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Historische Semantik

Herausgegeben von

Bernhard Jussen, Christian Kiening, Klaus Krüger

und Willibald Steinmetz

Band 15

Vandenhoeck & Ruprecht

ISBN Print: 9783525367148 — ISBN E-Book: 9783647367149© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen

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Marina Münkler

Narrative Ambiguität

Die Faustbücher des 16. bis 18. Jahrhunderts

Vandenhoeck & Ruprecht

ISBN Print: 9783525367148 — ISBN E-Book: 9783647367149© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind

im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISBN 978-3-525-36714-8 ISBN 978-3-647-36714-9 (E-Book)

Umschlagabbildung: Fausts Teufelspakt / Titelholzschnitt 1588 © akg-images

© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen/ Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Oakville, CT, U.S.A.

www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt.

Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany.

Gesetzt in der Andron © Andreas Stötzner.

Druck und Bindung: Hubert & Co, Göttingen

Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

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Inhalt

Vorwort ................................................................................................... 9

1. Einleitung ........................................................................................ 11

Stoffe und Transformationen ......................................................... 11

Intertextualität, Hypertextualität und Transformation ................. 16

Identität, Individualität, Subjektivität ............................................. 23

Narratologische Aspekte der Analyse ............................................ 36

2. Faustus als Exemplum eines verfehlten Lebens ............................. 43

Ein Exemplum menschlicher Verworfenheit ................................. 43

Negative Beispiele: Die Prätexte der Historia ............................... 46

Selektion und Kombination .............................................................. 51

Narrativik und Systematik: Zur Funktionalität von Exempeln .... 61

Die rhetorische Tradition ......................................................... 62

Typisierung durch exempla ....................................................... 64

Exempel im Kontext religiöser Unterweisung ........................ 65

Transgression des Exempels durch das Exempel ........................... 68

Heterologe Prätexte, Intertexte und fiktive Figuren ..................... 70

Heterologe Prätexte der Historia ............................................. 70

Doppelter Intertext: Luthers Tischreden ................................ 78

Frei erfunden: Mephostophiles ............................................... 84

3. Vom Exemplum zur biographischen Erzählung ............................ 87

Der Aufbau der Historia ................................................................. 87

Die syntagmatische Funktion der Semantiken ............................ 100

Zauberei oder Schwankhaftigkeit ................................................. 114

Historia – Der Wahrheitsanspruch und seine Konsequenzen ... 120

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6 Inhalt 4. Das narrative Muster legendarischen Erzählens .......................... 125

Das legendarische Muster und Faust als Antiheiliger ................. 126

Zum Problem der Antilegende ..................................................... 128

Legende und legendarisches Erzählen im Mittelalter .................. 132

Protestantische Legendenkritik und Bekennerhistorie ............... 134

Antilegende und Legendenkontrafaktur ...................................... 142

Bekenntnis, Geständnis und die Sünderheiligenlegende ............. 146

5. Die Transformationsleistungen der Faustbücher ........................ 149

Wolfenbütteler Handschrift und Historia ................................... 149

Die unterschiedlichen Druckfassungen der Historia ................... 153

Der Tübinger Reimfaust ................................................................ 160

Das English Faustbook .................................................................... 163

Georg Rudolff Widmans Warhafftige Historien ........................... 167

Christian Nikolaus Pfitzers Das ärgerliche Leben ........................ 182

Das Faustbuch des Christlich Meynenden ...................................... 186

6. Identitäre Semantiken ................................................................... 193

Faustus der Zauberer .................................................................... 193

Die rezeptionssteuernden Paratexte: Titel und Vorreden .... 193

Faustus und das Zeitalter der Hexenverfolgung .................... 198

Die Ausbildung des kumulativen Hexenbegriffs ................... 200

Die Macht des Teufels und die Zulassung Gottes ................ 202

Definitionen von Hexerei ...................................................... 206

Die vorgesehenen Strafen für das crimen magiae ................... 209

Die Verfolgungswellen ........................................................... 210

Fausts Delikte ......................................................................... 212

Religiöse und moralische Kommunikation ............................ 221

Faustus der Curiosus ..................................................................... 228

Immanenz, Transzendenz und curiositas ............................... 228

Wechselnde Semantiken von curiositas ................................. 231

Curiositas als unverzichtbare identitäre Markierung? ........... 236

Die Polysemie des curiositas-Begriffs in den Faustbüchern .. 241

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Inhalt 7

Höllische Belehrungen ........................................................... 245

Autopsie und Erfahrung ......................................................... 250

Humanistische Erfahrung und faustische Unlust .................. 253

7. Individualität: Fausts Sozialbeziehungen ..................................... 259

Herkunft, Familie und Erziehung ................................................ 260

Verhandlungen mit dem Teufel ................................................... 265

»Lieber was machstu aus Dir selbs« ............................................. 270

Die Semantik von Karriere ........................................................... 277

Begehren, Liebe und Ehe .............................................................. 284

8. Faustus der melancholicus ............................................................. 294

Faustus und der Melancholiediskurs der Frühen Neuzeit .......... 296

Melancholie als Krankheit ............................................................ 297

Die genialische Melancholie ......................................................... 301

Acedia und Melancholie ............................................................... 305

Gewissen und Anfechtung ............................................................ 307

Isolation und Verzweiflung .......................................................... 312

Dem Leid eine Sprache geben: Aufschreiben und Mitteilen ...... 313

Thematisierung des Selbst: Bekenntnis und Geständnis ............. 317

Literaturverzeichnis ............................................................................ 327

Primärliteratur ............................................................................... 327

Faustbücher ............................................................................. 327

Wagnerbuch ............................................................................ 328

Andere Quellen ....................................................................... 328

Bibliographien, Druckverzeichnisse ............................................. 333

Forschungsliteratur ....................................................................... 334

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Vorwort

Die vorliegende Untersuchung wurde im Sommersemester 2007 von der Philosophischen Fakultät II der Humboldt-Universität zu Berlin als Habili-tationsschrift angenommen. Für die Drucklegung habe ich sie überarbeitet, neuere Forschungsliteratur konnte ich jedoch nur teilweise berücksichtigen.

Für Unterstützung, Anregung und Kritik bin ich verschiedenen Personen und Institutionen zu großem Dank verpflichtet, die ich an dieser Stelle ger-ne anführe: Zu allererst möchte ich meinen akademischer Lehrer Werner Röcke nennen, der die Untersuchung nicht nur in allen Phasen mit Interesse begleitet hat, sondern mich als Assistentin an seinem Lehrstuhl auch durch Anregung und intellektuellen Austausch in vielfältiger Weise gefördert hat. Jan-Dirk Müller hat die Arbeit nicht nur als Gutachter aufmerksam gelesen, sondern mir auch Gelegenheit gegeben, Teile daraus in seinem Kolloquium zur Diskussion zu stellen. Seine zahlreichen Schriften zu den Faustbüchern haben mir darüber hinaus wertvolle Anregungen vermittelt. Sabine Meurer und Björn Menrath haben das Manuskript vor dem Einreichen der Habilita-tionsschrift Korrektur gelesen, Karina Hoffmann hat damals die Korrektu-ren souverän zusammengeführt und übertragen. Hans Grünberger hat es in der frühen Phase der Untersuchung mit zahlreichen Hinweisen aus dem Schatz seiner vielfältigen Interessen und seiner bibliophilen Kenntnisse un-terstützt. Denise Theßeling und Anja Swidsinki haben die Druckvorlage dann noch einmal aufmerksam gelesen, korrigiert und durch ihre Nachfra-gen verbessert. Vielfach unterstützt hat mich Bob Göhler, der die Untersu-chung nicht nur in verschiedenen Phasen kritisch gelesen, sondern auch mit großer Sorgfalt für den Druck gesetzt hat. Ihnen allen möchte ich sehr herz-lich danken.

Danken möchte ich auch dem Herausgebergremium der Reihe »Histori-sche Semantik«, insbesondere Christian Kiening, der das Manuskript auf-merksam gelesen und durch kluge Ratschläge seine Überarbeitung unter-stützt hat. Der Lektorin des Verlags Vandenhoeck & Ruprecht, Ulrike Blech, danke ich für die angenehme und professionelle Kooperation und ih-re Geduld und Nachsicht mit unvermeidlichen Terminverschiebungen. Der Technischen Universität Dresden, an der ich seit Januar 2010 als Professorin für Ältere und frühneuzeitliche Literatur tätig bin, gebührt mein Dank für die Gewährung eines Druckkostenzuschusses aus den Mitteln des Professo-rinnenprogramms des Bundes und des Landes Sachsen.

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10 Vorwort Der wichtigste Begleiter dieser Arbeit war einmal mehr mein Ehemann Herfried Münkler, der mich durch alle Zweifelhaftigkeiten und Untiefen des Denkens begleitet und intellektuell stets unterstützt hat. Ihm ist das Buch in großer Dankbarkeit gewidmet.

Dresden und Berlin im Juli 2011

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1. Einleitung

Stoffe und Transformationen

Dass die Geschichte des Teufelsbündners Johannes Faustus im Laufe ihrer Tradierung schon unmittelbar nach ihrem ersten Erscheinen im Druck zahl-reichen Veränderungen unterzogen worden ist, gehört zu den Standardfest-stellungen der Forschung. Diese Veränderungen sind bereits in den Editio-nen des 19. Jahrhunderts, insbesondere in den Einleitungen, Vor- oder Nachworten, in Umrissen beschrieben worden.1 Freilich hat dies kaum eine systematische Behandlung der Frage nach sich gezogen, was dies für die Konstitutionsbedingungen und die Identität der Faust-Figur bedeutet. Man hat die Veränderungen eher konstatiert als systematisch beleuchtet. Ent-scheidend ist jedoch zu fragen, inwiefern und inwieweit Transformationen der Texte die eingesetzten Semantiken und die Beschreibung der Figur transformiert haben, wo sich die an die Figur angeschlossenen Semantiken demgegenüber als sperrig erwiesen haben, welche Transformationen erfolg-reich waren und welche nicht. Diese Fragen sind bislang nicht systematisch verfolgt worden.

Hinzu kommt, dass die Forschung über die Faustbücher sehr ungleich ver-teilt ist: Zur Historia von D. Johann Fausten gibt es mittlerweile eine relativ umfangreiche Forschung, während die anderen Bearbeitungen – die beiden Druckfassungen B und C der Historia, die Wolfenbütteler Handschrift, der Tübinger Reimfaust, insbesondere aber die Faustbücher von Widman und Pfitzer – wenig Interesse gefunden haben. Völlig vernachlässigt hat die ger-manistische Forschung leider die bereits 1588 unter dem Titel History of the ————— 1 Hier ist insbesondere die – freilich um die »Anmerckungen« gekürzte – Pfitzer-Ausgabe von

Heinrich Düntzer (1888) zu nennen, der in der Einleitung die vorgenommenen Veränderun-gen in großen Teilen aufgeführt hat. Vgl. ed. Düntzer, S. 13-30. Zu erwähnen ist auch Robert Petschs Ausgabe (21911) der Historia. Petsch konzentriert sich allerdings auf die Fragestel-lung, wie der von ihm angenommene lateinische »Urtext« des Faustbuches ausgesehen habe, weswegen er die Veränderungen innerhalb der Faustbücher vorwiegend unter dem Aspekt betrachtet, was unmittelbar auf diesen Text zurückgehen könnte. Teilweise operiert er dabei mit erstaunlichen Annahmen, wenn er etwa die bei Widman angeführten zahlreichen Augen-zeugen als tatsächliche Autoren dieser ersten Faust-Vita annimmt. Vgl. ed. Petsch, Einlei-tung, S. XV-XVIII. Insbesondere Julius Dumke hat in seiner Dissertation von 1891 (vgl. Die Deutschen Faustbücher) die Veränderungen von der Historia über Widman und Pfitzer bis hin zum Faustbuch des Christlich Meynenden relativ detailiert beschrieben, wobei er jedoch nur die narrativen Teile berücksichtigt und vergleichend zusammengefasst hat.

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12 Einleitung Damnable Life and Deserved Death of Doctor John Faustus erschienene engli-sche Übersetzung des Erstdrucks, die zu den frühesten Transformationen gehört. Das ist umso bedauerlicher, als das English Faustbook eine der unter semantischen Aspekten interessantesten und überdies einflussreichsten Transformationen war.2

Dieses Ungleichgewicht hängt nicht zuletzt damit zusammen, dass die Historia als die wirksamste Fassung der Faust-Vita betrachtet wird.3 Spätes-tens seit Barbara Könnekers entschiedenem Einwand gegen eine Lektüre, die den Prosaroman des 16. Jahrhunderts an Goethes Faust misst, wird ihr zudem zumindest stellenweise durchaus beachtliche literarische Qualität zu-erkannt.4 Die Wolfenbütteler Handschrift hingegen ist in der Regel lediglich unter der philologischen Fragestellung betrachtet worden, ob ihr oder dem bei Spies erschienenen Erstdruck die Krone der ersten literarischen Fassung des Stoffes gebühre.5 Von den erweiterten Druckfassungen B und C wur-den lediglich die Zusatzkapitel an die Editionen des bei Johann Spies 1587 erschienen Erstdrucks angehängt; eine eigenständige Forschung fand zu

————— 2 In England war sie nicht nur die Vorlage für Marlowes Tragicall History of Doctor Faustus, son-

dern auch für mehrere weitere Bearbeitungen, zu denen auch ein 1594 erschienenes, unabhän-gig von der deutschen Tradition entstandenes, Wagnerbuch gehört. Das English Faustbook hat also eine eigenständige englische Faust-Tradition begründet, die in der deutschen Forschung so gut wie nicht zur Kenntnis genommen worden ist. Interessiert hat man sich lediglich für die von englischen Schauspieltruppen auf dem Kontinent gespielten dramatischen Bearbei-tungen, weil sie als Vorlage für Goethes Faust eine gewisse Rolle gespielt haben.

3 Das zeigt sich auch in der Editionspraxis: Der schon in zahlreichen älteren Editionen vorlie-gende Erstdruck der Historia wurde 1988 und 1990 gleich in zwei kritischen, hohen Ansprü-chen genügenden Editionen (hg. von Stephan Füssel und Hans-Joachim Kreutzer sowie von Jan-Dirk Müller) vorgelegt, denen sich kürzlich noch eine Ausgabe der C-Fassung (hg. von Peter Philipp Riedl) hinzugesellt hat, während der Reimfaust und die Widman’sche Bearbei-tung sowie das Faustbuch des Christlich Meynenden nur in Faksimiledrucken vorliegen, die Pfitzer’sche Bearbeitung lediglich in der Ausgabe von Adalbert Keller aus dem Jahre 1880. Nur das English Faustbook hat 1994 (hg. von John Henry Jones) eine den Ausgaben von Füs-sel/Kreutzer und Müller vergleichbare kritische Editon erfahren, die aber in Deutschland kaum zur Kenntnis genommen worden ist.

4 Vgl. Barbara Könneker, Faust-Konzeption und Teufelspakt. Könneker hat von dieser positi-ven Einschätzung allerdings den sog. ›Schwankteil‹ ausgenommen; nichtsdestoweniger kommt ihr das Verdienst zu, die eigenständige Beurteilung der Historia durchgesetzt zu haben. Die ältere Forschung hat dagegen, sieht man von Gustav Milchsack ab, die Historia bestenfalls für einen bescheidenen Text gehalten, der nur insofern Interesse verdiente, als er einem der be-deutendsten Werke der Weltliteratur die Bahn geebnet hat. Legendär sind etwa die negativen Einschätzungen der Historia durch Wilhelm Scherer, der in der Einleitung zu seiner Ausgabe (vgl. ed. Scherer, S. iiif.), den Verfasser als »Stümper« bezeichnet hat, »dem so ziemlich alle die Eigenschaften fehlten, die man vom bescheidensten Schriftsteller verlangen darf«.

5 Immerhin ist die Wolfenbütteler Handschrift schon einige Zeit nach ihrer Entdeckung von Gus-tav Milchsack 1892 ediert und 1963 von Harry G. Haile erneut herausgegeben worden. Haile hat seine Editon 1995 in einer revidierten, stärker diplomatisch orientierten Ausgabe vorgelegt. Er hat immer wieder beklagt (vgl. die Einleitungen zu seinen Editionen), dass die Wolfenbütteler Handschrift – zu Unrecht, wie er betonte – stets im Schatten des Drucks gestanden habe.

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Stoffe und Transformationen 13

ihnen dementsprechend auch so gut wie nicht statt.6 Aufmerksamkeit zogen sie nur insofern auf sich, als sie zu belegen schienen, dass der Text gegen die theologische Intention des Verfassers gelesen wurde, denn sie erweiterten den A-Text um eine Reihe von Exempeln, die dem sogenannten ›Schwank-teil‹ zugeschlagen wurden. Das English Faustbook hat, wie der Herausgeber der kritischen Edition von 1994 John Henry Jones konstatierte, sowohl in Deutschland als auch in England »little scholarly attention« auf sich gezo-gen, obwohl es die unmittelbare Vorlage für Marlowes Tragicall History of Doctor Faustus war.7 »As a translation it has escaped consideration either as an English prose romance or as a literary creation in its own right, perhaps because the author’s achievement in rendering and modifying his German source has not fully been appreciated.«8

Der Tübinger Reimfaust galt durchweg als literarisch wenig anspruchsvol-les, in den im 16. Jahrhundert üblichen Knittelversen rasch ›zusammenge-schustertes‹ Machwerk, mit dem sich der Tübinger Verleger Alexander Hock an den buchhändlerischen Erfolg der Erstausgabe anzuhängen versuchte.9

Die Krone forscherischen Desinteresses und erklärten Widerwillens er-rangen allerdings die Bearbeitungen von Widman und Pfitzer, denen bis heu-te der Makel anhaftet, ihre Faustbücher seien dogmatisch und langweilig bis unlesbar. So hat etwa Eliza M. Butler ihre Beschreibung des Widman’schen Faustbuches mit »A fanatic’s Faust« überschrieben und ihre Ausführungen mit der Behauptung eröffnet, »in 1599 an almost deadly blow was dealt to the legend by Georg Rudolf Widman«.10 Erst in der jüngsten Forschung haben Widman und Pfitzer eine gewisse Beachtung gefunden, so etwa bei Gerhild Scholz Williams unter Bezug auf den Diskurs über Hexerei und Zauberei, bei Jan-Dirk Müller im Hinblick auf die Semantik von curiositas und bei Luigi Tacconelli, ebenfalls unter dem Aspekt von Zauberei und Hexerei so-wie der Perhorreszierung weiblicher Sexualität.11 Erst recht ist in den meisten Untersuchungen zum sogenannten ›Faust-Stoff‹ – öfter auch als ›Faust-Mythos‹ oder ›Faust-Legende‹ bezeichnet – den ————— 6 Eine Ausnahme bildet Peter Philipp Riedls Aufsatz, »prodesse et delectare«. Riedl hat kürz-

lich auch eine kritische Ausgabe des C-Druckes vorgelegt. Vgl. Historia C, ed. Riedl. 7 John Henry Jones, Einleitung zu: English Faustbook, ed. Jones, S. IX. 8 Ebd. 9 Vgl. das Nachwort von Günther Mahal in: Reimfaust, ed. Mahal. 10 E. M. Butler, The Fortunes of Faust, S. 22; vgl. zur Etikettierung Widmans auch ed. Petsch,

Einleitung, S. XII. 11 Vgl. Scholz Williams/Schwarz, Existentielle Vergeblichkeit, S. 109-144; Scholz Williams,

Faust as Witch; dies., Semiotics and the Magic Sign; J.-D. Müller, Ausverkauf menschlichen Wissens; Tacconelli, Faust. Reise in die Kulturalität. Zwar haben sich schon im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert zwei Dissertationen mit Widmans Bearbeitung im Vergleich zur Historia beschäftigt, sie sind aber beide unveröffentlicht geblieben (vgl. Dumcke, Faustbücher sowie Dirks, Über Widmans Volksbuch). Das gilt auch für Inge Gaertners Dissertation Volksbücher und Faustbücher (Göttingen 1951).

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14 Einleitung Faustbüchern nur wenig Aufmerksamkeit gewidmet worden. Die stoffge-schichtlich orientierten Untersuchungen waren in der Regel zu stark dia-chron angelegt und zu sehr an den ›Höhepunkten‹ der Stoffgeschichte inte-ressiert, als dass sie die teilweise subtilen Transformationen innerhalb der Tradition der Faust-Prosaromane des 16. und 17. Jahrhunderts genauer hät-ten beschreiben oder gar deuten wollen.12 Zweifellos hat die Stoffgeschichte als Geschichte einer Figur mit weltliterarischem Ruhm, deren Reiz als Ge-genstand neuer Bearbeitungen bis heute unerschöpflich zu sein scheint, ihren Sinn und ihre Berechtigung. Aber Stoffgeschichte darf nicht dazu verleiten, Faustus grundsätzlich nur als Stoff für immer neue Werke in den verschiedenen literarischen, musikalischen und künstlerischen Gattungen zu betrachten und darüber die Bezugnahmen und Abgrenzungen innerhalb der textuellen Tradition zu ignorieren.

Bei der Untersuchung der in den Faustbüchern erbrachten Transformati-onsleistungen kann es nicht darum gehen, zu zeigen, wie sich die einzelnen Autoren am Faust-Stoff abgearbeitet haben. Die überlieferten Prosaromane über Fausts Leben und Sterben, deren Reihe mit einem nicht überlieferten Faustbuch beginnt, auf das die Wolfenbütteler Handschrift und die editio princeps von 1587 zurückgehen,13 und mit dem Faustbuch des Christlich Mey-nenden von 1725 endet, tradierten nicht einfach denselben Stoff. Vielmehr ha-ben Ihre Autoren sich implizit wie explizit an ihren Vorgängern abgearbeitet, haben ausgelassen und hinzugefügt, erweitert und gekürzt, substituiert und korrigiert, modifiziert und kommentiert. Kurzum: Sie haben Texte transfor-miert, nicht einen Stoff tradiert.

Die im Prozess der Transformation vollzogenen Veränderungen sind über-aus aufschlussreich, um die Faustus in den jeweiligen Erzählungen zugewiese-ne Identität zu beobachten. Veränderungen lenken häufig überhaupt erst den Blick auf das, was gegeben ist. Manches bliebe unbeachtet, wenn es nicht einer der Verfasser oder Herausgeber verändert hätte. Wer etwas verändert, dem ist etwas aufgefallen – etwas, das er für langweilig, überflüssig, verbesserungsbe-

————— 12 Vgl. Kreutzer, Faust. Mythos und Musik; Negt, Die Faust-Karriere; Freschi (Hg.): La Storia

di Faust nelle Letterature europee; von Engelhardt, Der plutonische Faust; Boerner/Johnson (Hg.): Faust through Four Centuries; Möbus/Schmidt-Möbus/Unverfehrt (Hg.): Faust. An-näherung an einen Mythos; Csobadi (Hg.): Europäische Mythen der Neuzeit: Faust und Don Juan; Grim, The Faust Legend in Music and Literature; Hucke, Figuren der Unruhe; Smeed, Faust in Literature; Butler, The Fortunes of Faust; Wegner, Die Faustdarstellung vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Zur Stoffgeschichte vgl. auch Henning, Einleitung zu: ed. Henning 1979, S. LVIIIff.

13 Dass es eine solche Erzählung vor der Wolfenbütteler Handschrift gegeben haben muss, bele-gen zahlreiche philologische Indizien. Insbesondere Widmans Text nimmt in dieser Indi-zienkette eine Schlüsselstelle ein, denn er geht zwar einerseits offenbar auf den C-Druck zu-rück, integriert andererseits aber zwei Kapitel, die sonst nur aus der Wolfenbütteler Hand-schrift bekannt sind, welche er kaum gekannt haben kann. Siehe dazu ausführlich Kap. 5.

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Stoffe und Transformationen 15

dürftig, irritierend, beunruhigend oder inakzeptabel hielt. Insofern markieren Transformationen der Erzählung nicht zuletzt den Kampf um die Deutungs-hoheit gegenüber der Figur.

Gerade unter dem Aspekt der Transformation vollzieht bereits das erste Faustbuch gegenüber den zuvor umlaufenden Exempeln über Faustus einen qualitativen Sprung. Von der Historia bzw. der ersten vollständigen Vita näm-lich ist die Gestalt in ihrem Ursprung nicht leicht abzulösen; wie viele Nachrich-ten und exemplarische Geschichten es vorher auch immer gegeben hat, letztlich ist Faustus eine Erfindung des ersten Faustbuch-Autors. Das begründet sich zu-allererst darin, dass er Faustus mit den zentralen und umkämpften Semantiken verknüpft hat, in denen problematische Identität in der Frühen Neuzeit verhan-delt wurde: curiositas, Melancholie und Gewissen. Aus der vorhergehenden Exempeltradition hat der Faustbuchautor nur eine, wenngleich für die Figur nicht minder bedeutsame Semantik übernommen: Zauberei. Diese Semantik war andeutungsweise mit einer weiteren verknüpft, jener der Karriere. Dagegen war Melancholie in den zuvor erzählten Exempeln bestenfalls bei den wenigen Hinweisen auf Fausts Ende angedeutet, und curiositas spielte überhaupt keine Rolle. Zwischen den Semantiken dieser extrem aufgeladenen Begriffe aber ent-faltet sich Fausts Identität.

Eine Arbeit, die gezielt anhand bestimmter, in den Faust-Büchern verhan-delter Problemstellungen und Themenkomplexe die Transformationen inner-halb dieses Korpus untersucht und analysiert, ist bislang jedoch Desiderat ge-blieben. Diese Lücke will die nachfolgende Untersuchung zu schließen helfen.

Nur am Rande gehe ich dabei auf den historisch belegten Magier Georgius Faustus und dessen Transformation zum Doktor Johannes Faustus der protes-tantischen Exempelsammlungen ein. Die wenigen Nachrichten über den histo-rischen Faustus sind vergleichsweise gut untersucht; ihnen soll hier nur inso-fern Aufmerksamkeit gewidmet werden, als sie auf die Transformationsprozes-se innerhalb der Tradition der Faustbücher unmittelbaren Einfluss gehabt haben.14

————— 14 Zum historischen Faust vgl. Mahal (Hg.), Der historische Faust; ders., Faust. Die Spuren ei-

nes geheimnisvollen Lebens. Mahal geht es in erster Linie darum, die Bedeutsamkeit des his-torischen Faust gegenüber dem literarischen Faust aufrechtzuerhalten und Knittlingen, den Ort des von ihm lange Jahre geleiteten Faust-Museums und des Faust-Archivs, als Geburtsort des frühneuzeitlichen Magiers mit weltliterarischer Auszeichnung festzuschreiben. Dagegen hat Frank Baron die These vertreten, der Name »Georgius Sabellicus Faustus iunior«, der in mehreren zeitgenössischen Dokumenten erscheint, sei ein humanistischer Kunstname, den sich ein Georg von Helmstadt oder Georg Helmstetter zugelegt habe, der sich 1483 an der Heidelberger Universität immatrikuliert hat. Vgl. Baron, Doctor Faustus. From History to Legend, S. 11-66; ders., Faustus. Geschichte, Sage, Dichtung, S. 13-47.

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Intertextualität, Hypertextualität und Transformation

Die Bezüge von Texten auf Texte und die Übernahmen von Texten in Texte sind in der jüngeren Forschung unter dem Begriff der Intertextualität verhan-delt worden. Geprägt hat den Begriff Julia Kristeva in Auseinandersetzung mit Michail Bachtins Konzept der Dialogizität. Bachtin bezeichnete damit die Polyphonie des Romans, in dessen Figurenreden immer »fremde Wörter« eingingen. Darunter verstand Bachtin alles das, was zu einem Gegenstand schon einmal gesagt oder in der Wirklichkeit auffindbar war.15 Bachtins Kon-zept der Dialogizität zielte aber vor allem auf den Dialog der Stimmen (Figu-renstimmen und Erzählerstimme) innerhalb eines einzelnen Textes; seine Theorie der Dialogizität war insofern dominant intratextuell. Durch eine ra-dikale Ausweitung des Textbegriffs definierte Kristeva alle solche Äußerun-gen als intertextuell.

Nous appellerons Intertextualité cette inter-action textuelle qui se produit à l’intérieur d’un seul texte. Pour le sujet connaissant, l’intertextualité est une notion qui sera l’indice de la façon dont un texte lit l’histoire et s’insère en elle.16

Mit dieser Ausweitung des Textbegriffs war Intertextualität kein Merkmal bestimmter Texte mehr, sondern ein prinzipielles Merkmal von Textualität. Kristeva vertrat damit die Vorstellung eines Universums der Texte, eines unauflöslichen Geflechts, das sich selbst an die Stelle der Welt setzte. In Un-tersuchungen, die diesem Paradigma folgten, ist häufig nicht nur die Diffe-renzierung von Text und Kontext im Sinne der sozialen Umwelt vernachläs-sigt, sondern auch Selektivität zugunsten von Kombinatorik zurückgestellt worden.17

Dass man bei einem solchen Geflecht kaum noch sagen konnte, welche In-tertexte interpretatorisch als Vorlagen festgemacht werden konnten, hat man unter solchen Voraussetzungen als Problem weitgehend ignoriert. Weniger

————— 15 Vgl. Bachtin, Die Ästhetik des Wortes, S. 213; Zum Problem der Dialogizität vgl. auch Lach-

mann (Hg.), Dialogizität; insbesondere ihren eigenen Beitrag Dialogizität und poetische Spra-che.

16 Kristeva, Narration et transformation, S. 443. 17 So gerne sich solche Modelle auf Foucault berufen haben, so sehr beruht diese Inanspruch-

nahme doch auf einer verfehlten Lektüre seiner Theorie. Foucault ist, auch wenn er von der Oberfläche des Textes gesprochen hat, niemals von einem undurchdringlichen Gewebe von Textualität ausgegangen. Ganz im Gegenteil hat er im Begriff des Diskurses und des Disposi-tivs dezidiert auf Modelle der Selektivität gesetzt. Sie sind zentral für seine methodischen Prämissen. Vgl. Foucault, Die Ordnung der Dinge, bes. das Vorwort zur deutschen Ausgabe, S. 11-16; ders., Die Archäologie des Wissens, bes. S. 33-47; ders., Die Ordnung des Diskur-ses. Allerdings war Foucault – epistemologisch gut begründet – ein entschiedener Gegner autorzentrierter Deutungsansätze; er setzte Selektivität auf der Ebene der Diskurse und der Dispositive an. Der Autor war für ihn nur eine Variable der Wahrheitsprädikate von Diskur-sen. Vgl. Foucault, Was ist ein Autor?

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Intertextualität, Hypertextualität und Transformation 17

als an seiner Herkunft aus dem Strukturalismus krankte der Begriff der In-tertextualität deshalb an seiner terminologischen Uneindeutigkeit. In der For-schung sind unter Intertextualität völlig unterschiedliche Phänomene der In-tegration von Texten in Texte subsumiert worden, was den Begriff schließlich so schwammig hat werden lassen, dass er terminologisch nahezu unbrauchbar wurde.

Diese Begriffsunklarheit zog eine breite und teilweise heftige Diskussion nach sich, in der die Extrempositionen von der vollständigen Ablehnung des Intertextualitätsbegriffs einerseits und von der emphatischen Feier der Kul-tur als Text andererseits gebildet wurden.18 Daraus folgte die Ablehnung des Terminus von zwei Seiten: zum einen von denjenigen, die an konkreten Un-tersuchungen von intertextuellen Bezügen und Gattungen oder Formen (wie Zitat, Anspielung, Adaptation, Parodie) festhalten wollten und deshalb die Ausweitung des Textbegriffs ablehnten, und zum anderen von Kristeva selbst, die genau solche traditionellen Untersuchungen unter dem Etikett der Intertextualität ablehnte.19 Sie ersetzte selbst daher den Terminus der Inter-textualität durch den der transposition.

Le terme de’intertextualité désigne cette transposition d’un (ou de plusieurs) sys-tème(s) de signes en un autre; mais puisque ce terme a été souvent entendu dans le sens banal de »critique des sources« d’un texte, nous lui préférons celui de transposi-tion, qui a l’avantage de préciser que le passage d’un système signifiant à un autre exige une nouvelle articulation du thétique – de la positionnalité énonciative et dénotative.20

Das änderte aber nichts am Erfolg des Intertextualitätskonzeptes, das in den neunziger Jahren vor allem mit dem New Historicism verknüpft war. Des-sen berühmtester Vertreter Stephen Greenblatt hat die Mischung aus der Se-lektivität und der Kombinatorik intertextueller Bezüge mit dem Begriff der negotiations zu vereindeutigen versucht. Mit diesem Terminus, der einerseits eindeutige Bezüge signalisierte, andererseits deren Verborgenheit insinuier-te, hat er das Problem jedoch eher elegant metaphorisiert als gelöst.21

————— 18 Vgl. die Zusammenfassung der Diskussion bei Pfister, Konzepte der Intertextualität. 19 In der Frühneuzeitforschung ist der Begriff der Intertextualität, wie Jan-Dirk Müller (Texte

aus Texten, S. 67) angemerkt hat, aber auch »oft nur als Signal eingesetzt [worden], um den Anschluß an avancierte theoretische Positionen zu markieren, damit man sich dann umso un-gestörter traditionellen philologischen Aufgaben widmen [konnte]«. Siehe in diesem Zusam-menhang auch Müllers Zusammenfassung der Intertextualitätsdebatte und seine Überlegun-gen zur Anwendbarkeit des Terminus auf die Frühe Neuzeit.

20 Kristeva, La Révolution du langage poétique, Paris 1974, S. 59f. 21 Vgl. dazu die luzide Kritik Rainer Warnings an Greenblatts Konzept der negotiations in sei-

nem Aufsatz Shakespeares Komödie als Heterotopie. Vgl. auch Vollhardt, Kulturwissen-schaft. Wiederholte Orientierungsversuche sowie Strohschneider, Kultur und Text, bes. S. 98-106. Strohschneider identifiziert hier allerdings Foucaults Theorie, insbesondere die Archäolo-gie des Wissens, als Begründung des Paradigmas von der ›Kultur als Text‹. Das verkennt frei-lich den für Foucault zentralen Bezug von Diskursen und Dispositiven auf Praxen und Institu-

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18 Einleitung Andererseits ist unter Frühneuzeitforschern nach wie vor unumstritten, dass intertextuelle Phänomene, wie das Einfügen offener oder verdeckter Zitate, das Spiel mit gelehrten Anspielungen, die Nachahmung eines bewunderten literarischen Vorbilds oder der Versuch, es zu überbieten, gerade in narrati-ven wie deskriptiven Texten der frühen Neuzeit besonders häufig zu be-obachten ist, was nicht zuletzt darin begründet ist, dass die humanistische Poetik in den Begriffen der imitatio und aemulatio die Beziehung von Tex-ten auf Texte bereits in ein normatives Regelsystem integriert hatte.22

Das gilt auch und erst recht für die von mir untersuchte Tradition der Faustbücher, die sich nicht nur aufeinander, sondern auch auf zahlreiche an-dere Texte beziehen, sie bearbeiten, integrieren und dekonstruieren. Des-halb scheint es mir trotz der dargelegten Einwände und Probleme sinnvoll zu sein, den Intertextualitätsbegriff anzuwenden, freilich nicht als alleinigen Terminus zur Bezeichnung aller Phänomene, die für die Entstehung und die Tradition der Faustbücher bedeutsam sind. Für die vorliegende Arbeit halte ich es für zweckmäßig, von einer genaueren Differenzierung unterschiedli-cher Formen dessen auszugehen, was üblicherweise unter dem Oberbegriff Intertextualität zusammengefasst wird.

Den Versuch einer solchen Differenzierung hat Gérard Genette in seiner Untersuchung Palimpseste vorgelegt.23 Als Oberbegriff hat er nicht den Ter-minus Intertextualität gewählt, sondern Transtextualität, während Intertex-tualität für ihn lediglich eine der Formen von Transtextualität bildet.24 Unter Transtextualität versteht er alles, was einen Text in eine »manifeste oder ge-heime Beziehung zu anderen Texten bringt«.25 Insgesamt unterscheidet Ge-nette fünf Formen von Transtextualität: Intertextualität, Paratextualität, Metatextualität, Hypertextualität und Architextualität.26 —————

tionen. Aufgeschlossener, aber nicht ohne kritische Distanz, steht Werner Röcke dem Kon-zept des New Historicism gegenüber. Vgl. ders., »New Historicism«, bes. S. 214-219.

22 Zu den besonderen Aspekten und Verfahrensweisen frühneuzeitlicher Intertextualität vgl. Kühlmann/Neuber (Hg.): Intertextualität in der Frühen Neuzeit. Kühlmann steht dem Inter-textualitätskonzept, speziell in seiner poststrukturalistischen Ausprägung, überaus kritisch ge-genüber, er betont aber zugleich, dass die frühneuzeitliche Literatur sich darauf verstanden habe, »eigene und fremde Rede immer neu zu kombinieren«, und es sich von daher gebiete, sich mit dem Intertextualitätskonzept auseinanderzusetzen. Vgl. im gleichen Band; Kühlmann, Kombi-natorisches Schreiben; Bauer, Intertextualität; J.-D. Müller, Texte aus Texten, bes. S. 68-72.

23 Der eher metaphorische Titel Palimpseste hat gelegentlich zu Irritationen hinsichtlich von Genettes Intertextualitätsverständnis geführt; er bezieht sich aber nur auf jene von Genette als Hypertextualität bezeichneten Formen der Transtextualität, denen er seine Untersuchung unter diesem Titel eigentlich widmet.

24 Vgl. Genette, Palimpseste, S. 9f. 25 Ebd., S. 9. 26 Genettes Modell scheint mir praktikabler zu sein als das von Pfister (Konzepte der Intertex-

tualität, S. 26-30) entwickelte Modell der Skalierung von Intertextualität nach den Kriterien Referentialität, Kommunikativität, Autoreflexivität, Strukturalität, Selektivität und Dialogizi-tät. Dessen Binnenstrukturierung ist zwar durchaus überzeugend, hat aber das Problem, mit

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Intertextualität, Hypertextualität und Transformation 19

Intertextualität ist für ihn »die Beziehung der Kopräsenz zweier oder meh-rerer Texte, […], eidetisch gesprochen, die effektive Präsenz eines Textes in einem anderen Text«.27 Unter »effektiver Präsenz« versteht Genette das Zi-tat, das Plagiat oder die Anspielung. Als Paratextualität bezeichnet er die Beziehungen von literarischen oder nicht-literarischen Texten zu den sie einkleidenden Schwellentexten wie Titel, Untertitel, Vor- und Nachworte, Einleitungen, Motti, Kapitelüberschriften etc., die nicht im engeren Sinne Teil des Werkes sind, aber doch dazugehören und häufig die Rezeption steuern.28 Als Metatextualität charakterisiert Genette dagegen »die üblicher-weise als ›Kommentar‹ apostrophierte Beziehung zwischen einem Text und einem anderen, der sich mit ihm auseinandersetzt«.29 Als Hypertextualität definiert er die Beziehung zwischen einem nachfolgenden Text (den er als Hypertext bezeichnet) und einem zugrundeliegenden Text (den er Hypo-text nennt), bei dem der Hypertext sich nicht nur auf den Hypotext bezieht, sondern aus ihm »abgeleitet ist«, d. h. in ihm seinen zentralen Bezugspunkt hat.30 Als Architextualität schließlich bestimmt Genette jene Bezüge, die sich auf die gattungsbezogenen Strukturmerkmale vorhergehender Texte bezie-hen.31

Unter dem Oberbegriff Hypertextualität, dem seine Untersuchung Pa-limpseste gewidmet ist, subsumiert er verschiedene Formen der Transforma-tion oder Transposition von Texten.32 Zunächst beschreibt er jene Arten der Transformation, die man auch als transformative Gattungen bezeichnen könnte, nämlich die Parodie, die Travestie, die Persiflage und das Pastiche, die alle dem Feld der komischen Literatur zugerechnet werden können.33 Für sie ist der Bezug auf den jeweiligen Hypotext konstitutiv: Gelächter kann nur hervorgerufen werden, wenn die komische Verzerrung des zu-grundeliegenden Textes deutlich ist.34 Von diesen komischen Transformati-onen unterscheidet Genette die ernsten Transpositionen, die er in formale und inhaltliche Transformationen differenziert. Zu den formalen Transfor-mationen gehören die Übersetzung, die Versifikation, die Prosifikation so-—————

einem Terminus zu arbeiten, der zu viele unterschiedliche Aspekte subsumiert. Will man das Intertextualitätskonzept handhabbar machen, bedarf es einer begrifflichen Differenzierung, die nicht unterhalb, sondern oberhalb des Begriffs der Intertextualität ansetzt.

27 Genette, Palimpseste, S. 10. 28 Ebd., S. 11. Genette hat dieser Form von Transtextualität auch eine eigene Untersuchung mit

dem Titel »Seuils« (dt. Schwellen) gewidmet, die in der deutschen Übersetzung unter dem Ti-tel »Paratexte« erschienen ist.

29 Ebd., S. 13. 30 Ebd., S. 15. 31 Ebd., S. 13f. 32 Genette verwendet die Begriffe Transformation und Transposition synonym. Vgl. Genette,

Palimpseste, S. 287. 33 Vgl. ebd., S. 39-47. 34 Vgl. Röcke, Das Lachen der Gelehrten.

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20 Einleitung wie die intermodalen Transformationen, wie die Narrativierung oder die Dramatisierung.35 Außerdem gehören hierzu auch die quantitativen Trans-formationen, die sich in die Verfahren der Reduktion (Aussparung, Ver-knappung, Verdichtung) und der Erweiterung (Dehnung, Amplifikation, Kombination) unterteilen lassen.36 Zu den inhaltlichen und semantischen Transformationen gehören alle Transpositionen, die den Erzählmodus, die Erzählperspektive oder die Motivation von Handlungen und Affekten der Erzählfiguren verändern.37

Schon dieser Überblick über die von Genette beschriebenen Transformati-onsverfahren macht deutlich, wie nützlich sein Konzept der Hypertextualität zur Beschreibung der Transformationen innerhalb der Tradition der Faust-bücher ist. Bereits auf den ersten Blick lassen sich mit dem Reimfaust und dem English Faustbook die formalen Transpositionen der Versifikation und der Übersetzung, mit Widmans und Pfitzers Bearbeitungen die Verfahren der Dehnung, der Amplifikation und der Kontamination, mit dem Faustbuch des Christlich Meynenden die Verdichtung oder Verknappung ausmachen. Nun könnte man solche formalen Transformationen eventuell für unwesentlich halten, aber formale Transformationen sind stets mit inhaltlichen, semanti-schen und häufig auch ideologischen Transformationen verbunden. Das soll die vorliegende Untersuchung an der Reihe der Faustbücher zeigen.

Weniger geeignet ist Genettes Modell der Transtextualität jedoch in Be-zug auf die Integration verschiedener Texte und Textsorten in unterschiedli-cher Intensität und Extensität in die früheste Faust Vita. Solche Texte sind an zahlreichen Stellen in die Historia eingegangen. Das Problem dabei ist, dass es sich um völlig unterschiedliche Textsorten und Arten des Umgangs mit diesen vorausliegenden Texten handelt.38 Hier ist Genettes Begriff der Hy-pertextualität untauglich, weil er davon ausgeht, dass der Hypertext auf den Hypotext nicht selektiv zurückgreift, sondern in ihm seine zentrale Vorlage hat. Damit lässt sich auch die Kombination unterschiedlicher Prätexte in ei-nem Hypertext nicht innerhalb des Modells von Hypotext und Hypertext beschreiben, weil die Pluralisierung der Hypotexte diese ihres Ranges als prägender Texte beraubt. Zwar schließt Genette nicht grundsätzlich aus, dass einem Hypertext mehrere Hypotexte zugrunde gelegt sein können, aber das daraus resultierende Problem lässt sich innerhalb seines Theoriemodells nur

————— 35 Vgl. Genette, Palimpseste, S. 287-313. 36 Ebd., S. 313-342 37 Ebd., S. 391-402. 38 Diese Texte werden auch in der jüngeren Forschung terminologisch unglücklich unter der

Überschrift ›Quellen‹ der Historia zusammengefasst. Vgl. Füssel, Die literarischen Quellen.

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Intertextualität, Hypertextualität und Transformation 21

bewältigen, wenn die Zahl der Hypotexte begrenzt und die Selektivität be-schränkt bleibt.39

Auch sein Begriff von Intertextualität, den er auf die Inserierungsmodi des Zitats, des Plagiats und der Anspielung beschränkt, ist nicht wirklich geeig-net, um den Umgang der ersten Faust-Vita mit den zugrunde liegenden Tex-ten zu beschreiben. Das Zitat bestimmt Genette als einen Textausschnitt, der »unter Anführungszeichen, mit oder ohne genaue Quellenangabe« in einen Text inseriert ist, das Plagiat als »eine nicht deklarierte, aber immer noch wörtliche Entlehnung« und die Anspielung als eine Aussage »deren volles Verständnis das Erkennen einer Beziehung […] voraussetzt«.40

Die Historia zitiert zahlreiche Texte, ohne diese Zitate auszuweisen, aber deshalb kann nicht davon gesprochen werden, sie plagiiere diese Texte. Das hängt schon damit zusammen, dass der Begriff des Plagiats an bestimmte so-ziokulturelle Bedingungen gebunden ist, die für Texte des 16. Jahrhunderts nicht vorausgesetzt werden können. Auch kann man nicht grundsätzlich sa-gen, sie spiele auf diese Texte an, d. h. sie erwarte, dass der Leser den Bezug erkennt und zu deuten vermag.41 Bei den eingefügten Zitaten, etwa aus dem Elucidarius oder der Schedel’schen Weltchronik, ist einigermaßen unklar, ob ein zeitgenössischer Leser sie als solche hätte erkennen können oder sollen. Bei anderen Anspielungen ist das durchaus plausibel anzunehmen, denn wenn Faustus etwa in seiner letzten Weheklage fragt, »wo ist meine feste Burg?«, dann ist die Anspielung auf Luthers Choral Ein feste Burg ist unser Gott sowohl für protestantische als auch für katholische Leser der Zeit un-überhörbar, da der Choral eines der ›Kampflieder‹ der lutherischen Konfessi-on war. Man findet in der Historia also die Inserierungsmodi des Zitats und der Anspielung, aber zumindest das Zitat funktioniert anders, als Genette dies voraussetzt.

Zunächst kommt es bei den in der Historia verarbeiteten Texten darauf an, sie begrifflich nach ihrem Verwendungsmodus und der Art ihrer Integra-tion in den Text zu unterscheiden. Grundsätzlich gibt es zwei Arten von verwendeten Texten: zum einen die in den protestantischen Exempelsamm-lungen des 16. Jahrhunderts über Faustus und andere Zauberer verbreiteten Exempel, zum anderen ein bunter Strauß von Wissenstexten, Traktaten,

————— 39 Das schließt nicht aus, dass der Hypertext in den Formen der Parodie, der Travestie und des

Pastiches mit eben solchen Strukturhomologien spielt. Diesem Aspekt widmet Genette einen großen Teil seiner Untersuchung. Vgl. Genette, Palimpseste, S. 21-89. Genette erläutert dazu einleitend, dass Hypertextualität im Sinne einer Klasse von Werken selbst einen gattungsbil-denden oder vielmehr »Gattungen überschreitenden Architext« darstelle: Dabei bezieht er sich auf »bestimmte kanonische (wenn auch ›kleine‹) Gattungen, wie das Pastiche, die Parodie und die Travestie«. Vgl. dazu Genette, Palimpseste, S. 18.

40 Ebd., S. 10. 41 Ebd.

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22 Einleitung Sprichwortsammlungen und Wörterbüchern. Während die Exempel durch ihre Thematik wie ihre Narrativik strukturelle Homologien zur Geschichte des Teufelsbündners Faustus aufweisen, gilt dies nicht für die übrigen inse-rierten Texte. Vielmehr handelt es sich hierbei um Texte, die weder narrativ strukturiert sind noch eine thematische Verbindung mit Faustus oder ande-ren Zauberern aufweisen. Aufgrund dieser Differenzen erscheint es gebo-ten, sie auch terminologisch zu differenzieren. Vorgängige narrative Exem-pel, die in einigen der Kapitel transpersonalisiert, amplifiziert und modifiziert worden sind, bezeichne ich als homologe Prätexte der Historia. Textausschnitte, wie die aus der Schedel’schen Weltchronik, dem Elucidarius, dem Lobspruch auf die Stadt Nürnberg von Hans Sachs, dem Dictionarium Latino-Germanicum Jacobs de Gruytrode und viele andere, nenne ich hetero-loge Prätexte.

Neben den homologen und den heterologen Prätexten sind aber auch ande-re Texte für die Historia wichtig. Dazu gehören insbesondere Luthers Tisch-reden, seine Schrift Von Pfaffenweih und Winckelmess, sein Sermon von der Be-reitung zum Sterben und andere mehr, auf die in der Historia angespielt wird. Diese in der Regel paränetisch-seelsorgerlichen oder theologischen Texte er-öffnen einen Deutungshorizont, der bestimmte Aspekte der Figur, ihrer Handlungen und ihrer Affekte überhaupt erst verständlich macht. Sie be-zeichnen unterschiedliche diskursive Felder innerhalb der religiösen Kommu-nikation, an welche die Historia anschließt. Solche Texte möchte ich daher im engeren Sinne als Intertexte der Faustbücher bezeichnen. Unter Intertexten verstehe ich solche Texte, mit denen sich aufgrund der Wortwahl, der Formu-lierungen oder der aufgerufenen Semantiken eine enge Beziehung plausibel machen lässt.

Eine weitere Ebene der Transtextualität ergibt sich in Bezug auf ver-schiedene Heiligenlegenden, insbesondere die Sünderheiligenlegenden von Theophilus und Cyprianus. Einerseits sind diese Texte stellenweise als Prä-texte verwendet worden (so dürfte die Blutverschreibung aus der Theophilus-legende übernommen worden sein), andererseits bilden sie zusammen mit den protestantischen Bekennerlegenden – die freilich nicht mehr als Legen-den, sondern als Historien bezeichnet werden – einen Gattungsrahmen, der für das Vitenmodell der Historia von entscheidender Bedeutung ist. Als Gat-tungselemente können diese Texte daher weder als Prätexte noch als Inter-texte der Historia bezeichnet werden. Die Verknüpfung liegt hier auf der Ebene dessen, was Genette als Architextualität bezeichnet.

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Identität, Individualität, Subjektivität

Fragen der Transtextualität bilden in dieser Arbeit insofern einen wichtigen Fokus, als sie für identitätstheoretische Fragestellungen von entscheidender Be-deutung sind. Es gibt keine formalen oder inhaltlichen Transformationen oder Transpositionen, welche die Identität der Figur unberührt lassen würden. Mit jeder Selektion, Integration und Kombination von Textpartikeln und Gat-tungselementen in einen anderen Text verändern sich nicht nur deren semanti-sche Horizonte, sondern auch die Semantisierungsaspekte und Möglichkeiten des Hypertextes. Mit jeder Transformation der Narration ändern sich außer-dem die mit der zentralen Figur der Erzählung verknüpften Semantiken. Das betrifft sowohl die Regulierung der Identitätsmarkierungen durch den Erzäh-ler, als auch die Emergenz von Individualität und Subjektivität auf der Ebene der Erzählung.

Damit ist bereits angesprochen, dass die hier verhandelten identitätstheo-retischen Fragestellungen sich in drei Aspekte untergliedern, denen jeweils ein Kapitel dieser Arbeit gewidmet ist: Identität, Individualität und Subjek-tivität. Jedem dieser Begriffe eignet für sich genommen eine so schillernde Polysemie, dass es zunächst und vor allem darauf ankommt, diese zu be-grenzen. Das kann hier nicht durch eine umfängliche und umfassende Dar-stellung der Identitäts-, Individualitäts- und Subjektivitätsdiskurse der letz-ten dreihundert Jahre geleistet werden, selbst wenn diese nur ansatzweise erfolgen würde. Gleiches gilt für die einem Mahlstrom gleichende wissen-schaftliche Diskussion der letzten Jahrzehnte.42 Ein solcher Anspruch wäre überzogen. Es ist von daher auch nicht möglich, zu bestimmen, was korrek-terweise unter den jeweiligen Begriffen zu verstehen wäre. Möglich und unverzichtbar ist es aber zu definieren, was im Rahmen dieser Arbeit unter Identität, Individualität und Subjektivität verstanden werden soll und was die jeweiligen theoretischen Referenzen einer solchen Bestimmung sind.

Das lässt sich sinnvollerweise zunächst von daher begründen, was mit der Verwendung der hochgradig semantisierten Begriffe Individualität und Sub-

————— 42 Einige wichtige Texte bzw. Überblicksartikel zur Semantik der drei Begriffe sollen hier aber

zumindest genannt werden. Zum Überblick über die drei semantischen Felder Identität, In-dividualität, Subjektivität vgl.: Frank, Subjekt, Person, Individuum. Zu Identität vgl.: Dubiel, Identität, Ich-Identität; Mead, Geist, Identität und Gesellschaft; Marquard/Stierle (Hg.), Identität; Fetz, Personenbegriff und Identitätstheorie; Goffman, Stigma; Luckmann, On the Evolution and Historical Construction of Personal Identity. Zu Individualität vgl.: Frank/Ha-ferkamp (Hg.), Individualität; Frank, Die Unhintergehbarkeit von Individualität; Heller/Sos-na/Wellbery (Hg.), Reconstructing Individualism. Zu Subjekt und Subjektivität vgl.: Frank/Raulet/van Reijen (Hg.), Die Frage nach dem Subjekt; Riedel, Subjekt und Individu-um, Fetz/Hagenbüchle (Hg.), Geschichte und Vorgeschichte der modernen Subjektivität; Ha-genbüchle, Subjektivität: Eine historisch-systematische Hinführung; Taylor, Quellen des Selbst; Cramer (Hg.), Theorie der Subjektivität; Foucault, Hermeneutik des Subjekts.

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24 Einleitung jektivität nicht gesagt sein soll: Dass es eine historische, gar teleologisch or-ganisierte Entwicklungslogik von Individualität und Subjektivität gäbe, in der Phänomene der arbiträren Selbstabgrenzung des Einzelnen von der Ge-sellschaft und seiner Definition durch diese Selbstabgrenzung unter dem Begriff der Individualität angemessen historisch-begrifflich fassbar wären. Ferner, dass bezogen auf eine solche Entwicklungslogik die Faust-Figur ei-nen entscheidenden Schritt innerhalb des Feldes der literarischen Kommu-nikation markiere.43 Das gilt noch entschiedener für den Begriff der Subjek-tivität: Ziel ist es nicht, zu zeigen, wie aus der ›Entdeckung‹ von Individuali-tät gleichsam als Konsequenz die Subjektivität erwächst, die den individuel-len Rekurs auf die Abgrenzung von der Gesellschaft durch den Rekurs auf ein transzendental begründetes Subjekt komplettiert – ein Subjekt, das sei-nen letzten Referenzpunkt nur in sich hat und für das dann wiederum der Faustus der Weheklagen als großartiger Beleg zu dienen hätte.44

Nach diesen anfänglichen Abgrenzungen kommt es jedoch darauf an, zu be-stimmen, was hier unter Identität, Individualität und Subjektivität je verstan-den werden soll. Neben der Reichweite und Polysemie der Begriffe besteht die Schwierigkeit zunächst darin, Identität, Individualität und Subjektivität be-grifflich voneinander abzugrenzen. Die von mir gewählte Differenzierung zwischen Identität, Individualität und Subjektivität ist primär eine heuristische, deren Mehrwert sich darin erweisen muss, dass sie einzelne Aspekte genauer aufzuschlüsseln vermag, als das bei einer begrifflichen Ineinssetzung der Fall wäre. Das ist freilich zu vermuten, weil sich auf diese Weise Polysemien zu-mindest begrenzen lassen.45

Ich differenziere zunächst zwischen Identität und Individualität im An-schluss an Cornelia Bohn und Alois Hahn, die Individualität als eine Form der Schließung auffassen, welche das Besondere vom Allgemeinen und Individu-en von anderen Individuen unterscheidet. Unter Identität verstehen Bohn und Hahn dagegen die Beschreibung und Beobachtung von Individualität.46 Be-————— 43 Ein solcher Deutungsansatz ist insbesondere von Ian Watt vertreten worden. Vgl. Watt, Myths

of Modern Individualism; ders., Faust as a Myth of Modern Individualism. 44 Vgl. allgemein etwa Geyer, Die Entdeckung des modernen Subjekts. Diese Zurechnung ist in

verschiedenen Untersuchungen zu beobachten. Sie zeigt sich letztlich auch dort, wo – ohne den Begriff der Subjektivität zu bemühen – den Weheklagen als einzigem Teil des frühesten Faust-buches literarische Qualität attestiert wird. Vgl. Könneker, Faust-Konzeption und Teufelspakt.

45 Luhmann differenziert nicht eindeutig zwischen Individualität und Identität, sondern ver-mischt beide. Vgl. Ders., Individuum, Individualität, Individualismus, passim.

46 Vgl. Bohn/Hahn, Selbstbeschreibung und Selbstthematisierung, S. 36. An anderer Stelle dif-ferenziert Hahn nicht in gleicher Weise zwischen Individualität und Identität, was ja auch nicht immer erforderlich ist. Vgl. Hahn, Partizipative Identitäten, S. 28; ders., Identität und Biographie, S. 131f. Die von Alois Hahn hier vorgenommene Differenzierung von »implizi-tem« und »explizitem« Selbst, von Habitusensemble und Selbstbeschreibung, schließt eine Differenzierung von Identität als kommunikativ vermittelter personaler Identität und diskur-siven Praktiken ein. Vgl. zum Festhalten an dieser Differenzierung gegenüber prinzipiell

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Identität, Individualität, Subjektivität 25

greift man unter Identität das Zusammenwirken unterschiedlicher zugeschrie-bener Merkmale und unter Individualität die Art des in Beziehung Setzens, so ist selbstredend evident, dass zwischen beiden eine enge Wechselbeziehung besteht. Zweifellos sind Zugehörigkeiten und Beziehungen identitätsprä-gend, und sie werden im 16. und 17. Jahrhundert (aber nicht nur da) auch so gedacht.

Die Fragestellung bezüglich der Identität einer literarischen Figur bewegt sich also stets auf der Ebene der Zuschreibungen und untergliedert sich in drei Aspekte: Welche identitären Merkmale werden der Figur auf der diege-tischen, aber auch der paratextuellen Ebene zugewiesen, welche Semantiken spielen dabei eine zentrale Rolle? Wie äußern sich andere Figuren über die zentrale Gestalt, welche Beobachtungen machen sie an ihr? Und schließlich, wie beschreibt die Figur sich selbst, wie wird ihre Identitätsausprägung beo-bachtet?

In seinem Aufsatz »Partizipative Identitäten« hat Alois Hahn konstatiert, dass der Grad an Elaboriertheit, den Gesellschaften der Identitätsthematisie-rung ihrer Mitglieder gestatten, erheblich variiert. Dabei geht er von zwei Möglichkeiten aus: Selbstthematisierung und Fremdthematisierung.47 Litera-rische Kommunikation verdoppelt Fremdthematisierung, indem sie ermög-licht, diese einerseits auf der Ebene des Erzählers, und andererseits auf der Ebene von Figuren der Erzählung anzusiedeln, woraus dann erhebliche Am-biguitäten resultieren können. Es gehört zu den herausragenden Merkmalen der Historia und der nachfolgenden Faustbücher, dass sie diesen Ambiguitä-ten außergewöhnlich breiten Raum geben und auf diese Weise der Figur ei-ne Komplexität verschaffen, die in der Markierung als Zauberer nicht mehr aufgeht. An der eindeutigen Markierung von Faustus als Teufelsbündner durch die Stimme des Erzählers ändert das nichts, aber es untergräbt die Möglichkeit, diese Markierung für den Leser jederzeit zugänglich zu halten. Was der Kommentar immer wieder vereindeutigt, indem er Faustus verdik-tive Markierungen aufprägt, erscheint innerhalb der Welt der Erzählung uneindeutig, vielschichtig und widersprüchlich.

Das resultiert in erster Linie aus der Inszenierung von Fausts Individuali-tät. Damit soll nicht gesagt sein, dass Faustus als Individuum der Gesell-schaft gegenübersteht und gegen deren Widerstand Individualität erringt. Es soll vielmehr damit gesagt und mittels der »dichten Beschreibung«48 ein-

————— text- und diskurszentrierten Ansätzen Stegbauer/Vögel/ Waltenberger, Einführung, in: dies. (Hg.): Kulturwissenschaftliche Frühneuzeitforschung, S. 7-28, hier bes. S. 19.

47 Vgl. Hahn, Partizipative Identitäten, S. 13-16. 48 Zum Konzept der »dichten Beschreibung« (»thick description«) vgl. Clifford Geertz, Dichte

Beschreibung. Ich beziehe mich auf Geertz, um anzuzeigen, dass ich eine genaue Lektüre, die auf vorschnelle Zuordnungen verzichtet, für unverzichtbar halte; es geht mir nicht um die Vorstellung der ›Kultur als Text‹, die bei Geertz und den sich auf ihn berufenden Vertretern

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26 Einleitung schlägiger Textpassagen aus den Faustbüchern gezeigt werden, wie Faustus durch seine Beziehungen innerhalb der Gesellschaft individualisiert, d. h. in-kludiert, exkludiert, integriert oder diszipliniert wird. Solche Prozesse kön-nen nur kommunikativ vermittelt sein. Individualität ist daher untrennbar mit Kommunikation verknüpft.49 Da Kommunikation nach Luhmann der elementare Code des Sozialen ist, ist Individualität ein Aspekt der Ausdiffe-renzierung sozialer Systeme.50

Individualität siedele ich im Anschluss an Luhmann auf der Ebene des so-zialen Systems an und fasse sie als Markierung von Zugehörigkeit oder Nicht-Zugehörigkeit, d. h. von sozialen Beziehungen. Luhmann geht davon aus, dass Individualität keine Errungenschaft der Moderne ist. In seinen Überlegungen zur Evolution von Individualität und der mit ihr verbundenen Semantiken hat er zu zeigen versucht, dass alle gesellschaftlichen Evolutions-stufen Individualität sowohl ausprägen als auch thematisieren, d. h. mit be-stimmten Semantiken verknüpfen.51 Das heißt nicht, dass Individualität ein unveränderliches, ahistorisches Substrat habe. Aber als Form der Schließung, welche das Besondere vom Allgemeinen trennt und dem Einzelnen Beson-derheit zugesteht, ist Individualität sowohl in segmentären als auch stratifika-torischen und funktional differenzierten Gesellschaften zu beobachten.52 Mit der wachsenden Komplexität des sozialen Systems kommt es nach Luhmann zu einer Steigerung von Individualität. Diese gründet jedoch nicht auf einem zunehmenden Individualismus des Einzelnen durch die Selbstbefreiung des Individuums aus althergebrachten Ordnungen, sondern vielmehr auf der Ausdifferenzierung des sozialen Systems. Im Mittelalter, mit seiner domi-nant stratifikatorischen Gesellschaftsordnung, wird Individualität über Zu-gehörigkeit bestimmt, d. h. über die Inklusion in ein bestimmtes Teilsystem der Gesellschaft, nämlich die Familie und den Stand. Die so bestimmte Indi-vidualität bezeichnet Luhmann als Inklusionsindividualität.53 Die Identität

————— des New Historicism mit diesem Konzept verbunden ist. Zur Kritik am Konzept der ›Kultur als Text‹ vgl. Strohschneider, Kultur und Text.

49 Für Luhmann ist Kommunikation die spezifische Operation sozialer Systeme. Vgl. Luh-mann, Soziale Systeme, S. 193ff.; ders., Die Gesellschaft der Gesellschaft, Bd. 1, S. 81ff.; ders., Was ist Kommunikation?

50 Vgl. Luhmann, Individuum, Individualität, Individualismus, S. 193-212; ders., Die Gesell-schaft der Gesellschaft, Bd. 1, S. 81-105.

51 Vgl. Luhmann, Individuum, Individualität, Individualismus, bes. S. 165-185. Es sei hier ergänzend darauf hingewiesen, dass Evolution im Luhmann’schen Sinne weder mit Entwicklung noch mit Fortschritt identisch ist. Zum Begriff der Evolution und seiner Funktion für die Beschreibung der Systemdifferenzierung vgl. Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, Bd. 1, S. 413-593.

52 Zum Modell der Gesellschaftsdifferenzierung vgl. Luhmann, Die Gesellschaft der Gesell-schaft, Bd. 2, S. 609ff.; ders., Gesellschaftliche Struktur und semantische Tradition.

53 Das gilt auch für die segmentäre Ordnung einfacher Gesellschaften. Luhmann betont hin-sichtlich des Umgangs segmentärer Gesellschaften mit Individualität: »Gerade einfachste Ge-sellschaften sind in hohem Maße an Individuen orientiert und akzeptieren jeden, sofern er

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des Individuums ist in der stratifizierten Gesellschaft an seine Inklusion in die Familie und die Inklusion dieser Familie in einen bestimmten Stand ge-bunden.54 Das stratifikatorisch organisierte System der Gesellschaft erlaubt ähnlich wie die segmentäre Ordnung ein hohes Maß an Eigentümlichkeiten und Besonderheiten des Einzelnen, weil es diese über Zugehörigkeit abzu-schirmen vermag und folglich nicht intern reglementieren muss. Reglemen-tierungen erfolgen aber dezidiert im Falle der Transgression von Zugehörig-keit: Das Verlassen der Sippe als dem Zentrum der segmentären Ordnung oder des Standes als dem basalen Organisationsprinzip der stratifizierten Ordnung wird sowohl auf der Ebene des sozialen Systems als auch auf der Ebene der gepflegten Semantiken hart abgestraft.55

Alois Hahn hat für die solcherart organisierte Individualität den Begriff der partizipativen Identität geprägt.56 Jedes Individuum gehört einem und nur einem Teilsystem der Gesellschaft an, und deshalb kann seine Individua-lität nur über die Inklusion in dieses Subsystem bestimmt werden.57 Das ändert sich mit dem Übergang zur funktional differenzierten Gesell-schaft, in der kein Individuum mehr ausschließlich einem Teilsystem ange-hören kann, sondern nur noch in unterschiedlichen Funktionen an die jewei-ligen Systeme anschließt. Die Einzelperson kann nun nicht mehr einem und —————

zur Gesellschaft gehört, in seinen Eigenarten.« (Luhmann, Individuum, Individualität, Indivi-dualismus, S. 155) Zur stratifikatorischen Ordnung vgl. ebd. S. 157ff.

54 Vgl. ebd., S. 165-173. 55 Solange Sippe oder Stand nicht grundsätzlich transgrediert werden, können in der literari-

schen Kommunikation zwar Krisen des Helden beschrieben werden, die aber stets mit seiner Reintegration in den Stand in seiner idealiter geprägten Ausformung enden. Die Artusroma-ne sind dafür ein Musterbeispiel. Vgl. J.-D. Müller, Identitätskrisen im höfischen Roman. Ein Beispiel für die Perhorreszierung der Überschreitung von Standesgrenzen wäre etwa der Helmbrecht Wernhers des Gärtners. Allein das schon im Mittelalter ausdifferenzierte System der Religion bietet hier eine Austrittsmöglichkeit – im Modell der Heiligkeit. Siehe dazu ausführlich Kap. 4.

56 Vgl. Hahn, Partizipative Identitäten, S.13f. Hahn differenziert, wie aus der angegebenen Stel-le deutlich wird, in anderer Weise zwischen Identität und Individualität, als ich das hier tue. Hahn beschreibt in diesem Beitrag unter anderem, wie die Semantik der partizipativen Identi-tät in den Begriffen der Nation u. ä. wieder auftaucht. Dies geschieht aber auf der Ebene der Semantik, nicht des sozialen Systems.

57 Grundsätzlich hat dem auch Peter von Moos zugestimmt, allerdings einen Punkt moniert: »Die Schwachstelle der Theorie liegt jedoch in der vollkommen separaten Behandlung religiö-ser und aristokratischer Inklusion, obwohl beide in Wirklichkeit in einem dauernden Span-nungs- und Konkurrenzverhältnis zueinander standen und in dynamisierender Weise gerade zu gegenseitiger Verleumdung tendierten. Dies wirkte sich als grundsätzliche Ambivalenz auch auf das Identitätsverständnis aus« (von Moos, »Persönliche Identität und Identifikation vor der Moderne«, S. 21f.). Ein solches Spannungsverhältnis schließt Luhmanns Theorie aber keineswegs aus, vielmehr ist das System der Religion als Teilsystem der Gesellschaft für das soziale System Umwelt et vice versa. Damit wird die Anschlussfähigkeit von Kommunikation prinzipiell unwahrscheinlich, was nichts anderes heißt, als dass Spannungen wahrscheinlich sind. Vgl. Luhmann, Soziale Systeme, S. 193ff. sowie S. 488ff.; ders., Die Gesellschaft der Gesellschaft, Bd. 1, S. 81ff.

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28 Einleitung nur einem Teilsystem angehören. Sie kann in unterschiedlichen Teilsyste-men der Gesellschaft, wie dem System der Wirtschaft, der Politik, des Rechts oder der Erziehung, beruflich integriert sein, und größtenteils folgt der soziale Status dem beruflichen Status, aber sie kann nicht in einem der Funktionssysteme allein leben.58

Das Individuum kann seine Individualität dann nicht mehr durch Inklusi-on, sondern nur jenseits der verschiedenen Funktionssysteme bestimmen, und somit wird Individualität zur Exklusionsindividualität.59 Exklusion darf hier freilich nicht als Ausschluss missverstanden werden. Exklusionsindivi-dualität besagt vielmehr, dass die Individualität eines Individuums nicht mehr allein über die Zugehörigkeit zu einer Familie oder einen Stand defi-niert werden kann, sondern jenseits davon bestimmt werden muss, weil sich mit funktionaler Differenzierung die kommunikativen Interaktionen inner-halb der Gesellschaft multiplizieren.

Die Umstellung von der Inklusionsindividualität auf die Exklusionsindi-vidualität hat zur Folge, dass das Individuum nicht mehr für alle anderen In-dividuen, denen es begegnet, dasselbe ist. Es kann ganz unterschiedliche Rol-len einnehmen und damit auch ganz unterschiedlich wahrgenommen werden, ohne dass diese jeweiligen Wahrnehmungen des Individuums untereinander abgeglichen werden müssen. Welche dieser Rollen dann die Identität des In-dividuums letztlich ausmacht, lässt sich nicht mehr eindeutig bestimmen.60

Die jeweilige Identität kann dann über je besondere Formen der Kom-munikation im Hinblick auf bestimmte Rollen abgeschirmt oder hinsichtlich der gesamten Person geöffnet werden, was über den binären Code von pri-vater und öffentlicher Kommunikation strukturiert wird. Dieser binäre Code von privat und öffentlich definiert, in welcher Weise mit Personen umzugehen ist und welchen Grad von Intimität ein sozialer Kontakt er-laubt.61 Privatheit wird dabei jedoch nicht in erster Linie am Fehlen von Öf-fentlichkeit festgemacht, sondern ist auf die Formen sozialer Kommunikati-————— 58 Vgl. Luhmann, Individuum, Individualität, Individualismus, S. 158. 59 Ebd. 60 Das ändert auch das Erzählen von Krisen des Helden: Zweifellos erzählt bereits die höfische

Literatur von Identitätskrisen des Helden, von Nichterkennen und Fehleinschätzungen. Aber das sind vorübergehende Krisen, die letztlich dazu dienen, Zugehörigkeit zu bestätigen, was nicht heißt, dass diese Bestätigung nicht mit Anforderungen an den Helden verbunden wäre. Zugehörigkeit zum Adel ist qua Schönheit aber in den Körper eingeschrieben und selbst wenn der Held vorübergehend die äußeren Zeichen seiner Zugehörigkeit verliert, so bestäti-gen sich diese doch in seinen körperlichen Merkmalen – entweder in Schönheit oder in ei-nem markanten Zeichen wie einer Narbe. Vgl. von Moos (Hg.), Unverwechselbarkeit; hier insbesondere die einzelnen Beiträge von: von Moos, Einleitung: Persönliche Identität und Identifikation vor der Moderne; J.-D. Müller, Identitätskrisen im höfischen Roman; Hahn, »Wohl dem, der eine Narbe hat«; Röcke, Gewaltmarkierungen.

61 Vgl. Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, Bd. 1, S. 224-256; ders. Gesellschaftsstruk-tur und Semantik, Bd. 1, S. 124-247.

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Identität, Individualität, Subjektivität 29

on bezogen. Die prinzipielle Grenzziehung zwischen privat und öffentlich besagt dann eben nicht, dass Öffentlichkeit und Privatheit durch bestimmte Räume oder die Zahl der Anwesenden definiert werden, sondern durch be-stimmte Verhaltensmodi und Typen der Vergemeinschaftung. So betrachtet, verläuft die Grenzlinie von Privatheit und Öffentlichkeit zwischen funktio-nal und personal bestimmter Kommunikation.

Wenn Personalität begriffen wird als die Summe der Aspekte oder Rollen, aus denen die soziale Existenz eines Menschen sich zusammensetzt, dann ergibt sich mithin, dass die Dichte und Intensität privater Beziehungen abhängt von der situativ verfüg-baren Individualität einer Person. Individualität würde dabei zunächst nichts anderes bedeuten als die je spezifisch verfügbare Auswahl und Kombination aus der Summe der gesellschaftlich verfügbaren Rollen und Handlungsmuster.62

Das bedeutet zugleich, dass Individualität mit der Verfügbarkeit unterschied-licher sozialer Rollen gesteigert wird, weil der Stand nicht mehr ausreicht, um die Individualität des Einzelnen zu bestimmen. Privatheit wird dann zu einem Modus, in dem soziale Kommunikation von der funktionalen auf die perso-nale Ebene umgestellt wird. »Je mehr Privatheit im zwischenmenschlichen Bereich möglich sein soll, desto mehr Individualität muss vorhanden sein.«63

Die Entgegensetzung von Öffentlichkeit und Privatheit ermöglicht es In-dividuen auch, wie Erving Goffman gezeigt hat, bestimmte Eigenschaften oder Defekte, die ihnen soziale Diskreditierung eintragen würden, vor ande-ren zu verbergen. Diese Prozesse des Verbergens potentiell stigmatisierender Merkmale hat Goffman unter dem Obertitel »Stigma-Management« als den Gegensatz von aktualer und virtualer sozialer Identität thematisiert.64 Ein sol-ches »Stigma-Management« ist erst wirklich möglich in funktional differen-zierten Gesellschaften, denn erst hier sind die sozialen Kontakte punktuell ge-nug, um Stigmata dauerhaft verbergen zu können. Das heißt umgekehrt aber auch: Erst hier sind die Kontakte so stark funktional bestimmt, dass es Mit-gliedern der Gesellschaft möglich ist, bestimmte Stigmata zu ignorieren, weil sie das jeweilige Individuum nicht mehr als ganze Person, sondern nur noch als Verkörperung einer bestimmten Funktion betrachten. So lange das Indivi-duum diese Funktion zu erfüllen vermag, ist es prinzipiell möglich, über ein Stigma hinwegzusehen.

Was sich mit dem Übergang von der Inklusions- zur Exklusionsindividua-lität ebenfalls ändert, ist die Art der Thematisierung von Individualität und deren Semantiken.65 Gerade in den Übergangsphasen von der Inklusions- zur Exklusionsindividualität kann es vorkommen, dass die Semantiken die Kom-

————— 62 Schlögl, Öffentliche Gottesverehrung und privater Glaube, S. 172. 63 Ebd., S. 173. 64 Vgl. Goffman, Stigma, S. 116-131. 65 Vgl. ebd., S. 155f.

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