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Gottfried Keller Kleider machen Leute eBook-Edition

Keller, Gottfried - Kleider Machen Leute[1]

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Page 1: Keller, Gottfried - Kleider Machen Leute[1]

Gottfried Keller

Kleider machen Leute

eBook-Edition

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Impressum

edition dibi

ISBN 3-89856-119-4

© 2000 dibi GmbH, Hamburgwww.dibi.de

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Kleider machen Leute

An einem unfreundlichen Novembertage wanderteein armes Schneiderlein auf der Landstraße nachGoldach, einer kleinen reichen Stadt, die nur weni-ge Stunden von Seldwyla entfernt ist. Der Schnei-der trug in seiner Tasche nichts als einen Fingerhut,welchen er, in Ermangelung irgendeiner Münze,unablässig zwischen den Fingern drehte, wenn erder Kälte wegen die Hände in die Hosen steckte,und die Finger schmerzten ihm ordentlich von die-sem Drehen und Reiben. Denn er hatte wegen desFallimentes irgendeines Seldwyler Schneidermei-sters seinen Arbeitslohn mit der Arbeit zugleichverlieren und auswandern müssen. Er hatte nochnichts gefrühstückt als einige Schneeflocken, dieihm in den Mund geflogen, und er sah noch wenigerab, wo das geringste Mittagbrot herwachsen sollte.Das Fechten fiel ihm äußerst schwer, ja schien ihmgänzlich unmöglich, weil er über seinem schwarzenSonntagskleide, welches sein einziges war, einenweiten dunkelgrauen Radmantel trug, mit schwar-zem Sammet ausgeschlagen, der seinem Träger einedles und romantisches Aussehen verlieh, zumaldessen lange schwarze Haare und Schnurrbärtchen

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sorgfältig gepflegt waren und er sich blasser, aberregelmäßiger Gesichtszüge erfreute.Solcher Habitus war ihm zum Bedürfnis geworden,ohne daß er etwas Schlimmes oder Betrügerischesdabei im Schilde führte; vielmehr war er zufrieden,wenn man ihn nur gewähren und im stillen seineArbeit verrichten ließ; aber lieber wäre er verhun-gert, als daß er sich von seinem Radmantel und vonseiner polnischen Pelzmütze getrennt hätte, die erebenfalls mit großem Anstand zu tragen wußte.Er konnte deshalb nur in größeren Städten arbeiten,wo solches nicht zu sehr auffiel; wenn er wanderteund keine Ersparnisse mitführte, geriet er in diegrößte Not. Näherte er sich einem Hause, so be-trachteten ihn die Leute mit Verwunderung undNeugierde und erwarteten eher alles andere, als daßer betteln würde; so erstarben ihm, da er überdiesnicht beredt war, die Worte im Munde, also daß erder Märtyrer seines Mantels war und Hunger litt, soschwarz wie des letzteren Sammetfutter.Als er bekümmert und geschwächt eine Anhöhehinaufging, stieß er auf einen neuen und bequemenReisewagen, welchen ein herrschaftlicher Kutscherin Basel abgeholt hatte und seinem Herrn über-brachte, einem fremden Grafen, der irgendwo in derOstschweiz auf einem gemieteten oder angekauftenalten Schlosse saß. Der Wagen war mit allerleiVorrichtungen zur Aufnahme des Gepäckes verse-

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hen und schien deswegen schwer bepackt zu sein,obgleich alles leer war. Der Kutscher ging wegendes steilen Weges neben den Pferden, und als er,oben angekommen, den Bock wieder bestieg, fragteer den Schneider, ob er sich nicht in den leerenWagen setzen wolle. Denn es fing eben an zu reg-nen, und er hatte mit einem Blicke gesehen, daß derFußgänger sich matt und kümmerlich durch dieWelt schlug.Derselbe nahm das Anerbieten dankbar und be-scheiden an, worauf der Wagen rasch mit ihm vondannen rollte und in einer kleinen Stunde stattlichund donnernd durch den Torbogen von Goldachfuhr. Vor dem ersten Gasthofe, ›Zur Waage‹ ge-nannt, hielt das vornehme Fuhrwerk plötzlich, undalsogleich zog der Hausknecht so heftig an derGlocke, daß der Draht beinahe entzweiging. Dastürzten Wirt und Leute herunter und rissen denSchlag auf; Kinder und Nachbarn umringten schonden prächtigen Wagen, neugierig, welch ein Kernsich aus so unerhörter Schale enthüllen werde; undals der verdutzte Schneider endlich hervorsprang inseinem Mantel, blaß und schön und schwermütigzur Erde blickend, schien er ihnen wenigstens eingeheimnisvoller Prinz oder Grafensohn zu sein. DerRaum zwischen dem Reisewagen und der Pforte desGasthauses war schmal und im übrigen der Wegdurch die Zuschauer ziemlich gesperrt. Mochte es

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nun der Mangel an Geistesgegenwart oder an Mutsein, den Haufen zu durchbrechen und einfach sei-nes Weges zu gehen - er tat dieses nicht, sondernließ sich willenlos in das Haus und die Treppe hin-angeleiten und bemerkte seine neue seltsame Lageerst recht, als er sich in einen wohnlichen Speisesaalversetzt sah und ihm sein ehrwürdiger Manteldienstfertig abgenommen wurde.»Der Herr wünscht zu speisen?« hieß es. »Gleichwird serviert werden, es ist eben gekocht!«Ohne eine Antwort abzuwarten, lief der Waagwirtin die Küche und rief: »In's drei Teufels Namen!Nun haben wir nichts als Rindfleisch und dieHammelkeule! Die Rebhuhnpastete darf ich nichtanschneiden, da sie für die Abendherren bestimmtund versprochen ist. So geht es! Den einzigen Tag,wo wir keinen Gast erwarten und nichts da ist, mußein solcher Herr kommen! Und der Kutscher hat einWappen auf den Knöpfen, und der Wagen ist wieder eines Herzogs! Und der junge Mann mag kaumden Mund öffnen vor Vornehmheit!«Doch die ruhige Köchin sagte. »Nun, was ist dennda zu lamentieren, Herr? Die Pastete tragen Sie nurkühn auf, die wird er doch nicht aufessen! DieAbendherren bekommen sie dann portionenweise;sechs Portionen wollen wir schon noch herauskrie-gen!«

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»Sechs Portionen? Ihr vergeßt wohl, daß die Herrensich sattzuessen gewohnt sind!« meinte der Wirt,allein die Köchin fuhr unerschüttert fort: »Das sol-len sie auch! Man läßt noch schnell ein halbes Dut-zend Kotelettes holen, die brauchen wir sowieso fürden Fremden, und was er übrigläßt, schneide ich inkleine Stückchen und menge sie unter die Pastete,da lassen Sie nur mich machen!«Doch der wackere Wirt sagte ernsthaft: »Köchin,ich habe Euch schon einmal gesagt, daß dergleichenin dieser Stadt und in diesem Hause nicht angeht!Wir leben hier solid und ehrenfest und vermögenes!«»Ei der Tausend, ja, ja!« rief die Köchin endlichetwas aufgeregt. »Wenn man sich denn nicht zuhelfen weiß, so opfere man die Sache! Hier sindzwei Schnepfen, die ich den Augenblick vom Jägergekauft habe, die kann man am Ende der Pastetezusetzen! Eine mit Schnepfen gefälschte Rebhuhn-pastete werden die Leckermäuler nicht beanstan-den! Sodann sind auch die Forellen da, die größtehabe ich in das siedende Wasser geworfen, wie dermerkwürdige Wagen kam, und da kocht auch schondie Brühe im Pfännchen; so haben wir also einenFisch, das Rindfleisch, das Gemüse mit den Kote-lettes, den Hammelbraten und die Pastete; gebenSie nur den Schlüssel, daß man das Eingemachteund das Dessert herausnehmen kann! Und den

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Schlüssel könnten Sie, Herr, mir mit Ehren undZutrauen übergeben, damit man Ihnen nicht aller-orten nachspringen muß und oft in die größte Ver-legenheit gerät!«»Liebe Köchin, das braucht Ihr nicht übelzuneh-men! Ich habe meiner seligen Frau am Todbetteversprechen müssen, die Schlüssel immer in Hän-den zu behalten; sonach geschieht es grundsätzlichund nicht aus Mißtrauen. Hier sind die Gurken undhier die Kirschen, hier die Birnen und hier dieAprikosen; aber das alte Konfekt darf man nichtmehr aufstellen; geschwind soll die Liese zum Zuk-kerbeck laufen und frisches Backwerk holen, dreiTeller, und wenn er eine gute Torte hat, soll er sieauch gleich mitgeben!«»Aber Herr! Sie können ja dem einzigen Gaste dasnicht alles aufrechnen, das schlägt's beim bestenWillen nicht heraus!«»Tut nichts, es ist um die Ehre! Das bringt michnicht um; dafür soll ein großer Herr, wenn er durchunsere Stadt reist, sagen können, er habe ein or-dentliches Essen gefunden, obgleich er ganz uner-wartet und im Winter gekommen sei! Es soll nichtheißen wie von den Wirten zu Seldwyl, die allesGute selber fressen und den Fremden die Knochenvorsetzen! Also frisch, munter, sputet Euch aller-seits!«

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Während dieser umständlichen Zubereitungen be-fand sich der Schneider in der peinlichsten Angst,da der Tisch mit glänzendem Zeuge gedeckt wurde,und so heiß sich der ausgehungerte Mann vor kur-zem noch nach einiger Nahrung gesehnt hatte, soängstlich wünschte er jetzt, der drohenden Mahlzeitzu entfliehen. Endlich faßte er sich einen Mut,nahm seinen Mantel um, setzte die Mütze auf undbegab sich hinaus, um den Ausweg zu gewinnen.Da er aber in seiner Verwirrung und in dem weit-läufigen Hause die Treppe nicht gleich fand, soglaubte der Kellner, den der Teufel beständig um-hertrieb, jener suche eine gewisse Bequemlichkeit,rief: »Erlauben Sie gefälligst, mein Herr, ich werdeIhnen den Weg weisen!« und führte ihn durch einenlangen Gang, der nirgend anders endigte als voreiner schön lackierten Türe, auf welcher eine zierli-che Inschrift angebracht war.Also ging der Mantelträger ohne Widerspruch, sanftwie ein Lämmlein, dort hinein und schloß ordent-lich hinter sich zu. Dort lehnte er sich bitterlichseufzend an die Wand und wünschte der goldenenFreiheit der Landstraße wieder teilhaftig zu sein,welche ihm jetzt, so schlecht das Wetter war, alsdas höchste Glück erschien.Doch verwickelte er sich jetzt in die erste selbsttäti-ge Lüge, weil er in dem verschlossenen Raume ein

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wenig verweilte, und er betrat hiermit den abschüs-sigen Weg des Bösen.Unterdessen schrie der Wirt, der ihn gesehen hatteim Mantel dahin gehen: »Der Herr friert! Heizetmehr ein im Saal! Wo ist die Liese, wo ist die An-ne? Rasch einen Korb Holz in den Ofen und einigeHände voll Späne, daß es brennt! Zum Teufel, sol-len die Leute in der ›Waage‹ im Mantel zu Tischsitzen?«Und als der Schneider wieder aus dem langen Gan-ge hervorgewandelt kam, melancholisch wie derumgehende Ahnherr eines Stammschlosses, beglei-tete er ihn mit hundert Komplimenten und Handrei-bungen wiederum in den verwünschten Saal hinein.Dort wurde er ohne ferneres Verweilen an denTisch gebeten, der Stuhl zurechtgerückt, und da derDuft der kräftigen Suppe, dergleichen er lange nichtgerochen, ihn vollends seines Willens beraubte, soließ er sich in Gottes Namen nieder und tauchtesofort den schweren Löffel in die braungoldeneBrühe. In tiefem Schweigen erfrischte er seinematten Lebensgeister und wurde mit achtungsvollerStille und Ruhe bedient.Als er den Teller geleert hatte und der Wirt sah, daßes ihm so wohl schmeckte, munterte er ihn höflichauf, noch einen Löffel voll zu nehmen, das sei gutbei dem rauhen Wetter.

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Nun wurde die Forelle aufgetragen, mit Grünembekränzt, und der Wirt legte ein schönes Stück vor.Doch der Schneider, von Sorgen gequält, wagte inseiner Blödigkeit nicht, das blanke Messer zu brau-chen, sondern hantierte schüchtern und zimperlichmit der silbernen Gabel daran herum. Das bemerktedie Köchin, welche zur Türe hereinguckte, dengroßen Herrn zu sehen, und sie sagte zu den Um-stehenden: »Gelobt sei Jesus Christ! Der weiß nocheinen feinen Fisch zu essen, wie es sich gehört, dersägt nicht mit dem Messer in dem zarten Wesenherum, wie wenn er ein Kalb schlachten wollte. Dasist ein Herr von großem Hause, darauf wollt' ichschwören, wenn es nicht verboten wäre! Und wieschön und traurig er ist! Gewiß ist er in ein armesFräulein verliebt, das man ihm nicht lassen will! Ja,ja, die vornehmen Leute haben auch ihre Leiden!«Inzwischen sah der Wirt, daß der Gast nicht trank,und sagte ehrerbietig: »Der Herr mögen den Tisch-wein nicht; befehlen Sie vielleicht ein Glas gutenBordeaux, den ich bestens empfehlen kann?«Da beging der Schneider den zweiten selbsttätigenFehler, indem er aus Gehorsam ja statt nein sagte,und alsobald verfügte sich der Waagwirt persönlichin den Keller, um eine ausgesuchte Flasche zu ho-len; denn es lag ihm alles daran, daß man sagenkönne, es sei etwas Rechtes im Ort zu haben. Alsder Gast von dem eingeschenkten Weine wiederum

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aus bösem Gewissen ganz kleine Schlücklein nahm,lief der Wirt voll Freuden in die Küche, schnalztemit der Zunge und rief: »Hol' mich der Teufel, derversteht's, der schlürft meinen guten Wein auf dieZunge, wie man einen Dukaten auf die Goldwaagelegt!«»Gelobt sei Jesus Christ!« sagte die Köchin. »Ichhab's ja behauptet, daß er's versteht!«So nahm die Mahlzeit denn ihren Verlauf, und zwarsehr langsam, weil der arme Schneider immer zim-perlich und unentschlossen aß und trank und derWirt, um ihm Zeit zu lassen, die Speisen genugsamstehenließ. Trotzdem war es nicht der Rede wert,was der Gast bis jetzt zu sich genommen; vielmehrbegann der Hunger, der immerfort so gefährlichgereizt wurde, nun den Schrecken zu überwinden,und als die Pastete von Rebhühnern erschien,schlug die Stimmung des Schneiders gleichzeitigum, und ein fester Gedanke begann sich in ihm zubilden. »Es ist jetzt einmal, wie es ist!« sagte ersich, von einem neuen Tröpflein Weines erwärmtund aufgestachelt. »Nun wäre ich ein Tor, wenn ichdie kommende Schande und Verfolgung ertragenwollte, ohne mich dafür sattgegessen zu haben!Also vorgesehen, weil es noch Zeit ist! Das Türm-chen, das sie da aufgestellt haben, dürfte leichthindie letzte Speise sein; daran will ich mich halten,

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komme, was da wolle! Was ich einmal im Leibehabe, kann mir kein König wieder rauben!«Gesagt, getan; mit dem Mute der Verzweiflung hieber in die leckere Pastete, ohne an ein Aufhören zudenken, so daß sie in weniger als fünf Minuten zurHälfte geschwunden war und die Sache für dieAbendherren sehr bedenklich zu werden begann.Fleisch, Trüffeln, Klößchen, Boden, Deckel, allesschlang er ohne Ansehen der Person hinunter, nurbesorgt, sein Ränzchen vollzupacken, ehe das Ver-hängnis hereinbräche; dazu trank er den Wein intüchtigen Zügen und steckte große Brotbissen inden Mund; kurz, es war eine so hastig belebte Ein-fuhr, wie wenn bei aufsteigendem Gewitter das Heuvon der nahen Wiese gleich auf der Gabel in dieScheune geflüchtet wird. Abermals lief der Wirt indie Küche und rief: »Köchin! Er ißt die Pastete auf,während er den Braten kaum berührt hat! Und denBordeaux trinkt er in halben Gläsern!«»Wohl bekomm' es ihm«, sagte die Köchin, »lassenSie ihn nur machen, der weiß, was Rebhühner sind!Wär' er ein gemeiner Kerl, so hätte er sich an denBraten gehalten!«»Ich sag's auch«, meinte der Wirt; »es sieht sichzwar nicht ganz elegant an, aber so hab' ich, als ichzu meiner Ausbildung reiste, nur Generäle undKapitelsherren essen sehen!«

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Unterdessen hatte der Kutscher die Pferde fütternlassen und selbst ein handfestes Essen eingenom-men in der Stube für das untere Volk, und da er Eilehatte, ließ er bald wieder anspannen. Die Angehöri-gen des Gasthofes ›Zur Waage‹ konnten sich nunnicht länger enthalten und fragten, eh es zu spätwurde, den herrschaftlichen Kutscher geradezu, wersein Herr da oben sei und wie er heiße. Der Kut-scher, ein schalkhafter und durchtriebener Kerl,versetzte: »Hat er es noch nicht selbst gesagt?«»Nein« hieß es, und er erwiderte: »Das glaub' ichwohl, der spricht nicht viel in einem Tage; nun, esist der Graf Strapinski! Er wird aber heut und viel-leicht einige Tage hierbleiben, denn er hat mir be-fohlen, mit dem Wagen vorauszufahren.«Er machte diesen schlechten Spaß, um sich an demSchneiderlein zu rächen, das, wie er glaubte, stattihm für seine Gefälligkeit ein Wort des Dankes unddes Abschiedes zu sagen, sich ohne Umsehen in dasHaus begeben hatte und den Herrn spielte. SeineEulenspiegelei aufs äußerste treibend, bestieg erauch den Wagen, ohne nach der Zeche für sich unddie Pferde zu fragen, schwang die Peitsche und fuhraus der Stadt, und alles ward so in der Ordnungbefunden und dem guten Schneider aufs Kerbholzgebracht.Nun mußte es sich aber fügen, daß dieser, ein gebo-rener Schlesier, wirklich Strapinski hieß, Wenzel

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Strapinski; mochte es nun ein Zufall sein odermochte der Schneider sein Wanderbuch im Wagenhervorgezogen, es dort vergessen und der Kutscheres zu sich genommen haben. Genug, als der Wirtfreudestrahlend und händereibend vor ihn hintratund fragte, ob der Herr Graf Strapinski zum Nach-tisch ein Glas alten Tokaier oder ein Glas Champa-gner nehme, und ihm meldete, daß die Zimmersoeben zubereitet würden, da erblaßte der armeStrapinski, verwirrte sich von neuem und erwidertegar nichts.»Höchst interessant!« brummte der Wirt für sich,indem er abermals in den Keller eilte und aus be-sonderem Verschlage nicht nur ein FläschchenTokaier, sondern auch ein Krügelchen Bocksbeutelholte und eine Champagnerflasche schlechthin unterden Arm nahm. Bald sah Strapinski einen kleinenWald von Gläsern vor sich, aus welchem derChampagnerkelch wie eine Pappel emporragte. Dasglänzte, klingelte und duftete gar seltsam vor ihm,und was noch seltsamer war, der arme, aber zierli-che Mann griff nicht ungeschickt in das Wäldchenhinein und goß, als er sah, daß der Wirt etwas Rot-wein in seinen Champagner tat, einige TropfenTokaier in den seinigen. Inzwischen waren derStadtschreiber und der Notar gekommen, um denKaffee zu trinken und das tägliche Spielchen umdenselben zu machen; bald kam auch der ältere

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Sohn des Hauses Häberlin und Cie., der jüngere desHauses Pütschli-Nievergelt, der Buchhalter einergroßen Spinnerei, Herr Melcher Böhni; allein stattihre Partie zu spielen, gingen sämtliche Herren inweitem Bogen hinter dem polnischen Grafen her-um, die Hände in den hintern Rocktaschen, mit denAugen blinzelnd und auf den Stockzähnen lächelnd.Denn es waren diejenigen Mitglieder guter Häuser,welche ihr Leben lang zu Hause blieben, derenVerwandte und Genossen aber in aller Welt saßen,weswegen sie selbst die Welt sattsam zu kennenglaubten.Also das sollte ein polnischer Graf sein? Den Wa-gen hatten sie freilich von ihrem Kontorstuhl ausgesehen; auch wußte man nicht, ob der Wirt denGrafen oder dieser jenen bewirte; doch hatte derWirt bis jetzt noch keine dummen Streiche ge-macht; er war vielmehr als ein ziemlich schlauerKopf bekannt, und so wurden denn die Kreise,welche die neugierigen Herren um den Fremdenzogen, immer kleiner, bis sie sich zuletzt vertraulichan den gleichen Tisch setzten und sich auf ge-wandte Weise zu dem Gelage aus dem Stegreifeinluden, indem sie ohne weiteres um eine Flaschezu würfeln begannen.Doch tranken sie nicht zuviel, da es noch früh war;dagegen galt es, einen Schluck trefflichen Kaffee zunehmen und dem Polacken, wie sie den Schneider

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bereits heimlich nannten, mit gutem Rauchzeugaufzuwerten, damit er immer mehr röche, wo ereigentlich wäre.»Darf ich dem Herrn Grafen eine ordentliche Zigar-re anbieten? Ich habe sie von meinem Bruder aufKuba direkt bekommen!« sagte der eine.»Die Herren Polen lieben auch eine gute Zigarette,hier ist echter Tabak aus Smyrna, mein Kompagnonhat ihn gesendet«, rief der andere, indem er einrotseidenes Beutelchen hinschob.»Dieser aus Damaskus ist feiner, Herr Graf«, riefder dritte, »unser dortiger Prokurist selbst hat ihnfür mich besorgt!«Der vierte streckte einen ungefügen Zigarrenbengeldar, indem er schrie: »Wenn Sie etwas ganz Ausge-zeichnetes wollen, so versuchen Sie diese Pflanzer-zigarre aus Virginien, selbstgezogen, selbstgemachtund durchaus nicht käuflich!«Strapinski lächelte sauersüß, sagte nichts und warbald in feine Duftwolken gehüllt, welche von derhervorbrechenden Sonne lieblich versilbert wurden.Der Himmel entwölkte sich in weniger als einerViertelstunde, der schönste Herbstnachmittag tratein; es hieß, der Genuß der günstigen Stunde seisich zu gönnen, da das Jahr vielleicht nicht vielesolcher Tage mehr brächte; und es wurde beschlos-sen, auszufahren, den fröhlichen Amtsrat auf sei-nem Gute zu besuchen, der erst vor wenigen Tagen

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gekeltert hatte, und seinen neuen Wein, den rotenSauser, zu kosten. Pütschli- Nievergelt, Sohn,sandte nach seinem Jagdwagen, und bald schlugenseine jungen Eisenschimmel das Pflaster vor der›Waage‹. Der Wirt selbst ließ ebenfalls anspannen,man lud den Grafen zuvorkommend ein, sich anzu-schließen und die Gegend etwas kennenzulernen.Der Wein hatte seinen Witz erwärmt; er überdachteschnell, daß er bei dieser Gelegenheit am bestensich unbemerkt entfernen und seine Wanderungfortsetzen könne; den Schaden sollten die törichtenund zudringlichen Herren an sich selbst behalten. Ernahm daher die Einladung mit einigen höflichenWorten an und bestieg mit dem jungen Pütschli denJagdwagen.Nun war es eine weitere Fügung, daß der Schneider,nachdem er auf seinem Dorfe schon als jungerBursch dem Gutsherrn zuweilen Dienste geleistet,seine Militärzeit bei den Husaren abgedient hatteund demnach genugsam mit Pferden umzugehenverstand. Wie daher sein Gefährte höflich fragte, ober vielleicht fahren möge, ergriff er sofort Zügelund Peitsche und fuhr in schulgerechter Haltung, inraschem Trabe durch das Tor und auf der Landstra-ße dahin, so daß die Herren einander ansahen undflüsterten: »Es ist richtig, es ist jedenfalls ein Herr!«In einer halben Stunde war das Gut des Amtsrateserreicht. Strapinski fuhr in einem prächtigen Halb-

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bogen auf und ließ die feurigen Pferde aufs besteanprallen; man sprang von den Wagen, der Amtsratkam herbei und führte die Gesellschaft ins Haus,und alsbald war auch der Tisch mit einem halbenDutzend Karaffen voll karneolfarbigen Sausersbesetzt. Das heiße, gärende Getränk wurde vorerstgeprüft, belobt und sodann fröhlich in Angriff ge-nommen, während der Hausherr im Hause die Kun-de herumtrug, es sei ein vornehmer Graf da, einPolacke, und eine feinere Bewirtung vorbereitete.Mittlerweile teilte sich die Gesellschaft in zweiPartien, um das versäumte Spiel nachzuholen, da indiesem Lande keine Männer zusammen sein konn-ten, ohne zu spielen, wahrscheinlich aus angebote-nem Tätigkeitstriebe. Strapinski, welcher die Teil-nahme aus verschiedenen Gründen ablehnen mußte,wurde eingeladen zuzusehen, denn das schien ihnenimmerhin der Mühe wert, da sie so viel Klugheitund Geistesgegenwart bei den Karten zu entwickelnpflegten. Er mußte sich zwischen beide Partiensetzen, und sie legten es nun darauf an, geistreichund gewandt zu spielen und den Gast zu gleicherZeit zu unterhalten. So saß er denn wie ein krän-kelnder Fürst, vor welchem die Hofleute ein ange-nehmes Schauspiel aufführen und den Lauf derWelt darstellen. Sie erklärten ihm die bedeutendstenWendungen, Handstreiche und Ereignisse, undwenn die eine Partei für einen Augenblick ihre

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Aufmerksamkeit ausschließlich dem Spiele zuwen-den mußte, so führte die andere dafür um so ange-legentlicher die Unterhaltung mit dem Schneider.Der beste Gegenstand dünkte sie hierfür Pferde,Jagd und dergleichen; Strapinski wußte hier aucham besten Bescheid, denn er brauchte nur die Re-densarten hervorzuholen. welche er einst in derNähe von Offizieren und Gutsherren gehört und dieihm schon dazumal ausnehmend wohl gefallenhatten. Wenn er diese Redensarten auch nur spar-sam, mit einer gewissen Bescheidenheit und stetsmit einem schwermütigen Lächeln vorbrachte, soerreichte er damit nur eine größere Wirkung; wennzwei oder drei von den Herren aufstanden und etwazur Seite traten, so sagten sie: »Es ist ein vollkom-mener Junker!«Nur Melcher Böhni, der Buchhalter, als ein gebore-ner Zweifler, rieb sich vergnügt die Hände undsagte zu sich selbst: »Ich sehe es kommen, daß eswieder einen Goldacher Putsch gibt, ja, er ist gewis-sermaßen schon da! Es war aber auch Zeit, dennschon sind's zwei Jahre seit dem letzten! Der Manndort hat mir so wunderlich zerstochene Finger,vielleicht von Praga oder Ostrolenka her! Nun, ichwerde mich hüten, den Verlauf zu stören!« Diebeiden Partien waren nun zu Ende, auch dasSausergelüste der Herren gebüßt, und sie zogen nunvor, sich an den alten Weinen des Amtsrats ein

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wenig abzukühlen, die jetzt gebracht wurden; dochwar die Abkühlung etwas leidenschaftlicher Natur,indem sofort, um nicht in schnöden Müßiggang zuverfallen, ein allgemeines Hasardspiel vorgeschla-gen wurde. Man mischte die Karten, jeder warfeinen Brabanter Taler hin, und als die Reihe anStrapinski war, konnte er nicht wohl seinen Finger-hut auf den Tisch setzen. »Ich habe nicht ein sol-ches Geldstück«, sagte er errötend; aber schon hatteMelcher Böhni, der ihn beobachtet, für ihn einge-setzt, ohne daß jemand darauf achtgab; denn allewaren viel zu behaglich, als daß sie auf den Arg-wohn geraten wären, jemand in der Welt könne keinGeld haben. Im nächsten Augenblicke wurde demSchneider, der gewonnen hatte, der ganze Einsatzzugeschoben; verwirrt ließ er das Geld liegen, undBöhni besorgte für ihn das zweite Spiel, welches einanderer gewann, sowie das dritte. Doch das vierteund fünfte gewann wiederum der Polacke, der all-mählich aufwachte und sich in die Sache fand.Indem er sich still und ruhig verhielt, spielte er mitabwechselndem Glück; einmal kam er bis auf einenTaler herunter, den er setzen mußte, gewann wie-der, und zuletzt, als man das Spiel satt bekam, be-saß er einige Louisdors, mehr, als er jemals in sei-nem Leben besessen, welche er, als er sah, daßjedermann sein Geld einsteckte, ebenfalls zu sichnahm, nicht ohne Furcht, daß alles ein Traum sei.

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Böhni, welcher ihn fortwährend scharf betrachtete,war jetzt fast im klaren über ihn und dachte: denTeufel fährt der in einem vierspännigen Wagen!Weil er aber zugleich bemerkte, daß der rätselhafteFremde keine Gier nach dem Gelde gezeigt, sichüberhaupt bescheiden und nüchtern verhalten hatte,so war er nicht übel gegen ihn gesinnt, sondernbeschloß, die Sache durchaus gehen zu lassen. Aberder Graf Strapinski, als man sich vor dem Abendes-sen im Freien erging, nahm jetzo seine Gedankenzusammen und hielt den rechten Zeitpunkt einergeräuschlosen Beurlaubung für gekommen. Er hatteein artiges Reisegeld und nahm sich vor, dem Wirt›Zur Waage‹ von der nächsten Stadt aus sein aufge-drungenes Mittagsmahl zu bezahlen. Also schlug erseinen Radmantel malerisch um, drückte die Pelz-mütze tiefer in die Augen und schritt unter einerReihe von hohen Akazien in der Abendsonne lang-sam auf und nieder, das schöne Gelände betrach-tend oder vielmehr den Weg erspähend, den ereinschlagen wollte. Er nahm sich mit seiner be-wölkten Stirne, seinem lieblichen, aber schwermü-tigen Mundbärtchen, seinen glänzenden schwarzenLocken, seinen dunklen Augen, im Wehen seinesfaltigen Mantels vortrefflich aus; der Abendscheinund das Säuseln der Bäume über ihm erhöhten denEindruck, so daß die Gesellschaft ihn von ferne mitAufmerksamkeit und Wohlwollen betrachtete. All-

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mählich ging er immer etwas weiter vom Hausehinweg, schritt durch ein Gebüsch, hinter welchemein Feldweg vorüberging, und als er sich vor denBlicken der Gesellschaft gedeckt sah, wollte er ebenmit festen Schritten ins Feld rücken, als um eineEcke herum plötzlich der Amtsrat mit seiner Toch-ter Nettchen ihm entgegentrat. Nettchen war einhübsches Fräulein, äußerst prächtig, etwas stutzer-haft gekleidet und mit Schmuck reichlich verziert.»Wir suchen Sie, Herr Graf«, rief der Amtsrat,»damit ich Sie erstens hier meinem Kinde vorstelleund zweitens, um Sie zu bitten, daß Sie uns dieEhre erweisen möchten, einen Bissen Abendbrotmit uns zu nehmen; die anderen Herren sind bereitsim Hause.«Der Wanderer nahm schnell seine Mütze vom Kop-fe und machte ehrfurchtsvolle, ja furchtsame Ver-beugungen, von Rot übergossen. Denn eine neueWendung war eingetreten; ein Fräulein beschrittden Schauplatz der Ereignisse. Doch schadete ihmseine Blödigkeit und übergroße Ehrerbietung nichtsbei der Dame; im Gegenteil, die Schüchternheit,Demut und Ehrerbietung eines so vornehmen undinteressanten jungen Edelmanns erschien ihr wahr-haft rührend, ja hinreißend. Da sieht man, fuhr esihr durch den Sinn, je nobler, desto bescheidenerund unverdorbener; merkt es euch, ihr Herren Wild-

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fänge von Goldach, die ihr vor jungen Mädchenkaum mehr den Hut berührt!Sie grüßte den Ritter daher auf das holdseligste,indem sie auch lieblich errötete, und sprach so-gleich hastig und schnell und vieles mit ihm, wie esdie Art behaglicher Kleinstädterinnen ist, die sichden Fremden zeigen wollen. Strapinski hingegenwandelte sich in kurzer Zeit um; während er bishernichts getan hatte, um im geringsten in die Rolleeinzugehen, die man ihm aufbürdete, begann er nununwillkürlich etwas gesuchter zu sprechen undmischte allerhand polnische Brocken in die Rede,kurz, das Schneiderblütchen fing in der Nähe desFrauenzimmers an, seine Sprünge zu machen undseinen Reiter davonzutragen.Am Tisch erhielt er den Ehrenplatz neben derTochter des Hauses; denn die Mutter war gestorben.Er wurde zwar bald wieder melancholisch, da erbedachte, nun müsse er mit den andern wieder indie Stadt zurückkehren oder gewaltsam in die Nachthinaus entrinnen, und da er ferner überlegte, wievergänglich das Glück sei, welches er jetzt genoß.Aber dennoch empfand er dies Glück und sagte sichzum voraus: Ach, einmal wirst du doch in deinemLeben etwas vorgestellt und neben einem solchenhöheren Wesen gesessen haben.Es war in der Tat keine Kleinigkeit, eine Handneben sich glänzen zu sehen, die von drei oder vier

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Armbändern klirrte, und bei einem flüchtigen Sei-tenblick jedesmal einen abenteuerlich und reizendfrisierten Kopf, ein holdes Erröten, einen vollenAugenaufschlag zu sehen. Denn er mochte tun oderlassen, was er wollte, alles wurde als ungewöhnlichund nobel ausgelegt und die Ungeschicklichkeitselbst als merkwürdige Unbefangenheit liebens-würdig befunden von der jungen Dame, welchesonst stundenlang über gesellschaftliche Verstößezu plaudern wußte. Da man guter Dinge war, san-gen ein paar Gäste Lieder, die in den dreißiger Jah-ren Mode waren. Der Graf wurde gebeten, ein pol-nisches Lied zu singen. Der Wein überwand seineSchüchternheit endlich, obschon nicht seine Sorgen;er hatte einst einige Wochen im Polnischen gear-beitet und wußte einige polnische Worte, sogar einVolksliedchen auswendig, ohne ihres Inhalts be-wußt zu sein, gleich einem Papagei. Also sang ermit edlem Wesen, mehr zaghaft als laut und miteiner Stimme, welche wie von einem geheimenKummer leise zitterte, auf polnisch:Hunderttausend Schweine pferchenVon der Desna bis zur Weichsel,Und Kathinka, dieses Saumensch,Geht im Schmutz bis an die Knöchel!Hunderttausend Ochsen brüllenAuf Wolhyniens grünen Weiden,

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Und Kathinka, ja KathinkaGlaubt, ich sei in sie verliebt!»Bravo! Bravo!« riefen alle Herren, mit den Hän-den klatschend, und Nettchen sagte gerührt: »Ach,das Nationale ist immer so schön!« Glücklicherwei-se verlangte niemand die Übersetzung dieses Ge-sanges.Mit dem Überschreiten solchen Höhepunktes derUnterhaltung brach die Gesellschaft auf; derSchneider wurde wieder eingepackt und sorgfältignach Goldach zurückgebracht; vorher hatte er ver-sprechen müssen, nicht ohne Abschied davonzurei-sen. Im Gasthof ›Zur Waage‹ wurde noch ein GlasPunsch genommen; jedoch Strapinski war erschöpftund verlangte nach dem Bette. Der Wirt selbstführte ihn auf seine Zimmer, deren Stattlichkeit erkaum mehr beachtete, obgleich er nur gewohnt war,in dürftigen Herbergskammern zu schlafen. Er standohne alle und jede Habseligkeit mitten auf einemschönen Teppich, als der Wirt plötzlich den Mangelan Gepäck entdeckte und sich vor die Stirne schlug.Dann lief er schnell hinaus, schellte, rief Kellnerund Hausknechte herbei, wortwechselte mit ihnen,kam wieder und beteuerte: »Es ist richtig, HerrGraf, man hat vergessen, Ihr Gepäck abzuladen!Auch das Notwendigste fehlt!«»Auch das kleine Paketchen, das im Wagen lag?«fragte Strapinski ängstlich, weil er an ein handgro-

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ßes Bündelein dachte, welches er auf dem Sitzehatte liegenlassen, und das ein Schnupftuch, eineHaarbürste, einen Kamm, ein Büchschen Pomadeund einen Stengel Bartwichse enthielt.»Auch dieses fehlt, es ist gar nichts da«, sagte dergute Wirt erschrocken, weil er darunter etwas sehrWichtiges vermutete. »Man muß dem Kutschersogleich einen Expressen nachschicken«, rief ereifrig, »ich werde das besorgen!«Doch der Herr Graf fiel ihm ebenso erschrocken inden Arm und sagte bewegt: »Lassen Sie, es darfnicht sein! Man muß meine Spur verlieren für eini-ge Zeit«, setzte er hinzu, selbst betreten über dieseErfindung.Der Wirt ging erstaunt zu den Punsch trinkendenGästen, erzählte ihnen den Fall und schloß mit demAusspruche, daß der Graf unzweifelhaft ein Opferpolitischer oder der Familienverfolgung sein müsse;denn um ebendiese Zeit wurden viele Polen undandere Flüchtlinge wegen gewaltsamer Unterneh-mungen des Landes verwiesen; andere wurden vonfremden Agenten beobachtet und umgarnt.Strapinski aber tat einen guten Schlaf, und als erspät erwachte, sah er zunächst den prächtigenSonntagsschlafrock des Waagwirtes über einenStuhl gehängt, ferner ein Tischchen mit allem mög-lichen Toilettenwerkzeug bedeckt. Sodann harrteneine Anzahl Dienstboten, um Körbe und Koffer,

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angefüllt mit feiner Wäsche, mit Kleidern, mit Zi-garren, mit Büchern, mit Stiefeln, mit Schuhen, mitSporen, mit Reitpeitschen, mit Pelzen, mit Mützen,mit Hüten, mit Socken, mit Strümpfen, mit Pfeifen,mit Flöten und Geigen abzugeben von seiten dergestrigen Freunde mit der angelegentlichen Bitte,sich dieser Bequemlichkeiten einstweilen bedienenzu wollen. Da sie die Vormittagsstunden unabän-derlich in ihren Geschäften verbrachten, ließen sieihre Besuche auf die Zeit nach Tisch ansagen.Diese Leute waren nichts weniger als lächerlichoder einfältig, sondern umsichtige Geschäftsmän-ner, mehr schlau als vernagelt; allein da ihre wohl-besorgte Stadt klein war und es ihnen manchmallangweilig darin vorkam, waren sie stets begierigauf eine Abwechslung, ein Ereignis, einen Vorgang,dem sie sich ohne Rückhalt hingaben. Der vier-spännige Wagen, das Aussteigen des Fremden, seinMittagessen, die Aussage des Kutschers waren soeinfache und natürliche Dinge, daß die Goldacher,welche keinem müßigen Argwohn nachzuhängenpflegten, ein Ereignis darauf aufbauten wie aufeinen Felsen.Als Strapinski das Warenlager sah, das sich vor ihmausbreitete, war seine erste Bewegung, daß er inseine Tasche griff, um zu erfahren, ob er träumeoder wache. Wenn sein Fingerhut dort noch in sei-ner Einsamkeit weilte, so träumte er. Aber nein, der

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Fingerhut wohnte traulich zwischen dem gewonne-nen Spielgelde und scheuerte sich freundschaftlichan den Talern; so ergab sich auch sein Gebieterwiederum in das Ding und stieg von seinen Zim-mern herunter auf die Straße, um sich die Stadt zubesehen, in welcher es ihm so wohl erging. Unterder Küchentüre stand die Köchin, welche ihm einentiefen Knicks machte und ihm mit neuem Wohlge-fallen nachsah; auf dem Flur und an der Haustürestanden andere Hausgeister, alle mit der Mütze inder Hand, und Strapinski schritt mit gutem Anstandund doch bescheiden hinaus, seinen Mantel sittsamzusammennehmend. Das Schicksal machte ihn mitjeder Minute größer.Mit ganz anderer Miene besah er sich die Stadt, alswenn er um Arbeit darin ausgegangen wäre. Die-selbe bestand größtenteils aus schönen, festgebau-ten Häusern, welche alle mit steinernen oder ge-malten Sinnbildern geziert und mit einem Namenversehen waren. In diesen Benennungen war dieSitte der Jahrhunderte deutlich zu erkennen. DasMittelalter spiegelte sich ab in den ältesten Häusernoder in den Neubauten, welche an deren Stellegetreten, aber den alten Namen behalten aus derZeit der kriegerischen Schultheiße und der Mär-chen. Da hieß es: zum Schwert, zum Eisenhut, zumHarnisch, zur Armbrust, zum blauen Schild, zumSchweizerdegen, zum Ritter, zum Büchsenstein,

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zum Türken, zum Meerwunder, zum goldnen Dra-chen, zur Linde, zum Pilgerstab, zur Wasserfrau,zum Paradiesvogel, zum Granatbaum, zum Kämbel,zum Einhorn und dergleichen. Die Zeit der Aufklä-rung und der Philanthropie war deutlich zu lesen inden moralischen Begriffen, welche in schönenGoldbuchstaben über den Haustüren erglänzten,wie: zur Eintracht, zur Redlichkeit, zur alten Unab-hängigkeit, zur neuen Unabhängigkeit, zur Bürger-tugend a, zur Bürgertugend b, zum Vertrauen, zurLiebe, zur Hoffnung, zum Wiedersehen 1 und 2,zum Frohsinn, zur innern Rechtlichkeit, zur äußernRechtlichkeit, zum Landeswohl (ein reinlichesHäuschen, in welchem hinter einem Kanarienkä-ficht, ganz mit Kresse behängt, eine freundliche alteFrau saß mit einer weißen Zipfelhaube und Garnhaspelte), zur Verfassung (unten hauste ein Bött-cher, welcher eifrig und mit großem Geräusch klei-ne Eimer und Fäßchen mit Reifen einfaßte undunablässig klopfte); ein Haus hieß schauerlich: zumTod, ein verwaschenes Gerippe erstreckte sich vonunten bis oben zwischen den Fenstern; hier wohnteder Friedensrichter. Im Hause ›Zur Geduld‹ wohnteder Schuldenschreiber, ein ausgehungertes Jammer-bild, da in dieser Stadt keiner dem andern etwasschuldig blieb.Endlich verkündete sich an den neuesten Häuserndie Poesie der Fabrikanten, Bankiere und Spediteu-

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re und ihrer Nachahmer in den wohlklingendenNamen: Rosental, Morgental, Sonnenberg, Veil-chenburg, Jugendgarten, Freudenberg, Henrietten-tal, zur Camelia, Wilhelminenburg usw. Die anFrauennamen gehängten Täler und Burgen bedeu-teten für den Kundigen immer ein schönes Weiber-gut.An jeder Straßenecke stand ein alter Turm mit rei-chem Uhrwerk, buntem Dach und zierlich vergol-deter Windfahne. Diese Türme waren sorgfältigerhalten; denn die Goldacher erfreuten sich derVergangenheit und der Gegenwart und taten auchrecht daran. Die ganze Herrlichkeit war aber vonder alten Ringmauer eingefaßt, welche, obwohlnichts mehr nütze, dennoch zum Schmucke beibe-halten wurde, da sie ganz mit dichtem altem Efeuüberwachsen war und so die kleine Stadt mit einemimmergrünen Kranze umschloß.Alles dieses machte einen wunderbaren Eindruckauf Strapinski; er glaubte, sich in einer andern Weltzu befinden. Denn als er die Aufschriften der Häu-ser las, dergleichen er noch nicht gesehen, war erder Meinung, sie bezogen sich auf die besonderenGeheimnisse und Lebensweisen jedes Hauses, undes sähe hinter jeder Haustüre wirklich so aus, wiedie Überschrift angab, so daß er in eine Art morali-sches Utopien hineingeraten wäre. So war er ge-neigt zu glauben, die wunderliche Aufnahme, wel-

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che er gefunden, hänge hiermit im Zusammenhang,so daß z. B. das Sinnbild der Waage, in welcher erwohnte, bedeute, daß dort das ungleiche Schicksalabgewogen und ausgeglichen und zuweilen einreisender Schneider zum Grafen gemacht würde.Er geriet auf seiner Wanderung auch vor das Tor,und wie er nun so über das freie Feld hinblickte,meldete sich zum letzten Male der pflichtgemäßeGedanke, seinen Weg unverweilt fortzusetzen. DieSonne schien, die Straße war schön, fest, nicht zutrocken und auch nicht zu naß, zum Wandern wiegemacht. Reisegeld hatte er nun auch, so daß erangenehm einkehren konnte, wo er Lust dazu ver-spürte, und kein Hindernis war zu erspähen.Da stand er nun, gleich dem Jüngling am Scheide-wege, auf einer wirklichen Kreuzstraße; aus demLindenkranze, welcher die Stadt umgab, stiegengastliche Rauchsäulen, die goldenen Turmknöpfefunkelten lockend aus den Baumwipfeln; Glück,Genuß und Verschuldung, ein geheimnisvollesSchicksal winkten dort, von der Feldseite her aberglänzte die freie Ferne; Arbeit, Entbehrung, Armut,Dunkelheit harrten dort, aber auch ein gutes Gewis-sen und ein ruhiger Wandel; dieses fühlend, wollteer denn auch entschlossen ins Feld abschwenken.Im gleichen Augenblicke rollte ein rasches Fuhr-werk heran; es war das Fräulein von gestern, wel-ches mit wehendem blauem Schleier ganz allein in

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einem schmucken leichten Fuhrwerke saß, einschönes Pferd regierte und nach der Stadt fuhr.Sobald Strapinski nur an seine Mütze griff unddieselbe demütig vor seine Brust nahm in seinerÜberraschung, verbeugte sich das Mädchen rascherrötend gegen ihn, aber überaus freundlich, undfuhr in großer Bewegung, das Pferd zum Galoppantreibend, davon.Strapinski aber machte unwillkürlich ganze Wen-dung und kehrte getrost nach der Stadt zurück.Noch an demselben Tage galoppierte er auf dembesten Pferde der Stadt, an der Spitze einer ganzenReitergesellschaft, durch die Allee, welche um diegrüne Ringmauer führte, und die fallenden Blätterder Linden tanzten wie ein goldener Regen um seinverklärtes Haupt.Nun war der Geist in ihn gefahren. Mit jedem Tagewandelte er sich, gleich einem Regenbogen, derzusehends bunter wird an der vorbrechenden Sonne.Er lernte in Stunden, in Augenblicken, was anderenicht in Jahren, da es in ihm gesteckt hatte wie dasFarbenwesen im Regentropfen. Er beachtete wohldie Sitten seiner Gastfreunde und bildete sie wäh-rend des Beobachtens zu einem Neuen und Fremd-artigen um; besonders suchte er abzulauschen, wassie sich eigentlich unter ihm dächten und was fürein Bild sie sich von ihm gemacht. Dies Bild arbei-tete er weiter aus nach seinem eigenen Geschmak-

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ke, zur vergnüglichen Unterhaltung der einen, wel-che gern etwas Neues sehen wollten, und zur Be-wunderung der anderen, besonders der Frauen,welche nach erbaulicher Anregung dürsteten. Soward er rasch zum Helden eines artigen Romanes,an welchem er gemeinsam mit der Stadt und liebe-voll arbeitete, dessen Hauptbestandteil aber immernoch das Geheimnis war. Bei alldem erlebte Strapinski, was er in seiner Dun-kelheit früher nie gekannt, eine schlaflose Nacht umdie andere, und es ist mit Tadel hervorzuheben, daßes ebensoviel die Furcht vor der Schande, als armerSchneider entdeckt zu werden und dazustehen, alsdas ehrliche Gewissen war, was ihm den Schlafraubte. Sein angebotenes Bedürfnis, etwas Zierli-ches und Außergewöhnliches vorzustellen, wennauch nur in der Wahl der Kleider, hatte ihn in die-sen Konflikt geführt und brachte jetzt auch jeneFurcht hervor, und sein Gewissen war nur insoweitmächtig, daß er beständig den Vorsatz nährte, beiguter Gelegenheit einen Grund zur Abreise zu fin-den und dann durch Lotteriespiel und dergleichendie Mittel zu gewinnen, aus geheimnisvoller Fernealles zu vergüten, um was er die gastfreundlichenGoldacher gebracht hatte. Er ließ sich auch schonaus allen Städten, wo es Lotterien oder Agentenderselben gab, Lose kommen mit mehr oder weni-

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ger bescheidenem Einsatze, und die daraus entste-hende Korrespondenz, der Empfang der Briefe,wurde wiederum als ein Zeichen wichtiger Bezie-hungen und Verhältnisse vermerkt.Schon hatte er mehr als einmal ein paar Guldengewonnen und dieselben sofort wieder zum Erwerbneuer Lose verwendet, als er eines Tages von einemfremden Kollekteur, der sich aber Bankier nannte,eine namhafte Summe empfing, welche hinreichte,jenen Rettungsgedanken auszuführen. Er war be-reits nicht mehr erstaunt über sein Glück, das sichvon selbst zu verstehen schien, fühlte sich aber docherleichtert und besonders dem guten Waagwirtgegenüber beruhigt, welchen er seines guten Essenswegen sehr wohl leiden mochte. Anstatt aber kurzabzubinden, seine Schulden gradaus zu bezahlenund abzureisen, gedachte er, wie er sich vorge-nommen, eine kurze Geschäftsreise vorzugeben,dann aber von irgendeiner großen Stadt aus zu mel-den, daß das unerbittliche Schicksal ihm verbiete, jewiederzukehren; dabei wollte er seinen Verbind-lichkeiten nachkommen, ein gutes Andenken hin-terlassen und seinem Schneiderberufe sich aufsneue und mit mehr Umsicht und Glück widmenoder auch sonst einen anständigen Lebensweg er-spähen. Am liebsten wäre er freilich auch alsSchneidermeister in Goldach geblieben und hättejetzt die Mittel gehabt, sich da ein bescheidenes

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Auskommen zu begründen; allein es war klar, daßer hier nur als Graf leben konnte.Wegen des sichtlichen Vorzuges und Wohlgefal-lens, dessen er sich bei jeder Gelegenheit von seitendes schönen Nettchens zu erfreuen hatte, warenschon manche Redensarten im Umlauf, und er hattesogar bemerkt, daß das Fräulein hin und wieder dieGräfin genannt wurde. Wie konnte er diesem We-sen nun eine solche Entwicklung bereiten? Wiekonnte er das Schicksal, das ihn gewaltsam so er-höht hatte, so frevelhaft Lügen strafen und sichselbst beschämen?Er hatte von seinem Lotteriemann, genannt Bankier,einen Wechsel bekommen, welchen er bei einemGoldacher Haus einkassierte; diese Verrichtungbestärkte abermals die günstigen Meinungen überseine Person und Verhältnisse, da die soliden Han-delsleute nicht im entferntesten an einen Lotterie-verkehr dachten. An demselben Tage nun begabsich Strapinski auf einen stattlichen Ball, zu dem ergeladen war. In tiefes, einfaches Schwarz gekleideterschien er und verkündete sogleich den ihn Begrü-ßenden, daß er genötigt sei, zu verreisen.In zehn Minuten war die Nachricht der ganzenVersammlung bekannt, und Nettchen, deren An-blick Strapinski suchte, schien, wie erstarrt, seinenBlicken auszuweichen, bald rot, bald blaß werdend.Dann tanzte sie mehrmals hintereinander mit jungen

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Herren, setzte sich zerstreut und schnell atmend undschlug eine Einladung des Polen, der endlich heran-getreten war, mit einer kurzen Verbeugung aus,ohne ihn anzusehen.Seltsam aufgeregt und bekümmert ging er hinweg,nahm seinen famosen Mantel um und schritt mitwehenden Locken in einem Gartenwege auf undnieder. Es wurde ihm nun klar, daß er eigentlich nurdieses Wesens halber so lange dageblieben sei, daßdie unbestimmte Hoffnung, doch wieder in ihreNähe zu kommen, ihn unbewußt belebte, daß aberder ganze Handel eben eine Unmöglichkeit darstellevon der verzweifeltsten Art.Wie er so dahinschritt, hörte er rasche Tritte hintersich, leichte, doch unruhig bewegte. Nettchen gingan ihm vorüber und schien, nach einigen ausgerufe-nen Worten zu urteilen, nach ihrem Wagen zu su-chen, obgleich derselbe auf der andern Seite desHauses stand und hier nur Winterkohlköpfe undeingewickelte Rosenbäumchen den Schlaf der Ge-rechten verträumten. Dann kam sie wieder zurück,und da er jetzt mit klopfendem Herzen ihr im Wegestand und bittend die Hände nach ihr ausstreckte,fiel sie ihm ohne weiteres um den Hals und fingjämmerlich an zu weinen. Er bedeckte ihre glühen-den Wangen mit seinen fein duftenden dunklenLocken, und sein Mantel umschlug die schlanke,stolze, schneeweiße Gestalt des Mädchens wie mit

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schwarzen Adlerflügeln; es war ein wahrhaft schö-nes Bild, das seine Berechtigung ganz allein in sichselbst zu tragen schien.Strapinski aber verlor in diesem Abenteuer seinenVerstand und gewann das Glück, das öfter denUnverständigen hold ist. Nettchen eröffnete ihremVater noch in selbiger Nacht beim Nachhausefah-ren, daß kein anderer als der Graf der Ihrige seinwerde; dieser erschien am Morgen in aller Frühe,um bei dem Vater liebenswürdig schüchtern undmelancholisch, wie immer, um sie zu werben, undder Vater hielt folgende Rede:»So hat sich denn das Schicksal und der Wille die-ses törichten Mädchens erfüllt! Schon als Schulkindbehauptete sie fortwährend, nur einen Italiener odereinen Polen, einen großen Pianisten oder einenRäuberhauptmann mit schönen Locken heiraten zuwollen, und nun haben wir die Bescherung! Alleinländischen wohlmeinenden Anträge hat sie ausge-schlagen, noch neulich mußte ich den gescheitenund tüchtigen Melchior Böhni heimschicken, dernoch große Geschäfte machen wird, und sie hat ihnnoch schrecklich verhöhnt, weil er nur ein rötlichesBackenbärtchen trägt und aus einem silbernenDöschen schnupft! Nun, Gott sei Dank, ist ein pol-nischer Graf da aus wildester Ferne! Nehmen Siedie Gans, Herr Graf, und schicken Sie mir dieselbewieder, wenn sie in Ihrer Polackei friert und einst

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unglücklich wird und heult! Nun, was würde dieselige Mutter für ein Entzücken genießen, wenn sienoch erlebt hätte, daß das verzogene Kind eineGräfin geworden ist!«Nun gab es große Bewegung; in wenig Tagen sollterasch die Verlobung gefeiert werden; denn derAmtsrat behauptete, daß der künftige Schwieger-sohn sich in seinen Geschäften und vorhabendenReisen nicht durch Heiratssachen dürfe aufhaltenlassen, sondern diese durch die Beförderung jenerbeschleunigen müsse.Strapinski brachte zur Verlobung Brautgeschenke,welche ihn die Hälfte seines zeitlichen Vermögenskosteten; die andere Hälfte verwandte er zu einemFeste, das er seiner Braut geben wollte. Es war ebenFastnachtszeit und bei hellem Himmel ein verspä-tetes glänzendes Winterwetter. Die Landstraßenboten die prächtigste Schlittenbahn, wie sie nurselten entsteht und sich hält, und Herr von Strapin-ski veranstaltete darum eine Schlittenfahrt undeinen Ball in dem für solche Feste beliebten stattli-chen Gasthause, welches auf einer Hochebene mitder schönsten Aussicht gelegen war, etwa zwei guteStunden entfernt und genau in der Mitte zwischenGoldach und Seldwyla.Um diese Zeit geschah es, daß Herr Melchior Böhniin der letzteren Stadt Geschäfte zu besorgen hatteund daher einige Tage vor dem Winterfest in einem

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leichten Schlitten dahinfuhr, seine beste Zigarrerauchend; und es geschah ferner, daß die Seldwylerauf den gleichen Tag wie die Goldacher auch eineSchlittenfahrt verabredeten, nach dem gleichenOrte, und zwar eine kostümierte oder Maskenfahrt.So fuhr denn der Goldacher Schlittenzug gegen dieMittagsstunde unter Schellenklang, Posthorntönenund Peitschenknall durch die Straßen der Stadt, daßdie Sinnbilder der alten Häuser erstaunt hernieder-sahen, und zum Tore hinaus. Im ersten Schlitten saßStrapinski mit seiner Braut, in einem polnischenÜberrock von grünem Sammet, mit Schnüren be-setzt und schwer mit Pelz verbrämt und gefüttert.Nettchen war ganz in weißes Pelzwerk gehüllt;blaue Schleier schützten ihr Gesicht gegen die fri-sche Luft und gegen den Schneeglanz. Der Amtsratwar durch irgendein plötzliches Ereignis verhindertworden mitzufahren; doch war es sein Gespann undsein Schlitten, in welchem sie fuhren, ein vergolde-tes Frauenbild als Schlittenzierat vor sich, die For-tuna vorstellend; denn die Stadtwohnung des Amts-rates hieß ›Zur Fortuna‹.Ihnen folgten fünfzehn bis sechzehn Gefährte mit jeeinem Herrn und einer Dame, alle geputzt und le-bensfroh, aber keines der Paare so schön und statt-lich wie das Brautpaar. Die Schlitten trugen wie dieMeerschiffe ihre Galions, immer das Sinnbild desHauses, dem jeder angehörte, so daß das Volk rief:

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»Seht, da kommt die ›Tapferkeit‹! Wie schön ist die›Tüchtigkeit‹! Die ›Verbesserlichkeit‹ scheint neulackiert zu sein und die ›Sparsamkeit‹ frisch vergol-det! Ah, der ›Jakobsbrunnen‹ und der ›TeichBethesda‹!« Im ›Teiche Bethesda‹, welcher alsbescheidener Einspänner den Zug schloß, kut-schierte Melchior Böhni still und vergnügt. AlsGalion seines Fahrzeugs hatte er das Bild jenesjüdischen Männchens vor sich, welches an besag-tem Teich dreißig Jahre auf sein Heil gewartet. Sosegelte denn das Geschwader im Sonnenscheinedahin und erschien bald auf der weithin schim-mernden Höhe, dem Ziele sich nahend. Da ertöntegleichzeitig von der entgegengesetzten Seite lustigeMusik.Aus einem duftig bereiften Walde heraus brach einWirrwarr von bunten Farben und Gestalten undentwickelte sich zu einem Schlittenzug, welcherhoch am weißen Feldrande sich auf den blauenHimmel zeichnete und ebenfalls nach der Mitte derGegend hinglitt, von abenteuerlichem Anblick. Esschienen meistens große bäuerliche Lastschlitten zusein, je zwei zusammengebunden, um absonderli-chen Gebilden und Schaustellungen zur Unterlagezu dienen. Auf dem vordersten Fuhrwerke ragteeine kolossale Figur empor, die Göttin Fortunavorstellend, welche in den Äther hinauszufliegenschien. Es war eine riesenhafte Strohpuppe voll

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schimmernden Flittergoldes, deren Gazegewänderin der Luft flatterten. Auf dem zweiten Gefährteaber fuhr ein ebenso riesenmäßiger Ziegenbockeinher, schwarz und düster abstechend und mitgesenkten Hörnern der Fortuna nachjagend. Hierauffolgte ein seltsames Gerüste, welches sich als einfünfzehn Schuh hohes Bügeleisen darstellte, danneine gewaltig schnappende Schere, welche mittelseiner Schnur auf- und zugeklappt wurde und dasHimmelszelt für einen blauseidenen Westenstoffanzusehen schien. Andere solche landläufige An-spielungen auf das Schneiderwesen folgten noch,und zu Füßen aller dieser Gebilde saß auf den ge-räumigen, je von vier Pferden gezogenen Schlittendie Seldwyler Gesellschaft in buntester Tracht, mitlautem Gelächter und Gesang.Als beide Züge gleichzeitig auf dem Platze vor demGasthause auffuhren, gab es demnach einen ge-räuschvollen Auftritt und ein großes Gedränge vonMenschen und Pferden. Die Herrschaften von Gol-dach waren überrascht und erstaunt über die aben-teuerliche Begegnung; die Seldwyler dagegenstellten sich vorerst gemütlich und freundschaftlichbescheiden. Ihr vorderster Schlitten mit der Fortunatrug die Inschrift: ›Leute machen Kleider‹, und soergab es sich denn, daß die ganze Gesellschaft lau-ter Schneidersleute von allen Nationen und ausallen Zeitaltern darstellte. Es war gewissermaßen

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ein historisch-ethnographischer Schneiderfestzug,welcher mit der umgekehrten und ergänzendenInschrift abschloß: ›Kleider machen Leute!‹ In demletzten Schlitten mit dieser Überschrift saßen näm-lich als das Werk der vorausgefahrenen heidnischenund christlichen Nahtbeflissenen aller Art, ehrwür-dige Kaiser und Könige, Ratsherren und Stabsoffi-ziere, Prälaten und Stiftsdamen in höchster Gravität.Diese Schneiderwelt wußte sich gewandt aus demWirrwarr zu ordnen und ließ die Goldacher Herrenund Damen, das Brautpaar an deren Spitze, be-scheiden ins Haus spazieren, um nachher die unte-ren Räume desselben, welche für sie bestellt waren,zu besetzen, während jene die breite Treppe empornach dem großen Festsaale rauschten. Die Gesell-schaft des Herrn Grafen fand dies Benehmenschicklich, und ihre Überraschung verwandelte sichin Heiterkeit und beifälliges Lächeln über die un-verwüstliche Laune der Seldwyler; nur der Grafselbst hegte gar dunkle Empfindungen, die ihmnicht behagten, obgleich er in der jetzigen Vorein-genommenheit seiner Seele keinen bestimmtenArgwohn verspürte und nicht einmal bemerkt hatte,woher die Leute gekommen waren. Melchior Böh-ni, der seinen ›Teich Bethesda‹ sorglich beiseitegebracht hatte und sich aufmerksam in der NäheStrapinskis befand, nannte laut, daß dieser es hören

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konnte, eine ganz andere Ortschaft als den Ur-sprungsort des Maskenzuges.Bald saßen beide Gesellschaften, jegliche auf ihremStockwerke, an den gedeckten Tafeln und gabensich fröhlichen Gesprächen und Scherzreden hin inErwartung weiterer Freuden.Die kündigten sich denn auch für die Goldacher an,als sie paarweise in den Tanzsaal hinüberschrittenund dort die Musiker schon ihre Geigen stimmten.Wie nun aber alles im Kreise stand und sich zumReigen ordnen wollte, erschien eine Gesandtschaftder Seldwyler, welche das freundnachbarliche Ge-such und Anerbieten vortrug, den Herren und Frau-en von Goldach einen Besuch abstatten zu dürfenund ihnen zum Ergötzen einen Schautanz aufzufüh-ren. Dieses Anerbieten konnte nicht wohl zurück-gewiesen werden; auch versprach man sich von denlustigen Seldwylern einen tüchtigen Spaß und setztesich daher nach der Anordnung der besagten Ge-sandtschaft in einem großen Halbring, in dessenMitte Strapinski und Nettchen glänzten gleichfürstlichen Sternen.Nun traten allmählich jene besagten Schneidergrup-pen nacheinander ein. Jede führte in zierlichemGebärdenspiel den Satz ›Leute machen Kleider‹und dessen Umkehrung durch, indem sie erst mitEmsigkeit irgendein stattliches Kleidungsstück,einen Fürstenmantel, Priestertalar und dergleichen

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anzufertigen schien und sodann eine dürftige Persondamit bekleidete, welche, urplötzlich umgewandelt,sich in höchstem Ansehen aufrichtete und nach demTakte der Musik feierlich einherging. Auch dieTierfabel wurde in diesem Sinne in Szene gesetzt,da eine gewaltige Krähe erschien, die sich mit Pfau-enfedern schmückte und quakend umherhupfte, einWolf, der sich einen Schafspelz zurechtschneiderte,schließlich ein Esel, der eine furchtbare Löwenhautvon Werg trug und sich heroisch damit drapiertewie mit einem Karbonarimantel.Alle, die so erschienen, traten nach vollbrachterDarstellung zurück und machten allmählich so denHalbkreis der Goldacher zu einem weiten Ring vonZuschauern, dessen innerer Raum endlich leerward. In diesem Augenblicke ging die Musik ineine wehmütige ernste Weise über, und zugleichbeschritt eine letzte Erscheinung den Kreis, dessenAugen sämtlich auf sie gerichtet waren. Es war einschlanker junger Mann in dunklem Mantel, dunkelnschönen Haaren und mit einer polnischen Mütze; eswar niemand anders als der Graf Strapinski, wie eran jenem Novembertage auf der Straße gewandertund den verhängnisvollen Wagen bestiegen hatte.Die ganze Versammlung blickte lautlos gespanntauf die Gestalt, welche feierlich schwermütig einigeGänge nach dem Takte der Musik umhertrat, dannin die Mitte des Ringes sich begab, den Mantel auf

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den Boden breitete, sich schneidermäßig daraufniedersetzte und anfing, ein Bündel auszupacken.Er zog einen beinahe fertigen Grafenrock hervor,ganz wie ihn Strapinski in diesem Augenblicketrug, nähete mit großer Hast und GeschicklichkeitTroddeln und Schnüre darauf und bügelte ihnschulgerecht aus, indem er das scheinbar heißeBügeleisen mit nassen Fingern prüfte. Dann richteteer sich langsam auf, zog seinen fadenscheinigenRock aus und das Prachtkleid an, nahm ein Spiegel-chen, kämmte sich und vollendete seinen Anzug,daß er endlich als das leibhaftige Ebenbild des Gra-fen dastand. Unversehens ging die Musik in einerasche mutige Weise über, der Mann wickelte seineSiebensachen in den alten Mantel und warf dasPack weit über die Köpfe der Anwesenden hinwegin die Tiefe des Saales, als wollte er sich ewig vonseiner Vergangenheit trennen. Hierauf beging er alsstolzer Weltmann in stattlichen Tanzschritten denKreis, hie und da sich vor den Anwesenden huld-reich verbeugend, bis er vor das Brautpaar gelangte.Plötzlich faßte er den Polen, ungeheuer überrascht,fest ins Auge, stand als eine Säule vor ihm still,während gleichzeitig wie auf Verabredung die Mu-sik aufhörte und eine fürchterliche Stille wie einstummer Blitz einfiel.»Ei, ei, ei, ei«, rief er mit weithin vernehmlichenStimme und reckte den Arm gegen den Unglückli-

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chen aus, »Sieh da den Bruder Schlesier, den Was-serpolacken! Der mir aus der Arbeit gelaufen ist,weil er wegen einer kleinen Geschäftsschwankungglaubte, es sei zu Ende mit mir. Nun, es freut mich,daß es Ihnen so lustig geht und Sie hier so fröhlicheFastnacht halten! Stehen Sie in Arbeit zu Goldach?«Zugleich gab er dem bleich und lächelnd dasitzen-den Grafensohn die Hand, welche dieser willenlosergriff wie eine feurige Eisenstange, während derDoppelgänger rief: »Kommt, Freunde, seht hierunsern sanften Schneidergesellen, der wie ein Ra-phael aussieht und unsern Dienstmägden, auch derPfarrerstochter so wohl gefiel, die freilich ein biß-chen übergeschnappt ist!«Nun kamen die Seldwyler Leute alle herbei unddrängten sich um Strapinski und seinen ehemaligenMeister, indem sie ersterm treuherzig die Handschüttelten, daß er auf seinem Stuhle schwankte undzitterte. Gleichzeitig setzte die Musik wieder einmit einem lebhaften Marsch; die Seldwyler, sowiesie an dem Brautpaar vorüber waren, ordneten sichzum Abzuge und marschierten unter Absingungeines wohl einstudierten diabolischen Lachchorsaus dem Saale, während die Goldacher, unter wel-chen Böhni die Erklärung des Mirakels blitzschnellzu verbreiten gewußt hatte, durcheinanderliefen undsich mit den Seldwylern kreuzten, so daß es einengroßen Tumult gab.

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Als dieser sich endlich legte, war auch der Saalbeinahe leer; wenige Leute standen an den Wändenund flüsterten verlegen untereinander; ein paarjunge Damen hielten sich in einiger Entfernung vonNettchen, unschlüssig, ob sie sich derselben nähernsollten oder nicht.Das Paar aber saß unbeweglich auf seinen Stühlengleich einem steinernen ägyptischen Königspaar,ganz still und einsam; man glaubte, den unabsehba-ren glühenden Wüstensand zu fühlen.Nettchen, weiß wie Marmor, wendete das Gesichtlangsam nach ihrem Bräutigam und sah ihn seltsamvon der Seite an.Da stand er langsam auf und ging mit schwerenSchritten hinweg, die Augen auf den Boden ge-richtet, während große Tränen aus denselben fielen.Er ging durch die Goldacher und Seldwyler, welchedie Treppen bedeckten, hindurch wie ein Toter, dersich gespenstisch von einem Jahrmarkt stiehlt, undsie ließen ihn seltsamerweise auch wie einen sol-chen passieren, indem sie ihm still auswichen, ohnezu lachen oder harte Worte nachzurufen. Er gingauch zwischen den zur Abfahrt gerüsteten Schlittenund Pferden von Goldach hindurch, indessen dieSeldwyler sich in ihrem Quartiere erst noch rechtbelustigten, und er wandelte halb unbewußt, nur inder Meinung, nicht mehr nach Goldach zurückzu-kommen, dieselbe Straße gegen Seldwyla hin, auf

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welcher er vor einigen Monaten hergewandert war.Bald verschwand er in der Dunkelheit des Waldes,durch welchen sich die Straße zog. Er war barhäup-tig; denn seine Polenmütze war im Fenstersimse desTanzsaales liegengeblieben nebst den Handschuhen,und so schritt er denn, gesenkten Hauptes und diefrierenden Hände unter die gekreuzten Arme ber-gend, vorwärts, während seine Gedanken sich all-mählich sammelten und zu einigem Erkennen ge-langten. Das erste deutliche Gefühl, dessen er inne-wurde, war dasjenige einer ungeheuren Schande,gleichwie, wenn er ein wirklicher Mann von Rangund Ansehen gewesen und nun infam gewordenwäre durch Hereinbrechen irgendeines verhängnis-vollen Unglückes. Dann löste sich dieses Gefühlaber auf in eine Art Bewußtsein erlittenen Unrech-tes; er hatte sich bis zu seinem glorreichen Einzugin die verwünschte Stadt nie ein Vergehen zuschul-den kommen lassen; soweit seine Gedanken in dieKindheit zurückreichten, war ihm nicht erinnerlich,daß er je wegen einer Lüge oder einer Täuschunggestraft oder gescholten worden wäre, und nun warer ein Betrüger geworden dadurch, daß die Torheitder Welt ihn in einem unbewachten und sozusagenwehrlosen Augenblicke überfallen und ihn zu ihremSpielgesellen gemacht hatte. Er kam sich wie einKind vor, welches ein anderes boshaftes Kind über-redet hat, von einem Altare den Kelch zu stehlen; er

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haßte und verachtete sich jetzt, aber er weinte auchüber sich und seine unglückliche Verirrung.Wenn ein Fürst Land und Leute nimmt; wenn einPriester die Lehre seiner Kirche ohne Überzeugungverkündet, aber die Güter seiner Pfründe mit Würdeverzehrt; wenn ein dünkelvoller Lehrer die Ehrenund Vorteile eines hohen Lehramtes innehat undgenießt, ohne von der Höhe seiner Wissenschaftden mindesten Begriff zu haben und derselben auchnur den kleinsten Vorschub zu leisten; wenn einKünstler ohne Tugend, mit leichtfertigem Tun undleerer Gaukelei sich in Mode bringt und Brot undRuhm der wahren Arbeit vorwegstiehlt, oder wennein Schwindler, der einen großen Kaufmannsnamengeerbt oder erschlichen hat, durch seine Torheitenund Gewissenlosigkeiten Tausende um ihre Erspar-nisse und Notpfennige bringt: so weinen alle diesenicht über sich, sondern erfreuen sich ihres Wohl-seins und bleiben nicht einen Abend ohne aufhei-ternde Gesellschaft und gute Freunde.Unser Schneider aber weinte bitterlich über sich,das heißt, er fing solches plötzlich an, als nun seineGedanken an der schweren Kette, an der sie hingen,unversehens zu der verlassenen Braut zurückkehr-ten und sich aus Scham vor der Unsichtbaren zurErde krümmten. Das Unglück und die Erniedrigungzeigten ihm mit einem hellen Strahle das verloreneGlück und machten aus dem unklar verliebten Irr-

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gänger einen verstoßenen Liebenden. Er streckte dieArme gegen die kalt glänzenden Sterne empor undtaumelte mehr, als er ging, auf seiner Straße dahin,stand wieder still und schüttelte den Kopf, alsplötzlich ein roter Schein den Schnee um ihn hererreichte und zugleich Schellenklang und Gelächterertönte. Es waren die Seldwyler, welche mit Fak-keln nach Hause fuhren. Schon näherten sich ihmdie ersten Pferde mit ihren Nasen; da raffte er sichauf, tat einen gewaltigen Sprung über den Straßen-rand und duckte sich unter die vordersten Stämmedes Waldes. Der tolle Zug fuhr vorbei und verhallteendlich in der dunklen Ferne, ohne daß der Flücht-ling bemerkt worden war; dieser aber, nachdem ereine gute Weile reglos gelauscht hatte, von derKälte wie von den erst genossenen feurigen Geträn-ken und seiner gramvollen Dummheit übermannt,streckte unvermerkt seine Glieder aus und schliefein auf dem knisternden Schnee, während ein eis-kalter Hauch von Osten heranzuwehen begann.Inzwischen erhob auch Nettchen sich von ihremeinsamen Sitze. Sie hatte dem abziehenden Gelieb-ten gewissermaßen aufmerksam nachgeschaut, saßlänger als eine Stunde unbeweglich da und standdann auf, indem sie bitterlich zu weinen begann undratlos nach der Türe ging. Zwei Freundinnen ge-sellten sich nun zu ihr mit zweifelhaft tröstendenWorten; sie bat dieselben, ihr Mantel, Tücher, Hut

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und dergleichen zu verschaffen, in welche Dinge siesich sodann stumm verhüllte, die Augen mit demSchleier heftig trocknend. Da man aber, wenn manweint, fast immer zugleich auch die Nase schneuzenmuß, so sah sie sich doch genötigt, das Taschentuchzu nehmen, und tat einen tüchtigen Schneuz, woraufsie stolz und zornig um sich blickte. In dieses Blik-ken hinein geriet Melchior Böhni, der sich ihrfreundlich, demütig und lächelnd näherte und ihrdie Notwendigkeit darstellte, nunmehr einen Führerund Begleiter nach dem väterlichen Hause zurückzu haben. Den ›Teich Bethesda‹, sagte er, werde erhier im Gasthause zurücklassen und dafür die ›For-tuna‹ mit der verehrten Unglücklichen sicher nachGoldach hingeleiten.Ohne zu antworten, ging sie festen Schrittes vorannach dem Hofe, wo der Schlitten mit den ungedul-digen, wohlgefütterten Pferden bereitstand, einerder letzten, welche dort waren. Sie nahm raschdarin Platz, ergriff das Leitseil und die Peitsche,und während der achtlose Böhni, mit glücklicherGeschäftigkeit sich gebärdend, dem Stallknechte,der die Pferde gehalten, das Trinkgeld hervorsuchte,trieb sie unversehens die Pferde an und fuhr auf dieLandstraße hinaus in starken Sätzen, welche sichbald in einen anhaltenden munteren Galopp ver-wandelten. Und zwar ging es nicht nach der Hei-mat, sondern auf der Seldwyler Straße hin. Erst als

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das leichtbeschwingte Fahrzeug schon dem Blickentschwunden war, entdeckte Herr Böhni das Er-eignis und lief in der Richtung gegen Goldach mitHoho! und Haltrufen, sprang dann zurück und jagtemit seinem eigenen Schlitten der entflohenen odernach seiner Meinung durch die Pferde entführtenSchönen nach, bis er am Tore der aufgeregten Stadtanlangte, in welcher das Ärgernis bereits alle Zun-gen beschäftigte.Warum Nettchen jenen Weg eingeschlagen, ob inder Verwirrung oder mit Vorsatz, ist nicht sicher zuberichten. Zwei Umstände mögen hier ein leisesLicht gewähren. Einmal lagen sonderbarerweise diePelzmütze und die Handschuhe Strapinskis, welcheauf dem Fenstersimse hinter dem Sitze des Paaresgelegen hatten, nun im Schlitten der ›Fortuna‹ ne-ben Nettchen; wann und wie sie diese Gegenständeergriffen, hatte niemand beachtet, und sie selbstwußte es nicht; es war wie im Schlafwandel ge-schehen. Sie wußte jetzt noch nicht, daß Mütze undHandschuhe neben ihr lagen. Sodann sagte sie mehrals einmal laut vor sich hin: »Ich muß noch zweiWorte mit ihm sprechen, nur zwei Worte!«Diese beiden Tatsachen scheinen zu beweisen, daßnicht ganz der Zufall die feurigen Pferde lenkte.Auch war es seltsam, als die ›Fortuna‹ in die Wald-straße gelangte, in welche jetzt der helle Vollmondhineinschien, wie Nettchen den Lauf der Pferde

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mäßigte und die Zügel fester anzog, so daß diesel-ben beinahe nur im Schritt einhertanzten, währenddie Lenkerin die traurigen, aber dennoch scharfenAugen gespannt auf den Weg heftete, ohne linksund rechts den geringsten auffälligen Gegenstandaußer acht zu lassen.Und doch war gleichzeitig ihre Seele wie in tiefer,schwerer, unglücklicher Vergessenheit befangen.Was sind Glück und Leben! Von was hängen sieab? Was sind wir selbst, daß wir wegen einer lä-cherlichen Fastnachtslüge glücklich oder unglück-lich werden? Was haben wir verschuldet, wenn wirdurch eine fröhliche, gläubige Zuneigung Schmachund Hoffnungslosigkeit einernten? Wer sendet unssolche einfältige Truggestalten, die zerstörend inunser Schicksal eingreifen, während sie sich selbstdaran auflösen wie schwache Seifenblasen?Solche mehr geträumte als gedachte Fragen umfin-gen die Seele Nettchens, als ihre Augen sich plötz-lich auf einen länglichen dunkeln Gegenstand rich-teten, welcher zur Seite der Straße sich vom mond-beglänzten Schnee abhob. Es war der langhinge-streckte Wenzel, dessen dunkles Haar sich mit demSchatten der Bäume vermischte, während seinschlanker Körper deutlich im Lichte lag.Nettchen hielt unwillkürlich die Pferde an, womiteine tiefe Stille über den Wald kam. Sie starrteunverwandt nach dem dunklen Körper, bis derselbe

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sich ihrem hellsehenden Auge fast unverkennbardarstellte und sie leise die Zügel festband, ausstieg,die Pferde einen Augenblick beruhigend streichelteund sich hierauf der Erscheinung vorsichtig, lautlosnäherte.Ja, er war es. Der dunkelgrüne Sammet seines Rok-kes nahm sich selbst auf dem nächtlichen Schneeschön und edel aus; der schlanke Leib und die ge-schmeidigen Glieder, wohl geschnürt und bekleidet,alles sagte noch in der Erstarrung, am Rande desUnterganges, im Verlorensein: Kleider machenLeute!Als sich die einsame Schöne näher über ihn hin-beugte und ihn ganz sicher erkannte, sah sie auchsogleich die Gefahr, in der sein Leben schwebte,und fürchtete, er möchte bereits erfroren sein. Sieergriff daher unbedenklich eine seiner Hände, diekalt und gefühllos schien. Alles andere vergessend,rüttelte sie den Ärmsten und rief ihm seinen Tauf-namen ins Ohr: »Wenzel, Wenzel!« Umsonst, errührte sich nicht, sondern atmete nur schwach undtraurig. Da fiel sie über ihn her, fuhr mit der Handüber sein Gesicht und gab ihm in der BeängstigungNasenstüber auf die erbleichte Nasenspitze. Dannnahm sie, hierdurch auf einen guten Gedankengebracht, Hände voll Schnee und rieb ihm die Naseund das Gesicht und auch die Finger tüchtig, sovielsie vermochte und bis sich der glücklich Unglückli-

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che erholte, erwachte und langsam seine Gestalt indie Höhe richtete.Er blickte um sich und sah die Retterin vor sichstehen. Sie hatte den Schleier zurückgeschlagen;Wenzel erkannte jeden Zug in ihrem weißen Ge-sicht, das ihn ansah mit großen Augen.Er stürzte vor ihr nieder, küßte den Saum ihresMantels und rief: »Verzeih mir! Verzeih mir!«»Komm, fremder Mensch!« sagte sie mit unter-drückter zitternder Stimme. »Ich werde mit dirsprechen und dich fortschaffen!«Sie winkte ihm, in den Schlitten zu steigen, was erfolgsam tat; sie gab ihm Mütze und Handschuheebenso unwillkürlich, wie sie dieselben mitgenom-men hatte, ergriff Zügel und Peitsche und fuhr vor-wärts.Jenseits des Waldes, unfern der Straße, lag ein Bau-ernhof, auf welchem eine Bäuerin hauste, derenMann unlängst gestorben. Nettchen war die Patineines ihrer Kinder sowie der Vater Amtsrat ihrZinsherr. Noch neulich war die Frau bei ihnen ge-wesen, um der Tochter Glück zu wünschen undallerlei Rat zu holen, konnte aber zu dieser Stundenoch nichts von dem Wandel der Dinge wissen.Nach diesem Hofe fuhr Nettchen jetzt, von derStraße ablenkend und mit einem kräftigen Peit-schenknallen vor dem Hause haltend. Es war nochLicht hinter den kleinen Fenstern; denn die Bäuerin

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war wach und machte sich zu schaffen, währendKinder und Gesinde längst schliefen. Sie öffnetedas Fenster und guckte verwundert heraus. »Ichbin's nur, wir sind's!« rief Nettchen. »Wir haben unsverirrt wegen der neuen obern Straße, die ich nochnie gefahren bin; macht uns einen Kaffee, FrauGevatterin, und laßt uns einen Augenblick hinein-kommen, ehe wir weiterfahren!«Gar vergnügt eilte die Bäuerin her, da sie Nettchensofort erkannte, und bezeigte sich entzückt undeingeschüchtert zugleich, auch das große Tier, denfremden Grafen, zu sehen. In ihren Augen warenGlück und Glanz dieser Welt in diesen zwei Perso-nen über ihre Schwelle getreten; unbestimmteHoffnungen, einen kleinen Teil daran, irgendeinenbescheidenen Nutzen für sich oder ihre Kinder zugewinnen, belebten die gute Frau und gaben ihr alleBehendigkeit, die jungen Herrschaftsleute zu bedie-nen. Schnell hatte sie ein Knechtchen geweckt, diePferde zu halten, und bald hatte sie auch einen hei-ßen Kaffee bereitet, welchen sie jetzt hereinbrachte,wo Wenzel und Nettchen in der halbdunklen Stubeeinander gegenübersaßen, ein schwach flackerndesLämpchen zwischen sich auf dem Tische.Wenzel saß, den Kopf in die Hände gestützt, undwagte nicht aufzublicken. Nettchen lehnte auf ihremStuhle zurück und hielt die Augen fest verschlos-

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sen, aber ebenso den bitteren schönen Mund, woranman sah, daß sie keineswegs schlief.Als die Gevattersfrau den Trank auf den Tisch ge-setzt hatte, erhob sich Nettchen rasch und flüsterteihr zu: »Laßt uns jetzt eine Viertelstunde allein, legtEuch aufs Bett, liebe Frau! Wir haben uns ein biß-chen gezankt und müssen uns heute noch ausspre-chen, da hier gute Gelegenheit ist!«»Ich verstehe schon, Ihr macht's gut so!« sagte dieFrau und ließ die zwei bald allein.»Trinken Sie dies«, sagte Nettchen, die sich wiedergesetzt hatte, »es wird Ihnen gesund sein!« Sieselbst berührte nichts. Wenzel Strapinski, der leisezitterte, richtete sich auf, nahm eine Tasse und tranksie aus, mehr, weil sie es gesagt hatte, als um sichzu erfrischen. Er blickte sie jetzt auch an, und alsihre Augen sich begegneten und Nettchen forschenddie seinigen betrachtete, schüttelte sie das Hauptund sagte dann: »Wer sind Sie? Was wollten Siemit mir?«»Ich bin nicht ganz so, wie ich scheine!« erwiderteer traurig. »Ich bin ein armer Narr, aber ich werdealles gutmachen und Ihnen Genugtuung geben undnicht lange mehr am Leben sein!« Solche Wortesagte er so überzeugt und ohne allen gemachtenAusdruck, daß Nettchens Augen unmerklich auf-blitzten. Dennoch wiederholte sie: »Ich wünsche zu

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wissen, wer Sie eigentlich seien und woher Siekommen und wohin Sie wollen.«»Es ist alles so gekommen, wie ich Ihnen jetzt derWahrheit gemäß erzählen will«, anwortete er undsagte ihr, wer er sei und wie es ihm bei seinemEinzug in Goldach ergangen. Er beteuerte beson-ders, wie er mehrmals habe fliehen wollen, schließ-lich aber durch ihr Erscheinen selbst gehindertworden sei wie in einem verhexten Traume.Nettchen wurde mehrmals von einem Anflug vonLachen heimgesucht; doch überwog der Ernst ihrerAngelegenheit zu sehr, als daß es zum Ausbruchgekommen wäre. Sie fuhr vielmehr fort zu fragen:»Und wohin gedachten Sie mit mir zu gehen undwas zu beginnen?« - »Ich weiß es kaum«, erwiderteer; »ich hoffte auf weitere merkwürdige oderglückliche Dinge; auch gedachte ich zuweilen desTodes in der Art, daß ich mir denselben gebenwolle, nachdem ich ...«Hier stockte Wenzel, und sein bleiches Gesichtwurde ganz rot.»Nun, fahren Sie fort!« sagte Nettchen, ihrerseitsbleich werdend, indessen ihr Herz wunderlichklopfte.Da flammten Wenzels Augen groß und süß auf, under rief:»Ja, jetzt ist es mir klar und deutlich vor Augen, wiees gekommen wäre! Ich wäre mit dir in die weite

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Welt gegangen, und nachdem ich einige kurze Tagedes Glückes mit dir gelebt, hätte ich dir den Betruggestanden und mir gleichzeitig den Tod gegeben.Du wärest zu deinem Vater zurückgekehrt, wo duwohl aufgehoben gewesen wärest und mich leichtvergessen hättest. Niemand brauchte darum zuwissen; ich wäre spurlos verschollen. Anstatt an derSehnsucht nach einem würdigen Dasein, nach ei-nem gütigen Herzen, nach Liebe lebenslang zukranken«, fuhr er wehmütig fort, »wäre ich einenAugenblick lang groß und glücklich gewesen undhoch über allen, die weder glücklich noch unglück-lich sind und doch nie sterben wollen! O hätten Siemich liegengelassen im kalten Schnee, ich wäre soruhig eingeschlafen!«Er war wieder still geworden und schaute düstersinnend vor sich hin.Nach einer Weile sagte Nettchen, die ihn still be-trachtet, nachdem das durch Wenzels Reden ange-fachte Schlagen ihres Herzens sich etwas gelegthatte:»Haben Sie dergleichen oder ähnliche Streichefrüher schon begangen und fremde Menschen an-gelogen, die Ihnen nichts zuleide getan?«»Das habe ich mich in dieser bitteren Nacht selbstschon gefragt und mich nicht erinnert, daß ich je einLügner gewesen bin! Ein solches Abenteuer habeich noch gar nie gemacht oder erfahren! Ja, in jenen

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Tagen, als der Hang in mir entstanden, etwas Or-dentliches zu sein oder zu scheinen, in halber Kind-heit noch, habe ich mich selbst überwunden undeinem Glück entsagt, das mir beschieden schien!«»Was ist dies?« fragte Nettchen.»Meine Mutter war, ehe sie sich verheiratet hatte, inDiensten einer benachbarten Gutsherrin und mitderselben auf Reisen und in großen Städten gewe-sen. Davon hatte sie eine feinere Art bekommen alsdie anderen Weiber unseres Dorfes und war wohlauch etwas eitel; denn sie kleidete sich und mich,ihr einziges Kind, immer etwas zierlicher und ge-suchter, als es bei uns Sitte war. Der Vater, einarmer Schulmeister, starb aber früh, und so bliebuns bei größter Armut keine Aussicht auf glücklicheErlebnisse, von welchen die Mutter gerne zu träu-men pflegte. Vielmehr mußte sie sich harter Arbeithingeben, um uns zu ernähren, und damit das Lieb-ste, was sie hatte, etwas bessere Haltung und Klei-dung, aufopfern. Unerwartet sagte nun jene inzwi-schen verwitwete Gutsherrin, als ich etwa sechzehnJahre alt war, sie gehe mit ihrem Haushalt in dieResidenz für immer; die Mutter solle mich mitge-ben, es sei schade für mich, in dem Dorfe ein Ta-gelöhner oder Bauernknecht zu werden, sie wollemich etwas Feines lernen lassen, zu was ich Lusthabe, während ich in ihrem Hause leben und dieseund jene leichten Dienstleistungen tun könne. Das

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schien nun das Herrlichste zu sein, was sich für unsereignen mochte. Alles wurde demgemäß verabre-det und zubereitet, als die Mutter nachdenklich undtraurig wurde und mich eines Tages plötzlich mitvielen Tränen bat, sie nicht zu verlassen, sondernmit ihr arm zu bleiben; sie werde nicht alt werden,sagte sie, und ich würde gewiß noch zu etwas Gu-tem gelangen, auch wenn sie tot sei. Die Gutsherrin,der ich das betrübt hinterbrachte, kam her undmachte meiner Mutter Vorstellungen; aber diesewurde jetzt ganz aufgeregt und rief einmal um dasandere, sie lasse sich ihr Kind nicht rauben; wer eskenne ...«Hier stockte Wenzel Strapinski abermals und wußtesich nicht recht fortzuhelfen. Nettchen fragte: »Wassagte die Mutter, wer es kenne? Warum fahren Sienicht fort?«Wenzel errötete und antwortete: »Sie sagte etwasSeltsames, was ich nicht recht verstand und was ichjedenfalls seither nicht verspürt habe; sie meinte,wer das Kind kenne, könne nicht mehr von ihmlassen, und wollte wohl damit sagen, daß ich eingutmütiger Junge gewesen sei oder etwas derglei-chen. Kurz, sie war so aufgeregt, daß ich trotz allesZuredens jener Dame entsagte und bei der Mutterblieb, wofür sie mich doppelt liebhatte, tausendmalmich um Verzeihung bittend, daß sie mir vor demGlücke sei. Als ich aber nun auch etwas verdienen

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lernen sollte, stellte es sich heraus, daß nicht vielanderes zu tun war, als daß ich zu unserm Dorf-schneider in die Lehre ging. Ich wollte nicht, aberdie Mutter weinte so sehr, daß ich mich ergab. Diesist die Geschichte.«Auf Nettchens Frage, warum er denn doch von derMutter fort sei und wann, erwiderte Wenzel: »DerMilitärdienst rief mich weg. Ich wurde unter dieHusaren gesteckt und war ein ganz hübscher roterHusar, obwohl vielleicht der dümmste im Regi-ment, jedenfalls der stillste. Nach einem Jahrekonnte ich endlich für ein paar Wochen Urlauberhalten und eilte nach Hause, meine gute Mutter zusehen; aber sie war eben gestorben. Da bin ichdenn, als meine Zeit vorbei war, einsam in die Weltgereist und endlich hier in mein Unglück geraten.«Nettchen lächelte, als er dieses vor sich hinklagteund sie ihn dabei aufmerksam betrachtete. Es warjetzt eine Zeitlang still in der Stube; auf einmalschien ihr ein Gedanke aufzutauchen.»Da Sie«, sagte sie plötzlich, aber dennoch mitzögerndem spitzigen Wesen, »stets so wertgeschätztund liebenswürdig waren, so haben Sie ohne Zwei-fel auch jederzeit Ihre gehörigen Liebschaften oderdergleichen gehabt und wohl schon mehr als einarmes Frauenzimmer auf dem Gewissen - von mirnicht zu reden?«

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»Ach Gott«, erwiderte Wenzel, ganz rot werdend,»eh' ich zu Ihnen kam, habe ich niemals auch nurdie Fingerspitzen eines Mädchens berührt, ausge-nommen ...«»Nun?« sagte Nettchen.»Nun«, fuhr er fort, »das war eben jene Frau, diemich mitnehmen und bilden lassen wollte, die hatteein Kind, ein Mädchen von sieben oder acht Jahren,ein seltsames, heftiges Kind und doch gut wie Zuk-ker und schön wie ein Engel. Dem hatte ich vielfachden Diener und Beschützer machen müssen, und eshatte sich an mich gewöhnt. Ich mußte es regelmä-ßig nach dem entfernten Pfarrhof bringen, wo es beidem alten Pfarrer Unterricht genoß, und es von dawieder abholen. Auch sonst mußte ich öfter mit ihmins Freie, wenn sonst niemand gerade mitgehenkonnte. Dieses Kind nun, als ich es zum letztenmalim Abendschein über das Feld nach Hause führte,fing von der bevorstehenden Abreise zu reden an,erklärte mir, ich müßte dennoch mitgehen, undfragte, ob ich es tun wolle. Ich sagte, daß es nichtsein könne. Das Kind fuhr aber fort, gar beweglichund dringlich zu bitten, indem es mir am Arme hingund mich am Gehen hinderte, wie Kinder zu tunpflegen, so daß ich mich bedachtlos wohl etwasunwirsch frei machte. Da senkte das Mädchen seinHaupt und suchte beschämt und traurig die Tränenzu unterdrücken, die jetzt hervorbrachen, und es

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vermochte kaum das Schluchzen zu bemeistern.Betroffen wollte ich das Kind begütigen; allein nunwandte es sich zornig ab und entließ mich in Un-gnaden. Seitdem ist mir das schöne Kind immer imSinne geblieben, und mein Herz hat immer an ihmgehangen, obgleich ich nie wieder von ihm gehörthabe ...«Plötzlich hielt der Sprecher, der in eine sanfte Erre-gung geraten war, wie erschreckt inne und starrteerbleichend seine Gefährtin an.»Nun«, sagte Nettchen ihrerseits mit seltsamemTone, in gleicher Weise etwas blaß geworden, »wassehen Sie mich so an?«Wenzel aber streckte den Arm aus, zeigte mit demFinger auf sie, wie wenn er einen Geist sähe, undrief: »Dieses habe ich auch schon erblickt. Wennjenes Kind zornig war, so hoben sich ganz so, wiejetzt bei Ihnen, die schönen Haare um Stirne undSchläfe ein wenig aufwärts, daß man sie sich bewe-gen sah, und so war es auch zuletzt auf dem Feldein jenem Abendglanze.«In der Tat hatten sich die zunächst den Schläfen undüber der Stirne liegenden Locken Nettchens leisebewegt wie von einem ins Gesicht wehenden Luft-hauche.Die allzeit etwas kokette Mutter Natur hatte hiereines ihrer Geheimnisse angewendet, um denschwierigen Handel zu Ende zu führen.

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Nach kurzem Schweigen, indem ihre Brust sich zuheben begann, stand Nettchen auf, ging um denTisch herum dem Manne entgegen und fiel ihm umden Hals mit den Worten: »Ich will dich nicht ver-lassen! Du bist mein, und ich will mit dir gehentrotz aller Welt!«So feierte sie erst jetzt ihre rechte Verlobung austief entschlossener Seele, indem sie in süßer Lei-denschaft ein Schicksal auf sich nahm und Treuehielt.Doch war sie keineswegs so blöde, dieses Schicksalnicht selbst ein wenig lenken zu wollen; vielmehrfaßte sie rasch und keck neue Entschlüsse. Denn siesagte zu dem guten Wenzel, der in dem abermaligenGlückswechsel verloren träumte:»Nun wollen wir gerade nach Seldwyla gehen undden Dortigen, die uns zu zerstören gedachten, zei-gen, daß sie uns erst recht vereinigt und glücklichgemacht haben!«Dem wackern Wenzel wollte das nicht einleuchten.Er wünschte vielmehr, in unbekannte Weiten zuziehen und geheimnisvoll und romantisch dort zuleben in stillem Glücke, wie er sagte.Allein Nettchen rief: »Keine Romane mehr! Wie dubist, ein armer Wandersmann, will ich mich zu dirbekennen und in meiner Heimat allen diesen Stol-zen und Spöttern zum Trotze dein Weib sein! Wirwollen nach Seldwyla gehen und dort durch Tätig-

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keit und Klugheit die Menschen, die uns verhöhnthaben, von uns abhängig machen!«Und wie gesagt, so getan! Nachdem die Bäuerinherbeigerufen und von Wenzel, der anfing, seineneue Stellung einzunehmen, beschenkt worden war,fuhren sie ihres Weges weiter. Wenzel führte jetztdie Zügel, Nettchen lehnte sich so zufrieden an ihn,als ob er eine Kirchensäule wäre. Denn des Men-schen Wille ist sein Himmelreich, und Nettchen warjust vor drei Tagen volljährig geworden und konntedem ihrigen folgen.In Seldwyla hielten sie vor dem Gasthause ›ZumRegenbogen‹, wo noch eine Zahl jener Schlittenfah-rer beim Glase saß. Als das Paar im Wirtssaaleerschien, lief wie ein Feuer die Rede herum: »Ha,da haben wir eine Entführung! Wir haben eineköstliche Geschichte eingeleitet!«Doch ging Wenzel ohne Umsehen hindurch mitseiner Braut, und nachdem sie in ihren Gemächernverschwunden war, begab er sich in den ›WildenMann‹, ein anderes gutes Gasthaus, und schritt stolzdurch die dort ebenfalls noch hausenden Seldwylerhindurch in ein Zimmer, das er begehrte, und über-ließ sie ihren erstaunten Beratungen, über welchensie sich das grimmigste Kopfweh anzutrinken ge-nötigt waren.Auch in der Stadt Goldach lief um die gleiche Zeitschon das Wort ›Entführung!‹ herum. In aller Frühe

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schon fuhr auch der ›Teich Bethesda‹ nach Seld-wyla, von dem aufgeregten Böhni und Nettchensbetroffenem Vater bestiegen. Fast wären sie in ihrerEile ohne Anhalt durch Seldwyla gefahren, als sienoch rechtzeitig den Schlitten ›Fortuna‹ wohlbe-halten vor dem Gasthause stehen sahen und zuihrem Troste vermuteten, daß wenigstens die schö-nen Pferde auch nicht weit sein würden. Sie ließendaher ausspannen, als sich die Vermutung bestätigteund sie die Ankunft und den Aufenthalt Nettchensvernahmen, und gingen gleichfalls in den ›Regen-bogen‹ hinein.Es dauerte jedoch eine kleine Weile, bis Nettchenden Vater bitten ließ, sie auf ihrem Zimmer zu be-suchen und dort allein mit ihr zu sprechen. Auchsagte man, sie habe bereits den besten Rechtsanwaltder Stadt rufen lassen, welcher im Laufe des Vor-mittags erscheinen werde. Der Amtsrat ging etwasschweren Herzens zu seiner Tochter hinauf, überle-gend, auf welche Weise er das desperate Kind ambesten aus der Verirrung zurückführe, und war aufein verzweifeltes Gebaren gefaßt.Allein mit Ruhe und sanfter Festigkeit trat ihmNettchen entgegen. Sie dankte ihrem Vater mitRührung für alle ihr bewiesene Liebe und Güte underklärte sodann in bestimmten Sätzen: erstens, siewolle nach dem Vorgefallenen nicht mehr in Gol-dach leben, wenigstens nicht die nächsten Jahre;

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zweitens wünsche sie ihr bedeutendes mütterlichesErbe an sich zu nehmen, welches der Vater ja schonlange für den Fall ihrer Verheiratung bereit gehal-ten; drittens wolle sie den Wenzel Strapinski heira-ten, woran vor allem nichts zu ändern sei; viertenswolle sie mit ihm in Seldwyla wohnen und ihm daein tüchtiges Geschäft gründen helfen, und fünftensund letztens werde alles gut werden; denn sie habesich überzeugt, daß er ein guter Mensch sei und sieglücklich machen werde.Der Amtsrat begann seine Arbeit mit der Erinne-rung, daß Nettchen ja wisse, wie sehr er schon ge-wünscht habe, ihr Vermögen zur Begründung ihreswahren Glückes je eher je lieber in ihre Händelegen zu können. Dann aber schilderte er mit allerBekümmernis, die ihn seit der ersten Kunde von derschrecklichen Katastrophe erfüllte, das Unmöglichedes Verhältnisses, das sie festhalten wolle, undschließlich zeigte er das große Mittel, durch wel-ches sich der schwere Konflikt allein würdig lösenlasse. Herr Melchior Böhni sei es, der bereit sei,durch augenblickliches Einstehen mit seiner Personden ganzen Handel niederzuschlagen und mit sei-nem unantastbaren Namen ihre Ehre vor der Weltzu schützen und aufrechtzuhalten.Aber das Wort Ehre brachte nun doch die Tochterin größere Aufregung. Sie rief, gerade die Ehre seies, welche ihr gebiete, den Herrn Böhni nicht zu

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heiraten, weil sie ihn nicht leiden könne, dagegendem armen Fremden getreu zu bleiben, welchem sieihr Wort gegeben habe und den sie auch leidenkönne!Es gab nun ein fruchtloses Hin- und Widerreden,welches die standhafte Schöne endlich doch zumTränenvergießen brachte.Fast gleichzeitig drangen Wenzel und Böhni herein,welche auf der Treppe zusammengetroffen, und esdrohte eine große Verwirrung zu entstehen, als auchder Rechtsanwalt erschien, ein dem Amtsrate wohl-bekannter Mann, und vorderhand zur friedlichenBesonnenheit mahnte. Als er in wenigen vorläufi-gen Worten vernahm, worum es sich handle, ord-nete er an, daß vor allem Wenzel sich in den ›Wil-den Mann‹ zurückziehe und sich dort still halte, daßauch Herr Böhni sich nicht einmische und fortgehe,daß Nettchen ihrerseits alle Formen des bürgerli-chen guten Tones wahre bis zum Austrag der Sacheund der Vater auf jede Ausübung von Zwang ver-zichte, da die Freiheit der Tochter gesetzlich unbe-zweifelt sei.So gab es denn einen Waffenstillstand und eineallgemeine Trennung für einige Stunden.In der Stadt, wo der Anwalt ein paar Worte verlau-ten ließ von einem großen Vermögen, welchesvielleicht nach Seldwyla käme durch diese Ge-schichte, entstand nun ein großer Lärm. Die Stim-

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mung der Seldwyler schlug plötzlich um zugunstendes Schneiders und seiner Verlobten, und sie be-schlossen, die Liebenden zu schützen mit Gut undBlut und in ihrer Stadt Recht und Freiheit der Per-son zu wahren. Als daher das Gerücht ging, dieSchöne von Goldach solle mit Gewalt zurückge-führt werden, rotteten sie sich zusammen, stelltenbewaffnete Schutz- und Ehrenwachen vor den ›Re-genbogen‹ und vor den ›wilden Mann‹ und begin-gen überhaupt mit gewaltiger Lustbarkeit einesihrer großen Abenteuer, als merkwürdige Fortset-zung des gestrigen.Der erschreckte und gereizte Amtsrat schickte sei-nen Böhni nach Goldach um Hilfe. Der fuhr imGalopp hin, und am nächsten Tage fuhren eineAnzahl Männer mit einer ansehnlichen Polizei-macht von dort herüber, um dem Amtsrat beizuste-hen, und es gewann den Anschein, als ob Seldwylaein neues Troja werden sollte. Die Parteien standensich drohend gegenüber; der Stadttambour drehtebereits an seiner Spannschraube und tat einzelneSchläge mit dem rechten Schlegel. Da kamen höhe-re Amtspersonen, geistliche und weltliche Herren,auf den Platz, und die Unterhandlungen, welcheallseitig gepflogen wurden, ergaben endlich, daNettchen fest blieb und Wenzel sich nicht ein-schüchtern ließ, aufgemuntert durch die Seldwyler,daß das Aufgebot ihrer Ehe nach Sammlung aller

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nötigen Schriften förmlich stattfinden und daß ge-wärtig werden solle, ob und welche gesetzlicheEinsprachen während dieses Verfahrens dagegenerhoben würden und mit welchem Erfolge.Solche Einsprachen konnten bei der VolljährigkeitNettchens einzig noch erhoben werden wegen derzweifelhaften Person des falschen Grafen WenzelStrapinski.Allein der Rechtsanwalt, der seine und NettchensSache nun führte, ermittelte, daß den fremden jun-gen Mann weder in seiner Heimat noch auf seinenbisherigen Fahrten auch nur der Schatten einesbösen Leumunds getroffen habe und von überall hernur gute und wohlwollende Zeugnisse für ihn ein-liefen.Was die Ereignisse in Goldach betraf, so wies derAdvokat nach, daß Wenzel sich eigentlich gar nieselbst für einen Grafen ausgegeben, sondern daßihm dieser Rang von andern gewaltsam verliehenworden; daß er schriftlich auf allen vorhandenenBelegstücken mit seinem wirklichen Namen Wen-zel Strapinski ohne jede Zutat sich unterzeichnethatte und somit kein anderes Vergehen vorlag, alsdaß er eine törichte Gastfreundschaft genossenhatte, die ihm nicht gewährt worden wäre, wenn ernicht in jenem Wagen angekommen wäre und jenerKutscher nicht jenen schlechten Spaß gemachthätte.

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So endigte denn der Krieg mit einer Hochzeit, anwelcher die Seldwyler mit ihren sogenannten Kat-zenköpfen gewaltig schossen zum Verdrusse derGoldacher, welche den Geschützdonner ganz guthören konnten, da der Westwind wehte. Der Amts-rat gab Nettchen ihr ganzes Gut heraus, und siesagte, Wenzel müsse nun ein großer Marchand-Tailleur und Tuchherr werden in Seldwyla; denn dahieß der Tuchhändler noch Tuchherr, der Eisen-händler Eisenherr usw.Das geschah denn auch, aber in ganz anderer Wei-se, als die Seldwyler geträumt hatten. Er war be-scheiden, sparsam und fleißig in seinem Geschäfte,welchem er einen großen Umfang zu geben ver-stand. Er machte ihnen ihre veilchenfarbigen oderweiß und blau gewürfelten Sammetwesten, ihreBallfräcke mit goldenen Knöpfen, ihre rot ausge-schlagenen Mäntel, und alles waren sie ihm schul-dig, aber nie zu lange Zeit. Denn um neue, nochschönere Sachen zu erhalten, welche er kommenoder anfertigen ließ, mußten sie ihm das Früherebezahlen, so daß sie untereinander klagten, er presseihnen das Blut unter den Nägeln hervor.Dabei wurde er rund und stattlich und sah beinahgar nicht mehr träumerisch aus; er wurde von Jahrzu Jahr geschäftserfahrener und gewandter undwußte in Verbindung mit seinem bald versöhntenSchwiegervater, dem Amtsrat, so gute Spekulatio-

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nen zu machen, daß sich sein Vermögen verdop-pelte und er nach zehn oder zwölf Jahren mit eben-so vielen Kindern, die inzwischen Nettchen, dieStrapinska, geboren hatte, und mit letzterer nachGoldach übersiedelte und daselbst ein angesehenerMann ward.Aber in Seldwyla ließ er nicht einen Stüber zurück,sei es aus Undank oder aus Rache.

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