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Kleine deutsche Geschichte Bearbeitet von Hagen Schulze 1. Auflage 1998. Taschenbuch. ca. 272 S. Paperback ISBN 978 3 423 34360 2 Format (B x L): 12,4 x 19,1 cm schnell und portofrei erhältlich bei Die Online-Fachbuchhandlung beck-shop.de ist spezialisiert auf Fachbücher, insbesondere Recht, Steuern und Wirtschaft. Im Sortiment finden Sie alle Medien (Bücher, Zeitschriften, CDs, eBooks, etc.) aller Verlage. Ergänzt wird das Programm durch Services wie Neuerscheinungsdienst oder Zusammenstellungen von Büchern zu Sonderpreisen. Der Shop führt mehr als 8 Millionen Produkte.

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Kleine deutsche Geschichte

Bearbeitet vonHagen Schulze

1. Auflage 1998. Taschenbuch. ca. 272 S. PaperbackISBN 978 3 423 34360 2

Format (B x L): 12,4 x 19,1 cm

schnell und portofrei erhältlich bei

Die Online-Fachbuchhandlung beck-shop.de ist spezialisiert auf Fachbücher, insbesondere Recht, Steuern und Wirtschaft.Im Sortiment finden Sie alle Medien (Bücher, Zeitschriften, CDs, eBooks, etc.) aller Verlage. Ergänzt wird das Programmdurch Services wie Neuerscheinungsdienst oder Zusammenstellungen von Büchern zu Sonderpreisen. Der Shop führt mehr

als 8 Millionen Produkte.

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Wer die Gegenwart verstehen will, muß die Vergangenheitkennen. Nach den turbulenten Entwicklungen der letztenJahre mit der Entstehung eines neuen deutschen National-staats und auch im Blick auf die Zukunft in der EU ist daswichtiger denn je. Dem Autor ist es gelungen, 2000 Jahredeutscher Geschichte von den Anfängen bis zur Vereinigungdes geteilten Deutschland im Jahre 1990 zusammenzufassen,in ihren Grundzügen darzustellen und alle wesentlichenAspekte prägnant und anschaulich zu schildern. GebündelteInformation führt so zu solidem Wissen. »... eine deutscheGeschichte, wie sie das Publikum lange nicht hatte« (FAZ).

Hagen Schulze, geboren 1943, ist Professor für Neuere Ge-schichte an der Freien Universität Berlin und gehört zu denrenommiertesten deutschsprachigen Historikern der Gegen-wart. Er war Fellow am St. Antony’s College in Oxford undMitglied des Institute for Advanced Study in Princeton. Zahl-reiche Veröffentlichungen zur Neueren Geschichte.

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Hagen Schulze

Kleine deutsche Geschichte

Mit Grafiken, Karten und Zeittafel

Deutscher Taschenbuch Verlag

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Der Taschenbuchausgabe wurde eine Zeittafel beigegeben.

Im Text ungekürzte AusgabeOktober 1998

9., aktualisierte und erweiterte Auflage Mai 2008Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, München

www.dtv.deDas Werk ist urheberrechtlich geschützt.

Sämtliche, auch auszugsweise Verwertungen bleiben vorbehalten.© 1996 C.H. Beck’sche Verlagsbuchhandlung (Oskar Beck), München

ISBN 3-406-40999-7Umschlagkonzept: Balk & BrumshagenUmschlagfoto: corbis, Düsseldorf

Gesetzt aus: Times Ten Roman 10,5/11,5 PunktGesamtherstellung: Druckerei C. H. Beck, NördlingenGedruckt auf säurefreiem, chlorfrei gebleichtem Papier

Printed in Germany · ISBN 978-3-423-34360-2

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Inhalt

Vorwort 7

I. Römisches Reich und deutsche Lande (bis 1400) 10

II. Aufbruch und Abbruch (1400–1648) 31

III. Abenddämmerung des Reiches (1648–1806) 54

IV. Die Geburt der deutschen Nation (1806–1848) 73

V. Blut und Eisen (1848–1871) 85

VI. Deutsche Möglichkeiten – eine Abschweifung 103

VII. Nationalstaat in der Mitte Europas (1871–1890) 108

VIII. Innere Reichsgründung und Weltmachtstraum (1890–1914) 116

IX. Der Große Krieg und sein Nachkrieg (1914–1923) 130

X. Weimars Glanz und Ende (1924–1933) 146

XI. Großdeutscher Wahn (1933–1942) 165

XII. Finis Germaniae und neuer Anfang (1942–1949) 185

XIII. Geteilte Nation (1949–1990) 201

XIV. Ein zweiter Nationalstaat (1990–2000) 227

XV. Epilog: Was ist des Deutschen Vaterland? 233

Zeittafel 241

Hinweise zur Literatur 254

Abbildungsnachweise 258

Personenregister 259

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Vorwort

Was deutsche Geschichte sei, war für unsere Vorfahren keineFrage. Sie begann mit den Germanen und ihrem Kampf gegenRom. Daß Hermann der Cherusker, der Sieger über die Le-gionen des Quinctilius Varus in der Schlacht im TeutoburgerWald im Jahr 9 n. Chr., ein deutscher Held war, duldete kei-nen Zweifel, und heute noch trägt das Schwert des Her-mannsdenkmals bei Detmold in goldenen Lettern die In-schrift: »Deutschlands Einigkeit meine Stärke, meine StärkeDeutschlands Macht.« Von Hermann zog sich ein großer, klargezeichneter Bogen bis in die Gegenwart: Da war der Go-tenkönig Theoderich, der in Sagen und Märchen als Dietrichvon Bern weiterlebt, dann Karl der Große, der die römischeKaiserkrone erwarb und das Reich der Römer zu einem deut-schen machte. Es folgten die staufischen Kaiser Friedrich Bar-barossa und dessen Enkel Friedrich II., die in rätselhafterEinheit im Kyffhäuser auf ihre Wiederkehr in Deutschlandsgrößter Not warten. Darauf Martin Luther, die »deutscheNachtigall«, und Karl V., in dessen Reich die Sonne nicht un-terging, Friedrich der Große und Maria Theresia, mit denendie Uneinigkeit der deutschen Stämme ihren tragischenHöhepunkt erreichte, der Freiherr vom Stein und Blücher, der»Marschall Vorwärts«, und schließlich Bismarck, der »EiserneKanzler«, Schmied des neuen Reichs der Deutschen, das inder direkten Nachfolge des Heiligen Römischen Reichs Deut-scher Nation stand: Eine repräsentative Ahnengalerie deut-scher Geschichte, auf die die Deutschen stolz waren.

Doch dann kam die »deutsche Katastrophe« (FriedrichMeinecke), Hitlerreich und Weltkrieg, und 1945 die Höllen-fahrt des deutschen Nationalstaats. Der Schweizer HistorikerJacob Burckhardt hatte einst den »siegesdeutschen Anstrich«der deutschen Geschichte durch die deutsche Geschichtswis-senschaft ironisiert – dieser Anstrich löste sich jetzt auf, unddamit auch der sinnvolle Zusammenhang der deutschen Ge-schichte. Auf die goldene Legende vom geradlinigen Aufstiegdes germanisch-deutschen Reichs folgte die schwarze Legen-

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de vom bösen, total verfehlten deutschen Sonderweg, desseneinzige Wahrheit in den Verbrechen des »Dritten Reichs« be-stand, wenn man es nicht vorzog, Nationalgeschichte über-haupt für sinnlos zu halten oder mit Alfred Heuss den »Ver-lust der Geschichte« zu beklagen.

Eine Zeitlang war es für die Bewohner Westdeutschlandsein komfortabler Zustand, die Geschichte zu verdrängen, dieGegenwart mit ihren hohen industriellen Wachstumsratenund dem zunehmenden Massenwohlstand zu genießen undetwas erstaunt die übrige Welt zu betrachten, in der das Prin-zip der nationalen Identität ungebrochen herrschte und seinepolitische Wirksamkeit Tag für Tag unter Beweis stellte. DieDeutschen, obwohl auf einem äußerst exponierten Postender Weltpolitik beheimatet, schienen in allen ihren politi-schen Entscheidungen nur den einen Wunsch auszudrücken,keine Entscheidungen treffen zu müssen und in Ruhe gelas-sen zu werden. Die Menschen in der DDR dagegen waren ei-ner vom Politbüro der SED aufgezwungenen, von Partei-ideologen verfertigten und den jeweiligen politischen Verän-derungen angepaßten Geschichtssicht ausgesetzt, die jederDiskussion entzogen blieb.

Aber der Zustand bekömmlicher innerer Prosperität undseliger außenpolitischer Verantwortungslosigkeit ändertesich schlagartig, als die Mauer fiel und ein neuer deutscherNationalstaat ins Leben trat, dessen pure Existenz Europaverändert und der deshalb seinen Bürgern und den übrigenEuropäern erklären muß, als was er sich versteht. Um mittenin Europa eine Zukunft zu haben, müssen wir wissen, aufwelcher Vergangenheit die deutsche Gegenwart beruht.Denn niemand kann anfangen, sondern immer nur anknüp-fen. Das heißt, daß diejenigen, die glauben, völlig Neues zutun, nicht wirklich wissen können, was sie tun.

UmunsselbstundunsereneuropäischenNachbarndie»deut -sche Frage« zu beantworten,müssen wir erklären,was Deutsch-land ist, was es sein kann und was es sein soll. Dazu müssen wirerneut die deutsche Geschichte erzählen. Und weil nicht jeder-mann die Zeit oder Geduld aufbringt, vielbändige Kompendi-en durchzuarbeiten, erzählen wir diesmal die deutsche Ge-schichte in aller Kürze, mit dem Blick auf das Wesentliche.

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Auch eine kleine deutsche Geschichte gelingt nicht ohneHelfer. Ina Ulrike Paul, Uwe Puschner und meine Frau habendas Manuskript sorgfältig durchkorrigiert, Joachim Ehlers hateinen kritischen Blick auf das erste Kapitel geworfen, und Detlef Felken hat das Buch mit beträchtlichem Einsatz undkenntnisreich lektoriert. Von Christoph Stölzl, Direktor desDeutschen Historischen Museums in Berlin, stammt überhauptdie Ermutigung zu diesem Buch. Ihnen allen herzlichen Dank.

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I. Römisches Reich und deutsche Lande (bis 1400)

Nicht in den germanischen Urwäldern hat die deutsche Ge-schichte ihren Ursprung, sondern in Rom: Jenem außeror-dentlichen italischen Stadtstaat, dessen Herrschaftsraum sichschließlich um das gesamte Mittelmeerbecken erstreckte, derEuropa bis zum Rhein, zum Limes und zur Donau beherrsch-te, dessen einheitliche und dennoch vielgestaltige Zivilisationfür die Menschen der Antike eine klar umrissene Welt, eineÖkumene war. Nichts Höheres gab es, als römischer Bürgerzu sein; der Apostel Paulus war darauf ebenso stolz wie derCheruskerfürst Arminius, aller Differenzen mit Rom unge-achtet. Der Dichter Vergil, der mit seiner Aeneis den römi-schen Staatsmythos schuf, erklärte es zur Aufgabe Roms, dieWelt zu regieren, dem Frieden Gesittung und Gesetz zu ver-schaffen, die Unterworfenen zu schonen und die Aufmüpfi-gen zu unterwerfen. Dieses Imperium Romanum ist für unsHeutige der »ferne Spiegel« (Barbara Tuchman), in dem sichalle Nationen Europas, ganz gewiß die deutsche, bis in dieGegenwart hinein wiedererkennen können. Grundlagen vonStaat und Recht, städtische Lebensweise, Sprachen undDenkformen, Baukunst, Schrift und Buch, kurz, die Voraus-setzungen unserer heutigen Lebenswelt sind ohne die Zivili-sation Roms und ohne die damit verwobenen Kulturen desklassischen Griechenland und des hellenistischen Orientnicht denkbar.

So dauerhaft das »ewige Rom« erschien, so wandelbar wares. Im Verlauf des 4. Jahrhunderts n. Chr. erlebte es zwei tiefeUmwälzungen. Unter Konstantin dem Großen (306 –337)wurde ein orientalischer Erlösungsglaube zur Staatsreligion,das Christentum. In derselben Epoche spaltete sich dasReich, dessen riesige Ausmaße von einem einzigen Ort ausnicht mehr beherrschbar waren, in ein lateinisch-römischesWestreich und ein griechisch-byzantinisches Ost reich. DieSpaltung des Reichs erfaßte auch die christliche Kirche; diebyzantinische Orthodoxie wandte sich von dem lateinischenChristentum des Westens ab, die politische Teilung Europas

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durch die kirchliche vertiefend: Das war der Ausgangspunktder langdauernden politischen, kirchlichen und ideologi-schen Trennung des Abendlandes. Zwei deutlich voneinanderunterschiedene Zivilisationen entstanden auf europäischemBoden, rieben sich aneinander, berührten sich immer wieder,ohne sich je dauerhaft zu durchdringen: Rom und Byzanz,die lateinische und die orthodoxe Christenheit, liberaler We-sten und slawophiler Osten, schließlich die Kultur von De-mokratie und Menschenrechten gegen bolschewistisches So-wjetsystem. Erst jetzt, vor unseren Augen, so scheint es, be-ginnt sich diese jahrtausendealte Kluft, die Europa trennt,einzuebnen – mag sein, daß wir das noch gar nicht wirklichverstanden haben.

Anders als das östliche Byzanz, das noch ein ganzes Jahr-tausend glanzvoll bestehen blieb, nur allmählich dahin-schwand und erst 1453 mit der Eroberung Konstantinopelsdurch die Türken fiel, dauerte das weströmische Reich nichtmehr lange. Es versank in den immer häufigeren Wellen derBarbaren aus dem ungestalten, nebligen Norden, die vor denUnbilden der Natur, den Folgen der Übervölkerung und voranderen, nachdrängenden Völkern flohen und begehrten,sich im Römischen Reich niederzulassen und sich an seinerVerteidigung zu beteiligen. In Rom nannte man diese nordi-schen Barbaren Germanen – Caesar hatte den Namen vonden Galliern übernommen, die damit jene wilden Völker ge-meint hatten, die von jenseits des Rheins in Gallien einzu-dringen suchten, und Caesar hatte von dem Namen dieserVölkerschaften auch die Bezeichnung für das Gebiet jenseitsdes Rheins und der Donau abgeleitet: Germania. Germanewar nicht viel mehr als die Herkunftsbezeichnung für einen,der aus den wenig bekannten Gebieten östlich des Rheinskam; über die ethnische und sprachliche Homogenität derGermanen streiten sich heute die Wissenschaftler. Jedenfallseigneten sich die von Norden herandrängenden Scharen auf-grund ihrer kriegerischen Fähigkeiten vorzüglich zu militäri-schen Zwecken. Bald bestanden die Prätorianergarden derCae saren vorzugsweise aus Germanen, und germanischeVölker erhielten die Erlaubnis, innerhalb des Reiches inGrenznähe zu siedeln und das römische Bürgerrecht zu be-

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sitzen. Solcher Schutz schlug leicht in Bedrohung um, wennder Beschützte, der Kaiser, die Institutionen und das Reichselbst schwach und von den barbarischen Kriegsexperten ab-hängig wurden. Germanische Heermeister und germanischeTruppenteile entschieden immer häufiger über die Kaiser, bisschließlich der germanische Söldnerführer Odoaker 476 denletzten weströmischen Kaiser Romulus Augustulus absetzteund sich selbst vom Heer zum König ausrufen ließ.

Wieder ein Untergang, aber nicht das Ende des Römi-schen Reichs, sondern nur Beginn einer erneuten Verwand-lung. Die germanischen Völker der Wanderungszeit – Gotenund Langobarden in Italien, Westgoten in Spanien und Süd-frankreich, Angelsachsen in Britannien, Burgunder undFranken in Gallien – suchten selbst Römer zu werden, indemsie sich in den leerstehenden Gehäusen des verfallendenReichs einrichteten, die unendlich komplexe, verfeinerte rö-misch-vorderasiatische Zivilisation der Spätantike den einfa-chen Kulturformen ihrer Herkunft anverwandelten: Die tra-ditionellen römischen Verwaltungen wurden, wenn auch invereinfachter Weise, übernommen, die germanischen König-tümer wurden römisch-monarchisch überformt, das römischeRechtswesen stand Pate bei der Umwandlung germanischenGewohnheitsrechts in schriftlich fixierte Volksrechte. Im We-sten war das römische Kaisertum verschwunden, aber keinerder germanischen Könige zweifelte daran, daß das RömischeReich fortdauerte.

Auch in anderer Hinsicht lebte Rom verändert weiter.Während die Stadt am Tiber verfiel, die Bevölkerung rapideabnahm, Viehherden auf dem Forum weideten und das städ-tische Leben erstarb, wandelte sich der Bischof von Rom alsNachfolger des Apostelfürsten Petrus zum Papst und damitzum Oberhaupt der Kirche. Rom wurde nicht nur zum spiri-tuellen Mittelpunkt der katholischen Christenheit, zu dersich nach und nach auch die Germanenvölker bekannten. Ingewisser Hinsicht wuchs auch die Kirche in den Reichsauf-bau hinein, in der kirchlichen Hierarchie überlebte die römi-sche Reichsverwaltung: Die Meßgewänder des katholischenKlerus von heute gehen auf die Amtstrachten der römischenBürokratie zurück. Zudem verbürgte die lateinische Sprache

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als Sprache der Kirche, der Politik und der Literatur wei-terhin die kulturelle Einheit des westlichen Europa; in denKlöstern beugten sich die Mönche nach wie vor über dieSchriften Ciceros und Vergils. Das Römische Reich existierteweiter, in der Idee ebenso wie in abgemagerten Institutionen,vor allem auch in der triumphierenden Kirche.

Beides, Reichsidee und Kirche, erwies sich als so dauer-haft, daß mehr als dreihundert Jahre nach dem Sturz des Romulus Augustulus ein neuer Kaiser in der Stadt Rom er-schien: Karl, König der Franken, der später »der Große« genannt werden sollte, der sich durch seine Siege über dieSachsen und die Langobarden zum mächtigsten HerrscherWesteuropas aufgeschwungen hatte und der seine Machtdurch ein dauerhaftes Bündnis mit dem römischen Papst zufestigen suchte. Er bestätigte die Schenkungen, die sein VaterPippin III. dem Papst gemacht hatte und die die Grundlagedes späteren Kirchenstaats darstellten, und Papst Leo III. revanchierte sich, indem er am Weihnachtstag des Jahrs 800Karl in der St. Peters-Basilika in Rom zum Kaiser krönte –die Porphyrplatte, auf der Karl kniete, ist noch heute inSt. Peter zu finden. Karls Chronist Einhard berichtet, seinKönig sei, im Gebet vertieft, gegen seinen Willen gewisser-maßen hinterrücks zum Kaiser gekrönt worden, und tatsäch-lich wußte Karl, daß sich daraus Konflikte mit dem einzigenlegitimen Kaiser in der Christenheit, dem von Byzanz, erge-ben mußten. Auf alle Fälle trat Karl in die Nachfolge Caesarsund Konstantins ein, nannte sich augustus imperator, und seinSiegel trug fortan die Umschrift Renovatio Imperii Romani,Erneuerung des Römischen Reichs. Und das zu Recht; vonjetzt an sollte es fast ununterbrochen tausend Jahre lang einen Römischen Kaiser geben. Der letzte, der HabsburgerFranz II., legte erst 1806 Titel und Krone nieder, von der Öf-fentlichkeit kaum beachtet.

Der Vergleich zwischen dem antiken römischen Reich unddem Reich Karls des Großen lag insofern nahe, als Karl fastalle germanischen Königreiche und Herzogtümer Europas,mit Ausnahme der skandinavischen und der britischen, unterseiner Herrschaft vereint hatte. Das Reich dehnte sich vonder Eider bis zum Tiber, von der Elbe bis zum Ebro, vom Är-

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melkanal bis zum Plattensee aus. Karl der Große begann, po-litische und kirchliche Verwaltung, Verkehr und Kalender-rechnung, Kunst und Literatur und – als Grundlage für dasalles – Schrift und Sprache zu reformieren, und zwar unterRückgriff auf römische Zivilisationsreste. Er lud einen An-gelsachsen, Alkuin von York, als Chefberater in Kulturange-legenheiten ein, dazu Gelehrte aus Italien und Spanien: Diekarolingische Renaissance fand ihre Anregungen allenthal-ben in Europa. Alle Anstrengungen dienten dazu, eine aureaRoma iterum renovata hervorzubringen, ein erneuertes gol-denes Rom. Wir können heute die klassischen lateinischenAutoren großenteils nur wegen der Begeisterung und desFleißes karolingischer Schreiber lesen, deren eigene, oft vor-zügliche Gedichte in antikem Versmaß vier umfangreicheBände der Monumenta Germaniae Historica, der großenSammlung mittelalterlicher Quellen, füllen.

Im Westen des Frankenreichs, in Gallien und Italien, funk-tionierten noch Reste der alten römischen Verwaltung; diegermanischen Siedlungslandschaften östlich des Rheins, dieGaue, aber auch Kirchspiele, Klöster und Bistümer, weltlicheund geistliche Grundherrschaften bildeten ein grobmaschi-ges Verwaltungsnetz. Karl der Große richtete Verwaltungs-bezirke ein, sogenannte ducati, an deren Spitze jeweils eindux stand: kein Herzog, also Stammesführer, sondern ein ho-her Beamter aus dem fränkischen Reichsadel, dessen Titelnoch auf die Verwaltungsreform Konstantins des Großenzurückging. Karls Sendboten, die missi dominici, überwach-ten die Reichsverwaltung, und die fränkische Reichskirche,deren Bistümer von Karl besetzt wurden, bildete eine zusätz-liche Klammer.

Dennoch, trotz aller Anstrengungen konnte dieses Reichnicht dauern. Auch ohne die Erbstreitigkeiten zwischen KarlsEnkeln hätte das Reich zerfallen müssen; eine Weisung, dieder Kaiser von Aachen nach Rom schickte, brauchte zweiMonate, um ihr Ziel zu erreichen. Die örtlichen und regiona-len Amtsgewalten konnten, ja mußten die längste Zeit nacheigenem Ermessen handeln: Wie sollte man da das Reich zusammenhalten? Die drei Enkel Karls teilten es unter sichauf, Ludwig erhielt den östlichen, Karl den westlichen Teil,

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Lothar das Land in der Mitte, Lotharingien, das sich von derMündung des Rheins bis nach Italien erstreckte und dasLudwig, als Lothars Geschlecht erlosch, im Jahr 870 seinemostfränkischen Reich zuschlug. Damit war eine Grundkon-stellation der weiteren europäischen Geschichte hergestellt:Der Kern des Kontinents war von nun an dauerhaft geteilt,die verschwisterten Reiche der West- und der Ostfrankentrieben auseinander; aus ihnen sollten einmal Frankreich undDeutschland werden. Das Erbe Roms und Karls des Großenblieb ihnen gemeinsam, und gemeinsam blieb ihnen derStreit um die Ländereien des einstigen Zwischenreichs Lo-tharingien, der aus Frankreich und Deutschland für die näch-sten zwölfhundert Jahre feindliche Brüder werden ließ.

Damit, so haben wir es in der Schule gelernt, beginnt diedeutsche Geschichte. Da war der Sachsenherzog Heinrich,der einer treuherzigen Ballade des 19. Jahrhunderts zufolgedamit beschäftigt war, Vögel zu fangen, als er von nicht näherbezeichneten Gesandten mit dem Ruf »Hoch lebe KaiserHeinrich! – Hoch des Sachsenlandes Stern« gestört wurde . . .Heinrich I. (919–936) ging, von Sachsen und Franken ge-wählt, als Begründer der sächsischen oder ottonischen Dyna-stie in die Geschichte ein, nicht allerdings als Kaiser; seineKönigsherrschaft wurde nach Kompromissen und militäri-schen Drohungen von Schwaben und Bayern akzeptiert, aufLothringer, Böhmen und Elbslawen ausgeweitet und von denwestfränkischen Karolingern bestätigt. Die einmütige Wahlvon Heinrichs Sohn Otto (936–973) zum König befestigtedie Dauerhaftigkeit des ostfränkischen Reichs, das auch inder Zukunft nicht mehr, wie zuvor das Erbe Karls desGroßen, durch Erbstreitigkeiten und Erbteilungen gefährdetwar. Otto I. besiegte 955 die Ungarn auf dem Lechfeld undhieß seitdem »der Große«. Sieben Jahre darauf ließ er sich inRom von Papst Johannes XII. zum römischen Kaiser krönenund erneuerte die kaiserliche Schutzhoheit über Rom; er er-wirkte die Anerkennung seines Kaisertums durch Byzanzund verheiratete seinen Sohn und Nachfolger, den künftigen Otto II. (961–983), mit einer byzantinischen Prinzessin. Kö-nigtum und Kaiserkrone waren von jetzt an fast immer mit-einander verbunden. Sein Enkel Otto III. (983–1002) griff in

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der Tradition Karls des Großen die Idee einer Erneuerungdes römischen Reichs auf – er starb mit einundzwanzig Jah-ren in der Nähe Roms und wurde in Aachen beigesetzt.

Das Jahrhundert der salischen Kaiser (1024–1125) er-scheint uns vor allem als das Jahrhundert, in dem die drama-tische Auseinandersetzung zwischen Kaiser- und Papsttumihren Anfang nahm. Bis in das 11. Jahrhundert hinein hattenKaiser und Könige Europas das Recht für sich in Anspruchgenommen, kirchliche Ämter nach eigenem Gutdünken zubesetzen. Im Zuge einer Reformbewegung, die im 10. Jahr-hundert von der burgundischen Benediktinerabtei Clunyausging, setzte sich jedoch auf kirchlicher Seite die Auffas-sung durch, daß es Aufgabe der Kirche sei, zwischen der Voll-kommenheit Gottes und der Unvollkommenheit weltlicherHerrschaft zu vermitteln, woraus sich ein höheres göttlichesRecht der Kirche gegenüber den weltlichen Herrschern erge-be. Deshalb müßten alle weltlichen Einflüsse auf die Beset-zung der kirchlichen Ämter ausgeschaltet werden. Nun warseit Otto dem Großen die Kirche eine Stütze des Reiches ge-worden, und die ottonischen und salischen Kaiser hatten des-halb starken Einfluß auf die Papstwahlen und die Verwaltungdes Kirchenstaats genommen. So kam es seit 1075 zwischenPapst und Kaiser zum Konflikt. Papst Gregor VII. (1073 –1085) erließ an König Heinrich IV. ein förmliches Verbot derInvestitur von Bischöfen und Äbten, was Heinrich IV. mit demonstrativer Nichtbeachtung und Absetzung des Papstesbeantwortete.

Der Streit eskalierte und reichte weit über die beiden Per-sonen und ihre Lebensdauer hinaus – es ging letzten Endesum die Ordnung der Welt und um die Frage, in welchem Ver-hältnis geistliche und weltliche Macht, sacerdotium und reg-num, zueinander stehen sollten. Nach langen, wechselvollenAuseinandersetzungen, aus denen schließlich Kaiser wiePapst als Verlierer hervorgehen sollten, traten Kirche undStaat auseinander. Damit ergab sich eine entscheidende Vor-aussetzung für die moderne europäische Staatengeschichteund für die Herausbildung zweier Freiheitsprinzipien, die fürdie weitere Entwicklung der politischen Kultur Europasgrundlegend sein sollten: einerseits die Freiheit des Glaubens

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von staatlicher Zwangsgewalt, andererseits die Freiheit derPolitik von kirchlicher Gängelung.

Gipfel und Niedergang mittelalterlicher deutscher Kaiser-herrlichkeit, so will es unsere geläufige Geschichtssicht, istmit der Dynastie der Staufer (1152–1254) verbunden. Fried -rich I. (1152–1190), von den italienischen Zeitgenossen we-gen seines rötlich blonden Bartes »Barbarossa«, Rotbart, ge-nannt, ist in seiner Epoche wie auch im Gedächtnis spätererZeiten der volkstümlichste mittelalterliche Kaiser gewesen.Der Glanz seiner Hoftage, seine Heirat mit Beatrix vonBurgund, die wechselvollen Italienzüge, der Triumph überden rebellischen Herausforderer Heinrich den Löwen,schließlich sein merkwürdiger und als weihevoll empfunde-ner Tod in Kleinasien während des dritten Kreuzzugs: Das al-les war der Boden, aus dem Mythen wuchsen. Kein andererKaiser hat die Erinnerung und die Phantasie späterer Gene-rationen so bewegt wie dieser, bis hin zu der Sage vom schla-fenden Barbarossa im Kyffhäuser:

»Er hat hinabgenommenDes Reiches Herrlichkeit,Und wird einst wiederkommenMit ihr zu seiner Zeit«,

Sinnbild der schweifenden nationalen Sehnsüchte des frühen19. Jahrhunderts, dem ein erneuertes, mehr romantisch er-träumtes als wirkliches staufisches Reich als Erfüllung derdeutschen Zukunft galt. Ursprünglich meinte die Sage vomKaiser im Berg aber Barbarossas Enkel, den glanzvollen undmerkwürdig fremden Staufer Friedrich II. (1212–1250), dervon seiner Mutter Konstanze das Normannenreich Siziliengeerbt hatte und dort eine Herrschaft entfaltete, die auf rö-mischen, byzantinischen, normannischen und arabischenGrundlagen ruhte und nicht weniger als den grandiosen,noch ganz unzeitgemäßen Versuch darstellte, einen völlig ra-tional durchorganisierten Staat aus einem einzigen Willenwie auf dem Reißbrett zu entwerfen – einen Staat als Kunst-werk, der allerdings mit dem Tod des Kaisers sein Ende fand.Friedrich, ein verfrühter Renaissancefürst in gewaltigem For-

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mat, wollte neuer Konstantin und Bringer des goldenen Frie-densreiches sein. Er entzückte und entsetzte seine Zeitgenos-sen; seine unausweichliche Gegnerschaft zum Papsttummündete in einen Macht- und Propagandakrieg, wie ihn dieChristenheit noch nicht erlebt hatte. Die kaiserliche Propa-ganda schilderte ihn als letzten Kaiser der Weltgeschichte mitmessianischen Zügen, die päpstliche Reaktion ließ ihn als dasUntier der Apokalypse, als Antichrist, erscheinen. Nach sei-nem Tod 1250 verbannte ihn die kirchliche Legende in denteuflischen, feuerspeienden Ätna, während die spätmittelal-terliche Sehnsucht nach der Erscheinung des Friedenskaisers,der am Ende der Zeiten steht, Fried rich II., »Wunder undWandler der Welt«, in den Kyffhäuser versetzte, wo er imLaufe der Jahrhunderte mit Barbarossa verschmolz.

Mit dem Tod Friedrichs II. endete des staufischen ReichesHerrlichkeit. Der Papst belehnte den französischen Königs-bruder Karl von Anjou mit der Herrschaft Siziliens. Fried -richs Sohn Konrad IV. (1237–1254) starb vier Jahre danach inItalien, ohne die Kaiserkrönung erlangt zu haben, und dessenSohn Konradin (1252–1268), der nach Italien zog, um sein sizilianisches Erbe zu beanspruchen, wurde in der Schlachtbei Tagliacozzo von Karl von Anjou besiegt, gefangengenom-men und mit ganzen sechzehn Jahren in Neapel hingerichtet.Damit begann das Interregnum (1254–1273), »die kaiserlose,die schreckliche Zeit«, in der die Schwäche der Reichszen-tralgewalt rapide zunahm, bis sich mit der Wahl Rudolf vonHabsburgs (1273–1291) die königliche Gewalt wieder halb-wegs konsolidierte. Es folgt eine Epoche, in der das innereGefüge des Reichs sich lockert, ohne daß der Bestand desReichs erheblich beeinträchtigt wurde. Kennzeichnend fürdiese Zeit waren die verhältnismäßig offenen Königswahlen,durch die in bunter Reihenfolge Herrscher aus den HäusernHabsburg, Nassau, Wittelsbach und Luxemburg den deut-schen Thron bestiegen und seit Heinrich VII. von Luxemburg(1308–1313) auch wieder die Kaiserkrönung erlangten. Wirwollen hier einhalten und einen Blick auf den bislang abge-schrittenen Zeitraum werfen, der uns in den Schulbüchern inder Regel als die Epoche des mittelalterlichen deutschenKaisertums entgegentritt.

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Wie deutsch waren die Könige und Kaiser seit Heinrich I.und Otto dem Großen wirklich? Das Wort Deutschland gabes noch lange nicht – es entstand erst im 15. Jahrhundert undbrauchte noch etwa weitere hundert Jahre, um sich durchzu-setzen. Die Menschen, die östlich des Rheins lebten, wußtenjahrhundertelang nichts davon, Deutsche zu sein. Das lagdaran, daß es, anders als beispielsweise im Fall der Frankenoder dem der Angelsachsen, ein »deutsches« Volk nicht gab.Es gab vielmehr östlich des Rheins seit dem Zerfall des karo-lingischen Reichs im Verlauf des 9. Jahrhunderts eine Anzahlvon Herzogtümern – Thüringer, Bayern, Alemannen, Sach-sen –, die keineswegs auf die Völker der Wanderungszeitzurückgeführt werden können, sondern die aus den Verwal-tungsbezirken des Reichs Karls des Großen hervorgingen.Nicht »deutsche Stämme«, sondern eine fränkisch geprägteAristokratie bildete den politischen Zusammenhalt des Gebiets östlich des Rheins, das seit römischen Zeiten als Germania bezeichnet wurde. Diese Schicht von Aristokratenakzeptierte seit 833 die Herrschaft des Kaisersohns Ludwigim ostfränkischen Reich, der damit rex Germaniae, König deröstlich des Rheins gelegenen Länder, wurde und eben nicht»Ludwig der Deutsche«, wie national denkende Historikerihn seit dem 19. Jahrhundert genannt haben.

Bis weit in das 11. Jahrhundert hinein sollte sich diesesReich, das da östlich des Rheins entstanden war, als fränki-sches Reich verstehen, seine Traditionen also in den fränki-schen Überlieferungen über die Karolinger und Merowingerzurück nach Rom und bis Troja verfolgen, nicht anders, alsdies auch für den westfränkischen Reichsteil galt. Die Königedieses Ostfrankenreichs vermieden jede nähere ethnischeBestimmung ihres Königstitels, nannten sich also lediglichrex und nicht etwa rex Francorum und schon gar nicht rexTeutonicorum, also König der Deutschen. Nachdem 919 mitHeinrich I. die sächsische Dynastie die Königskrone erwor-ben hatte, traten Sachsen für mehr als hundert Jahre in denVordergrund und an die Stelle der Franken. Für den MönchWidukind von Corvey (etwa 925–973), der eine Geschich-te der Sachsen, vor allem zur Zeit Ottos I., verfaßte, war dasReich omnis Francia Saxoniaque, bestand also aus dem

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Franken- und dem Sachsenland; von Deutschland wußte ernichts.

Dies um so weniger, als 962 mit der Kaiserkrönung Ottos I. durch Papst Johannes XII. das ottonisch-sächsischeKönigshaus in die Tradition Karls des Großen und damit desRömischen Reichs aufstieg und damit die höchste Legitima-tion besaß, die das Mittelalter in weltlichen Dingen über-haupt kannte. Das Römische Reich, das wußte man seit demheiligen Augustinus, besaß einen festen Platz in der Weltge-schichte, die zugleich Heilsgeschichte war; es war die letztegroße Weltmonarchie. Das römische Kaisertum war seinerIdee nach eine universale, auf die Weltherrschaft gerichteteMacht, die unmittelbar von Gott kam; deshalb war in denkaiserlichen Urkunden seit 1157 stets vom »Heiligen Römi-schen Reich« die Rede. Das waren Perspektiven, die weit überden ostfränkischen, später deutschen Königstitel hinausgin-gen; das Reich integrierte sich daher römisch, nicht deutsch.

Das Wort »deutsch« kommt von thiutisk oder lat. theodis-cus, ein Begriff, der einfach »volkssprachlich« bedeutete. Ge-meint war damit keineswegs eine bestimmte, einheitlicheSprache, sondern jede Volkssprache, die sich vom gelehrtenLatein der Kirche wie von den romanischen und slawischenSprachen Europas unterschied: etwa Alemannisch, Alt-Säch-sisch, Bayerisch oder Ostfränkisch. Das erste Mal hören wirvon theodiscus in dem Bericht eines karolingischen Bischofsan den Papst über eine Synode, die 786 im britannischenMercia stattgefunden hat. Bei dieser Gelegenheit seien dievoraufgegangenen Synodalbeschlüsse »sowohl in lateinischerals auch in der Volkssprache (theo disce)« verlesen worden,»die alle verstehen konnten« – in diesem Fall also Alt-Angel-sächsisch. Einige Volkssprachen erreichten literarische Hö -hen – das heute sogenannte »Alt-Hochdeutsch« ging haupt -sächlich aus dem rheinfränkischen Dialekt hervor, der amHof der Karolinger gesprochen wurde, verschwand aber wie-der im Laufe des 10. Jahrhunderts, als die Herrschaft in derGermania auf die sächsischen Ottonen übergegangen war.Die mittelhochdeutsche Dichtung des Hochmittelalters, alsoetwa seit 1150, beruhte dagegen auf unterschiedlichen Dia-lektgrundlagen, unter denen das Limburgisch-Rheinische