2 hat die Diskussion um die Folgen der Proliferation eine neue Dimension angenommen. Lange blieb unklar, wer die Kontrolle über das sowjetische Atomwaffenarsenal antreten würde. Die seither festzumachenden struktu-rellen Veränderungen des internationalen Systems haben mit dazu beigetragen, dass Argentinien, Brasilien, Iran, Südkorea und Taiwan an der Schwelle zur Atommacht stehen, während Indien, Pakistan, Südafrika und Nordkorea diesen bereits überschrit-ten haben. Israel hat entsprechende Gerüchte nie bestritten und kann heute zwei-fellos zur Gruppe der Atommächte zweiter Ordnung gerechnet werden. Seitdem im Zusammenhang mit den Anschlägen vom 11. September 2001 auf das World Trade Center in New York Pläne terroristischer Gruppierungen bekannt wurden, für zu-künftige Attentate auch atomwaffenfähiges Spaltmaterial bzw. radiologische oder „schmutzige“ Bomben verwenden zu wollen, hat die Diskussion erneut an Brisanz

1 vgl. maier, herbert: Massenvernichtungswaffen und Weltordnung. Der Wandel der Nichtverbreitungspolitik der USA seit dem Ende des Ost-West-Konfliktes. Hamburg 2007, S. 36 f.; dazu ergänzend schaber, annette: Nukleare Rüstungskontrolle und Abrüstung. In: ApuZ, Nr. B-50-51, S. 3–9, hier S. 3.

2 vgl. häckel, Erwin: Internationale Nuklearpolitik/Proliferation. In: Wichard Woyke (Hrsg.): Handwörterbuch internationale Politik. Bonn 82000, S. 179–190, hier S. 185.

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gewonnen.3 Angesichts der Entschlossenheit von islamistischen Gruppen, über das Internet einem globalen Publikum adressiert, erscheint diese Bedrohung durchaus realistisch, zumal das notwendige Know-how auf dem Markt verfügbar ist. Hierauf nimmt auch die VN-Sicherheitsratsresolution Nr. 1373 (28.09.2001) Bezug, welche die Staatengemeinschaft unter anderem auffordert, den Informationsaustausch über den Handel mit Waffen, Sprengstoff und sicherheitssensitivem Material sowie über die von Massenvernichtungswaffen im Besitz von Terroristen ausgehenden Gefahren zu intensivieren.4 Offenbar sind alle bisherigen nationalen wie internationalen Anstren-gungen, mittels der Nachrichtendienste, der Koordination der Strafverfolgungsbehör-den und der Verschärfung der Ausfuhrbestimmungen die Verbreitung von Techno-logie und spezifischem Wissen zur friedlichen respektive militärischen Nutzung der Kernspaltung zu nutzen, nur mäßig erfolgreich gewesen.Dies bezieht sich insbesondere auf die Praxis der anerkannten Atommächte und füh-renden Industrienationen, nukleares Spaltmaterial und sensitive Anlagen des Brenn-stoffkreislaufes, wie etwa Wiederaufbereitungsanlagen und Forschungsreaktoren, an Staaten weiterzugeben, die sich im Gegenzug einer strikten internationalen Kontrolle unterwerfen. Für diesen Zweck wurde in Wien 1956 eigens die Internationale Atom-energie-Organisation (IAEO) gegründet, die über den im März 1970 in Kraft getre-tenen Atomwaffensperrvertrag im Prinzip alle Vertragsstaaten zu regelmäßigen frei-willigen Kontrollen der Nuklearanlagen verpflichtet. Mit Ausnahme Kubas, Indiens, Israels, Pakistans und des Vatikans sind derzeit 187 von 192 Staaten dem Sperrvertrag beigetreten und wie Pakistan, obwohl Nichtunterzeichner, als Mitgliedstaaten der IAEO an deren Auflagen gebunden. Der Atomwaffensperrvertrag oder auch Nichtverbrei-tungsvertrag, wie er in der Literatur zuweilen genannt wird, hat eine eher zwiespältige Bilanz, womöglich deshalb, weil er die Signatarstaaten in zwei Gruppen einteilt. Die-jenigen, die bei Inkrafttreten des Vertrags schon im Besitz von Nuklearwaffen waren, wurden als solche festgeschrieben und erhielten so Exklusivrechte, die nicht übertrag-bar waren. Die in Artikel VI vorgeschriebene Abrüstung der eigenen Arsenale blieb dagegen eine nicht zu sanktionierende Handlungsempfehlung. Gleiches gilt im Prin-zip auch für das in Artikel 1 festgeschriebene Verbreitungsverbot von spaltbarem Material außerhalb des Kreises der anerkannten Atommächte. Gleichzeitig räumt der

3 Die Frage, wie einem solchen Szenario wirkungsvoll zu begegnen ist, mündete in die Diskussion, welche Kompetenzen den Strafermittlungsbehörden zugestanden werden, um dem nationalstaatlichen Auftrag der Gefahrenabwehr zu erfüllen. Insbesondere die Kontroverse, ob Folter ein legitimes Instrument sein kann, um Menschenleben zu retten, hat bis heute mehr Fragen aufgeworfen als beantwortet. Vgl. hier beispielsweise nitsch-ke, Peter (hrsg.): Rettungsfolter im modernen Rechtsstaat? Eine Verortung. Bochum 2005; Brecher, Bob: Torture and the ticking bomb. Malden, Mass. 2007.

4 vgl. Resolution des UN-Sicherheitsrates Nr. 1373 (28.09.2001). 19.03.2008, http://www.ducumentarchiv.de/in/ 2001/res_un_sicherheitsrat_1373.html

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Vertrag den Zugang zu nuklearem spaltbarem Material, entsprechender Technologie und dem notwendigen spezifischen Wissen ein, sofern ein Staat die friedliche und in-ternationalen Kontrollen offen stehende Nutzung garantiert. Die IAEO hat allerdings keine eigenen Kompetenzen, bei Verstößen Sanktionen zu verhängen, sondern ist hier-bei vom Sicherheitsrat abhängig.Daran hat auch das seit 1997 gültige Zusatzprotokoll wenig geändert. Ursprünglich sollte der Vertrag nach 25 Jahren ohnedies auf den Prüfstand gestellt werden, weshalb die USA angesichts des Zusammenbruchs der UdSSR und der Erkenntnisse aus dem Zweiten Golfkrieg (Aufdeckung des Nuklearprogramms des Irak) schon 1992 auf eine Entfristung drängten. Der Sperrvertrag ist dabei nur ein Teil in einem Mechanismus, der die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen verhindern und die Zusammenar-beit in den Bereichen Abrüstungskontrolle, Schutz von sensitiven Einrichtungen und vertrauensbildenden Maßnahmen ermöglichen soll. Gerade die Beispiele Iran, Irak, Libyen, Nordkorea oder Pakistan haben aber erneut gezeigt, dass ein Nichtverbrei-tungsregime nur dann funktionsfähig ist, solange allein die offiziell nach Wien ge-meldeten Anlagen für Kontrollen zugänglich sind. Nicht gemeldete Anlagen dürfen nicht kontrolliert werden. Und die Entfernung der Kontrollsiegel der IAEO war weder für Iran noch für Nordkorea wirklich folgenreich. Im Fall Nordkoreas, das als erstes Vertragsmitglied überhaupt den Atomwaffensperrvertrag aufgekündigt hat und seither mehr oder weniger offen die Nachbarn Südkorea und Japan bedroht, verhindert die Vetodrohung Chinas ein konzises Vorgehen der UN, die als einzige mit der notwen-digen Legitimität ausgestattet wären, beispielsweise ein Embargo zu verhängen – das unweigerlich die Bevölkerung und nicht die Nomenklatur des letzten stalinistischen Regimes treffen würde. Stattdessen setzt Peking auf die Sechser-Gespräche, bei denen China, Japan, Russland, Südkorea und die USA gemeinsam mit Nordkorea eine Lö-sung suchen. Der Atomwaffenversuch vom Oktober 2006 hat allerdings erneut die fragile Sicherheitsstruktur in der Region deutlich gemacht. Zudem stellt die Rüstung Irans, Nordkoreas und Libyens mit Hilfe Pakistans einen klaren Bruch internationa-ler Verträge dar, woraufhin der „Vater der Atombombe“, Abdul Qadeer Khan, auf internationalen Druck hin entlassen und sogar angeklagt wurde; ein Affront für die Regierung Musharraf.5 Streng genommen müsste man die gleichen Maßstäbe auch auf das von Präsident Bush im Rahmen der Aktualisierung der Nationalen Sicherheits-strategie im September 2002 angekündigte Projekt der Mininukes anwenden. Ziel ist es, atomare Gefechtsköpfe mit minimaler Sprengkraft und konventioneller Zündung zu entwickeln, die gegen die als neuartig empfundene Bedrohung des internationalen Terrorismus zum Einsatz kommen sollen, gleichzeitig aber auch ein neues nukleares

5 vgl. Buchsteiner, Jochen: Proliferation. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 03.04.2004.

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Wettrüsten einzuläuten drohen und die Gefahr der Proliferation potenzieren.6

aktuelle veränderungen der Zielsetzung

Proliferation bezeichnet jedoch längst nicht mehr ausschließlich den Nuklearbe-reich, sondern schließt mittlerweile in Bezug auf die seit den Zeiten des Ersten Welt-kriegs schon verfügbaren C- und B-Waffensysteme auch den Bereich der Biologischen und Chemischen Kampfstoffe ein. So gilt die Verabschiedung des Chemiewaffenüber-einkommens von 1997 – ein ähnlicher Vertrag war schon 1925 abgeschlossen wor-den – als notwendiger Schritt, um auch hier das Prinzip der Nichtverbreitung mit Blick auf die gestiegene terroristische Bedrohung zu modernisieren und eine ent-sprechende Proliferation zu unterbinden. Als Auslöser für die weitere Entwicklung auf diesem Gebiet kann der Sarin-Anschlag gelten, den die Aum-Sekte im März 1995 auf die Tokioter U-Bahn verübte. In diesem Zusammenhang wurde deutlich, dass die Ausgangsstoffe für Nervengase wie Sarin, Tabun oder VX-Gas trotz aller Gegen-maßnahmen (Meldepflicht, Zollkontrollen, etc.) selbst in größeren Mengen auf dem Weltmarkt zu beziehen sind. Und über das Internet ist das notwendige Know-how frei verfügbar, obwohl inzwischen 187 Staaten den Vertrag paraphiert und 181 ratifiziert haben.In diesem Zusammenhang wurde, ähnlich wie schon im Zusammenhang mit den Mininukes, unter dem Schlagwort der Counterproliferation die Forderung laut, im Kriegsfall das Überleben der eigenen Streitkräfte selbst dann noch sichern und den Konflikt gewinnen zu können, wenn die andere Seite Massenvernichtungswaffen ein-setzen sollte. Nonproliferation betont den Aspekt der Prävention, Counterprolifera-tion meint dagegen den der Protektion.7 Folgerichtig sieht der Vertrag die komplette Zerstörung der vorhandenen Arsenale und Produktionsanlangen bis 2012 sowie eine umfassende Kennzeichnungspflicht für die Ausgangsstoffe der chemischen Industrie vor, die in die nationalen Exportvorschriften übernommen wurden. Der vergleich-bare Vertrag zum Verbot biologischer Kampfstoffe, den 175 Staaten paraphiert und 155 ratifiziert haben, ist dagegen schon seit 1975 in Kraft. Vergleicht man die drei Vertragswerke, die im Zentrum der Bemühungen um ein Verbot der Proliferation stehen, ist das Chemiewaffenübereinkommen das Ausgereifteste, auch wenn immer wieder Verstöße publik werden, bei denen vermeintlich harmlose Lieferungen wie etwa diejenigen von Anlagen zur Erzeugung von landwirtschaftlichen Chemikalien

6 vgl. krause, Joachim u.a.: Wohin gehen die USA? Die neue Nationale Sicherheitsstrate-gie die Bush-Administration. In: ApuZ, Nr. B-49 (2002), S. 40–46; the white house: The National Security Strategy of the United States of America, September 2002. 20.03.08, http://www.whitehouse.gov/nsc/nss.pdf.

7 vgl. maier, heribert: Massenvernichtungswaffen und Weltordnung. Hamburg 2007, S. 38.

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in Verruf geraten. Gleichzeitig gibt es Bestrebungen, die einzelnen Vertragswerke zu bündeln und effektiver zu gestalten, wie gerade das Wassenaar-Abkommen gezeigt hat, in dem sich die bislang 33 Signatarstaaten – unter ihnen auch Russland und die USA – verpflichtet haben, den Transfer von kriegstauglicher wie konventioneller Technologie zu reglementieren.

das abkommen von wassenaar

Mit Ende des Kalten Krieges und der sich beschleunigenden Globalisierung wurde deutlich, dass das Kontrollregime der COCOM-Staaten8 der neuen multipolaren Welt-ordnung nicht mehr gewachsen war. Insbesondere die immer zahlreicheren regiona-len Konfliktherde und die damit einhergehende steigende Nachfrage nach konventio-nellen Waffensystemen bzw. von sogenannten dual-use-Gütern führten dazu, dass die COCOM-Mitgliedstaaten im November 1993 in Den Haag das Ende von COCOM und die Gründung einer Nachfolgeorganisation beschlossen, die sich aber weiter-hin auf die COCOM-Liste stützen sollte. Eine entsprechende Vereinbarung wurde am 30.09.1994 im niederländischen Wassenaar getroffen, die auch von den zuvor lediglich als Beobachtern partizipierenden Staaten Finnland, Irland, Neuseeland, Ös-terreich, Schweden und der Schweiz mitgetragen wurde.In der Folge wurden drei Arbeitsgruppen eingesetzt, um die Details des neuen Ab-kommens auszuarbeiten und – wichtiger noch – mit Russland, der Tschechischen Re-publik, Ungarn, Polen und der Slowakischen Republik im September 1995 erstmalig Ostblockstaaten akkreditiert, gegen die sich die COCOM ursprünglich gerichtet hatte. Das Wassenaar-Abkommen wurde am 19.12.1995 auf der von den Arbeitsgruppen erarbeiteten Grundlage paraphiert. Außerdem kamen die Mitglieder darin überein, ein Sekretariat in Wien zu gründen, das die administrative Arbeit übernehmen soll-te. Auf dem Gründungstreffen in Wien (02. bis 03.04.1996) wurden mit Argentini-en, Rumänien und Südkorea drei weitere Mitglieder aufgenommen, so dass auf dem Folgetreffen vom Juli 1996 mit Bulgarien und der Ukraine die bis heute beständige Mitgliederzahl von 33 erreicht war. Hier wurde auch das Gründungsdokument of-fiziell verabschiedet und die Gültigkeit einer neuen und den Anforderung gerecht werdenden Kontrollliste beschlossen. In dieser Form trat der Vertrag schließlich auch in Kraft. Das Treffen vom Dezember 1996 in Wien gilt als Gründungsdatum. Vor allem zum Zweck der Transparenz in den nur zu oft undurchsichtigen Handelsbezie-

8 Der so genannte Koordinationsausschuss für mehrseitige Ausfuhrkontrollen besteht seit November 1949 und sollte im Zeitalter des Kalten Krieges den unter dem Einfluss der Sowjetunion und China stehenden Staaten den Zugang zu moderner, also waffentaugli-cher, Technologie verwehren. Auf einer eigenen Liste wurden die betroffenen Technolo-gie und Produkte gelistet, Lieferungen waren meldepflichtig und konnten unter Verweis auf die Liste untersagt werden. Das Verfahren wurde 1994 eingestellt und durch das Wassenaar-Abkommen abgelöst.

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hungen aus Scheinfirmen, Treuhändern und politischen Verflechtungen streben die Mitgliedsstaaten eine internationale Exportkontrolle zur generellen Nichtverbreitung von kriegsfähigem Material an, da das Risiko des Weiterverkaufs bzw. der Unterstüt-zung von Terrorgruppen als sicherheitsrelevant eingeschätzt wird. Folglich gilt unter anderem der Grundsatz der gegenseitigen Information zu abgelehnten Ausfuhran-trägen, während die Vertragsstaaten die alleinige Verantwortlichkeit für die nationalen Außenhandelspolitiken behalten und so ihre Souveränität wahren können. Neben dem Sekretariat in Wien sieht das Abkommen eine Plenarversammlung vor, die als maßgeb-liches Entscheidungsgremium fungiert. Die Delegierten der Mitgliedstaaten kommen hier in der Regel jährlich im Dezember zusammen, wobei der Vorsitz im gleichen Rhythmus rotiert. Die Versammlung setzt Arbeitsgruppen ein (zur Zeit: die General Working Group, die Experts Group und das Licensing and Enforcement Officers Mee-ting), welche die Beschlussfassungen in der Versammlung vorbereiten. Im Bedarfsfall können Ad-hoc-Treffen einberufen werden.Als unerwartetes Problem hat sich indes die Erstellung und Aktualisierung einer ein-heitlichen Liste (im Sinne eines Export-Monitorings) mit sensiblen Produkten wie etwa Aluminiumröhren, Gaszentrifugen oder Fermentern sowie Dienstleistungen (hier vor allem das Bankgeheimnis) erwiesen, da Ausfuhrbestimmungen, Zoll und Grenz-schutz nach wie vor Hoheitsbereiche der Signatarstaaten sind und Exportbeschrän-kungen als nachteilig für die nationalen Arbeitsmärkte gesehen werden.9 Der Vorteil des Monitorings liegt dagegen unzweifelhaft in der zentralen Erfassung nahezu aller rüstungsrelevanter Technologien inklusive der Aufarbeitung der Daten, die in dieser Dichte weit über das Leistungsvermögen der alten COCOM-Liste hinausgehen. Das gilt umso mehr, seit auch die Güter erfasst werden, die der Antifolter-Konvention un-terliegen. Bei Hinweisen auf einen Verstoß gegen das Reglement könnten im Prinzip schneller entsprechende Maßnahmen eingeleitet werden, sofern der politische Wille dies auch zulässt. Da aber die Einstimmigkeit bei der Entscheidungsfindung gilt und ein Streitschlichtungsverfahren nicht vorgesehen ist, bleibt ein Großteil der Vereinba-rungen unverbindlich.

auswirkungen der sicherheitspolitischen veränderung

Als unmittelbare Reaktion auf die gestiegene terroristische Bedrohung durch interna-tional operierende Gruppen hat die Europäische Union das Amt eines EU-Terrorbe-auftragten geschaffen. Der Aufgabenbereich der bislang lediglich mit der Sammlung und Koordination von Erkenntnissen zu grenzüberschreitenden Straftaten innerhalb der EU befassten EUROPOL wurde um den Bereich der Terrorbekämpfung erwei-

9 vgl. beispielsweise Bundesamt für wirtschaft uns ausfuhrkontrolle: Exportkontrolle (Stand 01.03.2007). 20.03.08, http://www.bafa.de/ausfuhrkontrolle/de/arbeitshilfen/merk-blaetter/kurzdarstellung.pdf.

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tert, ohne allerdings die Kompetenzen auf eigenständige Ermittlungen auszudehnen. Dies behalten sich die EU-Mitgliedsstaaten vor, die, wie etwa die Bundesrepublik Deutschland, die einschlägige Gesetzgebung mit sogenannten Sicherheitspaketen verschärft haben, welche etwa den Zivilschutz für den Fall eines ABC-Anschlages regeln. Als ein weiterer Schritt zur Absicherung der bestehenden Nichtverbreitungs- bzw. Exportkontrollregime gilt der im November 2002 unterzeichnete Haager Verhal-tenskodex gegen die Proliferation ballistischer Raketen, der sich auf konventionelle und bislang nur mäßig reglementierte Militärgüter wie Trägersysteme bezieht.

ausblick

Der Arbeitsbeginn des Internationalen Strafgerichtshofes in Den Haag bietet im Sinne der Strafrechtsverfolgung die Option, den Katalog internationaler Strafrechts-konventionen um ein Verbot von ABC-Waffen zu ergänzen. So könnten „unabhän-gig vom Ort der Straftat und der Nationalität des Straftäters“10 in jedem Signatarstaat wirksame Schritte zur Strafverfolgung bei Verstößen gegen entsprechende Exportbe-stimmungen eingeleitet werden. Möglicherweise führt dies zu der Erkenntnis, dass militärische Aktionen zur Durchsetzung der Non-Proliferation, wie noch im Falle des Iraks vorgegeben, künftig nicht mehr notwendig sind. Die juristische Aufarbei-tung kann jedoch nur dort ansetzen, wo dies die Staaten zulassen. Wassenaar ist ein Schritt in die richtige Richtung, weitere sind zu wünschen.

literatur (auswahl)häckel, Erwin: Stichwort Internationale Nuklearpolitik/Proliferation. In: Wichard Woyke (Hrsg.): Handwörterbuch internationale Politik. Bonn 82000, S. 179–190.

körner, karin: Massenvernichtungswaffen und die NATO: die Bedrohung durch die Prolife-ration von Massenvernichtungswaffen als Kooperationsproblem der transatlantischen Allianz. Baden-Baden 2003.

krause, Joachim u.a.: Wohin gehen die USA? Die neue Nationale Sicherheitsstrategie die Bush-Administration. In: ApuZ, Nr. B-49 (2002), S. 40–46.

maier, heribert: Massenvernichtungswaffen und Weltordnung. Der Wandel der Nichtver-breitungspolitik der USA seit dem Ende des Ost-West-Konfliktes. Hamburg 2007.

meier, oliver/aken, Jan van: Politische Handlungsmöglichkeiten zur Kontrolle biologischer Waffen? In: Sicherheit und Frieden. Vierteljahresschrift für Sicherheit und Frieden, Heft 2 (2003), S. 75–81.

müller, harald: Die Chance der Kooperation. Regime in den internationalen Beziehungen. Darmstadt 1993.

rieke, henning/müller, harald (hrsg.): Proliferation. Bielefeld 2004.

schaller, christian: Die Unterbindung des Seetransports von Massenvernichtungswaffen: Völkerrechtliche Aspekte der „Proliferation Security Initiative“. Berlin 2004.

10 vgl. meier, oliver/aken, Jan van: Politische Handlungsmöglichkeiten zur Kontrolle biologischer Waffen? In: Sicherheit und Frieden. Vierteljahresschrift für Sicherheit und Frieden, Heft 2 (2003), S. 75–81, hier S. 79.

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werkstattbericht

Warum sehen russlanddeutsche und ausländische Jugendliche keine Perspektiven für ihre Zukunft?

Wladimir Sterlikov

Staatliche Pädagogische Universität Omsk (Russland), Stadt Cloppenburg E-Mail: [email protected]

schlüsselwörterRusslanddeutsche, Migration, Integration

In letzter Zeit sprechen in Deutschland viele Politiker über Integration.1 Dieses The-ma ist auch für Cloppenburg von großer Bedeutung, da hier viele Jugendliche mit Migrationshintergrund leben, wie man heute sagt. Sie kommen in der überwiegen-den Mehrzahl aus Russland. Die Bürgerinnen und Bürger Cloppenburgs sehen diese Jugendlichen oft in Gruppen zusammen stehen, die strikt nach Herkunft getrennt sind. Warum das so ist? Ich denke, der Hauptgrund liegt in der Migration, welche die Familien dieser Jugendlichen nach Cloppenburg geführt hat. Sie hören jeden Tag, dass sie aus dem Ausland kommen und dass sie sich integrieren sollen. Man sollte jedoch nicht übersehen, dass diese Jugendlichen, die in der Regel zwischen 13 und 18 Jahre alt sind, ein erhebliches Protestpotential haben. Die Erfahrung zeigt immer wieder, dass Jugendliche dieser Alterskohorte genau das Gegenteil von dem machen, was Erwachsene ihnen sagen, wie die Jugend- und Migrationspsychologin Prof. Dr. Irina Mavrina (Staatl. Pädagogische Universität Omsk) und die Soziologin Prof. Dr. Stein-Redent (Hochschule Vechta) übereinstimmend feststellen. Außerdem wollen

1 Bei dem vorliegenden Artikel handelt es sich um die Dokumentation eines Forschungs-projektes an der Hochschule Vechta in Kooperation mit der Stadt Cloppenburg aus den Jahren 2007/2008

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die Jugendlichen nichts mit den Einheimischen zu tun haben, da diese für die ju-gendlichen Migrantinnen und Migranten Fremde sind und bleiben. Bemerkenswer-ter weise gilt das als das geringste Problem, wie unsere Umfrage in der Stadt gezeigt hat. Viel wichtiger ist dagegen, dass die jugendlichen Migrantinnen und Migranten in der Schule nicht lernen wollen, da sie für sich hierin keine Perspektive sehen. Diese Form von Bildungsverweigerung hat mich bewogen, im Rahmen meiner Pro-motion, die an der Hochschule Vechta von Prof. Dr. Peter Nitschke und an der Staat-lichen Pädagogischen Universität Omsk von Prof. Dr. Irina Mavrina betreut wird, eine eigene Untersuchung durchzuführen. Bedingung war, dass die Befragung sich nur an solche Familien richten sollte, deren Kinder zu ethnisch homogener Grup-penbildung neigen.Dazu habe ich 32 russlanddeutsche Familien in Cloppenburg besucht und mit ihnen über das Thema Schulabschluss gesprochen. Es sich herausgestellt, dass 93 Prozent der befragten Eltern einen in Deutschland anerkannten Hauptschulabschluss haben, während die übrigen 7 Prozent berufsbildende Schulen besucht haben. Außerdem habe ich weitere 12 ausländische Familien als Vergleichsgröße besucht. Hier hatte 1 Prozent der Eltern einen Hochschulabschluss, während 99 Prozent keinen Berufsab-schluss erlangt haben. Insbesondere Frauen in kurdischen Familien waren ohne Bil-dungsabschluss, sieht man von einer Grundschulausbildung ab. 95 Prozent der Ju-gendlichen in den befragten Familien sind auf einer Hauptschule, die verbleibenden 5 Prozent sind in der Ausbildung und besuchen die Berufsschule. Wenn Jugendliche nicht wissen, was sie nach der Schule machen sollen, wird dies mehr und mehr zu einem Problem.Dabei muss berücksichtigt werden, dass sich ausländische Jugendliche in einer be-sonderen Situation befinden. Denn laut Ausländergesetz dürfen nur diejenigen Aus-länder, die im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis sind, in Deutschland arbeiten und eine Ausbildung beginnen. Fehlt eine solche Aufenthaltserlaubnis, bleibt ihnen der Arbeitsmarkt verschlossen. Für Kinder und Jugendliche aus diesen Familien besteht jedoch ab dem 6. Lebensjahr die uneingeschränkte Schulpflicht. Das heißt also, dass Jugendliche aus Familien ohne Aufenthaltserlaubnis einen Schulabschluss erwerben können, der dann aber wertlos bleibt, so lange die Frage der Arbeitserlaubnis nicht geklärt ist.Das aber ist ein idealer Nährboden für Kriminalität, da die hiervon betroffenen Jugendlichen und diejenigen ohne Perspektive auf dem Arbeitsmarkt keine Arbeit finden oder nicht arbeiten dürfen und somit auch keine Möglichkeit haben, auf ge-sellschaftlich anerkannte Weise Geld zu verdienen. Sie sehen jedoch, wie ihre deut-schen Altergenossen und diejenigen mit Migrationshintergrund, die einen Zugang zum Arbeitsmarkt erlangt haben, Arbeit finden und somit auch Geld für Konsum zur Verfügung haben. Da die vom Arbeitsmarkt ausgeschlossenen Jugendlichen hier

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gleichziehen wollen, klafft die Schere zwischen dem Erreichbaren und dem Ange-strebten immer weiter auseinander. In Cloppenburg sind hiervon vor allem Auslän-der und Migranten betroffen, die nach Auskunft des Bürgermeisteramtes mindestens vier Jahre in Deutschland leben. Die Jugendlichen suchen sich in der Folge Alterna-tiven, um an Geld zu kommen. Dass diese Alternativen aber nicht immer legal sind, zeigt die Statistik der JVA Vechta, der zufolge beispielsweise jeder dritte inhaftierte Drogendealer Ausländer oder Migrant ist.Wie kann man dem nun entgegensteuern? Wir müssen nach Möglichkeiten suchen, wie diesen Jugendlichen eine Perspektive auf dem Arbeitsmarkt eingeräumt werden kann. Schließlich sind sie nicht qua Herkunft oder Veranlagung kriminell, sondern durch ihre Lebensumstände in diese Situation geraten. Hilfe tut also not.Deutschland hat zur Zeit große Geburtenprobleme. Unsere Gesellschaft wird im-mer älter. Laut Statistik kamen 2006 in Deutschland 1,3 Kinder pro Frau zur Welt, während es in Cloppenburg nach Auskunft des Bürgermeisteramts 1,9 Kinder sind. Cloppenburg hat damit eine der höchsten Geburtenquoten in Deutschland.Und doch sind es zu wenig Kinder, da für den Erhalt der heutigen Bevölkerung sta-tistisch 2,3 Kinder pro Frau nötig wären. Wenn diese Kinder nun geboren werden, dann muss auch ihre Zukunft in Deutschland gesichert sein. Andernfalls kommt es zu den Problemen, die wir in Cloppenburg mit Jugendlichen ohne Perspektive auf dem Arbeitsmarkt haben. Und das kostet langfristig Geld, das wiederum anderswo fehlt. Jeder Tag in der JVA wird mit 100 bis 150 Euro veranschlagt, alle befragten Familien bekommen Sozialhilfe ausgezahlt. Auch wenn man beide Aussagen nicht miteinander in Verbindung bringen darf, lebt heute bereits eine Generation von Mi-granten in Deutschland, die nicht gearbeitet hat. Eine zweite Generation ist hier auf-gewachsen und droht, dasselbe Schicksal zu erleiden.Eine Gruppe, die in diesem Zusammenhang besonders hervorsticht, sind die Russ-landdeutschen, die aus der ehemaligen Sowjetunion nach Deutschland gekommen sind. Dabei handelt es sich um Deutsche, die nach Deutschland einwandern, da sie von ihrer Abstammung her Deutsche sind, egal, aus welcher ehemaligen Sowjetre-publik sie kommen. Zwischen 1988 und 2000 sind rund 2,5 Mio. Menschen auf die-se Weise nach Deutschland gekommen. Die oben geschilderten Probleme sind also keineswegs neu, zumal die Eltern gerade in der Anfangszeit in Deutschland kaum Zeit für ihre Kinder hatten. Die Suche nach Arbeit, die Anerkennung der Berufs-abschlüsse, die Organisation des Lebens in einer völlig neuen und anderen Umwelt haben ihnen alles abverlangt, die Probleme ihrer Kinder in der Schule wurden so zum Randthema. Außerdem darf man nicht übersehen, dass viele Zuwanderer aus ländlichen Gebieten stammen, in denen Schulbildung für den normalen Alltag nicht als sonderlich hilfreich gilt. Um das wiederum verstehen zu können, muss man in

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der Geschichte Russlands einen Schritt zurückgehen.Bis 1941 wohnten an der Wolga rund 600.000 Deutsche, die eng mit dem Herkunfts-land verbunden waren, in sprachlicher wie in kultureller Hinsicht. So lehrten bei-spielsweise Professoren aus Deutschland an der Universität in Engels, der Haupt-stadt des Wolgagebietes. Die Studierenden selbst kamen aus dem Siedlungsgebiet der Wolgadeutschen. Absolventen hatten gute berufliche Perspektiven. So stand selbst die Regierungsverwaltung den Deutschen offen. Das änderte sich jedoch schlagartig mit dem 22. Juni 1941, als das Deutsche Reich die Sowjetunion angriff. Da Stalin befürchtete, die Wolgadeutschen würden der Wehrmacht in ähnlicher Weise helfen wie die Deutschen in den europäischen Staaten, die von Hitler schon angegriffen worden waren, verfügt er am 28. August 1941 die Deportation der Deutschen. Dieser Erlass besagte, dass alle 600.000 Bewohner des Wolgagebietes binnen 48 Stunden nach Mittelasien oder nach Nordrussland verbracht wurden. Das bezog sich auf die Soldaten, die in der Roten Armee gegen Deutschland kämpften. Alle arbeitsfähigen Männer wurden zum Dienst in der Arbeitsarmee gezwungen, da ihnen die regulä-re Armee verschlossen war. Unter schwersten Bedingungen arbeiteten sie 14 bis 16 Stunden pro Tag. Nur etwa jeder Zehnte hat das überlebt. Außerdem mussten sich alle Deutschen einmal in der Woche bei der Polizei melden, um die Aufsicht über die Bevölkerung zu gewährleisten. Und schließlich wurde den Deutschen eine höhere Schulbildung untersagt. Das heißt, Jugendliche durften nicht an die Universität, da die Menschenrechte ihrer Eltern teilweise außer Kraft gesetzt waren. Dieses Gesetz wurde zwar offiziell 1962 aufgehoben, blieb aber bis Ende der 1970er Jahre in Kraft. Die Begründung dafür ist relativ einfach, lag der sowjetischen Regierung doch mehr an der Arbeitsfähigkeit der Bevölkerung als an deren Bildungsgrad. Schule und Bil-dung galten also für mindestens drei Generationen als nicht erreichbar oder sogar nachteilig. Geändert hat sich das erst Anfang der 1980er Jahre, als die Schulen und Universitäten für sie wieder zugänglich wurden. Aus dieser Zeit resultiert nun ein weiteres großes Problem, denn nach überwiegender Meinung unter den befragten Eltern ist es allein die Aufgabe der Schule, Kinder und Jugendliche zu betreuen und zu erziehen. Das mag zwar nicht für alle gelten, aber es kommt oft genug vor, dass die Jugendlichen keinerlei Unterstützung von ihren Eltern erhalten.Folglich rücken auch die Eltern als Zielgruppe für eine Schulsozialarbeit in den Vor-dergrund, was auch entsprechende Anforderungen an die Ausbildung der Sozial-arbeiter/innen stellt. Im Idealfall sollten sie sowohl Deutsch als auch Russisch be-herrschen, was zu einem großen Bedarf an entsprechend ausgebildeten Absolventen führt. Dazu kommt, dass diese Fachkräfte mit den Besonderheiten der russischen Gesellschaft vertraut sein müssen, wo Jugendliche ab einem bestimmten Alter bereits als Erwachsene behandelt werden, während sie hier noch als Jugendliche gelten. Das ist nicht nur ein Problem zwischen Eltern und Schule. Das ist auch ein Problem zwi-

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Internationale Politik

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schen Jugendlichen und Eltern, weil die Jugendlichen in Deutschland und ihre Eltern in Russland aufgewachsen sind. Viele Jugendliche haben eine große Mauer zwischen sich und ihren Eltern errichtet, weil sie über unterschiedliche Mentalitäten verfügen. Wichtig ist meines Erachtens, dass die Sozialarbeiter/innen sofort in Kontakt mit den Eltern treten. Nur so kann erreicht werden, dass die Jugendlichen auch von zuhause aus die notwendigen Unterstützungen erhalten, die sie brauchen, um in der für sie immer noch fremden deutschen Gesellschaft Fuß zu fassen und einen eigenen An-fang zu wagen. Das fängt mit dem Schulabschluss an, ohne den der Arbeitsmarkt – anders als in Russland – unzugänglich bleibt. Und das endet keineswegs mit dem Er-werb sozialer Kompetenzen, die den Jugendlichen die Orientierung in Deutschland erleichtern. Ohne Elternhaus und ohne Unterstützung schon in der Schule verlieren diese Kinder und Jugendlichen den Anschluss. Wir müssen dabei einen Kompromiss suchen, da die Welt eben weder Schwarz noch Weiß ist. Kompromiss und Toleranz müssen beide Seiten lernen, nur so kann die Integration der Jugendlichen gelingen. Das haben die Befragungen der Familien in Cloppenburg bestätigt. Entsprechende Anfänge sind hier gemacht. Die Stadt hat ein Freizeitangebot entwickelt, das sich gezielt an die Jugendlichen mit Migrationshintergrund wendet. Weitere Schritte, auf dem Arbeitsmarkt etwa, sind notwendig, um die Erfolge langfristig abzusichern.

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Die Wiedervereinigung beider deutscher Staaten im Jahre 1990 stellte auch die Hochschulen der ehemaligen DDR strukturell wie inhaltlich und personell vor neue Herausforderungen. Sie bedeutete eine Zäsur ihrer Entwicklungen der letzten 40 Jahre. Dabei ist die Ausgestaltung der Wissenschaftspolitik sowohl vor bzw. nach der Wiedervereinigung kaum Gegenstand sozialwissenschaftlichen Analysen. Herr Lamprecht stellt sich mit dem zu besprechenden Buch der Herausforderung eine Lücke in diesem Forschungsfeld zu schließen und ein zeitgeschichtliches Thema zu diskutieren. Dies macht er am Beispiel der TH Karl-Marx-Stadt (Chemnitz) deut-lich von ihrer Gründung Anfang der 1950er Jahre über die Auswirkungen der III. Hochschulreform in den 1960er Jahren, über die Phase der „Erneuerung“ der DDR-Hochschulen Anfang der 1990er Jahre bis zum heutigen Tag mit dem Verweis auf den Bolognaprozess. Der Leser/in wird in dem vorliegenden Buch nicht nur in die Geschichte der TH Karl-Marx-Stadt eingeführt, sondern bekommt einen Überblick über die Entwicklung verschiedenster Hochschule der DDR – nicht nur der „Ver-gleichshochschule“ in Magdeburg.Die vorliegende Arbeit wurde 2007 von der Technischen Universität Chemnitz als Dissertation angenommen. Leider ist aus dem Buch nicht zu entnehmen, in welchem

Gelesen

wissenschaftspolitik zwischen ideologie und Prag-matismus

Wolfgang Lamprecht

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Wissenschaftsbereich Herr Lamprecht seine Qualifikation erworben hat.In einer sehr detaillierten und akribisch recherchierten Darstellung werden insbe-sondere die politischen Rahmenbedingungen und Intuitionen verschiedener Ak-teure beim Aufbau und der Entwicklung nicht nur der DDR-Hochschullandschaft geschildert. Die Quellen, die sich in dem Buch wiederfinden, können für weitere Forschung genutzt werden.Trotz unterschiedlicher politischer, ökonomischer wie gesellschaftlicher Rahmenbe-dingungen in beiden deutschen Staaten in den 1960er und 1970er Jahren lassen sich, so ein Fazit des Buches, funktionale und sogar inhaltliche Ähnlichkeiten in den Re-formbestrebungen bezüglich der Hochschulen erkennen (S. 324 ff). In einem weite-ren Fazit wird das Ergebnis der III. Hochschulreform hervorgehoben. Diese Reform hat, auch wenn diese eine Reform von oben war, die Hochschullandschaft der DDR nachhaltig beeinflusst und bis 1989 auch geprägt (S. 325, S. 327).Für eine vollständige Einschätzung der Umgestaltungsprozesse im DDR-Wissen-schaftsbetrieb wäre es wünschenswert gewesen, die vorhandene Literatur einer ana-lytischen Wertung zuzuführen. An einigen Stellen des Buches wird mit Vermutungen operiert (z. B. S. 28, 30, 46, 69, S. 107), die einer Beweisführung bedürfen. Um be-stimmte Aussagen zu verstehen und einordnen zu können, ist es notwendig, schon über Vorab-Kenntnisse über den DDR-Wissenschaftsbetrieb zu verfügen. Aber auch für Kenner/innen der DDR-Hochschullandschaft sind bestimmte Passagen im Buch nicht nachvollziehbar. So ist auf S. 239 und S. 261 von der „Facultas docendi“ die Rede, die, so der Autor, bei ihrem Nachweis zuließ, dass jemand „hauptamtlicher Hochschullehrer werden (konnte), und zwar ohne das eine akademische Graduierung in Forme einer Promotion A oder B (vor der III. Hochschulreform: Habilitation) zwin-gend vorgeschrieben war“. Hier fehlt der Beweis eines solchen im Wissenschafts-betrieb eher unüblichen Vorgehens. Auf S. 260 f. wird unter anderem auch auf die Statusgruppe der unbefristeten „wissenschaftlichen Mitarbeiter“ verwiesen, mit dem Hinweis, dass deren Zahl stetig wuchs, „weil sie einmal dem Staat ermöglichte, linien-treue Nicht-promovierte zu versorgen, dann aber auch von Professoren genutzt wurde, um fachlich benötigte, aber politisch angreifbare (Ober-)Assistenten zu halten. Mit der Einführung der unbefristeten neben den befristeten Assistenten im Jahre 1968 wur-de auch diese immer weniger zu Durchlaufstation auf dem weg zu Habilitation und letztlich zur Berufung auf einen Lehrstuhl als zunehmend zu einer eigenen Profession.“ Auch hier werden Postulate aufgestellt, die eines Beweises bedürfen und zum Teil auch nicht nachvollziehbar sind. Ohne auf weitere offenen gebliebene Frage einzuge-hen und auf nicht bewiesene Aussagen abzustellen, sei der Hinweis gestattet, dass ei-nige Begriffe in wissenschaftlich geprägten Arbeiten nicht mehr zu verwenden sind, so zum Beispiel der Begriff „Ostblock“ (S. 253); auch stimmen einige historische Aus-sagen nicht, wie zum Beispiel die Gleichsetzung der KPD mit der SED (S. 30). Der

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Begriff „Kafedra“, der auf Organisationseinheiten im sowjetischen/russischen Hoch-schulwesen Bezug nimmt, wird mit Lehrstuhl übersetzt und hat neben wissenschaft-lichen Aufgaben auch institutionelle und personelle Entscheidungsmöglichkeiten, also weitreichende Kompetenzen (S. 129). Von welchen drei Entscheidungsebenen in diesem Zusammenhang im Text die Rede ist, wird nicht erläutert. Diese Lehrstüh-le sowjetischer bzw. heute russischer Couleur sind mit den Wissenschaftsbereichen als Grundeinheiten des DDR-Wissenschaftsbetriebes nicht vergleichbar. Oder die Diskussion um die „Prinzipien“ zu weiteren Entwicklung der Lehre und Forschung an den Hochschulen der DDR wird sehr ausführlich erläutert ab S. 93; es findet sich aber kein Hinweis darauf, was unter den „Prinzipien“ zu verstehen ist. Gleichwohl ist es sehr schade, dass, selbst wenn es möglich ist, keine DDR-Literatur verwendet wird, so zum Beispiel was die Verfassungen der DDR angeht. Der Autor nutzt in die-sem Fall Sekundärquellen – Roggemann, Herwig und andere (S. 113).Da der Autor nicht nur die Auswirkungen der III. Hochschulreform auf die TH Karl-Marx-Stadt untersucht hat, sondern eine historisch angelegte Beschreibung der deutschen Wissenschaftslandschaft in Ost und West seit 1945 bis heute in den Blick nimmt, birgt dieses Vorgehen die Gefahr bestimmte Prozesse außer acht zu lassen. Es ist in einer solchen wissenschaftlichen Qualifikationsarbeit auch nicht leistbar. Als Schwäche des vorliegenden Buches ist daher darauf hinzuweisen, dass informelle Strukturen, die nicht nur den DDR-Alltag bestimmten, für die Ausgestaltung und Umsetzung politischer Entscheidungen in der DDR im Buch kaum Berücksichti-gung fanden. Vielleicht hätte die Aufnahme der vom Autor für weitere wissenschaft-lichen Arbeiten genutzten Interviews diese Schwäche beseitigt. Durch das von Herrn Lamprecht gewählte Vorhaben wird die gesamte Diskussion auf einer Makroebene geführt, quasi von außen betrachtet, was zwar deskriptiv akzeptabel ist, die Innen-perspektive von Veränderungsprozessen, die ja durch das Buch beschrieben werden sollen, aber ausblendet. So bleiben Akteurskonstellationen und Beziehungsgeflechte unbeschrieben. Gerade diese haben Netzwerke auch im DDR-Wissenschaftsbetrieb gebildet und diesen bestimmt. So gehörte zum Innenleben des Wissenschaftsbetrie-bes zum Beispiel auch, dass Forschungsvorhaben wurden unter anderem aus Reden führender DDR-Politiker herausgelesen wurden. Kader- bzw. Personalentwicklungs-pläne waren auf Jahre hinaus zu Personen erarbeitet und in Rubriken wie zum Bei-spiel Nomenklaturkader I, II usw. unterteilt worden. Ferner waren für berufstätige Frauen ab den 1960er Jahren Frauensonderstudien zugelassen, es gab Unterzeich-nungen von Einsatzbeschlüssen schon während des Studiums für eine Beschäftigung nach dem Studium und vieles mehr.Insgesamt lässt sich einschätzen, dass das vorliegende Buch für weitere mikrointen-dierte Vorhaben im zu bearbeitenden Feld Anregungen gibt. Es ist für zeitgeschicht-liche Analysen zur Hochschulforschung der DDR eine zu empfehlende Quelle.

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Wissenschaftspolitik zwischen Ideologie und Pragmatismus. Die III. Hochschulre-form (1965–71) am Beispiel der TH Karl-Marx-Stadt. Internationale Hochschul-schriften, Band 496, Münster/New York/Berlin/München, 400 Seiten, 34,90 €.Rita Stein-Redent

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autorinnen und autoren

Benedikt Berghoff, geb. 1980, Studienreferendar für das Lehramt an Gymnasien und Gesamtschulen am Studienseminar Bocholt; 2000-2006 Studium der Fächer Englisch und Geschichte sowie MIEBU (Medien- und Informationstechnologien in Erziehung, Bildung und Unterricht) an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster; Language Fellow 2002/03 am Department of German Studies des Vassar College, Poughkeepsie, New York; 2001/2002 und 2003-2006 studentische Hilfskraft am Sonderfor-schungsbereich 496: „Symbolische Kommunikation und gesellschaftliche Wertesysteme vom Mittelalter bis zur Französischen Revolution“; Titel der Hausarbeit zur Ersten Staatsprüfung: „Adolf Hitler im deutschen Spielfilm. Zur Rolle des Films im Erinnerungsdiskurs“.

marion helle, stud. phil, geb. 1980, von 2000 bis 2006 Studium der Ger-manistik, Musik und Anglistik an der Carl von Ossietzky Universität Olden-burg, anschließend Studium der Germanistik, Musik und Geographie an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster; von April 2004 bis Ende 2005 Tätigkeit als wissenschaftliche Hilfskraft im Sonderforschungsbereich 496 „Symbolische Kommunikation und gesellschaftliche Wertesysteme vom Mittelalter bis zur Französischen Revolution“ der Universität Münster, Projekt B4, „Deutsche didaktische Literatur im Mittelalter“ (Prof. Dr. Volker Honemann); ab Januar 2006: Tätigkeit als wissenschaftliche Hilfskraft am Lehrstuhl Prof. Honemann, Universität Münster, Germanistisches Institut, Abteilung Literatur des Mittelalters. Seit Februar 2007 Referendariat am Burggymnasium in Essen.

saskia hieber, Dr. phil., geb. 1967, Studium der Politikwissenschaft und Sinologie in München und London, von 1998 bis 2004 bei der Stiftung Wis-senschaft und Politik in Ebenhausen und Berlin, seit März 2004 zuständig für das Arbeitsgebiet Internationale Politik an der Akademie für Politische Bildung in Tutzing; Lehrauftrag am Geschwister-Scholl-Institut der Univer-sität München im Bereich Internationale Politik - Asien und China; 2006 Promotion zum Thema „Energiesicherheit in China“, Arbeitsschwerpunkte liegen in Fragen der Internationalen Politik, insbesondere Chinas Außen- und Sicherheitspolitik, Energiepolitik, Militärreform und Verteidigungspo-litik asiatischer Staaten, Wirtschafts- und Energiesicherheit in Asien.

anton himmelspach, geb. 1977, stud. phil., Studium der Sozialwissen-schaften, Philosophie und Geschichte an der Hochschule Vechta, Schwer-punkte in der Internationalen Politik und der Politischen Philosophie.

martin kintzinger, Prof. Dr., geb. 1959, Professor für Mittelalterliche Ge-

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Autorinnen und Autoren

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schichte an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster, Studium der Geschichte und Germanistik, Promotion 1987 an der TU Braunschweig, Habilitation 1997 an der FU Berlin, 1999 bis 2002 Professur für Wissen-schafts- und Universitätsgeschichte an der Ludwig Maximilians-Universität München, seit 2002 in Münster.

nina kolleck, Dipl. Pol., geb. 1980, Studium der Politikwissenschaft, der Volkswirtschaft und des Öffentlichen Rechts in Potsdam, Caen und Qui-to, Diplomarbeit zur panamerikanischen Freihandelszone ALCA/FTAA. Seit 2007 ist sie Stipendiatin der Friedrich-Ebert-Stiftung und promoviert an der Universität Stuttgart mit den Schwerpunkten Internationale Politische Öko-nomie und Internationale Beziehungen.

Esther-Beate körber, apl. Prof. Dr., geb. 1957, Historikerin (Neuere Ge-schichte mit Schwerpunkt Frühe Neuzeit), Hochschullehrertätigkeit in Berlin (FU), Augsburg und Duisburg, WS 2007/08 Professurvertretung an der Hochschule Vechta, z. Zt. Forschungsprojekt zu Zeitungsextrakten des 17. und 18. Jahrhunderts bei der Deutschen Presseforschung Bremen.

daniel kuchler, M. A., geb. 1981, Studium der Politikwissenschaft, Engli-schen Philologie und Literaturwissenschaft sowie Geschichte in Münster; schrieb seine Magisterarbeit zum Thema „The Relevance of Gramsci for Post-Modern International Politics“; arbeitet als Research Assistant und promoviert an der State University of New York (SUNY), University at Al-bany mit den Schwerpunkten Internationale Beziehungen und Politische Theorie, Tuition Scholarship sowie Stipendiat der University at Albany.

martin kudla, geb. 1979, Studium der Geschichtswissenschaften und der Germanistik (Stattsexamen Sek. I/II) sowie Deutsch als Fremdsprache, 2007 mit einer Examensarbeit in der germanistischen Linguistik zur Konzeptuali-sierung von Politik abgeschlossen und seit Februar 2008 Studienreferendar am Städtischen Gymnasium Wolbeck.

matthias lemke, Dr. phil., geb. 1978, Studium der Politikwissenschaft, Soziologie, Neueren und Neuesten Geschichte in Münster (M.A.) und Pa-ris (DEA); promovierte im Rahmen einer deutsch-französischen Promotion (Hochschule Vechta, Sciences Po Paris) über einen Vergleich der Anti-Tota-litarismuskompetenz des deutschen und französischen Sozialismus; Träger des Förderpreises der Universitätsgesellschaft Vechta 2007.

winfried nachtwei, MdB, geb. 1946, seit 1994 für Bündnis 90/Die Grünen im Verteidigungsausschuss und im Unterausschuss Abrüstung, bisher acht Afghanistan-Besuche.

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sebastian nawrat, geb. 1981, Historiker, promoviert als Stipendiat der Friedrich-Ebert-Stiftung zum Thema „Heimliches Godesberg. Die sozial- und wirtschaftspolitische Programmdiskussion der SPD seit 1982“ an der Universität Münster, Arbeitsschwerpunkte in der Parteienforschung, der deutschen Zeitgeschichte sowie der Geschichte Polens.

martin schwarz, M. A., geb. 1973, Studium der Politikwissenschaft, Wirt-schaftswissenschaft und Neueren Geschichte in Siegen, Promotion an der Hochschule Vechta (Verfahren eröffnet), von 2002 bis 2008 wissenschaft-licher Mitarbeiter am Institut für Bildungs- und Sozialwissenschaften der Hochschule Vechta; Arbeitsschwerpunkte regionale Kooperationsprozesse in Europa, Außenpolitik der Europäische Union und Failed-State-Proble-matik.

rita stein-redent, PD Dr., geb. 1958, Studium der Wirtschaftswissenschaf-ten in Rostov am Don (Russland); zur Zeit Vertretungsprofessur für Sozio-logie an der Hochschule Vechta; Forschungsschwerpunkte im Bereich der vergleichenden Sozialstrukturanalyse, der Osteuropaforschung mit Schwer-punkt Familienforschung und im bereich der Bildungsmobilität.

wladimir sterlikov, geb. 1967, Studium an der Sporthochschule Omsk, Mi-litärdienst, Streetworker der Stadt Cloppenburg, zur Zeit Promovent an der Staatlichen Pädagogischen Universität Omsk.

Bastian walter, M. A., geb. 1978, Studium der Mittleren Geschichte, Neu-eren Geschichte und der Europäischen Ethnologie in Münster und Bern; ehemaliger DAAD-Stipendiat; 2005-2006 wissenschaftlicher Mitarbeiter in einem DFG-Projekt zur Vor- und Frühformen des Völkerrechts; seit 2006 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Mittelalterliche Geschichte von Prof. Dr. Martin Kintzinger an der Universität Münster; Promotions-projekt zum Thema „Träger, Räume und Vollzug. Koordination und Praxis städtischer Außenpolitik im Vorfeld und während der Burgunderkriege“; Arbeitsschwerpunkte Völkerrechtsgeschichte, Diplomatiegeschichte Kom-munikationsgeschichte.

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Autorinnen und Autoren

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Impressum

redaktionsanschriftDis|kursPolitikwissenschaftliche und geschichtsphilosophische InterventionenHochschule Vechta – Wissenschaft von der PolitikDriverstrasse 22 D-49377 VECHTA

E-Mail: [email protected] Internet: www.diskursonline.de

wissenschaftliche BeratungPeter Nitschke, Hans Rainer Sepp, Karl HahnHerausgeber: Matthias Lemke, Daniel Kuchler, Sebastian Nawrat

redaktionMatthias Lemke (verantwortlich), Daniel Kuchler, Martin Schwarz, Sebas-tian Nawrat

verlagMeine VerlagHaus des BuchesGerichtsweg 28D-04103 LEIPZIG

E-Mail: [email protected] Internet: www.meine-verlag.de

titelgestaltungCommunications-Piece.com

ISSN: 1865-6846ISBN:

© Für diese ausgabeDis|kurs Politikwissenschaftliche und geschichtsphilosophische Interventi-onen, Hochschule Vechta – Wissenschaft von der Politik, Driverstrasse 22, D-49377 VECHTA, Germany

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Beiträge

Beiträge für Diskurs, die sich entweder direkt mit einem Aspekt des Ti-telthemas eines Heftes auseinandersetzen, oder aber die inhaltlich andere Bereiche des sozial- und geisteswissenschaftlichen Themenspektrums ab-decken, schicken Sie bitte an die oben angegebene Adresse der Redaktion, entweder per E-Mail oder als CD auf dem Postweg.Beachten Sie bitte, dass Ihr Artikel zwischen acht und zwölf Standardseiten Text umfassen sollte und dass Sie die enthaltenen Informationen nach gän-gigem Muster wissenschaftlich belegen. Fügen Sie Ihrer Einsendung einen tabellarischen Lebenslauf bei.Nach Erhalt des Artikels wird dieser von uns und unseren Kooperationspart-nern nach inhaltlichen und wissenschaftlichen Kriterien geprüft. Kommen wir zu dem Schluss, dass wir den Artikel veröffentlichen wollen, setzen wir uns mit Ihnen für die Abwicklung des weiteren Verfahrens in Verbindung. Der Entschluss, eine Publikation nicht zu veröffentlichen, wird Ihnen eben-falls mitgeteilt. Dabei werden wir insbesondere darauf achten, die für die Ablehnung ausschlaggebenden Gründe mitzuteilen.

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Foto auf der titelseite© UN Photo/Michos Tzovaras 2004, „Non-Violence“. Die abgebildete Skulptur ist ein Geschenk der Regierung von Luxemburg an die Vereinten Nationen, überreicht im Jahr 1988. Sie besteht aus einer großen Nachbil-dung in Bronze eines Revolvers des Kalibers 45mm, dessen Lauf verknotet ist. Sie wurde 1980 als Friedenssymbol vom Künstler Karl Fredrik Reuters-ward hergestellt und befindet sich auf der Visitor’s Plaza, gegenüber der First Avenue auf Höhe der 45. Straße in New York.