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Leseprobe Thomas Brinkmann Handbuch Produktentwicklung mit Kunststoffen ISBN: 978-3-446-42243-8 Weitere Informationen oder Bestellungen unter http://www.hanser.de/978-3-446-42243-8 sowie im Buchhandel. © Carl Hanser Verlag, München

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Leseprobe

Thomas Brinkmann

Handbuch Produktentwicklung mit Kunststoffen

ISBN: 978-3-446-42243-8

Weitere Informationen oder Bestellungen unter

http://www.hanser.de/978-3-446-42243-8

sowie im Buchhandel.

© Carl Hanser Verlag, München

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7 Produktgestaltung

248

7

7.1.9 Regel 8: Hinterschneidungen vermeiden

Formelemente, die eine Entformung des Formteils behindern, weil sie quer zur Entformungsrichtung ausgeprägt sind, bezeichnet man als Hinter-schneidungen. Diese sind generell zu vermeiden, da sie die Werkzeugkos-ten durch zusätzliche Elemente, wie z. B. Schieber oder faltbare Kerne, deutlich erhöhen können. Werkzeugkosten haben aber nur bei kleinen Stückzahlen einen hohen Anteil an den Produktkosten.

Im Umgang mit Hinterschneidungen empfiehlt sich folgende Vorgehens-weise:

1. Hinterschneidungen vermeiden durch Umgestaltung des Produkts

Falls Hinterschneidungen unumgänglich sind, sollte man folgende Alterna-tiven in Bezug auf Werkzeugkosten und Prozesssicherheit hinterfragen:

2. Ist eine Zwangsentformung prozesssicher machbar? 3. Ist der Einsatz einfacher kostengünstiger Entformungselemente,

wie Lochstifte oder verfahr- oder verformbare Auswerfer, möglich? 4. Wie hoch ist der Aufwand für im Werkzeug integrierte Schieber?

Beispiele zur Vermeidung von Hinterschneidungen sind in Abb. 37 darge-stellt. In allen Beispielen, die in Abb. 37 illustriert sind, wurden die Form-teile so umkonstruiert, dass die entsprechenden Werkzeuge mit einer Entformungsrichtung auskommen. Eine solche Umgestaltung ist nur in Absprache mit dem Auftraggeber möglich und muss bei Sichtteilen mit dem Design und den Funktionen des Bauteils abgestimmt werden. Bei nicht sichtbaren Teilen, die z. B. im Inneren von Geräten verbaut werden, spricht in der Regel nichts gegen eine Umgestaltung, da Werkzeugkosten eingespart werden. Von Relevanz ist die Optimierung von Werkzeugkosten insbesondere bei kleinen Stückzahlen, wie sie im Gerätebereich häufig anzutreffen sind.

A: Die Öffnung in der Seitenwand des Kastens führt zu einer Hinter-schneidung.

B: Durch die Änderung der Öffnung in einen Schlitz wird die Hinter-schneidung vermieden.

C – E: Um eine Öffnung ohne Hinterschneidung zu erhalten, wird die Sei-tenwand jeweils so weit geneigt, dass das Formteil vom Kern abge-streift werden kann.

Hinterschneidungen erhöhen Werkzeugkosten

Gestaltungsvorschläge zur Vermeidung von

Hinterschneidungen

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7.1 Grundlegende Gestaltungsregeln für spritzgegossene Formteile

7

249

D – E: Die Kontaktflächen der Werkzeughälften müssen mindestens 2° zur Entformungsrichtung geneigt sein, um Reibung der Kontaktflächen aufeinander während des Öffnens und Schließens des Werkzeugs zu verhindern.

A

B

C

D

E

Hinterschneidungen lassen sich auch zwangsentformen – in Abhängigkeit von der Bauteildimension und der Steifigkeit der Thermoplaste bei Entfor-mungstemperatur. In Tab. 3 sind für einige Kunststoffe Richtwerte der maximal zulässigen Hinterschneidungen aufgeführt [dupont89, gepl83].

Tab. 3: Richtwerte der maximal zulässigen Hinterschneidungen [dupont89, gepl83]

Kunststoff Kurzzeichen Maximal zulässige

Hinterschneidungen [%]

Polyethylen (weich) PE 10–12

Polyoxymethylen POM 5

Polyamid PA 6–10

Polycarbonat PC 2–3

Acrylnitril-Butadien-Styrol

ABS 2–3

Abb. 38 zeigt, wie Hinterschneidungen an Formteilen zu ermitteln sind. Dabei müssen Werkzeug und Formteil so konstruiert sein, dass beim Ab-ziehvorgang die erforderliche Auslenkung zur Entformung der Hinter-schneidung möglich ist. Im Allgemeinen eignet sich für Zwangsentfor-mungen nur die Kreisform. Andere Formen, wie beispielsweise Rechtecke, beinhalten hohe Spannungskonzentrationen in den Ecken, die ein erfolg-

Abb. 37: Gestaltung zur Vermeidung von Hinterschneidungen (in Anlehnung an [meng99])

Zwangsentformungen von Hinterschneidungen teilweise möglich

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7 Produktgestaltung

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7

reiches Abstreifen verhindern. Die Hinterschneidung sollte abgeschrägt sein, um das Ausdrücken aus dem Werkzeug zu erleichtern und eine Überbeanspruchung des Teils zu vermeiden.

H = Hinterschneidung in %

BA A

AA

B

B

CCB

H =(A-B) * 100

B

H =(A-B) * 100

C

Sind Hinterschneidungen zur funktionellen Gestaltung, wie etwa bei Schnapphaken, unvermeidlich, können sie durch eine entsprechende Ges-taltung des Werkzeugs entformt werden. Die kostengünstigste Variante sind einfache, sich nur in Entformungsrichtung bewegende Werkzeugteile, wie z. B. durchtauchende Auswerfer oder geteilte Lochstifte, die gleichzei-tig als Auswerfer verwendet werden können (siehe Abb. 39).

Werkzeug

Trennebene

Auswerfer

Kunststoffteil

Hinterschneidung

Lochstifte

Abb. 38: Berechnung der zulässigen Hinterschneidungen [dupont89,

gepl83]

Kostengünstige Entformungs-elemente für unvermeidbare

Hinterschneidungen

Abb. 39: Entformung von Hinter-schneidungen durch Stifte

(in Anlehnung an [dupont89])

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7.1 Grundlegende Gestaltungsregeln für spritzgegossene Formteile

7

251

Sind die zuvor beschriebenen Elemente nicht einsetzbar, können Stan-dardelemente wie Auswerfer auch verfahrbar ausgeführt werden. Abb. 40 zeigt schematisch eine solche Lösung. Bewegliche Werkzeugteile verursa-chen zwangsläufig höhere Kosten und sind verschleiß- und störungsanfäl-liger.

Werkzeug

Auswerferplatte

ExzentrischerAuswerfer

Spritzgießteil,entformt

Spritzgießteil

Bewegung desAuswerferstiftes

Eine noch preiswertere Entformungslösung sind federnde Auswerfer, mit denen innen und außen liegende Hinterschnitte entformt werden können. Abb. 41 zeigt eine Zeichnung eines solchen Auswerfers von der Firma DME [dme]. Abhängig von den realisierbaren Maßen können Hinterschnitte von etwas mehr als 5 mm entformt werden. Die geometrischen Daten sind in Abb. 42 zusammengefasst. Alle Daten sowie Einbaubeispiele sind unter www.dme.net verfügbar.

Verfahrbare Standardelemente zur Entformung von Hinter-schnitten

Abb. 40: Entformung einer Hinterschneidung durch einen exzen-trischen Auswerferstift [dupont89]

Hinterschnitte durch elastische Verformung von Auswerfern entformen

Abb. 41: Entformung von Hinter-schnitten durch federnde Auswerfer [dme]

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7 Produktgestaltung

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7

Das Funktionsprinzip elastischer Auswerfer wird durch Abb. 43 verdeut-licht, welche die Auswerferseite eines Werkzeugs zeigt. Im formgebenden Zustand (Bild oben) ist der Auswerfer eingefahren und wird gegen seine Federkraft in der konturgebenden Position gehalten. Beim Auswerfen des Formteils fährt zunächst das gesamte Auswerferpaket ein Stück nach vor-ne (Bild mittig). Bei diesem Vorfahren federt der Auswerfer nach hinten, da er nicht mehr in seiner Zwangsposition gehalten wird. Im letzten Schritt fährt der zweistufige Auswerfer mit den konventionellen Stiften weiter vor und wirft das Bauteil aus (Bild unten).

Sind die Hinterschnitte außen und insbesondere rotationssymmetrisch ange-ordnet, kann das Prinzip des elastischen Verformens vom Auswerfer auf eine

Abb. 42: Erzielbare Hinterschnitte durch federnde Auswerfer

verschiedener Längen [dme]

Zweistufiges Auswerferpaket ermöglicht Entformung mit

federnden Auswerfern

Abb. 43: Anwendungsbeispiele für federnde Auswerfer [dme]

Spreizkerne entformen außen liegende Hinterschnitte

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7.1 Grundlegende Gestaltungsregeln für spritzgegossene Formteile

7

253

Hülse übertragen werden, die mehrere elastische Segmente enthält. Da diese Hülsen im Werkzeug als Kern dienen, werden sie als Spreizkerne bezeichnet. Abb. 44 zeigt typische Spreizkerne und Abb. 45 schematisch Geometrien mit Hin-terschnitten, die sich mit Spreizkernen entfor-men lassen.

Das Funktionsprinzip der Spreizkerne basiert, wie zuvor beschrieben, auf einer Verformung elastischer Segmente. Abb. 46 zeigt schematisch, wie sich die Segmente im geschlossenen Zustand des Werkzeugs in verformter und damit in konturgebenender Position befinden. Durch Vorfahren des Spreizkerns beim Öffnen der Form federn die Segmente des Kerns nach hinten und ermöglichen dadurch die Entformung des Hinterschnitts.

Abb. 44: Spreizkerne zur Entformung von Hinterschnitten, vorzugsweise an rotationssymmetrischen Bauteilen [dme]

Abb. 45: Anwendungsbeispiele für die Entformung mittels Spreizkernen [dme]

Spreizkerne entformen durch elastische Segmentverformung

Abb. 46: Einbaubeispiel von Spreiz-kernen in einem Werkzeug [dme]

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7 Produktgestaltung

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7

Alternativ zu den zuvor beschriebenen elastisch verformbaren Auswerfern und Spreizkernen existiert mit den Faltkernen auch eine Bewegungsme-chanik zur Entformung von ausschließlich innen angeordneten Hinter-schneidungen. Abb. 47 erläutert das Funktionsprinzip der Faltkerne in vier Schritten. Zunächst durchläuft das geschossene Werk den Spritzgießzyklus (Grafik oben links). Nach dem Erreichen der Entformungstemperatur wird die Form zunächst in der Trennebene geöffnet (Grafik oben rechts). Im nächsten Schritt wird der hintere Teil der Auswerferseite geöffnet und damit der innere Stützkern aus dem Faltkern herausgezogen (Grafik unten links). Durch die fehlende Stützwirkung bewegen sich die schwalben-schwanzförmigen, in der Grafik gelb gefärbten Stützsegmente nach innen. Zusammen mit diesen Stützelementen bewegen sich auch die äußeren konturbildenden Segmente nach innen und geben damit den Hinterschnitt frei. Im letzten Schritt wird das Bauteil durch eine Abstreiferplatte vom Kern abgeschoben.

Abb. 48 zeigt an einem Foto der Stirnseite eines Kerns die schwalben-schwanzförmigen Stützelemente sowie die konturbildenden Segmente.

Entformung innen liegender Hinterschnitte mit faltbaren

Kernen

Abb. 47: Entformung mit faltbaren Kernen [wied]

Abb. 48: Faltkern der Firma Hasco [hasco]

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7.1 Grundlegende Gestaltungsregeln für spritzgegossene Formteile

7

255

D

18

30

5040

60708090

100110120130140150160170180190200

1,2 2 3

3,15 mm

4 5 6

6,3 mm

7 8 9

9,4 mm

10 11 12

12,6 mm

Kerndurchmesser D

max. Ø

min. Ø

mmHinterschnitt Hi

d

Hi

DD

Der gesamte Hinterschnittist maximal 12 % von

HiDD

Faltkerne eignen sich im Gegensatz zu Spreizkernen ausschließlich zum Entformen von innen liegenden Hinterschnitten. Sie sind erheblich teuerer als Spreizkerne. Ihre Kosten und sind in etwa mit denen von preiswerten Schiebern vergleichbar. Man muss sie deshalb als Alternative zu klassi-schen Schiebern sehen, die bei innen liegenden Hinterschneidungen auf-grund ihres Einbauraums häufig nicht eingesetzt werden können. Nähere Informationen zu Faltkernen finden Sie bei den Firmen Wiedemann [wied], Hasco [hasco] und DME [dme].

7.1.10 Regel 9: Keine genauere Bearbeitung als nötig

Polierte, hochglänzende Oberflächen sind in der Fertigung und im Gebrauch empfindlich. In vielen Fällen reicht die erosionsraue oder geschlemmte bzw. die in Ausschubrichtung geschliffene Oberfläche. Hierdurch können zudem bis zu 20 % der Werkzeugherstellkosten eingespart werden [mibrile90].

Abb. 49: Erreichbare Hinterschnitte bei der Entformung von Hinterschnit-ten mit Faltkernen [wied]

Faltkerne sind aufgrund ihrer Kosten eine Alternative zu klassischen Schiebern

Oberflächengestaltung kostenbewusst wählen

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7 Produktgestaltung

256

7

In Tab. 4 wird der Aufwand verglichen, den man benötigt, um unterschied-liche Oberflächen herzustellen.

Tab. 4: Oberflächenbearbeitung [mibrile90]

Oberflächencharakter

ZeichnungsangabeKurzzeichen

Anwendungsbei-spiele

Auf-wand [%]

spiegelklar ohne Mulden, Schlie-ren, sichtbare Riefen und Wellen

hochglanzpoliert 1=tR

transparente Außenflächen

100

glänzend ohne Mulden, sichtba-re Riefen und Wellen (Ausgangsgüte für mattierte Oberflächen)

glanzpoliert 3,6=tR

Flächen mit ho-hem optischen Anspruch, auch für Gleitflächen geeignet

85

glatt ohne fühlbare Riefen

poliert 10=tR

sichtbare Fläche innerhalb eines Gerätes

60

matt fühlbare Rauheit ohne Ansätze (Ausgangs-güte für höherwertige Oberflächen)

16=tR

nicht nachpolier-te Flächen, Entformung darf nicht beeinträch-tigt werden

40

ohne besondere Anforderungen Mindestgüte unserer Fertigung; Kennzeich-nung nach N0148 Bl. 2

Flächen ohne Funktion, Entformung darf nicht beeinträch-tigt werden

30

gleichmäßig schwach geraut

MG-1 nicht spiegelnde Flächen

90

gleichmäßig geraut MG-2 Flächen einiger Bedienelemente

95

gleichmäßig stark geraut MG-3

Flächen an Griff-elementen

100

Grundlage für die Tolerierung von Spritzgussbauteilen ist die DIN 16 901 [din16901]. In ihr sind die zulässigen Maßabweichungen für die verschie-denen Kunststoffe festgehalten. Die Festlegung funktionsgerechter Tole-ranzen für Formteile erlaubt eine wirtschaftliche Fertigung. Auf unnötig enge Toleranzangaben sollte man verzichten, da sie erhöhte Kosten verur-sachen (siehe zum Thema Toleranzen auch Kapitel 11). Als Faustregel gilt:

Nicht so genau wie möglich, sondern nur so genau wie nötig!

Toleranzbasis für Kunststoffe

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7.1 Grundlegende Gestaltungsregeln für spritzgegossene Formteile

7

257

Bei der Auslegung kunststoffgerechter Toleranzangaben ist zu berücksich-tigen, dass Schwindung und Nachschwindung zeitabhängige Maßänderun-gen hervorrufen. Diese Effekte wirken sich bei Kunststoffen aufgrund ihrer hohen Wärmeausdehnungskoeffizienten stärker aus als bei anderen Werk-stoffen. Dies hat zur Folge, dass Isotoleranzen der Reihe IT 5, IT 6 oder IT 7 mit teilkristallinen technischen Kunststoffen im Allgemeinen spritzgieß-technisch nicht zu erzielen sind. Mit normalem Aufwand lässt sich IT 10, mit erhöhtem Aufwand IT 9 und mit hohem Aufwand IT 8 erreichen. Präzi-sionsspritzguss ist daher notwendigerweise aufwendiger und setzt ein hohes technisches Niveau bezüglich der Konstruktion, des Materials, des Werkzeugs, der Spritzgießmaschine und der Prozessführung voraus.

Wegen des höheren Aufwands sollte der Konstrukteur enge Toleranzen, wann immer möglich, vermeiden. Konstruktiv nutzt man dazu oft die leich-te Verformbarkeit der Kunststoffe aus. Ein Beispiel ist dazu in Abb. 50 dargestellt.

ungünstig, enge Toleranzen nötig

günstig, enge Toleranzen unnötig

Quetschrippen

Die auf der linken Seite des Bildes dargestellte Lösung ist ungünstig, da enge Toleranzen erforderlich sind, ohne die ein leichtes Zusammenstecken der beiden Einzelteile bei hoher Klemmwirkung im gefügten Zustand nicht gewährleistet ist. Bei der Lösung auf der rechten Seite des Bildes gibt es nur wenige Kontaktpunkte durch die Verwendung sogenannter Klemm- oder Toleranzausgleichsrippen, die auch bei großem Übermaß aufgrund der elastischen Verformbarkeit leicht gefügt werden können.

Sind enge Toleranzen aus funktionalen Gründen unvermeidbar, so sind sie möglichst nicht auf große Längenmaße zu beziehen.

Verwendbare Isotoleranzreihen

Beispiele zur Vermeidung von Toleranzen

Abb. 50: Vermeidung enger Toleranzen [schmi85]

Ausnutzung der Verformbarkeit

Kleine Dimensionen tolerieren

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7 Produktgestaltung

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7

In Abb. 51 wird anhand von zwei Beispielen gezeigt, wie sich in solchen Fällen enge Toleranzen umgehen lassen.

l1

l2

ungünstig günstig

l1 > l2

lungünstig günstig

7.1.11 Regel 10: Potenzial der freien Formgebung ausschöpfen

Durch die freie Formgebung des Spritzgießverfahrens sind oft mehrere Gestaltungsvarianten für eine prinzipielle Konstruktionslösung möglich. Die folgenden Leitsätze dienen zur Gestaltung kostengünstiger Formteile:

1. Identische Konstruktion der Einzelteile anstreben 2. Runde Formen bevorzugen 3. Integration mehrerer Funktionen in einem Teil verwirklichen

Abb. 51: Beispiele zur Vermeidung großer Längenmaße mit engen

Toleranzen [schmi85]

Freie Formgebung ausnutzen