[Khadra_Yasmina]_Nacht_über_Algier

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  • 7/29/2019 [Khadra_Yasmina]_Nacht_ber_Algier

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    Yasmina Khadra

    Nacht ber Algier

    scanned 06-2006/V1.0

    Schlaflose Nchte bereitet Kommissar Llob sein junger Assistent Lino. Denn

    der hat ein Verhltnis mit der Geliebten des mchtigen Haj Thobane. DasUnglck lt nicht lange auf sich warten: Schon bald schiebt Thobaneseinem Nebenbuhler einen Mord in die Schuhe. Zusammen mit derJournalistin Soria strzt sich Llob in halsbrecherische private Ermittlungen,die ihn auf die Spur kaltbltiger Verbrechen der gesellschaftlichen Elitefhren.

    Ein schonungsloser und mitreiender Roman, ein Portrt Algeriens an derSchwelle zum Fundamentalismus.

    ISBN: 978-3-351-03064-3Original: La part du mort

    Aus dem Franzsischen von Frauke RotherVerlag: Aufbau-Verlag

    Erscheinungsjahr: 1. Auflage 2006

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    Buch

    Mit den Erfolgsromanen Wovon die Wlfe trumen und DieSchwalben von Kabul wurde Yasmina Khadra zum Chronistender blutigen Tragdie seiner Heimat. Im vorliegenden Romanlt er den unbestechlichen Kommissar Brahim Llob hinter dieFassade einer sich selbst zerstrenden Gesellschaft blicken. DieBegnadigung eines Serienmrders versetzt Algier in Angst undSchrecken. Zu Recht, denn der erste Tote lt nicht lange aufsich warten. Es trifft den Chauffeur Haj Thobanes, eines dereinflureichsten Mnner des Landes. Thobane selbst berlebtdas Attentat und sinnt auf Rache. Schnell findet er einenSchuldigen: Llobs junger Assistent Lino hat kein Alibi fr dieTatzeit, wohl aber ein Verhltnis mit der Geliebten Thobanes.Auerdem wurde seine Waffe am Tatort sichergestellt. Kom-missar Llob mitraut jedoch den allzu offensichtlichen Indizien,die seinen Kollegen eindeutig belasten. Zusammen mit der

    attraktiven Journalistin Soria Karadach strzt er sich in privateErmittlungen, die ihn auf die Spur kaltbltiger Verbrechen dergesellschaftlichen Elite fhren.

    In eindrucksvoller Weise schildert der Autor die Situationeines Landes zwischen Brgerkrieg und Korruption und decktdie Ursachen und Hintergrnde fr Angst und Terror, Manipula-tion und religisen Fanatismus auf.

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    Autor

    YASMINA KHADRA ist das Pseudonym des 1955 geborenenalgerischen Autors Mohammed Moulessehoul. Als hoherOffizier der algerischen Armee konnte er dieses Pseudonym, dieVornamen seiner Frau, erst lften, als er im Januar 2001 mitseiner Familie ins Exil nach Frankreich ging. Mit seinenKriminalromanen um Kommissar Llob wurde er in Deutschland

    bekannt. Der 2002 beim Aufbau Verlag erschienene RomanWovon die Wlfe trumen erreichte die Spiegel-Bestseller-

    liste und wurde vom Feuilleton als ein Roman ber dieTragdie unserer Zeit in unzhligen Rezensionen hervorgeho-ben. Zuletzt wurden seine Romane Die Schwalben von Kabulund Die Lmmer des Herrn ins Deutsche bersetzt.

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    Elftes Gebot:

    Wenn die Zehn Gebote deine Seele

    nicht haben retten knnen, wenn

    dir noch immer alles gleichgltig

    ist, dann sage dir, da du nicht

    viel taugst.

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    Man knnte meinen, die Erde htte aufgehrt sich zu drehen.

    Mit jeder Minute habe ich das Gefhl, mich aufzulsen, jederAugenblick, der vergeht, scheint ein Stck von mir mit sichfortzureien.

    Eine trostlose Ruhe lastet ber der Stadt. Alles pltschert vorsich hin. Die Leute gehen ihren Geschften nach, die alten

    Mtterchen dmmern vor sich hin und kein einziges Verbre-chen in Sicht. Fr einen dynamischen Polizeikommissar ist daswie ein Schiff auf dem Trockendock.

    Nachdem der Verrckte mit dem Skalpell unschdlich ge-macht worden ist, atmet Algier wieder auf. Man geht sptschlafen und kommt nur schwer aus den Federn. Der Wohl-fahrtsstaat gibt sich dem Nichtstun genauso stumpfsinnig hinwie seine Entscheidungstrger. Von morgens bis abends hngen

    die Leute faul herum, bohren in der Nase, den Blick ins Leeregerichtet. Man ahnt wohl, da etwas Schreckliches in der Luftliegt, aber niemand schert sich darum. Wir Algerier handelnnicht vorausschauend, sondern erst, wenn das Kind bereits inden Brunnen gefallen ist.

    Die Sintflut steht kurz bevor, aber wir tun so, als ginge uns dasnichts an. Unsere hochheiligen Fhrer sind auf der Hut, die

    Mlltonnen quellen ber von Lebensmitteln, und die Wirt-schaftskrise, die den Planeten bedroht, halten wir fr einenKometen.

    Mit einem Wort, wir leben wie im Schlaraffenland.

    Es hat die ganze Nacht geregnet. Bis zum Morgen tobte derWind ber der Stadt. Erst mit der Dmmerung lichtete sich derHimmel, und ber den Dchern der Stadt brach eine trbeRembrandtsche Sonne durch. Der Winter hat noch nicht mal

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    seine Grautne eingepackt, und schon ist der Sommer da,schaltet den Frhling einfach aus. Wie Sternschnuppen strahlendie jungen Mdchen mit ihren hbschen Puppengesichtern und

    ihren wippenden Hintern in den Straen. Eine Augenweide.Wenn ich zwanzig Jahre jnger wre, wrde ich sie alle heira-ten.

    Ich versuche etwas Ungewhnliches an der Wand gegenberzu entdecken, um darber nachsinnen zu knnen. Seit Monatendrehe ich Dumchen. Kein Einbruch, keine Hundeentfhrung nichts. Als ob Algier sich weigerte, mit mir zusammenzuarbei-ten.

    Ich habe meinen Kaffee bis auf den letzten Tropfen ausgetrun-ken, und die zahllosen Arabesken, die ich wie abwesend aufmeine Schreibunterlage gekritzelt habe, sind alle entziffert; abernichts zu machen, die Zeiger der Wanduhr rhren sich nicht. Esist 15 Uhr 15, und allmhlich wird mir die Zeit lang.

    Bedrohlich und hhnisch grinsend blickt der Ras, der Prsi-dent der Republik, aus seinem Goldrahmen auf mich herab.

    Tausendmal bin ich schon aufgestanden und wollte ihn abhn-gen, aber tausendmal frchtete ich, den Zorn des Himmels aufmich zu ziehen. Einsichtig und geduldig ertrage ich also meinSchicksal, bis uns die nchste Revolution einen wenigertrockenen Windgott beschert.

    Da kommt auf einmal Lino, ohne anzuklopfen, in mein Kabuffreingeschneit.

    He, Kommy, was sagst du dazu? platzt er los und dreht sichdabei, in Schale geworfen wie ein monegassischer Prinz, um dieeigene Achse.

    Tolle Leistung, fr so eine Pfeife wie dich.

    Gefall ich dir nicht?

    Ich zeige ihm meinen Ehering.

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    Er grinst, geht zur Fenstertr und betrachtet sich darin. Sicht-lich zufrieden, setzt er seine Imperialistenbrille wieder auf undstreicht sich behutsam ber die Schmalztolle. Er zeigt mir das

    Innenfutter seines Jacketts.Pierre Cardin: 8500 Muse. Gnadenlos. Hose von Lacoste:

    4500. Hemd von Kenzo, reine Seide: 2245. Und Schuhe vonDodoni, echt Krokodil, Kho1 fr 9990.

    Jetzt begreife ich endlich, warum so manche Rebellionmangels Pulver im Sande verlaufen ist. Lotto oder Erpressung?

    Lohnstreifen und Sparschwein Wie findest du mich?

    Seltsam.Du kannst einem wirklich die Laune verderben, Chef! bri-

    gens, rate mal, wohin ich heute abend essen gehe?

    Keine Ahnung.

    Ins Sultanat bleu, den nobelsten Laden in der ganzen Bucht.Das Essen ist da so gut, selbst ausgeschissen kann man es nochin einem Fast-food-Restaurant servieren.

    Du hast also doch im Lotto gewonnen.Irrtum. Es stimmt allerdings, da ich nen Volltreffer gelan-

    det habe, und zwar bei einer Dame. In einer halben Stunde binich mit ihr verabredet.

    Wo ist deine Knarre?

    Lino wei genau, worauf ich anspiele. Er wirft den Kopfzurck und erwidert mrrisch: Brauch ich nicht, Kommy. Das

    ist kein Hschen. Diesmal ist es was Solides.Seine gute Laune ist verflogen, er macht auf dem Absatz kehrt.

    15 Uhr 19 zeigt die Uhr erbarmungslos.

    1 Kho (arab.) Kurzform zu Khouja: Bruder; im Maghrebweitverbreitete Floskel, speziell in Algier (und dort in der

    Kasbah und in Bab El-Oued).7

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    Ich nehme das Telefon und rufe den Chef im dritten Stock an.

    Jaa? Inspektor Bliss nimmt den Hrer ab, was mir die Galleberlaufen lt.

    Kommissar Llob am Apparat.Was willst du? knurrt er.

    Und du, was treibst du im Bro vom Bo?

    Ich arbeite.

    La den Quatsch, und gib mir den Direx.

    Wie nennst du ihn, bitteschn?

    Ich wrde am liebsten durch den Hrer greifen und ihm an dieGurgel gehen.

    Ich wute gar nicht, da du neuerdings sein Anrufbeantwor-ter bist.

    Er knallt den Hrer auf die Gabel, ohne Respekt vor meinemAlter und meinem Dienstgrad. Ich rege mich kurz auf, und alsordentlicher Algerier nehme ich dann, da der Chef nicht da ist,

    meine Jacke und mache mich aus dem Staub.

    Nach ziellosem Umherirren lande ich vor der Buchhandlung vonMohand. Sicherlich hatte der Zufall einen kleinen Hintergedan-ken dabei, weshalb ich beschliee, mich seinem Spiel zuberlassen. Monique rumt gerade einen Sto Bcher in dieRegale. In ihrem aufreizenden Rock schwankt sie oben auf einerTrittleiter. Als erstes stelle ich fest, da sie nicht von ihrer altenGewohnheit abzurcken scheint: Sie trgt immer noch Mnner-unterhosen. Ich huste in die Hand, um meine Sinne zu

    beruhigen. Monique freut sich so sehr ber meinen Besuch, dasie sich mir buchstblich an den Hals wirft.

    Mensch, das ist ja eine Ewigkeit her! Was fhrt dich hier-her?

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    Mein Riecher. Eine Buchhandlung war schon immer ein Ortfr subversive Treffen. Da ich zur Zeit arbeitslos bin, will ichhier mal ein bichen rumschnffeln.

    Monique ist eine waschechte Elssserin, und sie berragt michum zwei Kpfe. Weswegen ich es tunlichst vermeide, neben ihrzu stehen.

    Du scheinst gut in Form zu sein.

    Weil es mir an Inhalt fehlt.

    Bitte, fang nicht schon wieder damit an. La mir doch dieFreude, wenn du schon mal gute Laune hast.

    Ich lasse sie ihr und ringe mir ein kleines Lcheln ab.Hast du dich verlaufen?

    Meine Leser finden, da in meinen Bchern nicht gengendFrauen vorkommen.

    Du willst mich wohl auf den Arm nehmen, Brahim?

    Sie bricht in schallendes Gelchter aus. Dann komme ich alsoin deiner nchsten Schwarte vor? Warum hast du nicht vorherBescheid gesagt? Dann htte ich mich noch mal schnell ge-kmmt.

    Ich habe Monique 1959 in Ighider kennengelernt, wo sieGeschichte und Geographie unterrichtete. Nach dem Krieg undder darauffolgenden schrecklichen Welle von Repressalien istdie Familie nach Frankreich zurckgegangen. Monique istgeblieben. Sie hat Mohand geheiratet, einen darguez2 aus den

    Bergen, der auerdem ein Bchernarr ist. Whrend die Freundein der Hochzeitsnacht im Patio auf das blutige Laken lauerten,haben die beiden Turteltubchen anscheinend bis zum Morgenkabylische Gedichte bersetzt. Und da sie in ihrem Dorf ihrer

    2 darguez (frz.) Bezeichnung fr einen aus der Kabyleistammenden Mann, der sich durch besondere Virilitt auszeich-

    net.9

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    Leidenschaft nicht gengend nachgehen konnten, haben sie sichin Bab El-Oued schlielich eine schlechtgehende kleine Buch-handlung gekauft.

    Mohand, sieh mal, wer gekommen ist, ruft Monique nachhinten.

    Es gibt nur einen Typen, der so gotterbrmlich stinkt, tnteine nselnde Stimme aus dem Hintergrund.

    Ich flstere Monique zu: Er sollte mal seinen Bart desinfizie-ren.

    Sie lt von neuem ihr wohltuendes Trompetengelchter

    erschallen. Ein Vorhang wird zurckgeschoben, und Mohandtaucht aus seinem Rattenloch auf. Ein kleiner Wicht vonhchstens fnfzig Kilo, der die Nase hoch und eine eingefateBrille trgt. Htte die Natur ihn nicht mit einer so alarmierendenGlatze ausgestattet, man wre fast versucht, ihn zu adoptieren.

    Brahim Llob, leibhaftig, sagt er und mustert mich dabeifragend von oben bis unten. So lt man also seine Freunde

    hngen.Ich bin ein Snob, das weit du doch.

    Er will mich in seinem nchsten Werk erwhnen, verkndetMonique und wippt dabei vor Entzcken.

    Davon knnen wir uns auch nichts kaufen.

    Mohand spielt den Eingeschnappten. Ich wei, da er michgern hat und es mir belnimmt, wenn ich ihn vernachlssige.

    Ein zweisprachiger Gelehrter und ein wandelndes Lexikon. KeinAutor ist ihm gleichgltig, keine Neuerscheinung entgeht ihm.El Mounfalouti, Konfuzius, die Trumereien von Rousseauund die umstrittenen Prophezeiungen von Nostradamus kennt erauswendig. Frher schaute ich regelmig bei ihm in derBuchhandlung vorbei, wo er mir seine Schtze zur Verfgungstellte. Ihm verdanke ich meine gesamte Lektre, meine Liebe

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    zu den Eigenarten jeder Kultur und einen Gutteil meiner eigenenliterarischen Leistungen.

    Du willst dein Abo verlngern?

    So ist es. Mir fehlt es in letzter Zeit an Einfllen, und da habeich mir gedacht, wenn ich bei dir ein bichen herumschmkere,entdecke ich vielleicht etwas, das ich mir abgucken kann.

    Er verzieht einen Moment das Gesicht und fordert mich dannauf, ihm ins Hinterzimmer zu folgen. Hier stapeln sich dieBcher in einer Weise, da wir hintereinander gehen mssen,um keine Lawine auszulsen. Mohand schiebt einen winzigen

    Hocker vor eine Reihe alter Wlzer mit angeschimmeltenDeckeln, wischt ein Spinnennetz weg, sucht und sucht und steigtschlielich grbelnd wieder herunter.

    Irgendwo hatte ich einen Akkad.

    Sachte, sachte. Ich bin doch kein Trapezknstler, erinnereich ihn.

    Ja, und?

    Man darf die Latte nicht zu hoch hngen.Er runzelt die Stirn und steuert auf einen Sto eingepackter

    Romane in einer Ecke zu.

    Die sollten eingestampft werden, erzhlt er aufgebracht.Moniques Bruder hat sie fr mich gerettet. Stell dir das malvor: Weil es nicht genug Kufer gibt, vernichtet man Tausendevon Bchern, dabei brauchte man sie nur einer Bibliothek

    anzubieten, um ein ganzes Land glcklich zu machen.Du it also nur noch Reis.

    Es gibt im Leben auch noch was anderes als einen vollenBauch Schau mal, hier hab ich was Interessantes, fgt erhinzu und reicht mir einen dicken Schmker. Dieser RachidOuladj ist bei uns noch nicht sehr bekannt, aber er wird bald vonsich reden machen.

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    Ist das nicht der Kerl, der ber den FLN3 hergezogen ist?

    Sagen wir mal, er geht nicht gerade sanft um mit dem Sy-stem.

    Voller Verachtung schiebe ich das Buch weg. Das kannst dubehalten. Diese kleinen Reaktionre auf Bestellung, die drbenauf der le Saint-Louis pltzlich ihr Talent entdecken, die kenneich zur Genge.

    Was redest du da? Du hast ja nicht mal drin geblttert.

    Nicht ntig. Das Strickmuster ist immer dasselbe.

    Mohand ist emprt ber mein Genrgel. Aber ich lasse michnicht davon abbringen. Was ich sage, ist ja nur das blicheGerede, das jeder Schriftsteller hierzulande angesichts desliterarischen Erfolgs eines Berufskollegen von sich gibt, ganz

    besonders, wenn jener in Frankreich Aufsehen erregt. Sollte ich,Brahim Llob, unbestechlicher Beamter und phantasielosesGenie, eines Tages am Sternenhimmel glnzen, hielte man michmit Sicherheit fr einen Schreiberling im Sold des Regimes,

    blo weil ich Bulle bin. Oder fr einen Vorzeige-Araber, wennmich die Medien jenseits des Meeres beweihruchern wrden.So ist das eben in Algerien. Wir finden ein boshaftes Vergngendaran, beim Erfolg der anderen gleich an Ketzerei oder Verratzu denken.

    Was solls. Es gibt nun mal Menschen, die so veranlagt sind:durchtrieben, weil sie unfhig sind, aufrecht zu gehen, schlecht,weil sie den Glauben verloren haben, und unglcklich, weil sie

    das im Grunde wunderbar finden.Seit es uns Algerier gibt, haben wir niemals wirklich daran

    gedacht, uns mit unserer Wahrheit zu vershnen. Und was fr

    3FLN (frz.) Abkrzung fr Front de Libration Nationale, dieNationale Befreiungsfront Algeriens, aus der nach der Unab-hngigkeit (1962) das ber Jahrzehnte hinweg alleinherrschende

    Einparteienregime hervorgegangen ist.12

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    ein Heil soll man einer Nation verordnen, wenn ihre bestenShne, die berufen wren, das ffentliche Gewissen wachzurt-teln, als erstes ihr eigenes aufgeben?

    Nach einigem Hin und Her entscheide ich mich fr einen DrissChrabi und beeile mich, die rtlichkeiten zu verlassen, dennder muffige Geruch fngt an, mein wichtigstes Arbeitsinstru-ment ernsthaft anzugreifen.

    Mina hat sich die Lippen geschminkt und Kajal aufgetragen. Siebeehrt mich mit ihrem Madonnenlcheln und nimmt mir

    eilfertig meine Jacke ab. Ich lasse sie auflaufen. Gestern warenwir uns nicht ganz grn. Wegen Lappalien. Ich hatte schlechteLaune und habe mich ein bichen gehenlassen. Als ich noch einKnirps war, habe ich meinen Vater sehr bewundert. Ich erinneremich nicht, ihn je lcheln gesehen zu haben. Er war ein richtigerBerber, ein darguez, stolz, streng und immer wie zugeschnrt.Wegen nichts schttete er seiner Frau das Abendbrot in denScho und griff zum Knppel. Und meine Mutter, die sich auf

    den Tod vor ihm frchtete, schon wenn sie blo seinen Schrittauf der Strae erkannte, brachte ihm nur um so mehr Ehrfurchtentgegen. Wenn er ihr, was selten geschah, mal ein Dankeschnsagte, schien es ihr, als hre sie einen Paradiesvogel flten. Ichglaube, deshalb bin ich so ein Macho geworden. Meine beidengroen Shne sind im Wohnzimmer. Mourad ist vorm staatli-chen Fernsehprogramm eingenickt. Er schnarcht mit weitgeffnetem Mund, sein Kopf hngt ber der Sessellehne. Nebenihm hat sich Mohamed, sein lterer Bruder, auf der Polsterbankausgestreckt, den Blick an die Decke geheftet. Aus seiner Mieneschliee ich, da er kurz davor ist zu explodieren. Wenn es nachihm ginge, wrde er sich am liebsten mit Sack und Pack in einimaginres Wunderland auf und davon machen.

    Hast du den Betriebsdirektor gesprochen? frage ich ihn.

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    Ja doch, antwortet er unwillig, denn er hat keine Lust, sichber seinen rger auszulassen.

    War er unfreundlich?

    Nein, aber er hatte mir trotzdem nichts Ordentliches anzubie-ten.

    Zum Beispiel?

    Sesselfurzer.

    Du httest annehmen und dich dann nach was Besseremumsehen sollen.

    Er sieht auf seine Nasenspitze, um meinem Blick nicht stand-halten zu mssen. Ich hab doch nicht vier Jahre lang fr nichtsund wieder nichts an der Uni gebffelt, Papa. Ich habe meinDiplom an der Ben Aknoun gemacht, immerhin als Bester inmeinem Jahrgang.

    Ich setze mich ihm gegenber, um seine Gedanken besser zuergrnden.

    Findest du, da ich nicht genug unternehme, um dich unter-zubringen, mein Junge?

    Das hab ich nicht gesagt.

    Aber du denkst es.

    Ich wei, da es nicht deine Schuld ist, Papa, brummt ergereizt. Dieses Land macht mich krank.

    Du hast kein anderes.

    Mit einem Ruck setzt er sich auf und betrachtet seine Handfl-chen. Das verstehst du nicht, Papa. Murrend geht er in seinZimmer.

    Was versteht er nicht, dein Vater? Ich verbiete dir, in diesemTon mit ihm zu reden, hrst du? mischt sich Mina ein.

    Ich sehe gerade noch, wie mein Sohn mde abwinkt und imFlur verschwindet. Dann taucht Salim, der Jngste, in der Trauf, ein Heft vor der Brust.

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    Na, endlich! Ich warte schon seit Stunden auf dich, sagt erund klatscht mir das Heft auf die Knie. Diesmal bertreibt derLehrer. Stell dir vor, wir sollen eine Oase beschreiben. Wo ich

    die Sahara noch nicht mal von weitem gesehen habe. Nachdemer sich vergewissert hat, da seine Mutter ihn nicht hren kann,flstert er mir ins Ohr: Machen wir einen Deal. Du hilfst mirein bichen bei den Hausaufgaben, und dafr wasche ich dir amWochenende das Auto, einverstanden?

    Nichts da. Das ist deine Sache, damit mut du schon alleinklarkommen.

    Dann fahr mich auf der Stelle in die Wste. Der Aufsatz mumorgen fertig sein.

    Geh in dein Zimmer und mach deine Aufgaben, und hr auf,deinem Vater in den Ohren zu liegen, fhrt Mina dazwischen,sie geht richtig auf in ihrer Beschtzerrolle.

    Salim lt sich das nicht zweimal sagen und tritt den Rckzugan, den Himmel verfluchend, der ihm solche egoistischen und anseiner Not desinteressierten Eltern beschert hat.

    Ich stehe gleichfalls auf und gehe in die Kche, um ein bi-chen mit meiner Tochter Nadia zu schkern. Nadia ist mein einund alles. Mit ihren neunzehn Jahren verdreht sie allen jungenSpunden im Viertel den Kopf. Es spielt keine Rolle, da sie derMode stndig hinterherhinkt, sie braucht nur die Augen aufzu-schlagen, um es an einem mrchenhaften Abend mit Aschenput-tel aufzunehmen.

    Sie wischt sich die Hnde an der Schrze ab und umarmtmich.

    Was brutzelst du uns denn zum Abendbrot?

    Bohnen.

    Und meine Zwiebelsuppe?

    Sie zeigt auf einen Extratopf fr mich.

    Weit du, worauf ich Lust htte?15

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    Nein.

    Auf eine kleine Reise nach Taghit oder auch ins Hoggar-Gebirge, nur du und ich.

    Und Mama?Mama bleibt zu Hause. Irgend jemand mu ja schlielich

    unsere Ansichtskarten lesen.

    Nadia lacht. Wenn meine Tochter so ausgelassen lacht, ist dieWelt fr mich in Ordnung. Aber ihre Frhlichkeit ist von sokurzer Dauer, da ich gar nicht dazu komme, mich davonanstecken zu lassen.

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    Guten Tag, Herr Kommissar.

    Ich schrecke hoch. Inspektor Serdj bleibt auf der Trschwellestehen, bis ich ihn hereinbitte.

    Ich bin fertig mit dem Bericht, stammelt er, wie um sichdafr zu entschuldigen, da er mein eintniges Dasein ohneVorankndigung gestrt hat.

    Mit gnnerhafter Geste bitte ich ihn, Platz zu nehmen.Er legt einen Aktenordner auf meinen Schreibtisch und drckt

    sein knochiges Hinterteil auf den Stuhl. Serdj arbeitet sichhalbtot. Seine Wangen sind so hohl wie seine Hintergedanken.Mit seinen weien Haaren, seinem kmmerlichen Bart und demschlotternden Anzug ist er nur noch ein Wrack, das selbst einenObdachlosen vor Mitleid zerflieen lassen wrde.

    Du httest dir damit nicht die Nacht um die Ohren schlagenmssen, bemerke ich teilnahmsvoll.

    Ich dachte, es sei dringend.

    Die Sache hat keine Eile.

    Er senkt den Kopf.

    Ich lehne mich in meinem Sessel zurck, nehme den Ordnerund blttere den Bericht durch.

    Serdj lauert auf meine Reaktion. Gibts ein Problem, Kom-missar?

    Hm

    Wenn Sie wnschen, kann ich das Ganze noch weiter aus-bauen.

    Deine Berichte waren immer in Ordnung. Das ist nicht derPunkt.

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    Aber?

    Ich sehe ihm scharf in die Augen. Fr wen ist das bestimmt?

    Fr den Direktor von

    Und wer ist das?

    Na ja, ein Vorgesetzter.

    Ich schttle den Kopf, fassungslos wie ein Lehrer angesichtsder Gedchtnislcken seiner schlechten Schler.

    Siehst du? Du wirst es nie begreifen. Vorgesetzter, das istwas fr die Nonnen. In unserer Hierarchie gibt es auf jeder Stufe

    einen Gott. Die Typen sind hyperempfindlich, sie reiten wieverrckt auf dem Protokoll herum und sind so versessen aufkleine Geschenke, da sie alles, was auf ihrem Schreibtischlandet, dafr halten. Und damit ein Bericht zu einer Gabe wird,mu er duften, hbsch verpackt und verschnrt werden. Undwas machst du, Serdj? Du tippst dein Geschreibsel auf Durch-schlagpapier, was sich unangenehm anfat und die Fingerkup-

    pen rissig macht. Das ist nicht klug. Der Herr Direktor wird das

    als mangelnden Respekt auslegen. Mchtest du als reaktionreingestuft werden?

    Nein, Kommissar.

    Also, dann nimm dein Geschmiere, und tippe alles noch malauf ordentlichem Papier.

    In Ordnung, Kommissar.

    Er sammelt seinen Papierkram ein und erhebt sich mit stoi-

    scher Miene.Als er schon an der Tr ist, rufe ich ihm noch hinterher: Be-

    sorg dir extrastarkes, extraweies Papier in 1a-Qualitt undscharf wie eine Rasierklinge falls der groe Manitu auf dieIdee kommen sollte, sich damit den Hintern abzuwischen.

    Er nickt und verschwindet ebenso schnell wie ein Schatten.

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    Im Kabuff nebenan schnurrt Baya, meine Sekretrin, wie einjunges Ktzchen. Ich sehe sie vor mir, wie sie sich windet, dasTelefon zwischen Schulter und Kinn geklemmt. Mit Fnfund-

    dreiig noch Jungfrau, hat Baya die Hoffnung auf einen Freieraufgegeben und nimmt anscheinend immer mehr mit demKontakttelefon vorlieb. Um das Gesicht zu wahren, tut sienatrlich so, als sei sie es, die sich nicht angeln lassen will.Einmal, weil sie kategorisch auf ihre Unabhngigkeit pocht,aber vor allem, weil sie es als demtigend empfindet, wenn eineFrau jede Nacht als Socke herhalten mu, in die Monsieurgenlich einzudringen beliebt. Wenn das Telefon klingelt,

    macht sie sich trotzdem schnell noch ein bichen zurecht, ehesie den Hrer abnimmt.

    Die Unterhaltung dauert eine Ewigkeit. Whrend Baya wartet,da dem Besessenen die Puste ausgeht, vergit sie, mir dieBriefe zur Unterschrift vorzulegen.

    Am Ende meiner Geduld, klingle ich nach ihr.

    Sie haben mich gerufen, Kommissar?

    Allerdings!Sie lchelt. Ich hre.

    Ihre Lippen sind zu stark geschminkt, was ihrem Mund etwasObsznes verleiht, und ihre Haare, gestern noch kohlraben-schwarz, sind heute platinblond.

    Donnerwetter, wie toll du aussiehst! rufe ich aus.

    Machen Sie sich nicht ber mich lustig, Kommissar, gluckstsie und wiegt sich dabei in den Hften. Dann schaut sie mirgerade in die Augen. Finden Sie?

    In dieser Aufmachung wirst du in der Zentrale wie ein Blitzeinschlagen.

    Frher war Baya hbsch. Sie kleidete sich dezent und gab sichunauffllig. Damals hatten die Mnner etwas brig fr unauffl-lige Frauen. Das sah nach Tochter aus gutem Hause aus, also

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    nach einer Anlage zum Arbeitstier, was in einer traditionell derSklaverei anhngenden Gesellschaft eine sichere Investition

    bedeutete. Inzwischen hat sich die Einstellung verndert. Heute

    zieht man emanzipierte Mdchen vor, solche, die laut lachenund sich ber Tabus hinwegsetzen. Sich zur Schau zu stellen istzeitgem. Da nur derjenige etwas gilt, der auffllt, ist jeder

    bemht, nicht unbemerkt zu bleiben, und wenn man sich dafrmitten in einer Moschee nackt auszieht. Baya gibt sich diesemSpiel bereitwillig hin. Jetzt, da sie davon ausgehen kann, alsJungfrau zu enden, versucht sie das Gesicht zu wahren, indemsie ihren Kopf zurechtstutzt, je nachdem, was gerade angesagt

    ist.Was steht heute auf dem Programm?

    Sie setzt eine ernste Miene auf und zieht den Rock ber ihreKnie. Aber der Schlitz ist so tief, da sogar ein Maulwurf dasMuster ihres Slips erkennen wrde.

    Si4 Abbas hat abgesagt, Herr Kommissar. Er bittet Sie, ihn zuentschuldigen, und verspricht, sich so bald wie mglich mit

    Ihnen in Verbindung zu setzen, liest sie aus ihrem Notizbuchvor. Inspektor Redouane ist ohne Zwischenflle am Bestim-mungsort eingetroffen. Er kommt Ende der Woche zurck. IhreGattin bittet Sie, nicht zu vergessen, da Sie sie um achtzehnUhr abholen sollen Und dann mchte ich Sie noch daranerinnern, da Sie um elf mit Professor Allouche verabredetsind.

    Ich sehe auf die Uhr. Wie spt ist es?Zwanzig nach neun, Herr Kommissar.

    Meine Uhr geht also richtig. Lino meint wohl, heute istFeiertag.

    Baya schlgt sich mit der Hand gegen die Stirn.

    4

    Si, Sid (arab.) Kurzform zu Saiyid: mein Herr.20

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    Das ist meine Schuld. Ich habe vergessen, Ihnen zu sagen,da der Lieutenant heute morgen angerufen hat. Er hat gesagt,da es ihm nicht gutgeht. Eine heftige Grippe.

    Ich presse die Kiefer aufeinander. Falls er noch mal anruft,sag ihm, da er einen Krankenschein abliefern soll, wenn erwieder zur Arbeit kommt. Er geht mir mit seinen stndigenFieberanfllen allmhlich auf die Nerven. Ich hoffe nur, er hatdie Karre dagelassen.

    Baya senkt betreten den Kopf.

    Dieser Mistkerl! Wie soll ich jetzt hier wegkommen? Mein

    Zastava ist seit drei Tagen in der Werkstatt.Nehmen Sie doch den Wagen von Inspektor Serdj, schlgt

    sie mir vor.

    Baya hat schon immer ein bichen fr Lino geschwrmt. EineArt freundschaftliche und, wenn ich den Rcken kehre, ber-schwengliche Zuneigung. Ich nehme ihr das nicht bel, denn dasstrkt auch den Kollektivgeist. Aber wenn sich diese Solidaritt

    bisweilen auf Kosten meiner Autoritt in Komplizenschaftverwandelt, spiele ich nicht mehr mit. Deshalb mache ich dieSekretrin darauf aufmerksam, da an ihrem Rockschlitz einKnopf fehlt und sie besser daran tte, sich um ihre eigenenAngelegenheiten zu kmmern.

    Professor Allouche ist ein bedeutender Psychoanalytiker. Er warmit Frantz Fanon befreundet. Aber was soll ein Gelehrter ineinem revolutionren Land, in dem anerkannt ist, wer nicht dasmindeste Talent besitzt, und das Genie fr vogelfrei erklrtwird?

    Als Verfasser einer ganzen Reihe von Bchern, die mangelsAbnehmern hierzulande allesamt in Frankreich verffentlichtwurden (damals wie brigens noch heute und gewi auchmorgen wachte die Elite des Serails ngstlich darber, den

    IQ der Algerier auf der Hhe desjenigen ihrer Funktionre zu21

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    halten, also in Hhe des Hosenschlitzes), war er allerlei Schika-nen von selten der Obrigkeit ausgesetzt, die in seinenwissenschaftlichen Arbeiten subversive Machwerke witterten.

    Es ist in der Tat nicht einfach, einem Eseltreiber zu erklren, daein Buch nicht zwangslufig ein antirevolutionres Instrumentsein mu, denn im Algerien der Rotuscher verstand sichbereifer als hchster Ausdruck der Wachsamkeit und Verun-glimpfung als das Hohelied des Treueschwurs. Man geno es invollen Zgen, das Drhnen der Stiefel aus den Gefngniskellernzwielichtiger Villen widerhallen zu hren. Wie andere gutglu-

    bige Leute wurde Professor Allouche einer sich als Heilsbringer

    ausgebenden Ganovenbande ausgeliefert, mehrmals entfhrt,eingesperrt, drangsaliert, scheinexekutiert und schlielichgezwungen, ins Exil zu gehen. Obwohl ihm sein Aufenthalt inEuropa weltweite Anerkennung und zahllose Auszeichnungeneintrug, stieg ihm das nicht zu Kopf. Wenn der Prophet nichtsgilt im eigenen Land, so ist er ebensowenig Meister in derFremde. Sehr rasch stellte unser hervorragender Wissenschaftler

    fest, da die Achtung, die ihm seine westlichen Kollegenentgegenbrachten, nichts weiter war als eine verlockende Falle,da die Preise, die man ihm verlieh, einen Nachgeschmack vonAnzahlung hatten, und seine wissenschaftlichen Arbeiten einen

    politischen Anstrich erhielten, denn er verbrachte mehr Zeit inden Redaktionsrumen von Zeitungen und den Salons von

    NGOs als in den Universitten. Man applaudierte ihm nichtmehr fr seine Forschungen; man begrte seine Stellungnah-

    men gegen die Diktatur im heimatlichen Bled5

    . Die Leute, diezu ihm strmten, hatten Verbrechervisagen und lieen in ihremKielwasser Dokumente mit offiziellem Stempel treiben. Miteinem Wort, man behandelte ihn wie eine ganz gewhnliche

    5Bled (arab.) Bezeichnung fr das Hinterland, die Provinz,einen abseits gelegenen Ort, der nur wenig zu bieten hat; auch

    im Sinne von Heimat verwendet.22

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    Marionette. Das traf ihn hart. Zwischen der Lauterkeit desIntellektuellen und den Schachzgen der Politiker, zwischeneinem weidlich ausgenommenen Vaterland und einem prall

    gefllten Portemonnaie mute er einen klaren Schnitt vollzie-hen. Sich zwischen zwei Sthle zu setzen, vor allem wenn mandie meiste Zeit seines Lebens ordentlich beschissen worden war,kam nicht in Frage. Der Professor schlug also krftig zu. Er lieFrankreich Frankreich sein und kehrte, gleich dem Lachs, dersich durch die tobende See nicht beirren lt, zu seinem Heimat-flu zurck, wo ein Kieselstein zwar nicht die Pracht einerKoralle aufweist, ein Schilfrohr jedoch anders als die kraken-

    artig sich ausbreitenden gewhnlichen Oleanderbsche etwasErhabenes hat. Er lehrte an der Universitt, bis zu dem Tag, andem das Wissen auf den Mll geworfen wurde. Der Lernstoffwurde nun auf dem Niveau niedrigster Stammtischwitzediskutiert und die Diplome ber den Weg ins Stundenhotelverteilt. Entsetzt versuchte Professor Allouche zu retten, was zuretten war, was seinen Kollegen, die sich weigerten, ihre

    Studentinnen auf dem bloen Fuboden zu bespringen, aueror-dentlich mifiel Kurzum, das Zeitalter des Krebsgeschwrshatte das des Computers berflgelt. Irgendwo hheren Orts warder Weg fr das Abdriften, das Professor Allouche in einerfranzsischen Zeitung angeprangert hatte, schon bereitet.Resultat: sechs Monate Gefngnis wegen geheimer Verbindungzum ehemaligen Besatzer.

    Nach Verlassen des Kerkers verfgte der Professor nicht mehr

    ber alle seine Fhigkeiten. Man verfrachtete ihn in eineNervenheilanstalt und verga ihn dort. Heute wei er nichtmehr, ob er observiert oder konsultiert wird. Er hat ein Bro amuersten Ende eines heruntergekommenen Nebengebudes undein Zimmer im Stockwerk darber, und er widmet sich voll undganz seinen Patienten, denn jede andere Unternehmung wre

    bedenklich, wenn nicht selbstmrderisch.

    23

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    Allouche erwartet mich auf dem Parkplatz der PsychiatrischenKlinik, die Hnde auf dem Rcken und die Stirn in Falten. Derweie Kittel verleiht seiner schlaksigen Gestalt etwas Gespensti-

    sches. Lang wie eine Bohnenstange, Beine wie ein Stelzvogelund eine Wirbelsule, die eine hchst besorgniserregende Kurveaufweist. Sein langes, schlohweies Haar umflattert sein Gesichtwie eine Rauchfahne. Er kann seinen Kummer nur schlechtverbergen, seine Verzweiflung ist unbersehbar.

    Noch eine Minute lnger, und ich htte einen Sonnenbrand,sagt er. Er wischt sich den Schwei von der Stirn, dann hlt erden Daumen gegen die gleiende Sonne. Man knnte meinen,es sei Juli.

    Der fnfte6 oder der vierzehnte7?

    Ich spreche von der Jahreszeit.

    Ach so

    Er zieht eine Augenbraue hoch und sieht mich schief an. Dubist wohl nicht gut aufgelegt?

    Das liegt in meiner Natur.Soll das heien, da du dich nicht freust, mich wiederzuse-

    hen?

    Im Gegenteil. Hier, in der Anstalt fhle ich mich am wenig-stens verloren.

    Wenn es so ist, kann ich dich gern aufnehmen.

    Ich schlage meine Jacke zurck, hinter der mein Halfter zum

    Vorschein kommt. Eine Zwangsjacke hab ich schon.

    6 5.Juli Am 5. Juli 1962 wurden die Vertrge von Evian unterzeichnet, dieAlgerien seine Unabhngigkeit zusicherten.7 14. Juli Franzsischer Nationalfeiertag. Der Sturm auf dieBastille am 14. Juli 1789 wurde zum Inbegriff der Franzsi-

    schen Revolution.24

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    Endlich lchelt er und reicht mir eine so saubere Hand, da ichsie nur zgernd ergreife. Er bittet mich, ihm zu folgen. Da ichgelernt habe, dem Feind niemals den Rcken zu bieten, lasse ich

    dem Professor den Vortritt, obwohl er nicht auf meiner schwar-zen Liste steht. Er zuckt mit den Schultern und geht unter dersengenden Hitze mit hochrotem Kopf und nur schleppendenSchrittes voran.

    Die Anstalt erstreckt sich ber ein weites Brachgelnde. Einideales Pltzchen, um durchzudrehen. Auer einem Alten, dersich im Schatten eines Baumes gerade die Nase putzt, nichts alsgottverdammte Trostlosigkeit. Zwischen wild wucherndemGestrpp recken sich armselige Behausungen wie Grabmler.Die mit einem Vorhngeschlo gesicherten Tren sind schockie-rend, die vergitterten Fenster emprend. Trotz des aufflligenBenehmens ihrer Bewohner knnte man die Baracken frunbewohnt halten. Hierhin verkriechen sich die von der Gesell-schaft gechteten Geschpfe und warten auf ihre Beerdigung.Ich sehe sie vor mir, wie sie, den Blick ins Leere gerichtet, sich

    mit den Hnden am Halbdunkel festklammern und zwischenzwei extrastarken Beruhigungspillen auf den Totengrberlauern, der ihnen nur widerwillig ein Loch grbt.

    Ich habe mich auf Friedhfen nie wohl gefhlt, aber eineIrrenanstalt bedrckt mich noch mehr. Es gibt keine frchterli-chere Hlle als ein Totenhaus, in dem lebende Wesenherumgeistern.

    Wir erreichen einen kiesbedeckten kleinen Hof vor einemfurchteinflenden Gebude. Ein Kerl sitzt mit bereinanderge-schlagenen Beinen am Eingang, auf dem Schdel einenspitzfrmigen Papierhut. Als er uns sieht, richtet er sich auf,faltet die Hnde unterm Kinn und grt uns wie ein buddhisti-scher Mnch.

    Das Arbeitszimmer des Professors knnte man in ein Taschen-tuch wickeln. Kaum grer als eine Abstellkammer, erinnert es

    mich an jene finsteren Rume im Untergescho der Kommissa-25

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    riate, wo die Hartgesottenen weichgeklopft werden. Ein Plastik-tisch, ein zerschlissener Sessel, ein Metallstuhl und an der Wandeine Kinderzeichnung mit einem zweikpfigen Hund. Daneben,

    auf einem Wandregal, ein altes Tonbandgert russischerHerkunft, das mit seinen riesengroen Spulen und seinerPappabdeckung geradezu grotesk wirkt.

    Durch das vorhanglose Fenster sieht man auf ein ramponiertesWasserbecken. Etwas weiter, an einem zerfallenen Muerchen,hlt sich ein geistig Behinderter fr einen Springbrunnen. Er

    pinkelt mit heruntergelassener Hose, wobei er sich um sichselbst dreht.

    Er hat sich selber zum Knig der Raubtiere ernannt, erklrtmir der Professor. Jeden Tag Punkt halb zwlf ist er da undsteckt sein Gebiet ab.

    Recht hat er.

    Einen Kaffee?

    Nein, danke.

    Dann einen Tee?Bin ich als Freund oder dienstlich hier?

    Beides.

    Dann gengt ein Glas Wasser.

    Der Professor nimmt die Bestellung auf, aber er ruft nieman-den. Ich begreife, da sein Budget beschrnkt und diese ganzehfliche Fragerei rein symbolischer Natur ist. Auerdem sehe

    ich nirgends eine Tasse oder eine Kanne, nicht einmal einenAschenbecher. Wren da nicht ein paar zerknitterte Bltter, einRezept und ein unausgefllter Ausgangsschein, man knnte denOrt auch fr ein Pissoir halten, an dem niemand etwas zu

    beanstanden htte.

    Hier, sieh mal, beginnt er und legt einen Aktenordner vormich hin, aus dem er das Foto eines ziemlich schicken jungen

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    Mannes herausnimmt. Daraufhin lehnt er sich in seinem Sesselzurck und verschrnkt die Arme vor der Brust.

    Eingehend betrachte ich das Foto. Auf der Rckseite stehen,

    mit klecksendem Fller geschrieben, ein Datum, eine Serien-nummer und irgendwelche Notizen. Ich fische mir ein paarBltter aus der Akte heraus. Es handelt sich um Untersuchungs-

    berichte, Empfehlungsschreiben an die Adresse eines Gefng-nisdirektors und eine Karte aus der Straftterkartei eineLektre, die mit der Hitze, die mein Gehirn langsam austrock-net, unvereinbar ist.

    Ich nehme an, ich soll jetzt meinen Grips anstrengen, umherauszufinden, worum es hier geht.

    Nicht unbedingt.

    Der Patient drauen hat aufgehrt zu pinkeln. Dafr postiert ersich nun vor dem Fenster und streckt uns sein Geschlechtentgegen wie andere ihr Krummschwert.

    Allouche sttzt seine Ellenbogen auf den Tisch und klrt mich

    schlielich auf: Niemand wei, wo er herkommt. Irgendwannhat ihn der Storch gebracht. Was er zwischen Daumenlutschenund erstem Schu getrieben hat totales Blackout. Name,Abstammung, Adresse unbekannt. Man hat an Amnesiegedacht, aber der Kerl verfgt ber ein Elefantengedchtnis.Man hat an Psychose gedacht, aber der Patient ist gewitzter alsein Zauberknstler. Also, was steckt dahinter? Niemand wagteine Hypothese. Eines Abends hat unser Mann beschlossen, sich

    der Polizei zu stellen. Damals, also vor gut zehn Jahren, war erAnfang Zwanzig und wirkte eher sympathisch mit seinenausdrucksvollen Augen. Als man ihn zu mir brachte, wute ichgleich, da dieser Typ aus gutem Hause stammt. Sehr kultiviert,sehr ruhig. Ein bichen zu sehr vielleicht. Aber glaubwrdig.Akademiker? Man hat nachgeforscht und nichts gefunden.Junger Betriebskader? Auch hier ergaben die Nachforschungennichts. In den Prozeakten wurde vermerkt: Weigert sich, seine

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    Identitt anzugeben. Spter wurde er als SNP8, als Namenlo-ser, eingetragen. Er hat keinen Einspruch erhoben. Was er will?Da man ihn einsperrt, damit er keine Greueltaten mehr begehen

    kann. Er erklrt, eine Menge Leute umgebracht zu haben,erinnert sich aber nicht mehr, wo er die Leichen begraben oderliegengelassen hat. Seine ersten Opfer waren zwei Alte, die erberhaupt nicht kannte. Kurz vor einer kleinen Ortschaft hatte ereine Panne. Mitten in der Nacht. Er klopfte an eine Tr und batum Hilfe. Man nahm ihn auf. Am nchsten Morgen machte ersich in aller Frhe davon, sein Auto lie er stehen. Ein gestohle-nes Auto. Zwei Tage spter wurde ein Nachbar durch

    Verwesungsgeruch alarmiert. Die Gendarmen entdeckten dasalte Paar schlielich in den Latrinen. Das war 1970 ZweiMonate darauf wurde er auf einer abgelegenen Strae von einemLieferwagen mitgenommen. Ein Forstarbeiter fand das Autospter im Wald unter einem Baum versteckt. Im Wageninnernlag die Leiche eines Viehhndlers Und dann suchte er einesAbends den nchstgelegenen Polizeiposten auf, um sich zu

    stellen. Er gestand sieben Morde. Und dann noch einmal zehn,insgesamt an die zwanzig. Auer fr das ltere Paar und denViehhndler gibt es jedoch keinerlei Hinweise auf die Opfer.

    Pltzlich scheint der Kerl auf dem Foto zu grinsen. Ich legeschnell eine Karteikarte darauf.

    Wenn du geglaubt hast, mir damit zu imponieren, dann hastdu dich geschnitten, gebe ich ihm zu verstehen. In meinenSchubfchern liegen noch viel abscheulichere Akten. berSerienmrder spricht man nicht, um unsere Zam9 nicht zuverstimmen, doch Tabus stoppen weder ihre rasche Zunahme

    8SNP (frz.) Abkrzung fr Sans Nom Patronymique, wrtl.:ohne Familiennamen. Als SNP bezeichnete man die Kinder, diedurch den Befreiungskrieg zu Vollwaisen wurden und derenFamiliennamen unbekannt waren.9

    Zam (arab.) Anfhrer.28

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    noch ihre Fhigkeit, Schaden anzurichten. Eine ganze Reihe vondenen sind durch mein Bro defiliert. Einer abgedrehter als derandere. Einige haben sogar geredet, danach hatte ich jede zweite

    Nacht ganz verdammte Alptrume.Das hier ist aber etwas anderes! brllt der Professor aufge-

    bracht und schlgt mit der Faust auf den Tisch.

    Seinem Blick nach zu urteilen, scheint es mir angebracht,seine Erregung zu dmpfen. Ich fordere ihn auf, weiterzureden:Was genau ist das fr eine Geschichte?

    Er hebt die Faust, steckt sie unter den Tisch und massiert sie

    unauffllig. Nach einer Weile gesteht er mit matter Stimme:Der Schock meines Berufslebens. Er bringt mich dahin, da ichkein Auge mehr zutun kann.

    Ich betrachte eingehend meine Fingerngel, um den Anscheinzu erwecken, als dchte ich grndlich ber die Sache nach, undnehme dann das Gesprch wieder auf:

    Wo steckt er im Moment?

    Im Gefngnis.Und was hab ich mit diesem ganzen Schlamassel zu tun?

    Der Professor verschrnkt seine Finger und ruspert sichverlegen. Er steht auf und stellt das Tonbandgert an. Hr dirdas an, Brahim.

    Die Spulen quietschen. Gleich darauf breitet sich eine Grabes-stimme im Zimmer

    Der Kreis schliet sich. Ich stehe wieder am Ausgangspunkt.Das htte ich mir denken knnen. Es gibt nichts zu sehen, ichmu weitergehen. Das war von Anfang an sonnenklar. DerFellaga10, der die Mitglieder meiner Familie zerstckelt hat,

    10 Fellaga (arab.) Von den Franzosen eingefhrte pejorative

    Bezeichnung fr einen algerischen Partisanen, der sich gegen29

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    wollte mir sicherlich etwas beweisen. Aber was genau? Erwute es selbst nicht. Er konnte mir keine Erklrung liefern.Einen besonderen Grund zum Tten zu haben rechtfertigt nicht

    zwangslufig den Mord. Ich htte der Benommenheit desKindes, das ich war, Beachtung schenken sollen: Wenn ich dasAusma des Schreckens, der mich erfat hatte, nicht begriff,dann vielleicht deshalb, weil es nichts zu erklren gab. Doch ichwollte unbedingt begreifen. Damit ich ein ruhiges Gewissenhtte, damit ich wieder ein normales Leben aufnehmen knnte?Kann man wieder Geschmack am Leben bekommen, wenn manmit angesehen hat, wie die Seinen abgeschlachtet wurden?

    Mglicherweise. Ich nicht. Irgend etwas in mir hatte ausgehakt.Also habe ich beschlossen, mir Klarheit zu verschaffen. Es hatlange, hllisch lange gedauert, aber ich habs geschafft: Ich habe

    begriffen!

    Und was hast du begriffen?

    Da es nichts zu begreifen gibt, lt die Grabesstimmevernehmen. Nichts Ich hab mich damit herumgeschlagen,

    die Antwort auf eine Frage zu finden, die man gar nicht zustellen braucht. Warum ttet man? Wenn man ttet, stellt mansich keine Fragen, man handelt. Die Geste wird zur alleinigenAussage. Das Tten beginnt da, wo man keine Erklrung mehrerwartet. Sonst htte man es unterlassen. Oder etwa nicht? Manttet, damit man gar nicht erst in die Versuchung kommt, zu

    begreifen. Es ist der Endpunkt einer Niederlage, das Absegneneines Tabubruchs. Der Mord stellt die Unfhigkeit des Mrdersdar, den Augenblick, in dem der Mensch seine Raubtierinstinktewiedererlangt und aufhrt, ein denkendes Wesen zu sein. DerWolf ttet aus Instinkt. Der Mensch ttet aus Berufung. Erwrde sich alle mglichen Grnde ausdenken, damit er seine Tatnicht rechtfertigen mu. Da er fr das Leben nicht zustndig ist,wie kann er es dann wagen, darber nach Belieben zu verfgen?

    die franzsische Autoritt auflehnt.30

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    Seine Entscheidung sttzt sich auf kein annehmbares Argument,sie entsteht aus seiner eigenen Bedeutungslosigkeit. Wer dasLeben der anderen nicht achtet, hat von seinem eigenen nichts

    begriffen. Nichts. Von einem Nichts zum andern, vom Nebel zurFinsternis, sucht er sich bestndig und kriegt sich doch nicht zufassen. Heit es nicht: Ruhe! Es wird geschossen? Warum

    bittet man in dem Augenblick um Ruhe, wo das Universumbeginnt, unter unertrglichen Schreien zu erbeben? Oft habe ichgeglaubt, die Macht von Gttern zu besitzen, so sehr war ichdavon berzeugt, Herr ber das Schicksal meiner Opfer zu sein.Resultat: Das Opfer haucht sein Leben aus, aber mir entzieht

    sich alles. Ich fhlte mich wieder so allein auf der Welt wie derHimmel am Tag nach der Apokalypse Und wohin hat michdas am Ende gefhrt? Nehmen wir mal an, ich htte etwas

    begriffen, wo stehe ich dann jetzt? Ganz genau da, wo allesseinen Anfang genommen hat. Was fr eine Vergeudung! Ichverkrpere mein eigenes Scheitern. Ich bin nicht mehr wert alsdie Leichen, die meinen Weg pflastern. Eine absolute Null, ein

    Mrder, der erst die Orientierung, dann seine Seele verloren hat.Ich empfinde nur noch Verachtung fr mich, jetzt, wo kein Wortmehr zu mir dringt. Ich existiere nicht mehr. Ich bin einekrepierte Ratte, verwesender Abfall. Ich bin der Abgrund, dermich herabzieht und im selben Moment zertrmmert.

    Der Professor stellt das Tonbandgert ab und setzt sich wieder.Er fat sich ans Kinn.

    Das hat er nach seinem ersten Aufenthalt im Knast gesagt.Die Gefngnisleitung berstellte ihn zu mir, um zu sehen, ob erdas Gedchtnis wiedererlangt hatte und ruhiger geworden war.Anscheinend hatte er pltzlich aufgehrt, Krawall zu machen.

    Du warst wohl anderer Meinung?

    Nein.

    Hat er deliriert?

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    In gewissem Sinne, ja.

    Hast du ihn zurck in den Knast geschickt?

    Keineswegs. Er hat mich interessiert. Er ist sieben Jahre inmeiner Anstalt geblieben. Jedesmal wenn ich dachte, jetzt bistdu ganz dicht dran, seine Persnlichkeit zu erfassen, hat er esfertiggebracht, sich hinter einer anderen, noch komplexeren undabscheulicheren zu verschanzen Hr dir das auch noch an.Das sind seine Worte, drei Jahre nach dem, was du geradegehrt hast.

    Die Spulen setzen sich wieder in Bewegung, und eine nun-

    mehr klare Stimme umfngt uns:Weit du, warum Gott nicht zult, da sich Engel und

    Teufel gegenseitig umbringen? Weil er, wenn sie einander denKrieg erklrten, nicht mehr als Schlichter auftreten und sie nichtmehr voneinander unterscheiden knnte. Wenn sich der Hairgendwo festsetzt, sind alle vom Teufel besessen, die Gerechtengenauso wie der Abschaum. Der Krieg ist keine Schachpartie.Er ist ein totales Schachmatt. Etwas, das die Menschen inFriedenszeiten nie klar zu erfassen in der Lage sind. Es machtsich gut, mit einem Glas Martini in der Hand oder aus einemgemtlichen Wohnzimmer heraus die Gewalt zu verdammen.Aber was wei man wirklich darber? Nichts. Man entrstetsich, man protestiert, man sttzt den Kopf auf, Tozz11! DieGewalt hat ihre eigene Logik. Sie ist genauso vernnftig wie derVerzicht darauf. Sie hat ihre eigene Moral und ihre eigenen

    Werte; Werte, die nichts mit den konventionellen Werten zu tunhaben, und eine Moral, die in nichts mit der landlufigen Moralbereinstimmt, und doch ist beides genauso verbindlich. Sobaldsich der Wille zu tten als einziger Heilsweg erweist, weichendie gefhrlichsten Raubtiere vor der Grausamkeit der Menschenzurck. Denn unter allen Hydren sind die Menschen die einzi-gen, die wissen, wie man die Grenzen des Animalischen

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    Tozz (arab.) Ausruf der Emprung.32

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    berschreitet und gleichzeitig einen klaren Kopf behlt. Es gibtnichts Ungeheuerlicheres als den Zorn der Menschen. Er ist sichseiner Schndlichkeit absolut bewut, was ihn noch grausamer

    macht als das Leid, das er anderen zufgt. Das ist Barbarei, alsoetwas, was weder Hynen noch Menschenfresser sich auszuden-ken, geschweige denn auszufhren vermgen. Und ausgerechnetmich fragst du, warum der Mund, der eben noch kte, aufeinmal zubeit und die streichelnde Hand zum Schlag ausholt?Eben weil ich keine Antwort darauf wei, tte ich. Ich tte, umzu begreifen. Und ich werde so lange weitertten, bis ich

    begriffen habe, was ein menschliches Wesen dazu treibt, sich in

    der Kunst auszuzeichnen, seinen Nchsten auf die schlimmsteWeise zu mihandeln. Ich mchte wissen, was einen Menschendaran hindert, dem Ruf seines Wahnsinns zu widerstehen, undwie es ihm auf so bewundernswerte Weise gelingt, diesenWahnsinn auszuleben.

    Der Professor stellt das Tonbandgert ab und sieht mich

    eindringlich an. Er merkt sofort, da ich ihm nicht folge, kneiftdie Lippen zusammen und lt sich auf den Stuhl fallen.

    Danach hatte ich Angst, ihn hierzubehalten. Meine Patientenwaren nicht mehr sicher vor ihm und meine Wrter nicht in derLage, ihn zu berwachen. Ich berstellte ihn also wieder derGefngnisleitung Im Gefngnis kapselte er sich ab. Total.Monatelang. Dann, eines Morgens, brachte man ihn wieder zumir. Und da habe ich einen Unbekannten entdeckt, einenHeiligen, glhend vor Frmmigkeit, der auf Knien vor derDachluke bis zur Erschpfung betet.

    Hat er sich dem Islamismus verschrieben?

    Er wei berhaupt nicht, was das ist.

    Hat ihn vielleicht jemand bearbeitet?

    Ich sage dir doch, das hat nichts mit den Islamisten zu tun.

    Sein Fall ist auergewhnlich.33

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    Wie ging es weiter?

    Rckkehr ins Gefngnis. Fnf Jahre ein frommes Leben.Gefgig. Aber verschlossen. Sauber. Stndig mit seinen Wa-

    schungen beschftigt Ich sag dir, der macht mich wahnsinnig.Sobald er vor mir steht, krampft sich mein Magen zusammen Dieser Mann, fgt er hinzu und schwenkt dabei die Karteikarte,ist davon berzeugt, da er allein deshalb auf die Welt ge-kommen ist, um seinem Nchsten Leid zuzufgen.

    Ich wei immer noch nicht, was du von mir erwartest.

    Ich rate dir, tglich zwei Liter Kaffee zu trinken. Denn von

    jetzt an wirst du kein Auge mehr zutun knnen. Unser Mannfllt unter die Amnestie des Prsidenten. Er wird ab dem erstenNovember frei sein Als ich davon erfuhr, habe ich sofort denGefngnisdirektor kontaktiert. Der sagte, da die Liste von einerExpertenkommission aufgestellt worden ist, die ihn zumEntlassungskandidaten erklrt hat. Ich habe an die besagteKommission geschrieben. Man hielt es nicht fr ntig, mir zuantworten. Ich habe das Ministerium der Justiz in dieser

    Angelegenheit angerufen. Die Kommission sei unabhngig, hiees dort. Ich habe das Ministerium des Innern alarmiert. Nichts.Ich habe sogar die Presse informiert. Eine Journalistin istvorbeigekommen. Aber dann wieder nichts. Die Zeit vergeht,und der Namenlose denkt bereits an seine nchsten Opfer. Dasist der Grund, weshalb ich mich an dich gewandt habe, Brahim.

    Wenn ich richtig verstehe, soll ich zum Ras gehen und ihn

    bitten, seinen Erla rckgngig zu machen?Es ist wirklich ernst, Brahim.

    Was kann ich denn da als kleiner Bulle tun, Professor, wennder Prsidentenerla bereits abgezeichnet ist, wenn die betref-fenden Ministerien keinen Finger rhren, wenn sich alle Welteinen Dreck darum schert? Soll ich ihn am Gefngnistorabfangen, ihm einen Strafzettel verpassen und ihn wieder

    34

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    einlochen? Ich wei nicht, wie ich jemandem den Weg versper-ren soll, den die Justiz rehabilitiert hat.

    berwache ihn.

    Womit? Wie lange? Und mit welcher Handhabe? Mal ehr-lich, Professor, glaubst du wirklich, da das durchzufhren ist?

    Ich sage dir doch, da er wieder damit anfangen wird.

    Hast du einen Beweis?

    Ich bin Psychiater, verdammt noch mal. Diese Person istmein Patient. Er ist hochgefhrlich.

    Hat er im Knast Dummheiten gemacht?Was ist ein Raubvogel im Kfig anderes als ein gelhmterSpatz? Der Namenlose ist gerissen. Er wartet ganz ruhig aufseine Beute. Ist er erst mal drauen, schlgt er zu. Dem Raubvo-gel ist es ein Vergngen, wie ein bses Omen ber der Herde zuschweben, seine Beute auszuwhlen und zuzustoen, amliebsten vllig wahllos. Du solltest ihn hren, wenn er erzhlt,wie er ganz pltzlich, einfach so, beschliet, da der Kerl, der

    ihm ber den Weg luft, der kleine Bengel oder die alte Buerin,denen er zufllig begegnet, verschwinden mssen. Nicht etwa,weil sie sich etwas haben zuschulden kommen lassen, sondernallein, weil er es so beschlossen hat. Sein ganzes Glck bestehtdarin, die Leute unvorbereitet zu treffen, ohne den geringstenBeweggrund, blo um das Bewutsein absoluter Freiheit zuhaben, einer Freiheit, die nicht das geringste Zgern zult. EinSonderfall, der schwerste und beunruhigendste, der mir jebertragen worden ist, Brahim.

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    Als stche mir ein Haufen Dornen in den Rcken, so verlasseich Professor Allouche. Trotz der Hitze ist mir kalt, und ichfhle mich am ganzen Krper wie taub. Irgend etwas braut sichin meiner Magengrube zusammen und hinterlt einen unange-nehmen Nachgeschmack im Mund. Und immer wenn mich einderartiges Vorgefhl beschleicht, kann ich sicher sein, da einUnglck eintreten wird.

    In der Zentrale angelangt, stolpere ich buchstblich berInspektor Bliss. Bei seinem Anblick bekomme ich Gnsehaut.Wenn Bliss dich am Eingang zum Paradies empfngt, dann istklar, da die Hlle umgezogen ist.

    Lino hat angerufen, verkndet er mir. Er bittet um dreiTage Urlaub.

    Njet!

    Er sagt, da er ein Problem hat.Ich dachte, er sei krank.

    Vielleicht ein gesundheitliches Problem.

    Ist mir schnurz. Ich will ihn morgen sehen, hier in meinemBro.

    Ich glaube nicht, da er morgen dasein wird. Lino hat aus

    reinem Dienstreflex um die Erlaubnis gebeten, fernzubleiben.Seit einiger Zeit ist er ziemlich eigenwillig, falls man berhauptnoch von einem eigenen Willen sprechen kann. Er tippt sichlssig an die Schlfe, strzt die Auentreppe hinunter und gehtauf sein Auto zu.

    Wohin fhrst du?

    Der Chef hat mir einen kniffligen Fall bertragen, antworteter. Dann schnipst er pltzlich mit den Fingern. Ach, fast htte

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    ich es vergessen. Ab sofort frag zuerst den Chef, wenn du michbrauchst. Er legt Wert darauf.

    Und dabei entfernt er sich wie ein unheilvoller Geist, der seine

    Beschwrungsformeln spricht.

    Am nchsten Morgen treffe ich Lino schon sehr frh im Broan, er sitzt, eifrig kritzelnd, ber irgendwelche Papiere gebeugt.Er versucht mir weiszumachen, da er wie besessen arbeitet,doch ein kurzer Blick auf sein Chaos sagt meinem ausgekochten

    Kabylenverstand, da er dabei ist, einen alten, lngst abgelehn-ten Bericht Wort fr Wort abzuschreiben. Selbstverstndlichfhrt Lino mit seinem Affentheater fort: Er streckt die Zungeraus, um seine Grobuchstaben hochzuhieven, stemmt sichgegen seine Kommas, kratzt sich hinterm Ohr, um das treffendeWort hervorzulocken, und ist derart vertieft, da er hoch-schreckt, als er mich pltzlich vor sich entdeckt.

    Ist es schon acht? ruft er heuchlerisch aus.Soll ich daraus schlieen, da du die ganze Nacht ber dei-nem Papierkram gesessen hast?

    Du weit, da ich in puncto Arbeit nichts dem Zufall berlas-se, Kommy.

    Wie rhrend.

    Sein Blick weicht aus.

    Pack dein Zeug weg und komm mit. Wir haben zu tun.Lino fhrt hoch. Dauert es lange?

    Kommt drauf an. Warum?

    Ich hab heute nachmittag etwas Dringendes vor, Kommy.

    Mir egal.

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    Widerwillig zieht er seine Jacke an und beeilt sich, mir auf denFlur zu folgen. Als wir im Auto sitzen, frage ich ihn: Verrtstdu mir das Rezept deines Heiltrunks?

    Was fr ein Heiltrunk?Mit dem du deine Mordsgrippe schneller als mit einer Hyp-

    nosesitzung geheilt hast.

    Er lchelt. Lino lchelt immer, wenn ich ihm auf die Schlichekomme. Das sind die Nerven. Ich durchbohre ihn mit demFinger. Er hebt die Hnde zum Zeichen, da er sich ergibt, legtden ersten Gang ein und fhrt mit hundert Sachen los.

    Das Gefngnis von Serkadji erinnert mich an eine Zeit, bei derich mich nicht allzu lange aufhalten mchte. Eine grauenhafteStrafanstalt. Der Gefngniswrter, den sich der Herrgottanscheinend lediglich als Hter eines unentwirrbaren Schlssel-

    bundes ausgedacht hat, ffnet mehrere Schnappschlsser, bevor

    er das Gitter zur Seite schiebt und uns durch schauderhafteKorridore fhrt, die uns mit ihren Windungen wie in einenAbgrund zu ziehen scheinen. Er ist ungeheuer dick, kurz wiedrei bereinandergestapelte Reifen seine Birne, sein Schmer-

    bauch und sein Hinterteil , was ihn gleich dreifach beim Gehenbehindert. Von Zeit zu Zeit dreht er sich um, schaut, ob wir ihmnoch folgen, und guckt jedesmal griesgrmig, wenn er feststellt,da wir nicht kehrtgemacht haben.

    Schlielich bleibt er vor einer massiven Tr stehen, klopft undkndigt uns an. Ein Ungetm mit einem mchtigen, verfas-sungswidrigen Schnauzbart empfngt uns.

    Es gibt Mnner, die sind davon berzeugt, da ihre Mnnlich-keit von der Kraft ihres Handschlags abhngt.

    Unser Gastgeber gehrt zu dieser Sorte. Sein Hndedruck willforsch sein, meiner eher zurckhaltend.

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    Also? stt er hastig hervor.

    Ich stelle fest, da es in dem Raum auer seinem Lederthronkeine weitere Sitzgelegenheit gibt. Ich schliee daraus, da der

    Typ seinen Besuchern nicht mehr Achtung entgegenbringt alsseinen Strflingen, denen er ganz offensichtlich mit unersttli-cher Genlichkeit das Leben schwermacht.

    Knnen wir vielleicht in aller Ruhe ein bichen miteinanderplaudern? frage ich ihn.

    Das hier ist ein Gefngnis, kein Teesalon, Kommissar.

    Aha.

    Verblfft ber diesen Empfang, rollt Lino mit den Augen undschluckt seine Emprung widerwillig herunter.

    Der Direktor stemmt seine Pranken gereizt in die Hften. Inwelcher Angelegenheit wollen Sie mich sprechen?

    Wenn Sie berlastet sind, kommen wir spter noch malwieder.

    Ich bin immer berlastet. Erledigen wir das lieber gleich.

    Einverstanden, einverstanden, Monsieur , bringe ichmrrisch hervor und kann mich gerade noch beherrschen.

    Monsieur Boualem.

    Wie Sie wollen, Monsieur Boualem. Ich habe gehrt, daeinige Ihrer Insassen am ersten November freigelassen werdensollen.

    Sie sind gegen die Beschlsse des Ras?

    Damit versucht er, mir etwas in den Mund zu legen, was ichnicht gesagt habe. Um mich aus dem Konzept zu bringen. Ichatme ein paarmal tief durch, lasse mich von meinen pochendenSchlfen inspirieren, kneife die Augen zusammen, um mirmeinen Unmut nicht anmerken zu lassen, und gestehe ihm:Ganz unter uns, Monsieur Boualem, ich schei auf den Ras,seine Eunuchen und alle diejenigen, die meinen, da ein Bulle

    nicht das Recht hat, diese kleinen Halunken, die sich fr39

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    Tempelhter halten, umzulegen. Diesmal weicht er zurck,wodurch ich wieder an Boden gewinne. Richtig, auf dieserZirkusarche sind Sie der Chef, aber ich bin eine besondere

    Spezies, und ich hasse Dompteurslehrlinge. Also, Ihren berei-fer bewahren Sie sich fr Ihre Tierschau auf, okay? Ich bindienstlich hier.

    Tozz! Boualem strzt sich fast auf mich.

    Mit einer Ruhe, die mir nicht unbedingt eigen ist, sage ich:Es handelt sich um den Namenlosen

    Und weiter?

    Professor Allouche Professor Allouche ist ein Schwachkopf. Total berge-

    schnappt. Eine Expertenkommission hat smtliche unter diePrsidentenamnestie fallenden Hftlinge geprft. Der Namenlo-se wurde angehrt, abgehorcht, durchgecheckt, verschiedenen

    psychologischen Tests unterzogen und zum Entlassungskandida-ten erklrt. Von einer kompetenten und glaubwrdigen

    offiziellen Kommission, in der hervorragende Psychologen undintegre Fhrungskrfte vertreten sind. Fr mich ist die Sachedamit erledigt. Ein Prsidentenerla ist unterzeichnet worden,Kommissar. Sie sind Staatsbeamter und sollten wissen, was einsolcher Erla bedeutet.

    Na schn Kann man den Entlassungskandidaten sehen?

    Haben Sie ein Mandat?

    Nur eine Kreditkarte.Bedaure, Gefngniswrter sind nicht so grozgig wie Schal-terbeamte, Kommissar.

    Ich bin bereit, mein Hemd zu verpfnden. Ich bleibe nichtlange. Ich mu ihn sprechen.

    Er schttelt verchtlich den Kopf. Kommt nicht in Frage.

    Und dreht uns den Rcken zu.

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    Lino sieht, wie die Wut in mir aufsteigt. Er fat mich amEllbogen und versucht, mich an Dingen, die nicht wiedergutzu-machen wren, zu hindern. Ich lasse ihn gewhren. Nicht, da

    ich keine Lust htte, diesem Schnsel einen Tritt in den Hinternzu geben, aber ich halte es in der Tat nicht fr notwendig.Unrecht lt sich mitunter wieder geradebiegen, Unverstand nie.

    Ich will gerade ins Bett gehen, als mich Professor Alloucheanruft. Mina reicht mir den Hrer und zieht sich zurck. Ichwarte, bis sie die Tr hinter sich geschlossen hat.

    Ja?Ich habe den ganzen Tag versucht, dich in deinem Bro zu

    erreichen. Deine Sekretrin hat mir gesagt, da du nicht daseist.

    Das ist seine Art.

    Sie hat nicht gelogen, Professor. Ich bin alarmiert, so wie dues mir empfohlen hattest.

    Seine Stimme wird sicherer. Hast du den Gefangenen gese-hen?

    Sein Direktor hat mich daran gehindert.

    Warum?

    Mein Hemd war kein berzeugendes Pfand. brigens, ichhatte ein Gesprch mit einem befreundeten Anwalt. Er hataufmerksam zugehrt und war freundlich, aber absolut eindeu-

    tig.Das heit?

    Der Namenlose wird in fnf Tagen entlassen.

    Der Professor spuckt emprt einen ganzen Schwall Flche ausund seufzt schlielich ratlos. Das ist ja schrecklich. Die sindauf dem besten Weg, einen ganz ungeheuerlichen Fehler zu

    begehen. Einen so brisanten Fall darf man nicht auf die leichte

    Schulter nehmen.41

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    Kann sein.

    Und was hast du jetzt vor, Brahim? erkundigt sich derProfessor.

    Schlafen.

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    Seit einer ganzen Weile beobachte ich, wie Lino seinemSpiegelbild in der Toilette schne Augen macht. Er betrachtetsich von allen Seiten, zupft sich hier ein Hrchen aus, kontrol-liert, ob seine Jacke richtig sitzt, und ist so fasziniert von seinenolympischen Krpermaen, da er mich berhaupt nicht

    bemerkt. Der Sache langsam berdrssig, stelle ich michheimlich hinter ihn und gurre ihm in den Nacken: Spieglein,

    Spieglein an der Wand, wer ist der dmmste Bulle im ganzenLand?

    Lino ist nicht zu Spen aufgelegt.

    Hast du ein Problem, Kommy?

    Du hast eins, mein Sohn.

    Und was kmmert dich das?

    Sagen wir mal, es geht mich auch etwas an.Er betrachtet mich im Spiegel.

    Dein rger reicht dir wohl nicht, Kommy?

    Man ist nicht allein auf der Welt. Zwangslufig betrifft unsalles, was um uns herum passiert.

    Ich kann dir nicht folgen.

    In der Stadt geht ein Gercht um

    Soll es doch umgehen, schneidet er mir kurzerhand dasWort ab, dazu ist es da.

    Ja, aber dich zieht es im Schlepptau hinter sich her wie einenKochtopf.

    Er pret die Kiefer aufeinander und geht zum Ausgang.

    Versuch, nicht allzu viele Federn im Bett zu lassen.

    Ich schaue ihm nach. Etwas an seinem Gang mifllt mir.

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    Wenn er sich stark genug fhlt, sein Schiffchen dorthin zusteuern, wohin er will, soll er tun, was er fr richtig hlt. In wasmische ich mich da berhaupt ein? Aber das ist es ja gerade,

    meine in bester FLN-Tradition geschulte Big-Brother-Nase sagtmir, da der Kompa meines Schiffsjungen die Richtung verliertund er, wenn ich ihn nicht im Auge behalte, mit ziemlicherWahrscheinlichkeit an finsteren Ufern stranden wird.

    Dieses Gefhl verstrkt sich noch, als Inspektor Bliss mirmittags in der Kantine das Essen verdirbt. Er stellt sein Tablettauf den Tisch und setzt sich mit hinterhltigem Lcheln mirgegenber.

    Ich hoffe, ich stre dich nicht.

    Du wrdest selbst eine Mumie in ihrem Sarkophag stren,erwidere ich.

    Daraufhin neigt er sich ber meinen Nachtisch und murmeltmir ins Ohr: Der Fisch ist nicht mehr frisch. Eben habe ich eineKatze aus der Kche schleichen sehen. Sie sah nicht gut aus.

    Kein Wunder, bei deiner Visage.Er hebt seine Fratze von meinem Joghurt. Vom Direktorverhtschelt, mat er sich an, es mir gegenber an Respektfehlen zu lassen, und ich rgere mich, da ich berhaupt aufdiesen Drecksack eingehe, wo ich doch trotz der Scheie, in derich den lieben langen Tag herumwhle, immer saubere Hnde

    behalten habe. Er spielt mit der Gabel, stochert in seinemWittling herum, hlt sich bei einer bel aussehenden Grte auf

    und angelt dann unter einem Salatblatt eine verschrumpelteOlive hervor. Ich sehe, wie er nach Worten sucht, und fange an,mit dem Messer an den Tellerrand zu trommeln, um ihn dabeizu stren.

    Llob, mein Lieber, seufzt er, wenn ich mich zu dir gesetzthabe, dann ganz gewi nicht, weil mir deine GesellschaftAppetit macht. Ich wei, was du ber mich denkst, und du

    weit, was ich ber dich denke; unntig, uns damit aufzuhalten.44

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    Ich bin nur gekommen, um dich auf deinen Schwachkopf vonLino aufmerksam zu machen Es liegt nicht in meiner Natur,den Retter in der Not zu spielen und ich htte durchaus das

    Bedrfnis den Bo darber zu informieren, wenn ich mich abertrotzdem lieber zuerst an dich als seinen unmittelbaren Vorge-setzten wende, dann weil du der einzige bist, der ihn nochwachrtteln kann

    Kannst du dich nicht krzer fassen? Meine Seezunge fngt anzu stinken.

    Bliss verzieht sein Gesicht zu einem hmischen Grinsen. Eine

    Horde Hynen knnte ihm nicht das Wasser reichen. SeineDoppelzngigkeit jagt mir eine ganze Dusche kalter Schauerber den Rcken. Mit einemmal nimmt das Stck Tomate, dasich gerade genieen wollte, einen bitteren Geschmack an.

    Wie dumm du sein kannst, brummt er.

    Er nimmt sein Tablett und steht auf. Offensichtlich versprt erein boshaftes Vergngen bei der Vorstellung, mir die Verant-wortung fr die Zukunft meines wichtigsten Mitarbeiters in dieSchuhe zu schieben. Um noch einen draufzusetzen, tnt er lautgenug, da es die anderen auch hren knnen: Ich dachte, duwrdest deine Leute mehr schtzen

    Ich habe keine Lust weiterzuessen der Fisch kann in der Tatnicht mehr frisch gewesen sein.

    Am Nachmittag berrasche ich Lino dabei, wie er InspektorSerdj auffordert, er mge sich um seinen eigenen Dreck scheren.

    Serdj versucht, die Lage mit seiner unterwrfigen Stimme zuentschrfen. Er lehnt an der Wand, die Hnde vorgestreckt, denKopf eingezogen. Lino treibt ihn in die Enge und fuchteltwtend herum. Baya schafft es nicht, dazwischenzugehen. Siemu zusehen, wie die Situation eskaliert, aber als Frau gilt sienoch weniger als nichts, ihr bleibt nur, die beiden Mnner mitBlicken zu beschwren.

    Sie ist erleichtert, als sie mich auf der Trschwelle erblickt.45

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    Was ist denn das fr ein Saustall hier? tobe ich.

    Serdj schluckt krampfhaft seinen Speichel hinunter. Bei derVerehrung, die er mir entgegenbringt, nimmt ihm mein ordin-

    res Gepolter fast den Atem. Lino dagegen lt sich von meinemAnpfiff nicht im geringsten beeindrucken. Seine funkelndenAugen sind auf die des Inspektors geheftet, als wollte er sie ihmausstechen. Ich mu ihn an der Schulter packen, um ihn zurck-zuhalten.

    Wenn Herrchen Platz! sagt, hast du dich hinzulegen, ver-standen? Das hier ist mein Revier, und ich erlaube niemandem,

    lauter zu sein als ich.Lino gibt endlich nach, ohne den Inspektor aus den Augen zulassen. Er fhrt sich mit der Hand ber die zuckenden Lippen,zieht heftig die Nase hoch und legt erneut los: Ich bin volljh-rig und keine Jungfrau mehr, brllt er Serdj an. Ich brauchemir nichts sagen zu lassen, schon gar nicht von einem Provinzeiwie dir. Mein Leben ist ganz allein meine Sache. Ich gehe aus,mit wem ich will, und zieh mich an, wies mir pat. Steck ich

    meine Nase etwa in deine Angelegenheiten?Okay, lenkt Serdj vershnlich ein, ich nehme zurck, was

    ich gesagt habe. Es war nicht meine Absicht, dich zu krnken.

    Du hast mich nicht nur gekrnkt, Kho, du bist einfach zumKotzen. Hab ich dich vielleicht nach deiner Meinung gefragt?

    Nein.

    Also, was mischst du dich dann ein?

    Lino erinnert sich an meine Hand auf seiner Schulter. Mit zweiFingern schiebt er sie weg, als handele es sich um Zndstoff. Ich

    bin sprachlos, bersehe diese Geste jedoch grozgig.

    Kann ich mal mit dir reden? frage ich ihn.

    Worber?

    Komm mit in mein Bro.

    Ich habe keine Zeit.46

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    Sei nicht albern. Es dauert nicht lange.

    Ich bin nicht in Stimmung, Kommissar. Ich bin mde undwill nach Hause.

    Es ist aber noch nicht Dienstschlu.Lino bleibt halsstarrig. Er wirft Serdj noch einmal einen

    vernichtenden Blick zu, rckt seinen Hemdkragen zurecht, sttmich beinahe um und wendet sich dann zum Ausgang.

    Ich habe dir doch gesagt, da noch nicht Schlu ist.

    Ich bin nicht taub, murrt er vor sich hin und lt micheinfach stehen.

    Nachdem Lino verschwunden ist, bitte ich Serdj, mich aufzu-klren. Der Inspektor versucht den Vorfall herunterzuspielen.Ich schlage mit der Faust auf den Tisch, da hit er die weieFlagge. Als htte er nur darauf gewartet, endlich loszuwerden,was ihm schwer im Magen liegt, fngt er an, mir auseinanderzu-setzen, wie seltsam Lino sich in letzter Zeit auffhrt, genauer,seitdem er sich in eine Dame aus der High Society verknallt hat.

    Er hat mich um Geld gebeten, erzhlt er. Ich gebs dirmorgen zurck, hat er versprochen. Ich renn ihm immer nochdeswegen hinterher Zwei Tage spter beschwatzt er Bayaund zieht ihr die Hlfte ihres Lohns aus der Tasche. Lino kannnicht mehr zwischen einem Kollegen und einem Kreditgeberunterscheiden. Er haut jeden x-beliebigen an. Innerhalb von dreiWochen fordert die halbe Zentrale Knete von ihm zurck, aberdas scheint ihn nicht abzuschrecken Diese Dame ist nichtsfr seinen Geldbeutel. Ich habe gedacht, da er es selbst merkenund die Finger davon lassen wrde. Aber Lino macht auf VogelStrau. Er findet immer mehr Geschmack an Luxus undExtravaganz. Die Kollegen machen sich seinetwegen groeSorgen. Sie sind der berzeugung, da er, wenn er es soweitertreibt, mit Sicherheit Mist bauen wird, und zwar ganzgewaltigen, wenn Sie verstehen, was ich meine. Deshalb wollte

    ich mit ihm reden, in der Hoffnung, ihn zur Vernunft zu bringen.47

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    Das Ergebnis haben Sie ja eben selbst mitgekriegt. Lino ist nichtmehr ganz bei Trost.

    Ich sttze mein Kinn zwischen Daumen und Zeigefinger, um

    ber die Angelegenheit nachzudenken, Baya beobachtetindessen meine gerunzelte Stirn. Nachdem ich einen Momentberlegt habe, sage ich zu Serdj: Was gibt euch das Recht zu

    behaupten, da Lino sich von einer falschen Jungfrau ausneh-men lt? Kennt ihr die Dame?

    Serdj plustert die Backen auf. Eigentlich nicht.

    Und warum dann diese ganze Aufregung?

    Es ist das allgemeine Gefhl in der Zentrale, Kommissar.Lino lebt ber seine Verhltnisse. Mit dem Rhythmus, den ihmdie Dame aufdrckt, kann er nicht mithalten, er kommt vlligauer Puste. Von morgens bis abends steht er unter Strom. Dasist nicht normal.

    Aber doch auch kein Grund, gleich Alarm zu schlagen,wage ich einzuwenden.

    Da bin ich aber anderer Meinung, beharrt Serdj. Linoverliert den Boden unter den Fen. Ich kenne ihn.

    Mit einer Handbewegung bitte ich den Inspektor, ruhig Blut zubewahren. Mein lieber Serdj, begreifst du denn nicht, da unserLino eine etwas versptete Puberttskrise durchmacht? Ist dochsonnenklar: Er ist verliebt, das ist alles

    Meinen Sie?

    Das sieht doch ein Blinder mit Krckstock.Serdj bleibt skeptisch.

    Die Liebe ist eine himmlische Ungereimtheit, ein gewaltigerAufruhr, eine wundervolle Katastrophe. Und Lino stecktmittendrin. Er taucht in eine andere Welt ein, kapierst du? Erentdeckt sich selbst, er wird sich seiner Bedeutung bewut undfngt ber dieses unverhoffte Glck total zu spinnen an. So wie

    alle Verliebten seit Adam und Eva.48

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    Das kommt etwas pltzlich, Kommissar. Es liegt was in derLuft, und Lino stellt sich einfach dumm an.

    So ist Liebe auf den ersten Blick nun mal, es ist, als ob der

    Blitz eingeschlagen htte. Du hast keine Chance, den Schlagabzufangen. Und du kannst nichts dagegen machen.

    Liebe auf den ersten Blick? fragt Serdj unglubig, dennselbstverstndlich wei er nicht, was das ist, da er mit Siebzehnan ein Mdchen verheiratet wurde, das er berhaupt nichtkannte, wie es in konservativen Familien so blich ist.

    Und auf einmal ist mir ganz seltsam zumute.

    Liebe auf den ersten Blick!Und dann fange ich an zu erzhlen: Ich war auch einmal auf

    den ersten Blick verliebt. Das ist schlimmer als ein Sonnenstich.Ich erinnere mich genau. Das Land hatte gerade die Unabhn-gigkeit erlangt, und Algier lieferte sich ein wahresFreudengemetzel. Wir lachten und tanzten wie besessen und

    besoffen uns zwischen zwei Lynchmorden nach Strich und

    Faden, wir wurden sozusagen noch einmal geboren, aberdiesmal mit der Geburtszange. Es war unertrglich und verblf-fend zugleich. Und in diesem ganzen Delirium, diesenschreienden Farben, war da dieser Vorortbahnhof, grau wie eineverlorene Insel von Schiffbrchigen. Ein schweigender Bahn-hof. Andere, die weniger Glck hatten, waren dabei, das Land inRichtung Abgrund zu verlassen. Und inmitten der auf ihrenBndeln hockenden Familien, der starren Blicke und der

    Schatten des Schweigens sa sie abseits auf einer Bank in derEcke, wie schwankend zwischen der Ausgelassenheit auf denStraen und der Traurigkeit, die diesen Gleisen anhaftete. DasLicht eines groen Fensters umgab sie mit einem rtselhaftenGlanz. Sie war Franzsin, vielleicht Anfang, Mitte Zwanzig,unbeschreiblich schn, mit Augen grer als das Mittelmeer. Sietrug einen armseligen kleinen Hut, aber keine Ohrringe. IhrPappkoffer enthielt offensichtlich ihre smtlichen Habseligkei-

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    ten. Das lange schwarze Kleid reichte ihr bis zu den Kncheln,und die kurze Jacke verschwand fast hinter den wuchtigenKnpfen. Das Kleid war aus billigem Stoff genht, aber es sa

    tadellos. Nur eine ruhige, feine Hand wie ihre konnte in allerDemut so etwas Vollendetes geschaffen haben An diesemTag hielt ich mich fr den glcklichsten Menschen. Ich hatte aufallen Boulevards getanzt und in allen Bistros getrunken, bevorich wie zufllig auf diesen Vorortbahnhof stie, um dort weider Teufel was zu suchen. Vielleicht war ich ihretwegen da, ichfhlte mich wie gelhmt von ihrem vagen Lcheln, auerstande,mich am Tag des groen Sieges aufrecht zu halten. Drauen

    wollte die Sonne noch nicht untergehen. Im Bahnhof war esschon Nacht. Auf einmal hob sie den Blick zu mir, es war, alswrde mich eine Brandungswelle mit sich fortreien

    Ich halte inne. Die Kehle wie zugeschnrt. Serdj senkt ergrif-fen den Kopf. Baya flennt lautlos in ihr Taschentuch.Aufgewhlt von der heraufbeschworenen Erinnerung, flchteich mich in die Betrachtung meiner Hnde.

    Und was ist dann passiert? fragt mich Serdj mit erstickterStimme.

    Dann, erwidere ich kopfschttelnd, dann hat mich Minamit ihrem Ellbogen in die Seite gestoen, und ich bin aufge-wacht.

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    Seit langem ungepflastert, gleicht die Strae mittlerweile ehereinem Ziegenpfad, der von einer Barrikade aus Mll verstopftwird. Zu beiden Seiten warten verfallene Huser auf dennchsten Erdsto, um ein fr allemal die Poltergeister, die darinherumspuken, unter sich zu begraben. Whrend ich mich aufhalsbrecherische Weise zwischen den Abfallbergen hindurchzu-schlngeln versuche, entdeckt mich ein Brigadier. Mit einem

    Wink bedeutet er mir, an der Seite zu parken. Ich nicke undlasse meine alte Mhle am Fu einer Straenlaterne stehen, derman den Kopf abgeschlagen hat.

    Hier gehts lang, Kommissar.

    Er fhrt mich zwischen den Wagenspuren bis zu einem Wohn-silo und brllt die Leute an, die dort im Erdgescho neugierigherumstehen.

    Lat den Herrn Kommissar durch!Eine dicke Hausfrau dreht sich um, sie will wissen, wie die

    lokale Obrigkeit aussieht. Mein Schmerbauch und mein Dop-pelkinn beruhigen sie. Sie fngt nun ebenfalls an zu schreien,damit die Leute Platz machen.

    Ich bahne mir einen Weg durch die Gesellschaft wie einMonarch durch seinen Hofstaat und steige die chzenden

    Treppenstufen hinauf. Vorsichtig taste ich mich mit einer Handan der Wand entlang, die andere halte ich mir vors Gesicht,wegen des Gestanks. Nach einem Lichtschalter brauche ich garnicht erst zu suchen; es gibt nicht mal eine Leitung.

    Vor der Wohnung am Ende des Korridors steht ein BulleWache und bohrt sich in der Nase; ich mu ihn beiseite schie-

    ben, um vorbeizukommen. In dem mit armseligen Bndelnvollgestopften Zimmer sitzt eine Frau auf einem Strohsack, drei

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    Habt ihr einen Krankenwagen gerufen?

    Ist unterwegs.

    Also, dann werde ich jetzt mit ihm sprechen. Und wenn esnur darum geht, ihn bis zum Eintreffen der Krankentrger wachzu halten.

    Pltzlich ein dumpfer Schlag. Wir rennen auf den Balkon. DerUnglckliche hat sich schlielich doch in die Tiefe gestrzt.Drei Stockwerke weiter unten liegt er, die Arme ber Kreuz, mitdem Gesicht zum Boden, die verbogene Prothese neben sich.

    Ich habe in der Nacht kein Auge zugetan.Am Morgen war ich noch vor dem Wachtposten im Bro.

    Geschlagene zehn Minuten bin ich in den Gngen herumgeirrt,wei Gott, wem oder was auf der Spur. Als die ersten Mitarbei-ter aufkreuzten, habe ich mich in mein Kabuff verzogen,zweimal hinter mir abgeschlossen und versucht, mich zuentspannen, indem ich an nichts dachte. Dann kam Baya,

    angemalt wie ein chinesischer Drache. Sie hat irgendwas gesagt,das ich nicht richtig verstanden habe, und hat sich schlielichangesichts meiner finsteren Miene wieder verkrmelt. Nacheinem unendlich langen Atemstillstand tauche ich wieder aufund versuche Boden unter die Fen zu bekommen. Nichts zumachen. Der verrenkte Krper des Unglcklichen holt micherneut ein. Ich schliee die Augen und versinke abermals imSumpf meiner fixen Ideen.

    Dahinein klingelt das Telefon.Brahim? Es ist der Direx.

    Herr Direktor?

    Hast du eine Minute Zeit?

    Selbstverstndlich.

    Dann beweg deine alten Knochen in den dritten Stock, aber

    dalli!54

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    Wenn die Pferde mit dem Direx durchgehen, dann ist aucheine Windmhle nicht weit. Ich habe mich nicht getuscht. HajThobane hchstpersnlich ist bei ihm zu Besuch, und das heit:

    ein unerschpflicher Vorrat an Schmiergeldern und Vitamin B.Haj Thobane stellt in Gro-Algier eine einflureiche Persn-

    lichkeit dar. Eine Legende. Wenn man ihn reden hrt, war er es,der de Gaulle einen Tritt in den Hintern versetzt hat. DerartigeMythen sind in meinem Land so zhlebig, da ihnen nichteinmal ein Nashorn ans Leder gehen wrde. Doch obwohl seineHeldentaten mehr als unwahrscheinlich sind, hat Haj Thobanezumindest zwei Verdienste: eins auf dem Gebiet der Philosophieund eins auf dem der Alchemie. Erstens bringt er die berhmteDarwinsche Theorie zu Fall, wonach der Mensch vom Affenabstammt. Er, Haj Thobane, ist geradewegs von seinem Baumheruntergeklettert. Zweitens: Um nicht vom sich stndigdrehenden Wind hinweggefegt zu werden, ist er eifrig darauf

    bedacht, da seine Taschen rund um die Uhr gefllt sind. Und esist bekannt, da er seine Scheinchen nur zckt, wenn sie sich auf

    der Stelle in einen diensteifrigen Ganoven verwandeln lassen, soda die ganze Stadt wie ein Schohndchen mit hngenderZunge angewackelt kommt, sobald er seinen Geldbeutelklingeln lt. Ihm geht nichts durch die Lappen, er sackt dieMenschen ebenso ein wie die Geschichte. Auch nach meinerHand wrde er greifen, doch ich weigere mich, sie ihm entge-genzustrecken. Obwohl mir Menschen dieser Art uerstzuwider sind, bin ich erfreut, ihm hier im Bro des Direx zu

    begegnen, wo er es sich auf dem Sofa so gemtlich gemacht hatwie eine Knigskobra auf dem Turban eines Fakirs. Denn selbstwenn seine rechte Hand auf krummen Wegen die fetten Geldereinstreicht, versteht es die linke bestens, sich wieder reinzuwa-schen, was den Vorteil hat alle revolutionren Prinzipien aufEis gelegt , da wir bisweilen durch Annehmlichkeiten von derallgemeinen Niedergeschlagenheit abgelenkt werden.

    Der Direx stellt mich vor: Das ist unser Brahim.55

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    Haj Thobane lchelt mich gewinnend an. Da ich meine Brilleauf der Schreibunterlage vergessen habe, lt mich das so kaltwie eine Scheibe Wurst. Wie oft sind wir uns begegnet, Haj

    Thobane und ich? Fnfmal, zehnmal? Vielleicht noch fter.Wegen jeder Lappalie kreuzt er bei uns auf, denn er ist engbefreundet mit dem Chef. Und jedesmal tut er so, als knne ersich nicht erinnern, mich berhaupt je gesehen zu haben.Verglichen mit dieser Sorte Geldhai ist unsereiner nur einkleiner Fisch, aber das sollte man wohl nicht zu hoch bewerten.

    Der Direx bietet mir einen Sessel an. Sein ehrerbietiges Geba-ren lt mich aufmerken. Ich nehme gegenber dem KrsusPlatz und kneife die Hinterbacken zusammen, wachsam wie eineScheinheilige, die nicht glauben will, da alle Gynkologenimpotent sind.

    Du siehst gut aus, schmeichelt mir der Direx und setzt sichzu uns.

    Danke, Herr Direktor.

    Wrden Sie ihm fnfundfnfzig Jhrchen geben, Haj?

    Haj Thobane tut so, als ob er es nicht fassen knne.

    Im Ernst?

    Ich versichere Ihnen, da unser Brahim vor knapp einerWoche seinen fnfundfnfzigsten Geburtstag gefeiert hat.

    Haj Thobane ist sprachlos. Ich fr meinen Teil bleibe auf derHut, mache das Spiel aber mit, um den Chef nicht vor den Kopf

    zu stoen. Seitdem ich einen Antrag auf Beihilfe eingereichthabe, bemhe ich mich, sie auch zu verdienen.

    Und auerdem ist er Schriftsteller, fgt der Direx nochhinzu.

    Das heit?

    Na, er schreibt Bcher.

    Nicht mglich!

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    Aber ja, wenn ich es Ihnen doch sage. Er hatte sogar uerstschmeichelhafte Kritiken in der Presse.

    Haj Thobanes Augen sind jetzt aufgerissen wie die Nstern

    eines sich im Schlamm wlzenden Nilpferdes. Er treibt seineBewunderung so weit, da er aufsteht und mir die Hand scht-telt.

    Ein schreibender Bulle, wenn das nicht revolutionr ist! rufter aus.

    Apropos Revolution, bemerkt derDirektor sehr richtig, SiBrahim ist ein ehemaliger Mudjahid12.

    Da kann Haj Thobane gar nicht mehr an sich halten. Buchstb-lich berwltigt, schliet er mich feierlich in seine Arme. Amliebsten wrde er ein oder zwei Trnen vergieen, um mir zuzeigen, wie stolz und glcklich er ist, einen Freiheitskmpfer ansich zu drcken, einen richtigen Helden also, selbst wenn der esnicht so weit gebracht hat wie die Nutznieer von Allerheili-gen13. Whrend er mir mit seinen dicken Pfoten begeistert aufden Rcken hmmert, versuche ich, seinen berschwang nichtfr bare Mnze zu nehmen. Sicherlich habe ich mich auch schonmal von schnen Worten einlullen lassen, aber niemals in demMae, da ich glauben wrde, ein Milliardrs-Zam vomKaliber Haj Thobanes hielte mich einzig und allein in seinenArmen, um mich zu beglckwnschen. Auerdem bin ich festdavon berzeugt, da er berlegt, wo er mich einordnen und ober mich in seine Jacken- oder in seine Hosentasche stecken soll.

    Groartig, schnauft er. Dieser Mann verkrpert das Wun-der unserer ruhmreichen Revolution, er vereint in sich zweiBerufungen, die eigentlich unvereinbar sind: das Handwerk des

    12Mudjahid(a) (arab.) der (die) den Heiligen Krieg fhrt (Plur.: Mudjahed-din); im allgemeinen bezeichnet der Ausdruck jemanden, der sich um diemilitrische Verteidigung oder Verbreitung des Islam bemht.13Allerheiligen-Revolution Verweis auf den Ausbruch des

    Befreiungskrieges in der Nacht zum 1. November 1954.57

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    Polizisten und das Talent des Poeten. Ich glaube nicht, da soetwas auch unter einem anderen Himmel mglich wre. Einschriftstellernder Kommissar! Nein, wirklich, das ist das ist

    Widernatrlich? werfe ich ein.

    Der Herr Direktor bricht in Lachen aus, um meinen Patzer zubertnen, aber mehr noch um mich zu beschwren, dieFeierlichkeit des Augenblicks nicht zu zerstren. Ich wei, daer Probleme hat, seinen Hausbau fertigzustellen, und offensicht-lich hngt die Grozgigkeit des Milliardrs ausschlielich von

    meinem Wohlverhalten ab.Zu meiner groen Erleichterung beruhigt sich Haj Thobaneendlich. Er lt sich in einen Sessel sinken, schlgt die Beinebereinander und legt die Hnde darber. Fr einen Moment

    blitzt es in seinen Augen auf, dann wird sein Blick starr, undseine Gesichtszge hneln wieder denen eines Raubtiers: DasZwischenspiel ist beendet, wir kommen endlich zum ernsthaftenTeil.

    Also, beginnt er wie ein um seine Beute kreisenderSchwertwal. Es tut mir leid, Sie schon so frh zu stren,Monsieur Brahim, aber es geht um einen Offizier, den Siekennen

    Ich kenne keinen Offizier, unterbreche ich ihn skrupellos,weder in der Armee, falls Sie erwarten, da ich zugunsteneines Ihrer Schtzlinge eingreife, noch beim Zoll, falls Sie

    Container besitzen, die vom Hafenamt festgehalten werden.Der Direx ist entsetzt ber meine heftige Reaktion, beinahe

    htte er sein Gebi heruntergeschluckt. Und auch Haj Thobaneverschlgt es einen Augenblick lang die Sprache. Er siehtfragend zum Chef hinber, bevor er lospoltert:

    Ich finde, Sie sind sehr impulsiv, Monsieur Brahim Llob. Dasist nicht gerade ratsam fr jemanden, der so ungeschickt ist wie

    Sie. Oder glauben Sie im Ernst, ich wrde mich an einen58

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    gewhnlichen Polizeikommissar Ihres Schlages wenden, wennich irgendein Problem mit der Armee oder dem Zoll htte? Ich

    bin Haj Thobane: Ich kann jeden x-beliebigen Minister im

    Pyjama antanzen lassen, mein Lieber. Auf der Stelle. Ein Winkgengt Er streckt seinen Zeigefinger gegen mich aus.