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3 Jens Frieß Die Reise der Marta Gundlach Engelsdorfer Verlag Urheberrechtlich geschütztes Material!

Jens Frieß Die Reise der Marta Gundlach · Marta bereitete sich wie jeden Abend auf das Fernsehen vor, fast wie ein Ritual, heute Abend sollte „Wetten dass“ mit dem Gottschalk

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Page 1: Jens Frieß Die Reise der Marta Gundlach · Marta bereitete sich wie jeden Abend auf das Fernsehen vor, fast wie ein Ritual, heute Abend sollte „Wetten dass“ mit dem Gottschalk

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Jens Frieß

Die Reise der Marta Gundlach

Engelsdorfer Verlag

Urheberrechtlich geschütztes Material!

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Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;

detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.dnb.de abrufbar.

© 2014 Autor: Jens Frieß Umschlaggestaltung, Illustration: Sören Schneider

Lektorat, Korrektorat: Friedhelm Zühr Verlag: Engelsdorfer Verlag

Printed in Germany ISBN: 978-3-95488-657-9

12,00 Euro (D)

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrecht-lich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung

des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbe-sondere für die elektronische odersonstige Vervielfälti-

gung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

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„Was ich getan in meinem Leben, ich tat es nur für Euch, was ich gekonnt hab ich gegeben, als Dank bleibt einig unter Euch … das Leben wiederholt

sich immer wieder.“

Eleonore Frieß

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Abspann

1 Der Fernseher lief, ein „Tatort“, von welchem Sender auch immer. Im Haus waren die Dialoge des Films zu hören. Marta saß in ihrem Fernsehsessel, den hatte sie sich noch vor drei Jahren von einem Außendienstvertre-ter an der Haustür aufschwatzen lassen. Aber er war bequem. Ein Ohrensessel, hohe Lehne, das war gut, weil der Rücken immer so weh tat, und was sie auch noch toll fand war, dass der Sessel, wenn er sich nach hinten lehnte, eine Fußstütze ausfuhr, sodass man die Füße hoch legen konnte. Da ging der Druck aus den Venen und Marta konnte entspannen. Das Muster des Sessels war rot mit gelben Blumen. Marta hatte Schoner auf die Lehnen drapiert und sich noch ein bequemes Kissen bereitgelegt. Marta bereitete sich wie jeden Abend auf das Fernsehen vor, fast wie ein Ritual, heute Abend sollte „Wetten dass“ mit dem Gottschalk kommen, den sah sie gern, auch wenn er manchmal viel herum laberte. Neben dem Sessel stand ein kleines Tischchen, auf das sie die abend-liche Flasche Ur-Krostitzer Bier stellte. Ihre Welt wurde weniger, enger und kleiner. Die Beine hatten zu tun, sie zu tragen. Da wurde der Radius der Bewegung enger, manche Sachen wollte Marta auch nicht mehr. Irgend-wann schlief Marta ein und starb, allein und ruhig. Das Herz setzte aus und der Tod kam ins Haus, „sie machte unter sich“, aber das war egal. Der Fernseher lief, ein „Tatort“, von welchem Sender auch immer. Im Haus waren die Dialoge des Films zu hören. Das halbvolle Bier wurde langsam schal.

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der Tag 2 Die Sonne neigte sich dem Ende des Tages zu, das Abendrot überstrahlte alles. Marta saß mit ihren 72 Jahren auf einer kleinen Bank. Die Arbeit des Tages war getan, befriedigt genoss sie die noch warmen letzten Strahlen dieses Spätsommertages. Spinnwebenartig zogen Fäden durch die Luft, ähnlich ihrem Haar, sie lachte in sich hinein, es war ja auch Altweibersommer. Sie besah sich ihre Hände, noch schmutzig von der Gartenarbeit, und stellte fest, dass man das nicht tut, weil dies Unglück bringt. Ihre Hände waren knochig geworden. Manchmal taten ihr auch die Gelenke weh. Die Wehwehchen kamen und gingen, das war auch manchmal wetterabhängig. Ihr Karl hatte das immer nur abgewehrt, aber Marta wusste, was sie wusste und spürte. Eine Krücke brauchte sie noch nicht, auch wenn das Laufen manchmal schwerfiel. Anderen ging es viel schlimmer, sprach sie zu sich und machte sich Mut. Maria, ihre langjährige Freundin, lag lange Jahre im Pflegeheim. Marta besuchte sie früher jeden Dienstag und trank mit ihr Kaffee, um sie über alle Neuigkeiten zu informieren, auch wenn der Weg beschwerlich war. Aber der Bus war pünktlich und hielt fast vor dem Heim. Das Schicksal, durch Pflege von anderen abhän-gig zu sein, ging glücklicherweise an ihr vorbei. Sollte dies sie einmal treffen, würde sie sich umbringen, das stand für sie fest. Sie steckte ihre rechte Hand in die Tasche ihrer Kittelschürze und beförderte ein Frucht-bonbon zu Tage, den sie sich genüsslich in dem Mund schob. Konnte es etwas Besseres geben? Sie saß im

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Schatten des großen Apfelbaumes und genoss die Restwärme des Tages. Saftige Äpfel hingen noch im Baum und warteten auf die Ernte, Marta würde wieder Einkochen wie auch die vergangenen Jahre, auch wenn jetzt keiner mehr da war, dies alles zu essen, aber es würde schon nicht schlecht werden. Sie beobachtete eine dicke Hummel, die um faulige Äpfel herumflog und sich an den Süßstoffen labte, um dann wieder aufzuflie-gen, um zu ihrer Behausung zurückzukehren. Das Brummen verlor sich im Garten. Der Himmel war strahlend blau. Nur manchmal verirrte sich eine Wolke am azurblauen Firmament. Früher lag sie mit Karl im Gras, auf einer Decke und besah sich den Himmel mit seinen Wolken, um sich dann mit Fantasie vorzustellen, was diese Wolken wohl darstellten. Karl hatte immer mehr Fantasie als sie selbst, aber das war etwas, was sie an Karl so faszinierte. Der Garten war ihr liebster Ort. Mit dreihundert Quadratmetern Größe war er so groß, dass Marta ihn auch noch „beherrschte“, als Karl starb. Früher hatte Karl sich um die Kaninchen und die Hühner gekümmert, aber das ging nicht mehr und das schaffte sie jetzt nicht mehr. Der Garten war struktu-riert, wenig Rasen, wie das die jungen Leute heute zum „chillen“ brauchen, sondern alles Nutzfläche. Dort waren Mohrrüben, dort die Petersilie, hier Kartoffeln und dort noch Gurken und Tomaten. Neben den Johannes- und Brombeersträuchern leistete sie sich nur ein Hobby und das war ihr Blumenbeet mit Astern, Rosen, Gladiolen und Narzissen. Sie genoss den schö-nen fast perfekten Wuchs ihrer Blumen, sie achtete auf die Pflege und spürte den starken Geruch der unter-schiedlichen Blüten. Ein Wirrwarr von Farben, gelb, grün, rot, blau, alles wild durcheinander. Das Haus stand mit der Vorderfront in einer Reihe mit anderen

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gleichgestalteten Gebäuden, die Häuser sahen hier fast alle gleich aus. Karl und seine Freunde haben sich hier zusammengetan und nach der Arbeit mit vielen Kniffen und Tricks und viel eigener Arbeit das Haus gebaut. Das war damals, die DDR gab es noch, aber keine Baumate-rialien. 1972 kämpften sie um jeden Stein, um Zement, Glasbausteine und Glasfliesen. Ein schönes Haus, meinte Marta zu sich und war immer noch in Gedanken an Karl, stolz darauf, das damals geschafft zu haben. Die Geranien auf dem Balkon hingen aus den Kästen und wiegten sich im Wind. Marta würde die abgestorbe-nen Blüten wieder aussortieren müssen. Bei den anderen Häusern sah es ähnlich aus, obwohl manche schon verkauft waren und neue jetzt jüngere Besitzer hatten. Obwohl es schon beschwerlich ist so ein ganzes Haus mit Keller, Erdgeschoß und Oberge-schoß in Schuss zu halten und immer sauber zu ma-chen. Schon das Schlafzimmer im Obergeschoß zu erreichen, war manchmal für Marta nicht leicht, aber so ein lächerlicher Lift kam ihr nicht ins Haus. Mit etwas Anstrengung ging dies schon. Es war ruhig hier drau-ßen, am Rande von Bitterfeld. Hier hatte man immer gearbeitet, das galt auch für die Frauen. Man hatte Eigenheime, einen Garten, alles war irgendwie geregelt. Klar, man bekam nicht alles, doch war das heute besser, wo es nur noch um Geld ging und keiner dem anderen mehr half? Marta war kein Widerständler und lebte mit Karl angepasst in dem jetzt verschwundenen Land. Karl war Mitglied der Partei. Am Anfang noch überzeugt, später dann auch nicht mehr so „straff“. Auf einmal kam sich Marta sehr einsam und allein vor. Die Stille war laut, schreiend und drückend, eine große Last legte sich auf ihre Brust. Sie sah auf ihre Schuhe und bemerk-te, dass diese voll mit Schmutz von der Gartenarbeit

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waren. Sie würde die Schuhe nachher noch sauber machen, einfetten und wieder ordentlich in den Schrank stellen, lenkte sie sich von Unvermeidlichem ab. Paul hatte sich schon lange nicht mehr gemeldet, aber der hatte auch viel zu tun und lebte mit seiner Frau Sarah in Köln. Mit Karl war Marta schon drei Mal dort, eine sehr schöne Wohnung und eine schöne Frau, alles sehr steril. Am meisten belastete Marta, dass sie keine Enkel hatte. Paul und Sarah wollten keine Kinder. Er und seine Frau hätten zu viel Stress, und Kinder kosten Geld und Kinder machen nur Ärger und wir wollen uns erst mal etwas aufbauen…und, und, und. Wie war das eigentlich mit Paul, als wir ihn bekamen, wir brauchten keine Gründe, um ihn nicht bekommen zu müssen? Oft passierte ihr es, wenn sie nicht arbeitete, dass ihre Gedanken in ihre Kinder- und Jugendzeit zurück wan-derten. Es war schon komisch, manchmal war die Kinderzeit und Jugend so real, sie konnte sich klar an alles erinnern, sah die Gesichter vor sich, war Teil früherer Emotionen, da waren Zufall und Glück, Stress, Angst und Trauer aber auch Zuversicht und Hoffnung. Martas Schwiegermutter Doro hatte einen Spruch: „Marta …“, sagte sie, „das Leben geht immer weiter und es wiederholt sich immer wieder.“ Wohl wahr, aber um das verstehen zu können, musste Marta auch erst das Leben erfahren lernen. Lebenserfahrung war auch der Schlüssel dazu, lockerer mit manchen Anforderun-gen umzugehen, die das Leben bereithielt. Aber eine Anforderung, die schwerste, darauf konnte sie sich nicht vorbereiten - alt zu werden, Karl zu verlieren und allein zu sein. Besonders die Einsamkeit machte ihr zu schaf-fen, sie hoffte, nicht verrückt zu werden und entmün-digt im Heim zu landen. Wenn die Stille zu groß wurde, schaltete Sie das Radio oder den Fernseher an oder

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sprach laut mit sich, mit Gegenständen und den Blu-men. Da sie wusste, wie es Maria im Heim ergangen war, war für sie klar: Da geht sie nie hin. Schön sah man als alter Mensch wirklich nicht aus, die Natur trieb da ein grausames Spiel, der alte Mensch hatte seine Schul-digkeit getan.

Mikołajowice/Nikolstadt 3 Sie war nicht hier, in Bitterfeld, geboren, und war, wie man landläufig sagte, durch „die Wirren des Weltkrie-ges“ hierhergekommen. Damals war es ein Dorf weitab vom Schuss, direkt am Fluss gelegen, leichte kleine Hügel, Bäume, wundervol-les Grün, der Duft nach Heu besonders im Sommer. Und auf einmal erschien ihr wieder ihr Zuhause, ihr erstes Zuhause, ehe sie ihr Leben gefunden hatte. Sie erinnerte sich nur wenig an ihre Mutter, und ihr Vater erschien ihr nur schemenhaft. Aber es hatte viel von Sicherheit, die irgendwann verschwand. Mikołajowice, oder wie man sagte Nikolstadt, war eine kleine Stadt in der Gemeinde Legnickie Pole (Liegnitz) in Niederschle-sien, heute Polen. Nikolstadt liegt 12 km südöstlich von Liegnitz und gehört heute zum Powiat Legnicki in der Wojewodschaft Niederschlesien. Marta erinnerte sich noch deshalb daran, weil vieles in Bitterfeld an Nikol-stadt erinnerte. Nikolstadt war mit seinen 2.500 Bewoh-nern nur dem Namen nach eine Stadt. Auch hier gab es leichte flache Hügel und die Liegnitz ein kleines Flüss-

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chen, das der Kreisstadt den Namen gab. Was Bitterfeld hatte und Nikolstadt nicht, war die chemische Industrie. Es war 1940, es war Krieg, ein großer unheilvoller Krieg mit vielen Entbehrungen für alle. Ringsherum nur Wahnsinn, für Marta nicht wahrnehmbar, Marta war noch klein. Die Geburt verlief normal. Die Hebamme aus dem Nachbardorf war schon zeitig da und half. Der Vater betrank sich mit Freunden in der Dorfkneipe. Auf den Schultern der Mutter lastete alles. Die Mutter kümmerte sich um ihren invaliden Mann, eine Kriegsverletzung noch aus dem I. Weltkrieg, und die drei Kinder. Marta war die Jüngste, Gerda war die Mittelste und Gertrud die Große. Gerda war stumm und konnte nur wenig verstehen. Sie lebten in der Heimat, oft gab es nichts oder nur wenig zu essen. Die Mutter machte sich auf, um in den Nachbardörfern Waren zu tauschen oder Essen zu besorgen. Marta spielte mit ihren Schwestern im Hof des kleinen Häuschens, eher eine Kate. Reich war die Familie nie und doch dachte Marta voll Wehmut genau an diese Zeit zurück. Etwas größer spielte Marta oft mit ihren Schwestern, auch mit Gerda. Es spielte keine Rolle, dass Gerda stumm war, Kinder fanden Spiele, bei denen ihre Behinderung keine oder nur eine untergeordnete Rolle spielte. Marta erinnerte sich daran, dass diese Spiele oft mit Fantasie und weniger mit hochwertigem Spielzeug zu tun hatten. Da wurde ein Loch voll Matsch zu einer Küche, in der gekocht wer-den musste und gebacken wurde. Äste und Blätter im Wald wurden Kleider und verwandelten sie in Prinzes-sinnen. Vollkommen sicher und unbeschwert, weit weg vom Krieg. Er fand bei Marta als Kleinkind schlechthin nicht statt. Besonders abends, wenn es ins Bett ging,

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kam die Mutter, legte sich zu ihr ins Bett und erzählte Märchen, Sagen oder einfach nur ausgedachte Ge-schichten. Marta erinnerte sich noch an den Geruch der Mutter, die Wärme des Bettes und das große Glück und die Sicherheit, die sie spürte. Die Geschichten waren so plastisch voller Fantasie erzählt, dass Marta auf Reisen ging. Sie schlief ein, hatte Angst um „Rotkäppchen“ genauso wie um „Die sieben Geißlein“, freute sich über den Stock aus dem Sack aus „Tischlein Deck dich“ und schließlich auch über „Schneeweißchen und Rosenrot“. Ihre Augen wurden schwer und die Reise begann. Als Marta sechs Jahre alt war, verschwand die Mutter, sie war einfach nicht mehr da! Nachts rief Marta oft nach ihr, aber sie war verschwunden. Erst später wurde ihr klar, dass ihre Mutter gestorben war. Sie hat mich im Stich gelassen wie später der Vater und dann auch Karl, dachte sie bitter. Die Mutter konnte nichts dafür, der Krieg, TBC, keine Hilfe, ständige Überlastung, der invalide Mann und dann der Tod. An eine Beerdigung kann sich Marta nicht erinnern. Marta war zu klein und auch ihre Schwestern konnten ihr später nichts sagen. Jetzt war der Vater mit den Kindern allein und versuch-te mit seinen geringen Kräften die Familie aufrecht zu erhalten, aber es half nichts. Auch ihn raffte die Tuber-kulose hin. Sein Tod fiel genau in den Zeitraum der anfänglichen beginnenden Nachkriegszeit. Es war eine Zeit großer Umbrüche. Marta kann sich an den 8. Mai - den Tag der Befreiung - überhaupt nicht erinnern, es war ein Tag wie jeder andere, sie wusste auch nicht, ob ihr Vater es ihr gesagt hatte. Oder hatte sie es vergessen? Und doch spürte sie, dass sich etwas veränderte. Auf einmal waren die drei Kinder allein, auf sich gestellt. Gertrud versuchte mit ihren 16 Jahren etwas „zu regeln“ oder etwas zu essen aufzutreiben. Morgens stellte

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Gertrud Dinge zusammen, die sie aus dem kleinen Haus noch verkaufen konnten, um an Essen heranzukom-men. Gertrud musste sich dann auf den Weg über die Dörfer machen und Töpfe, Pfannen oder „Anziehsa-chen“ bei den Bauern der Umgebung verkaufen. Ger-trud nutzte das alte Fahrrad der Mutter, etwas zu groß, aber es ging, es war besser als laufen. So richtig sitzen konnte sie auf dem Sattel nicht, der war zu hoch. Aber besser war es schlecht zu fahren als gut zu laufen. Marta erinnerte sich noch daran, wie Gertrud einmal voll-kommen aufgelöst nach Hause kam. Wieder war Ger-trud unterwegs, eine lange Straße, die Sonne drückte von oben, heißes trockenes Wetter. Gertrud war schon lange Zeit unterwegs, seit dem frühen Morgen, um es genau zu sagen. Es war schon gegen vier Uhr am Nachmittag und Gertrud auf dem Nachhauseweg. Der Tag war gut verlaufen, Gertrud brachte Brot, Pflau-menmus und Butter mit zurück. Das Fahrrad war voll bepackt, das Fahren war schwierig und klappte nicht so. Da sah Gertrud in der Ferne einen Mann, der lag nur so da, auf der Straße und beobachtete sie scheinbar. Sie musste an ihm vorbei, das war ihr klar. Der Mann tat nichts und lag nur so da, kein anderer Mensch weit und breit, nur der Mann, noch weit weg, ja, aber er lag nur da. Von so weit weg, konnte Gertrud nicht erkennen, was den Mann so bedrohlich machte. Das Wetter schlug um, auf einmal, Gertrud wusste nicht woher, bildeten sich Wolken, immer mehr dunkle, bedrohliche Wolken. Sie trat in die Pedalen, um vorwärts zu kommen und das Bedrohliche hinter sich zu lassen. Je näher sie kam, desto deutlicher wurde der Mann, der Mann war Tod. Er lag in verrenkter Pose auf der Erde, der Mann war umgefahren wurden oder von einem LKW geworfen wurden, das wusste Gertrud nicht. Aber sie hatte Angst.

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Ihre erste Leiche, obwohl es davon im Krieg genug gab. Der Tod war normaler Begleiter des Lebens, aber noch nicht für uns Kinder. Gertrud hielt an und stieg vom Rad, Sie sicherte das Fahrrad so, dass es nicht umfallen konnte, in dem Sie den kleinen Ständer aus fuhr und das Rad darauf abstützte. Langsam ging sie auf den Mann zu, fand einen Stock, den sie mit zu dem Mann nahm. Vorsichtig stupste sie ihn an, da kippte der Leichnam um. Gertrud schrie laut auf, das Gesicht des Toten blutig, der Kiefer abgerissen, zwei aufgerissene vor-wurfsvolle Augen blickten Gertrud an. Gertrud hörte nicht auf zu schreien, rannte zum Fahrrad und fuhr so schnell sie konnte nach Hause. Zu Hause angekommen, versteckte sie sich hinter dem Ofen, winselnd, jaulend, immer erschreckt zur Tür sehend. Gertrud tat Marta leid, sie erinnerte sich, wie sie zu Gertrud kroch und versuchte sie zu beschützen vor einer für sie fiktiven unbekannten Gefahr. Irgendwer hatte den Vater beerdigt. Um die Kinder kümmerte sich keiner. Keiner war verantwortlich, die Nazis waren weg und die Polen waren damit beschäftigt, unliebsame Deutsche ausfindig zu machen und diese aus ihren Häusern zu vertreiben. Von den Russen spürten die Kinder nichts, obwohl die Eltern viel von ihnen erzählt hatten, aber alles hatte mit Angst zu tun. Sie waren nur etwas Kleines, etwas was keiner wahr-nahm, etwas, was unwichtig war. Eine Masse an Mensch, die man hin und her schieben konnte, wie man wollte. Sie erinnerte sich an große Ängste aller und den unsäglichen Hunger. Irgendwann war auch das letzte Essen alle. Wie weiter, wusste keiner. Abends schliefen die Mädchen alleingelassen in der Kate zusammenge-kauert in einem Bett ein.

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4 Genau in dieser Zeit, es war Ende Mai 1946 stand ein großer, starker, behaarter Pole mit einem riesigen Mes-ser in der Tür ihres kleinen Hauses und sprach in gebro-chenem Deutsch: Alles mitnehmen! Die Angst bei Marta und ihren Geschwistern war riesengroß, dachten sie doch, dass der Tod kommen würde. Doch dem war nicht so, es stimmte, der Mann war roh und nur am Haus und Grundstück interessiert und wollte uns „deut-sche Brut“ nur loswerden, doch er brachte uns nach Liegnitz. Drei kleine hilflose Mädchen, wir bestanden nur aus Angst. Jedes hatte einen Beutel mitgenommen. Marta nahm noch ein kleines Madonnenbild und das Hochzeitsfoto ihrer Eltern mit. Der Pole trieb sie vor sich her, an einen Bus war nicht zu denken und der Weg war für unsere Kinderfüße zu weit und zu beschwerlich. An der Kreuzung zu Liegnitz hielt glücklicherweise ein Heuwagen mit zwei Pferden, der uns nach langer Dis-kussion mit dem Polen mitnahm. Irgendwie, erinnerte sich Marta, hörte sie immer noch Worte wie „ger-mansky, deutsch, müssen weg“ und immer noch spürte Marta die Angst vor den Russen. Der Vater hatte vor den Russen immer gewarnt und in schlimmsten Bildern gemalt, was die Russen taten. Alles begriff Marta damals nicht, aber es musste etwas Schlimmes gewesen sein. Ein paar Kilometer vor Liegnitz ließ der Pole uns an einer Wegkreuzung absitzen und allein weiterlaufen, es war schon sehr spät und dunkel. Sie waren sich einig, dass sie in dem kleinen Wäldchen sicherlich ein Plätz-chen zum Schlafen finden würden. Das Wäldchen war nicht sehr groß, vielleicht zweihundertfünfzig m im Quadrat. Ein kleiner Weg führte von der Straße direkt in das Wäldchen hinein. Als sie in der Mitte des Wäld-

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chens ankamen, fanden sie eine kleine Lichtung, und genau hier schlugen sie ihr Lager auf. Der Mond stand schon hoch am Himmel und leuchtete uns etwas. Voll-mond. Unsere Taschen dienten uns als Kopfkissen, unsere Mäntel waren unsere Decken. Und in Begleitung von Hunger und Durst schliefen wir ein. Der nächste Tag weckte uns mit lautem Geschrei und Gebrüll. Noch jetzt zuckte Marta zusammen, wenn sie nur daran dachte. Alles war so plastisch. Tränen traten ihr in die Augen. Die traurige Erkenntnis, nichts getan zu haben oder nichts tun zu können. Nur noch Hilflosigkeit, denn das Schlimmste, was wir uns vorstellen konnte, war passiert. Um uns standen Russen herum, auf der Straße nach Liegnitz marschierten Kolonnen russischer Soldaten mit Panjewagen, Haubitzen, LKW und Panzern T-34. Der Lärm war jetzt ohrenbetäubend. Warum war uns das nicht aufgefallen? Wir schliefen wahrscheinlich wie betäubt, vollkommen überlastet. Marta erinnerte sich, dass ihr die Haare zu Berge standen, die blanke Angst und das blanke Entsetzen steuerten jetzt auf einmal ihr noch kurzes Leben. Marta war klar, dass sie gleich sterben würde. Fünf Männer in verschlissener Kleidung, nach Machorka riechend, standen vor Ihnen. Marta weckte die anderen, die genauso entsetzt waren, wie sie selber. Die Mädchen rückten eng zusammen, um sich zu schützen. Die Männer hatten Fußlappen an, sahen ungewaschen aus, manche trugen Verbände von Ver-wundungen. Woher die Männer kamen, von welchem Truppenteil, das wussten sie nicht, sagte Marta zu sich. Aber dass dies die gefürchteten Russen waren. (Später sollte Marta dann von der Sowjetunion lernen, denn dass hieße wohl „siegen lernen“ und „den Sozialismus aufbauen“.) Doch das spielte damals in dem kleinen Wäldchen bei Liegnitz keine Rolle. Marta sah vor sich

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wilde Männer mit geilen Blicken, doch diese Blicke galten nicht ihr, auch nicht Gerda, sondern nur Gertrud. Gertrud mit ihren sechzehn Jahren begann sich zu entwickeln, im Leben die beste Zeit schrittweise er-wachsen zu werden, sich selbst auf das andere Ge-schlecht aufmerksam zu machen, mit Jungen zu flirten und erste Erfahrungen in der Liebe zu sammeln. Lang-sam und Schritt für Schritt. Doch so verlief das Leben an diesem Tag im Jahr 1946 nicht. Gierig betrachteten die Männer Gertrud mit ihren sich abzeichnenden Brüsten unter der Bluse, den Rock, vom Schlafen etwas hochgerutscht, und ihre vermeintli-chen sinnlichen Lippen. Aber war das nicht egal bei diesen ausgehungerten Männern. Zwei der Männer zogen Gertrud hoch und fingen an, sie anzufassen, wir anderen zwei schrien so gut es ging, aber die Männer lachten nur und machten anzügliche Gesten, die Marta damals nicht verstand. Gertrud stand da wie gelähmt und konnte nichts sagen. Gertrud dachte, sie stürbe, die Scham im Gesicht. Schnell zogen die zwei Männer Gertrud von uns weg, wir wollten hinterher, aber die anderen Männer hielten uns fest. Marta bekommt noch heute Brechreiz, wenn sie an den Geruch nach Machor-ka, ungewaschenen Männerkörpern und billigem Wodka dachte. Auch wenn Karl betrunken zu ihr kam, ging nichts mehr. Sofort war die Situation wieder da. Gertrud fing an, um Gnade zu flehen und ging auf die Knie. Das interessierte die Männer jedoch nicht im Mindesten, sie zogen ihre „Beute“ ins benachbarte Unterholz. Marta wollte nur, dass alles aufhörte, das Knacken des Holzes, das Schreien von Gertrud, die

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brünstigen Schreie der Männer, die vor Geilheit triefen-de Blicke der anderen Bewacher. Marta hielt sich die Ohren zu, die Augen fest geschlossen, um alles draußen zu lassen. Die Mädchen weinten, Gertrud ließ die Stöße über sich ergehen ohne Gegenwehr. Irgendwann, irgendwie musste es aufhören. Aber es hörte nicht auf, 3 Männer ergossen sich in ihr mit ihrem schmutzigen Samen, schlugen sie, wenn sie sich doch wehrte. Ihr Gesicht war tränenverschmiert. Es hört nie auf, davon war Marta überzeugt, diese Tortur vernichtete ihr Kindsein. Das Grundvertrauen war verschwunden, nicht mehr existent. Auch später sollte ihr diese Erfah-rung noch das Leben schwer machen. Dann Schüsse in die Luft, vor Ihnen stand ein russischer Unteroffizier mit einem dieser typischen Maschinengewehre vom Typ PPSh 41 mit dem Trommelmagazin in der Hand. Der Unteroffizier rief russische Worte, die Marta nicht verstand. Die Männer maulten, doch der Unteroffizier schoss wiederholt in die Luft. Dann zogen sich die Männer, die Gertrud vergewaltigt hatten, an und stan-den auf. Sie ließen Gertrud liegen. Wer war schuld an allem, waren Marta, Gerda oder Gertrud Schuld an dem, was ihnen passierte? Waren sie schuld am Krieg? Vielleicht auch am Elend der russi-schen Soldaten, weit weg von ihrem zu Hause, von ihren Familien? Oder gab es keine Familie mehr? Waren Kinder, Frauen, Verliebte und Großeltern tod? Rache? Sie ließen Gertrud liegen wie ein Stück Dreck, benutzt, abgearbeitet, die Triebe der Männer befriedigt, Gertrud schwer innerlich verletzt, innerlich war körperlich und auch psychisch. Der Unteroffizier und seine Männer zogen ab, sich gegenseitig noch für die Vergewaltigung lobend und auf die Schulter schlagend. Als wäre nichts

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