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Lebensstile und Milieus: Einflüsse auf die Gesundheit Carsten Wippermann Es ist kein Geheimnis, dass Gesundheit und Krankheit – neben genetischen Dispositionen und Unfällen – auch eine Frage der sozialen Lage sind. Sozialepidemiologische Daten zeigen für viele Krankheiten höhere Prävalenzen bei sozial und materiell schlechter Gestellten: Diabetes mellitus (Typ 2), Herzinfarkt, bestimmte Krebserkrankun- gen (Kehlkopf-, Speiseröhren-, Gebärmutterhalskrebs u. a.), Atemwegserkrankungen, Fettstoffwechselstörungen, psy- chische Erkrankungen u. a. Markant belegen dies Daten des Robert-Koch-Instituts zu Diabetes mellitus. In der so- zialen Oberschicht waren im Jahr 2006 4,2 % an Diabetes mellitus erkrankt, 6,8 % aus der Mittelschicht und 11,5 % aus der Unterschicht. 1 Auch das Sterblichkeitsrisiko hängt eng mit der sozialen Lage zusammen: So ist die Lebens- erwartung im untersten Einkommensquartil im Vergleich zum obersten Einkommensquartil bei Frauen um vier Jah- re, bei Männern um sechs Jahre geringer. 2 In der Ursachenanalyse geht man heute davon aus, dass 1.) eine „ungesunde“ Lebensführung mit verantwortlich ist für eine Erkrankung; 2.) ein anderer Lebenswandel das Er- krankungsrisiko signifikant reduziert: Bewegung, nicht rau- chen, wenig Alkohol, ausgewogene Ernährung, Stressreduk- tion, Vorsorgeuntersuchungen. Menschen aus unteren sozialen Schichten verhalten sich oft weniger gesundheits- und vorsorgebewusst: Sie rauchen häufiger, ernähren sich ungesünder, haben weniger Bewegung, sind häufiger überge- 143

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Lebensstile und Milieus:Einflüsse auf die Gesundheit

Carsten Wippermann

Es ist kein Geheimnis, dass Gesundheit und Krankheit –neben genetischen Dispositionen und Unfällen – aucheine Frage der sozialen Lage sind. SozialepidemiologischeDaten zeigen für viele Krankheiten höhere Prävalenzenbei sozial und materiell schlechter Gestellten: Diabetesmellitus (Typ 2), Herzinfarkt, bestimmte Krebserkrankun-gen (Kehlkopf-, Speiseröhren-, Gebärmutterhalskrebs u. a.),Atemwegserkrankungen, Fettstoffwechselstörungen, psy-chische Erkrankungen u. a. Markant belegen dies Datendes Robert-Koch-Instituts zu Diabetes mellitus. In der so-zialen Oberschicht waren im Jahr 2006 4,2 % an Diabetesmellitus erkrankt, 6,8 % aus der Mittelschicht und 11,5 %aus der Unterschicht.1 Auch das Sterblichkeitsrisiko hängteng mit der sozialen Lage zusammen: So ist die Lebens-erwartung im untersten Einkommensquartil im Vergleichzum obersten Einkommensquartil bei Frauen um vier Jah-re, bei Männern um sechs Jahre geringer.2

In der Ursachenanalyse geht man heute davon aus, dass1.) eine „ungesunde“ Lebensführung mit verantwortlich istfür eine Erkrankung; 2.) ein anderer Lebenswandel das Er-krankungsrisiko signifikant reduziert: Bewegung, nicht rau-chen, wenig Alkohol, ausgewogene Ernährung, Stressreduk-tion, Vorsorgeuntersuchungen. Menschen aus unterensozialen Schichten verhalten sich oft weniger gesundheits-und vorsorgebewusst: Sie rauchen häufiger, ernähren sichungesünder, haben weniger Bewegung, sind häufiger überge-

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wichtig, nehmen weniger an Vorsorgeuntersuchungen teil,achten weniger auf ihre Gesundheit. So werden – mittler-weile „klassisch“ – Risikogruppen identifiziert über a) diesoziale Lage (meist Unterschicht; aber auch gehobene Seg-mente, z. B. Manager) sowie – daraus resultierend – ein be-stimmtes Verhalten in Form von Ritualen und Routinen.Wir sprechen hier von „Lebensstil“ als einem typischen Ver-haltensmuster mit expressiven, interaktiven, evaluativenund symbolischen Funktionen, die vorbewusst und selbst-verständlich das Verhalten des Einzelnen steuern.

Aber: Lebensstil ist nicht etwas individuell Subjektives,das vollkommen in der Autonomie des bzw. der Einzelnenliegt. Vielmehr gibt es soziokulturelle Muster von Lebens-stilen, die relativ stabil sind und in den sozialen Kreisen, indenen sich der bzw. die Einzelne aufhält, reproduziert wer-den. In unserer individualisierten westlichen Gesellschaftist der klassische Kausalzusammenhang, der das Verhalten(des Einzelnen oder von Gruppen) auf die soziale Lage zu-rückführt, nicht mehr suffizient. Die Wirklichkeit ist kom-plexer. Menschen gleicher sozialer Lage zeigen aufgrundunterschiedlicher subjektiver Wertorientierungen, Interes-sen, Maximen ein je anderes Verhalten. Insofern ist die all-tägliche Lebenswelt der Menschen durch drei gleichkonsti-tutive Bausteine bestimmt: soziale Lage, Werte, Lebensstil.Diese stehen in einem wechselseitigen Bedingungs-, Stabi-lisierungs- und Reproduktionszusammenhang. Die dreiHauptdimensionen soziale Lage, Werte und Lebensstilkonstituieren soziale Milieus, die ihrerseits Gruppen vonMenschen sind, die sich – salopp formuliert – in ihrer Le-bensauffassung und Lebensweise ähneln. „Gesundheit“ist dabei ein Elementarteilchen zur ganzheitlichen Be-schreibung eines Milieus.

Vor diesem Hintergrund lassen sich in Deutschlandheute zehn Milieus unterscheiden, die in der folgenden Gra-fik im Rahmen eines ganzheitlichen Gesellschaftsmodells

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„Bausteine“ sozialer Milieus

Die Sinus-Milieus® in Deutschland 2008Ein sozialwissenschaftliches Gesellschaftsmodell

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positioniert sind. Je höher ein Milieu positioniert ist, umsogehobener ist die soziale Lage (Bildung, Einkommen, Berufs-prestige); je weiter rechts es gelagert ist, umso modernerbzw. postmoderner ist die Wertorientierung des jeweiligenMilieus. Was die Grafik auch zeigt: Die Grenzen zwischenden Milieus sind fließend; Lebenswelten sind nicht so(scheinbar) exakt eingrenzbar wie soziale Schichten. SinusSociovision nennt das die „Unschärferelation der Alltags-wirklichkeit“. Wäre das nicht der Fall, könnte man schwer-lich von einem lebensechten Modell sprechen. Berührungs-punkte und Übergänge zwischen den Milieus sind deshalbein grundlegender Bestandteil des Milieukonzepts.

Im Folgenden sind die einzelnen Milieus kurz charakteri-siert sowie in Form von Collagen zur Lebenswelt illustriert:

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Kurzcharakteristik der Sinus-Milieus in Deutschland

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„Ich betreibe aktive Gesundheitsvorsorge, um meine Leistungsfähigkeitzu erhalten“

ø = 25 %Zustimmungswerte 5+6 auf einer 6er Skala

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Bereits ein erster Blick auf das (vordergründige) Selbst-verständnis zur eigenen Gesundheitsvorsorge identifizierterhebliche Unterschiede. Wir haben ca. 20.000 Personender deutschsprachigen Wohnbevölkerung nach ihrer akti-ven Gesundheitsvorsorge gefragt. Dabei zeigt sich, dass esvor allem die gesellschaftlichen Leitmilieus der Etabliertenund Postmateriellen sind, die aktive Gesundheitsvorsorgebetreiben mit dem Ziel, ihre Leistungsfähigkeit zu erhal-ten. Dagegen ist diese Bereitschaft in der modernen Unter-schicht (Konsum-Materialisten, Hedonisten) deutlich we-niger ausgeprägt.

Adipositas

Die Frage nach der subjektiven Prävalenz von Übergewicht(Selbstauskunft zur Punktprävalenz: „Bin derzeit davon be-troffen“) auf bevölkerungsrepräsentativer Basis zeigt, dassin Deutschland derzeit 12 % die Selbstwahrnehmung ha-ben, stark übergewichtig zu sein. Dieser Prozentwert liegtdeutlich unter dem vom RKI (Robert-Koch-Institut) gemes-senen Wert des BMI (Body-Mass-Index), der in einer telefo-nischen Befragung aus Angaben der Körpergröße und desKörpergewichts errechnet wurde. Aber auch der Wert desRKI unterschätzt vermutlich den wahren Adipositas-An-teil in der deutschen Bevölkerung. Denn aus der kontrol-lierten Messpraxis weiß die empirische Sozialforschung,dass die Menschen dazu neigen, ihre Körpergröße zu über-schätzen und ihr Körpergewicht zu unterschätzen. Zu„wahren“ Werten kommt man somit nur, wenn nichtnach subjektiven Einschätzungen der Körpergröße und desKörpergewichts gefragt wird, sondern diese gemessen wer-den. Aber auch die subjektiven Selbstprävalenzen sind be-reits sehr instruktiv, denn sie illustrieren und stützen dieHypothese, dass Übergewicht auch ein Produkt milieuspe-

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zifischer Wertprioritäten und Lebensweisen ist. Die Mi-lieuanalyse zeigt, dass das Problem gehäuft in den Milieusder „Traditionsverwurzelten“, „DDR-Nostalgischen“ und„Konsum-Materialisten“ auftritt, das heißt verstärkt imtraditionellen Segment und in der Unterschicht bzw. derunteren Mitte, allerdings nicht in allen traditionell gesinn-ten Milieus, auch nicht in allen unterschichtigen Milieus,und auch nicht in allen Milieus mit einem hohen Alters-durchschnitt. Es ist bekannt, dass das Adipositas-Risikomit zunehmendem Alter steigt und mit zunehmendemEinkommen geringer wird. Aber jenseits von Alter und so-zialer Lage steuern offensichtlich auch soziokulturelle Fak-toren die Adipositas-Prävalenz.

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Subjektive Prävalenz: Übergewicht, Fettleibigkeit

ø = 11,7 %* Selbstauskunft: „derzeit persönlich davon betroffen“ (Punktprävalanz)

RKI 2006: BMI = 18,1 %

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Was sind soziokulturelle Erklärungsansätze für eineüberdurchschnittliche Adipositas-Prävalenz? Greifen wiruns dazu die drei auffälligen Milieus heraus und analysierendie jeweiligen Alltagskulturen im Umgang mit Ernährung:– Traditionsverwurzelte: Traditionelle Ernährungsgewohn-

heiten mit deftiger deutscher Hausmannskost (zu einerMahlzeit gehören Fleisch und Wurst sowie Soßen mitMehlschwitze und viel Sahne), Kaffee und Kuchen alsRoutine; strenge Essensrituale; gleichzeitig wenig Bewe-gung (sich nach einem anstrengenden Arbeitstag bzw.Arbeitsleben ausruhen). Notorische Sorgen um die Ge-sundheit, hoher Ratgeber-Konsum, Expertengläubigkeit.Typisch ist die Maxime: „Der Teller wird leer gegessen.“

– DDR-Nostalgische: Frustration, Entwurzelung sind domi-nante Gefühle, die mittels Essen kompensiert werden. Re-gulationsverlust und orale Kompensation sind gepaart mittraditionellen Essgewohnheiten. Ablehnung des moder-nen, westlichen Schönheitsideals, Stilisierung „proletari-scher Leitbilder“ versus Resignation (sich aufgeben). Ty-pisch ist die Maxime: „Man gönnt sich ja sonst nichts.“

– Konsum-Materialisten: Sorglosigkeit und Verantwor-tungslosigkeit im Umgang mit sich selbst und dem Kör-per. Oraler Hedonismus, Essen und Trinken und jede Artvon Genussmittelkonsum als Seelentröster. Fehlende Er-nährungskompetenz und Esskultur, Dominanz des Con-venience-Motivs („Fastfood“, „Junkfood“). Generell we-nig Aufmerksamkeit für die Gesundheit; Desinteresseund Gleichgültigkeit als Schutz und Abwehrstrategie(sich emotional und sozial nicht berühren lassen): dieprototypischen „Couch-Potatoes“ vor dem (neuen Flach-bild-) Fernseher oder der Spielkonsole. Dazu kommen(vorgeschobene) Argumente, dass man kein Geld für gu-tes Essen oder ein Fitness-Studio hat. Andererseits gibtman viel Geld für Fastfood aus, kocht aus der Konserveund gibt den Kindern in die Schule Süßigkeiten und Ku-

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chen mit („Fresspakete“ zum Verwöhnen – aber auch,weil es einfacher ist). Gewichtsprobleme der Kinder wer-den nicht wahrgenommen oder verdrängt.

Die innerfamiliäre Anamnese ist aufgrund der Kommuni-kationskultur und des Lebensstils in der modernen Unter-schicht sehr gering, in den gehobenen Milieus der Konser-vativen, Etablierten und Postmateriellen ist sie dagegenstark ausgeprägt.

Diabetes

Zu Diabetes (Typ 2) ergibt die soziodemografische Analyse ei-nen ähnlichen Befund wie beim Übergewicht: Das Diabetes-Risiko steigt – jenseits der 40 – mit zunehmendem Alter an,und es variiert mit der sozialen Lage, d. h. es ist in den unte-ren Einkommensgruppen höher. Diese Ähnlichkeit war zuerwarten; denn neben genetischen Ursachen sind die äußerenHauptrisikofaktoren für Diabetes mellitus Übergewicht, Be-wegungsmangel und falsche Ernährung. Aber die Milieuana-lyse zeigt ein etwas anderes Bild. Auffällig sind:– Eine stark überdurchschnittliche Prävalenz bei Tradi-

tionsverwurzelten (mehr als doppelt so hohes Risiko imVergleich mit dem Bevölkerungsdurchschnitt). Das istzum Teil zurückzuführen auf das hohe Altersspektrumim Milieu, doch reicht dies als Erklärung nicht, denn imetwa gleich alten Milieu der Konservativen ist Diabetesseltener.

– Keine überdurchschnittliche Betroffenheit der Konsum-Materialisten (immerhin das Milieu mit dem höchstenBMI).

– Unterdurchschnittliche Prävalenz in der BürgerlichenMitte (im Unterschied zum Problem Übergewicht /Fettleibigkeit).

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Warum ist die Diabetes-Betroffenheit bei Konsum-Materia-listen so gering? Die Wahrheit ist oft banal: Viele Betrof-fene wissen möglicherweise gar nicht, dass sie Diabetes ha-ben, weil sie nicht zum Arzt gehen und die Krankheit nichtdiagnostiziert wird. Es gibt in diesem Milieu der Konsum-Materialisten eine hohe Dissimulation und Indolenz: Vieleverdrängen ihre gesundheitlichen Probleme, nehmen sienicht zur Kenntnis, wollen nicht krank sein:– Männer können sich nicht leisten, krank zu sein, und

halten sich für „unverwüstlich“ (Selbstbild des „toughguy“).

– Frauen arrangieren sich resignativ bis lethargisch mitihrem Leiden, bei sehr schlechter Compliance.

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Subjektive Prävalenz: Diabetes

ø = 7,4 %Selbstauskunft: „derzeit persönlich davon betroffen“ (Punktprävalenz)

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Die tatsächliche Diabetes-Prävalenz im Milieu ist sicherhöher, als die Befragungsdaten verraten. Eine sehr späteDiagnose aber kann zur Konsequenz haben, dass bereitseine Dialyse notwendig ist – und das wird teuer.

Was „schützt“ die Bürgerliche Mitte im Unterschied zuKonsum-Materialisten? Es ist vor allem die Adaption derFitness- und Bio-Trends: Groß ist in der Bürgerlichen Mittedas Interesse an Gesundheits- und Ernährungsfragen. Aus-gewogene Ernährung, frische, naturbelassene Produkte undBio-Affinität spielen hier eine große Rolle. Ebenso wächstdie Wellness-Orientierung in den Dimensionen von Le-bensqualität, Balance, Harmonie – aber in der BürgerlichenMitte ohne weltanschaulichen (ideologischen) Ehrgeiz,sondern moderat, flexibel, pragmatisch.

Allergien

Ein völlig anderes Milieuprofil zeigen die subjektiven Prä-valenzen zu Allergien: Hier zeigen vor allem Postmate-rielle und Experimentalisten, aber auch Etablierte und Mo-derne Performer eine überdurchschnittliche Sensibilität –somit die gesellschaftlich gehobenen Milieus. Die Diffe-renz etwa zu Traditionsverwurzelten und der modernenUnterschicht besteht in der (Selbst-)Wahrnehmung undim Verhalten: Postmaterielle (v. a. Frauen aus diesem Mi-lieu) nehmen häufiger Vorsorgeuntersuchungen wahr, tau-schen sich mit dem Arzt aus, lesen einschlägige Magazineund Zeitungsartikel – und zeigen auch eine starke Präfe-renz für einen bestimmten Typus von Ärzten sowie für Ge-sundheitsphilosophien, die der klassischen Schulmedizinnicht mehr allein vertrauen, sondern parallel auf alterna-tive „weiche“ Zugänge der Diagnose und Therapie bauen:Heilpraktiker, Naturheilverfahren, Homöopathie, Bioreso-nanz u. a. Das spiegelt sich auch in der Wahl der Kranken-

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kasse bzw. der Zusatzversicherung. Das können und wol-len sie sich leisten. Gleichzeitig zeigen objektive Messun-gen des Robert-Koch-Instituts, dass die höhere Aller-gie-Prävalenz bei Menschen mit gehobener sozialer Lagenicht nur auf die erhöhte Selbstsensibilität zurückzufüh-ren ist, sondern faktisch besteht.

Im Gegensatz dazu haben Traditionsverwurzelte undKonsum-Materialisten die zeitgeschichtlich und lebens-weltlich gewachsene Alltagsphilosophie der Robustheit:Allergien muss man sich leisten können – doch sie selbstkämpfen in ihrem Alltag mit so vielen „wirklichen“ Prob-lemen des materiellen und sozialen Überlebens, dass siesich solche Empfindsamkeiten nicht erlauben können. In

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Subjektive Prävalenz: Allergien

ø = 9,4 %Selbstauskunft: „derzeit persönlich davon betroffen“ (Punktprävalenz)

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der Umkehrung wird diese Einstellung als Tugend undStärke gedeutet und macht bei vielen Männern den Kernihrer männlichen Identität aus: Eine „Anfälligkeit“ für Al-lergien wird primär als Schwäche gedeutet. Dazu kommt,dass sich die meisten aus diesem Milieu etwa eine Zusatz-versicherung für alternative Heilmethoden nicht leistenkönnen, kein Geld ausgeben können und wollen für alter-native Therapien, die ihrem eindimensionalen Kausalitäts-verständnis von „Reparaturmedizin“ nicht entsprechen.Auch zeigen sie wenig Verständnis für mögliche Folge-erkrankungen von Allergien. All dies manifestiert sich inder Haltung, die Wirklichkeit als gegeben hinzunehmen,ein Problem möglichst lange zu ignorieren, es auszuhaltenund nicht zu klagen.

Die milieuspezifischen Einstellungen zur Gesundheitillustriert die folgende Grafik.

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Milieuspezifische Einstellungen zu Gesundheit

Lebensstile und Milieus: Einflüsse auf die Gesundheit

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Fazit

In den Milieus bündeln sich soziale, psychische und somati-sche Risikofaktoren und auch Schutzfaktoren in spezi-fischer Weise und mit deutlichen Unterschieden zwischenden einzelnen Gruppen. Ebenso bündeln sich in den MilieusFaktoren, die die Compliance bei der Behandlung, Vorsorge,Früherkennung und Sekundärprävention steuern. Entspre-chend sind auch die Gegebenheiten milieuspezifisch, dieeine stärkere oder schwächere institutionelle Hilfestellungnotwendig machen (Versorgungsnetz, Sprechzeiten, Pfle-gestützpunkte, Seniorenzentren etc.). Die Milieuperspek-tive ist somit relevant sowohl für die Prognose als auch fürdie Prävention – und zwar in mehrfacher Hinsicht:– Erstellung milieuspezifischer Risikoprofile und Beschrei-

bung milieuspezifisch geeigneter Zugangswege, unter Be-rücksichtigung der kommunikativen Erreichbarkeit: Dasbezieht sich auf die sozialräumliche Lokalität (Wo?), diebegriffliche und argumentative Semantik (Was?), die Sti-listik der Botschaft (Wie?) und die Channels (In bzw. mitwelchen Medien wird kommuniziert?).

– bessere Akzeptanz von Behandlungs- und Präventions-maßnahmen durch Berücksichtigung der milieuspezi-fischen Voraussetzungen.

– soziale Milieus als operationales Zielgruppenmodell fürdie Planung institutioneller Angebote und die Berech-nung ihrer Wirtschaftlichkeit.

Anmerkungen1 Robert-Koch-Institut, Telefonischer Gesundheitssurvey 2006, 2.Welle (n=7.300 Befragte. Lebenszeitprävalenz: „Wurde bei Ihnen je-mals … festgestellt?“).2 Anette Reil-Held, Universität Mannheim SFB 504, Auswertungaus dem Sozio-oekonomischen Panel (SOEP), 2000.

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