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In der personalen Begegnung mit psychisch kranken Menschen die Person stärken (Praxisbericht) Abschlussarbeit für die Ausbildung in Logotherapie und existenzanalytischer Beratung und Begleitung von Bärbel Schenk Mai 2008 Eingereicht bei: 1. Leser Dr. Christoph Kolbe 2. Leser Helmut Dorra Angenommen am……………………. von……………………

In der personalen Begegnung mit psychisch kranken … · Damit gibt er seinem Leben Sinn, er führt ein erfülltes Leben. Wer das Leben in seiner ganzen Fülle erleben kann hat jederzeit

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In der personalen Begegnung mit psychisch kranken

Menschen die Person stärken (Praxisbericht)

Abschlussarbeit für die Ausbildung in Logotherapie und

existenzanalytischer Beratung und Begleitung

von Bärbel Schenk

Mai 2008

Eingereicht bei:

1. Leser Dr. Christoph Kolbe

2. Leser Helmut Dorra

Angenommen

am…………………….

von……………………

Kurzfassung 2

Kurzfassung

Durch Logotherapie die Person trotz Handicap stärken.

Die Logotherapie basierend auf den Erkenntnissen der Existenzanalyse ist ein ideales

Instrument für die Beratung und Begleitung psychisch kranker Menschen.

Durch das Personenverständnis, das die organischen Eigenschaften von Gesund-

bzw. Kranksein ausschließt, wird der Mensch mit psychischen Handicaps nicht nur als

Krankheitsbild-Träger wahrgenommen.

Das Gesunde im ganzheitlichen Menschen wird gefordert und gefördert. Hierdurch wird

dem Klienten der Handlungsspielraum bewusst gemacht, in dem er eigenverantwortlich

und frei Entscheidungen treffen kann.

Seine Person kommt trotz Defizit zum Vollzug und er kann sein Leben sinnvoll gestal-

ten.

Abstract

To strengthen the person in spite of handicap with logo therapy.

The logo therapy based on the realizations of the existential analysis is for humans with

psychological handicaps an ideal instrument for the consultation and company hu-

mans.

By the special definition of the person, which excludes the organic characteristics from

healthy or rather illness, humans with psychological handicaps are not only noticed as

the carrier of the disease image.

The healthy in holistic humans is demanded and promoted. Thereby the scope of ac-

tion is made conscious for the client, in which it can make solely responsible and freely

decisions.

The person of the human comes despite deficit to the execution and he can arrange

live meaningful.

Abstract 3

Inhaltsverzeichnis

 

Kurzfassung .................................................................................................................. 2 

Abstract ......................................................................................................................... 2 

Inhaltsverzeichnis ......................................................................................................... 3 

1  Einleitung ......................................................................................................... 4 

2  Praxisbericht ................................................................................................... 5 

2.1  Der Arbeitsplatz ................................................................................................. 5 

2.2  Grundlagen logotherapeutischer und existenzanalytischer Beratung ............... 7 

2.2.1  1. Grundmotivation ............................................................................................ 8 

2.2.2  2. Grundmotivation ............................................................................................ 9 

2.2.3  3. Grundmotivation .......................................................................................... 10 

2.2.4  4. Grundmotivation .......................................................................................... 11 

2.3  Prämissen für die Beratung psychisch kranker Menschen ............................. 12 

2.4  Die Person ...................................................................................................... 14 

2.4.1  Philosophischer Exkurs zum Begriff der Person ............................................. 14 

2.5  Die personale Begegnung als Mittel und Weg, die Person zu bergen und zu stärken ........................................................................................................ 18 

2.6  Die Praxis ........................................................................................................ 21 

2.6.1  Josef ................................................................................................................ 21 

2.6.2  Walter .............................................................................................................. 27 

3  Zusammenfassung ....................................................................................... 31 

Literaturverzeichnis .................................................................................................... 33 

 

 

1 Einleitung 4

1 Einleitung

Ein Vortrag von Dr. Christoph Kolbe zum Thema „Was ist es, das den Men-

schen glücklich macht?“ hat mich an- gezogen und hin- gezogen zur Ausbildung

als logotherapeutisch-existenzanalytische Beraterin. Existentielle Gedanken und

Gefühle, die ich bis dahin bei mir wahrnehmen konnte aber eher diffus formu-

lierte, wurden durch die Betrachtungsweise und Wortwahl der Existenzanalyse

greifbar. Logotherapie als praktische Umsetzung der aus der Existenzanalyse

gewonnenen Erkenntnisse ist lebensnah nachvollziehbar.

Praktisch und lebensnah kann ich mittlerweile meine beraterische Kompetenz

innerhalb der Sozialpsychiatrischen Initiative (SPI) einsetzen und die Wirksam-

keit dieser phänomenologisch personalen Psychotherapie in dieser Abschluss-

arbeit dokumentieren.

Die SPI arbeitet mit unterschiedlichen Therapien und Maßnahmen um psy-

chisch kranke Menschen zu rehabilitieren. Durch diese Vernetzung und Ergän-

zung kann sie somit den Klienten ein Optimum an Unterstützung zur Verfügung

stellen. Eine Rehabilitationsmaßnahme ist die logotherapeutisch-

existenzanalytische Beratung und Begleitung.

Die vier Grundmotivationen (GM) der personalen Existenzanalyse sind die An-

haltspunkte für die lebensbehindernden Defizite. Durch eine vertrauensbildende

Grundhaltung des Beraters wird eine Atmosphäre geschaffen, in der sich die

Person in ihrem So-sein zeigen kann. Der Focus meiner Beratertätigkeit richtet

sich also auf die Person. Die Entwicklung des Personenbegriffs skizziere ich in

einem Exkurs von der Existenzphilosophie bis zur Personalen Existenzanalyse.

Abschließend zeige ich auf wie anhand der personalen Begegnung die Stär-

kung der Person umgesetzt wird. Zwei Fallbeispiele dokumentieren prägnant

die Auswirkungen.

Zur besseren Lesbarkeit des Textes verzichte ich auf die Unterscheidung der

maskulinen bzw. femininen Berufsbezeichnungen.

Zum Schutz der hier beschriebenen Personen fehlt der vollständige Name der

Arbeitsstätte und die Namen der Personen sind verändert worden. Dem Institut

der Gesellschaft für Logotherapie und Existenzanalyse Deutschland ist beides

bekannt (www.gle-d.de).

2 Praxisbericht 5

2 Praxisbericht

2.1 Der Arbeitsplatz

Meine Arbeitsstätte ist ein Café für psychisch kranke Menschen. Dieser gastro-

nomische Betrieb ist ein Projekt der Sozialpsychiatrischen Initiative e.V., die seit

1981 engagiert ist in der Beratung, Behandlung und Rehabilitation seelisch

kranker und behinderter Menschen mit dem Ziel der Integration in Arbeit, Woh-

nen und Freizeit. Die SPI hat ein soziales Netzwerk aufgebaut, in dem diese

Menschen befähigt werden, gesunde Lebenskonzepte zu entwerfen und Le-

benssinn zu entwickeln.

Ein Baustein dieses Netzwerks ist das Café-Projekt. Die Zielsetzung ist hierbei

ein zusätzliches Freizeitangebot als Kommunikationszentrum für behinderte und

nicht behinderte Menschen.

Wenn sich psychisch Kranke aufgrund ihrer Behinderung in anderen Lokalitäten

ausgegrenzt fühlen, wenn sie sich langweilen oder sich einsam fühlen, finden

sie hier einen Ort, an dem sie in ihrer Eigenart angenommen werden und ani-

miert werden zu Gesprächen oder Freizeitaktivitäten wie Gesellschaftsspiele,

Karaoke- und Konzertveranstaltungen.

Eine weitere Intention ist die Schaffung von ehrenamtlichen Arbeitsplätzen für

Menschen, die aufgrund von Psychosen, Neurosen und Persönlichkeitsstörun-

gen in Behandlung stehen oder gestanden haben. Wenn die Klienten aufgrund

ihrer Erkrankung so eingeschränkt sind, dass sie nicht sofort oder nicht wieder

in die Arbeitswelt eingegliedert werden können, haben sie an dieser Stelle ein

Übungsfeld für den normalen Berufsalltag oder ein Erfahrungsfeld für sinnvolle

Beschäftigung.

So wird einerseits ein Kommunikationsdefizit ausgeglichen, andererseits dient

das Café als ein Element der regionalen gemeindepsychiatrischen Versorgung

und als wichtiger Bestandteil der Tagesstrukturierung von psychisch erkrankten

Menschen. Alle Zielsetzungen tragen letztendlich zur gesundheitlichen Stabili-

sierung bei und wirken krankheitsbedingten Rückfällen entgegen.

Zusammen mit einem Sozialarbeiter leite ich das Team, das für die Bewirtschaf-

tung zuständig ist. Die Krankheitsbilder der Teammitglieder sind: Persönlich-

keitsstörung, hebephrene Psychose, schizophrene Psychose, Zwangsneurose,

2 Praxisbericht 6

Borderline, Magersucht und Depression. Alle Teammitglieder sind medikamen-

tös eingestellt und sind oder waren in psychologischer Therapie.

Die Teamsitzungen gestalten wir gemeinsam, für die kulturellen Angebote ist

hauptsächlich mein Kollege zuständig, der hierbei auch die wirtschaftlichen As-

pekte des Projektes mit einbezieht. Ich betreue logotherapeutisch - existenzana-

lytisch beratend und begleitend die Gruppenmitglieder während der Dienstzei-

ten, führe Gespräche in Krisensituationen und biete Gesprächsreihen an.

2 Praxisbericht 7

2.2 Grundlagen logotherapeutischer und existenzanalytischer Beratung

Die Existenzanalyse ist eine anthropologische Forschungsrichtung, die das Ge-

dankengut der Phänomenologie und der Existenzphilosophie trägt. Analysiert

werden die Bedingungen, die dem Menschen ermöglichen ein erfülltes Leben

zu führen.

Viktor Frankl, Prof. der Neurologie und Psychiatrie, Dr. Phil., betont als Begrün-

der der Existenzanalyse und Logotherapie die Werteaffektivität. „Sinn erfüllen

wir allemal dadurch - unser Leben erfüllen wir mit Sinn – indem wir Werte ver-

wirklichen.“ [1] Längle, 1991, 5

Sich selbst als wertvoll zu empfinden und ausgerichtet zu sein auf die Werte in

der Welt, ist die existenzanalytische Basis, auf der der Mensch sein Leben zu

seiner Zufriedenheit sinnvoll gestalten kann.

Das ist jedoch nur unter bestimmten Voraussetzungen möglich.

Dr. med. Dr. phil. Alfried Längle hat dazu diese Grundlagenforschung phäno-

menologisch und personal weiterentwickelt. Sein Augenmerk richtet sich auf

das subjektive Werteempfinden und die Beziehung, die zwischen den Werten

und der Person besteht.

Er hat untersucht welche Grundbedingungen für den Menschen gegeben sein

müssen, um sich auf die Werte in der Welt einlassen zu können. Dazu hat er

herausgefunden, dass drei Kernerfahrungen für den Menschen unerlässlich

sind:

Grundvertrauen (1. Grundmotivation)

Grundwerterleben (2. Grundmotivation)

Selbstwertgefühl (3. Grundmotivation)

Sie führen dazu, dass der Mensch erspüren kann, was für seine Person wichtig

ist, um somit ein sinnvolles und erfülltes Leben führen zu können

(4.Grundmotivation):

Wissen was ich will – und handeln

Wissen was ich nicht will – und lassen

- Leben sinnvoll gestalten -

2 Praxisbericht 8

2.2.1 1. Grundmotivation

Grundvertrauen als Fundament für den Lebenswillen

Das Grundvertrauen des Menschen basiert auf der Akzeptanz der Welt, wie sie

sich ihm zeigt, und in dem Bewusstsein in dieser Welt gehalten zu sein und hier

einen sicheren Platz vorzufinden. Mit der Erfahrung, dass er in diesem natürlich

begrenzten Lebensraum (ein durch die Geburt vorgegebenes biologisches, so-

ziologisches und psychologisches Umfeld) Halt und Sicherheit findet, kann er

sich vertrauensvoll auf das Leben einlassen. Insbesondere in Lebenskrisen wird

der Mensch dann nicht ins Bodenlose fallen, in die unendliche Verzweiflung.

In der Welt besteht dieses Sicherheitsnetz einerseits durch die Natur mir ihrer

Vielfalt und ihrer Beständigkeit im Wandel. Hier kann der Mensch sich wieder

finden als Teil des Universums und in seiner Bestimmung als wichtiger Bestand-

teil der Welt. Andererseits wird das Netz durch den Menschen selbst geknüpft -

durch sein Ja zu sich selbst und sein Da-sein für den Anderen oder durch sein

Schaffen von Gesetzen und Traditionen, gesellschaftlichen Strukturen und Reli-

gionen. Hierdurch wird seine Welt berechenbar. Der Mensch fühlt sich gehalten

vom Alltäglichen.

Dadurch erwächst der Mut und die Kraft sich auch der Zerbrechlichkeit der Le-

bensbedingungen stellen zu können. Der Lebenswille wird gestärkt durch Ge-

lassenheit und Hoffnung. Die Gewissheit, dass immer jemand oder etwas den

Menschen durchs Leben trägt, schafft Handlungsspielraum für seine Person. In

diesem Raum kann er sich existentiell verwirklichen.

Mangelt es an Grundvertrauen setzt Misstrauen ein, das Gefühl des Ausgelie-

fert-seins. ‘Nicht so leben können’ löst die Angst aus, nicht mehr lebensfähig zu

sein, behindert ein Leben - wollen.

2 Praxisbericht 9

2.2.2 2. Grundmotivation

Grundwerterleben als Fundament für Lebenslust

Lust haben auf Leben - Ging es beim Grundvertrauen um die Akzeptanz des

Faktischen spiegelt sich beim Grundwerterleben das Wertempfinden wider, die

Lebensqualität. Werte erfasst der Mensch dadurch, dass er Attraktionen wahr-

nimmt und Lust spürt in Beziehung zu gehen. Angefangen bei sich selbst- beim

erlebten Eigenwert - richtet er sich auf die Werte in der Welt aus. Jemanden

(vor allem sich selbst) mögen ohne Leistung einzufordern, dabei verweilen, sich

vertraut machen – all dies schafft Nähe und macht Beliebiges einmalig und

wertvoll. Damit verbunden ist das Erleben der Mannigfaltigkeit aller Emotionen,

wie z.B. Freude, Dankbarkeit, Liebe, Wut und Trauer.

Ein positiver Grundwert entwickelt sich durch Erfahrungen, bei denen Nähe und

Geborgenheit spürbar wurden. Sich selbst wertschätzen, die Zuwendung ande-

rer Menschen empfangen und dem Anderen zugeneigt sein, berührt sein von

der Natur, Kraft schöpfen aus einem Glauben – hierbei wird der Mensch vom

Leben berührt, er wird lebendig. Dadurch entwickeln sich eine optimistische

Wahrnehmung der Gegebenheiten und ein soziales Wohlbefinden.

Wenn das Grundwertempfinden nicht ausgeprägt ist, wird das Leben mehr als

Last denn als Lust empfunden. Die eigene Wertschätzung geht verloren und

das Gefühl, nicht liebenswert zu sein, beherrscht die Person. Der Mensch ver-

liert sich und hat Angst vor weiteren Beziehungsverlusten.

2 Praxisbericht 10

2.2.3 3. Grundmotivation

Selbstwertgefühl als Fundament für ein selbstbewusstes Leben

Wird der Mensch in seiner Eigenart, die unverwechselbar einmalig ist, gesehen

und respektiert, kann er sich Raum nehmen für die Entwicklung seiner Persön-

lichkeit.

Dieser Prozess beginnt mit dem Vertraut-werden mit sich selbst: Wer bin ich?

Was will ich? Was kann ich?

Durch den Freiraum, in dem der Mensch sein eigenes Selbstverständnis leben

kann (alles darf sein), durch ein Gegenüber, an dem er wachsen kann, und

durch das Recht auf Abgrenzung können diese Fragen beantwortet werden. Die

eigene Identität wächst, das Annehmen der persönlichen Beschaffenheit, und

mit ihr die Authentizität (das Bewusstsein darüber, was mit der eigenen Person

stimmig ist und was nicht).

Das gelebte Selbst wird wertvoll, weil es spürbar stimmig ist mit der Person und

von ihr auch nach außen vertreten werden kann. Ein selbstbewusstes Leben

will im sozialen und kommunikativen Miteinander gelebt werde, strahlt Lebens-

freude und Zufriedenheit aus.

Dazu braucht es jedoch Menschen, die die jeweilige Person als kostbares Indi-

viduum achten, sie fordern und fördern, loben und kritisieren. Menschen, die die

Person anfragen und versuchen zu verstehen anstatt sie den eigenen Vorstel-

lungen anzupassen.

Kann diese Erfahrung im eigenen sozialen Umfeld nicht in ausreichendem Ma-

ße gemacht werden, und dadurch das Eigene nicht gelebt werden, entsteht die

Angst vor Abhängigkeit und Verletzungen.

2 Praxisbericht 11

2.2.4 4. Grundmotivation

Der Lebenssinn

Grundvertrauen, Grundwerterleben und Selbstwertgefühl – wer hierin gefestigt

ist, wird sich auf die Sinnsuche begeben wollen. Er ist motiviert sich auf das Le-

ben einzulassen und darin die wertvollste Möglichkeit jeder Lebenssituation auf-

zuspüren. Damit gibt er seinem Leben Sinn, er führt ein erfülltes Leben.

Wer das Leben in seiner ganzen Fülle erleben kann hat jederzeit ‘genug Leben’

und kann mit diesem Gefühl auch die Begrenztheit der Lebensbedingungen und

des Lebens selbst annehmen.

Diese aufgeführten Grundmotivationen sind in jedem Menschen verankert, nicht

immer ausreichend und nicht immer gleich gut spürbar. Deshalb neigen wir zu

Copingreaktionen, sprich Verhaltensmechanismen, die dazu dienen, die Angst

aufzufangen, die durch die jeweilige Verunsicherung in den Grundmotivationen

entsteht.

Wir flüchten oder werden aggressiv, wir definieren uns über unsere Arbeit, wir

werden formalistisch oder rechtfertigen uns. Wenn wir unseren inneren Hand-

lungsspielraum verlieren, kann es dazu führen, dass wir neurotisch oder krank

werden.

Die existenzanalytische Beratung/Begleitung bezieht sich darauf, die Behinde-

rung in den Grundmotivationen aufzudecken und die vorhandenen Ressourcen

der Person außerhalb ihrer Blockaden oder Krankheit zu stärken.

2 Praxisbericht 12

2.3 Prämissen für die Beratung psychisch kranker Menschen

Die Vorgehensweise von Beratung hat A. Längle kurz und präzise folgender-

maßen definiert:

„Beratung vermittelt Kenntnisse und Anleitungen zur selbständigen Lösung von

seelisch-geistigen Problemen über das Mittel der Klärung (erkennen) und

Übung (Fähigkeiten und Ressourcen mobilisieren und in der Praxis einsetzen).“

[2] Längle, 2001, 8

Damit aber der Wille zur Veränderung und somit der Wunsch nach Beratung

von Menschen mit psychischen Handicaps geäußert werden kann, müssen Ver-

trauenswürdigkeit und Offenheit des Beraters für sie deutlich spürbar sein.

Diese Voraussetzung schafft der Berater meines Erachtens durch:

Verlässlichkeit, Berechenbarkeit und eine phänomenologische Haltung.

Das heißt zunächst einmal zuverlässig sein in der Präsenz.

Durch meine Mitarbeit im Café und meine telefonische Erreichbarkeit im Rah-

men notwendiger Flexibilität stelle ich meine Person und Zeit für Beziehung zur

Verfügung und öffne mich dadurch für Nähe. Die Teammitglieder und die psy-

chisch erkrankten Gäste können darauf vertrauen, dass ich durch meine Anwe-

senheit greifbar bin und sie meiner Zuwendung gewiss sein können

(1.GM/2.GM).

Ebenso vermitteln sich Halt und Vertrauen durch Berechenbarkeit.

Im Rahmen dieses Projekts können Raum, Zeit, Nähe und Distanz individuell

mit dem Klienten abgestimmt werden. In der Beratung ist auch Raum für meine

Person, sodass Nähe entstehen kann. Ich kann mich zeigen in meiner Eigen-Art

des Denkens, Handelns und Fühlens. Damit übernehme ich nicht nur aktiv eine

Rolle, sondern fülle sie mit meiner Persönlichkeit.

Indem ich mich öffne soweit wie möglich bzw. nötig, haben die Klienten auch

dadurch ein Gegenüber, das sie erfassen können (2.GM).

2 Praxisbericht 13

Letztendlich signalisiert die phänomenologische Haltung ein wirklich Interes-

siert-sein an dem Wesen des Anderen und die Wertschätzung gegenüber sei-

ner Person (3.GM).

Diese Haltung kommt zum Ausdruck

wenn der Berater den Gesprächspartner als Person anfragt und ihn nicht

‘als Krankheit‘ anspricht

wenn er offen ist, für das, was der Klient von sich zeigt und er ihn nicht

im Kontext seiner Vorstellungen und Erfahrungen interpretiert

wenn er dem emotionalen Verstehen-können Zeit lässt und sowohl sich

selbst als auch dem Anderen im Umgang miteinander Unsicherheiten

zugesteht

[3] vgl. Heitger-Giger, 1993, 58

Ist der Umgang des Beraters mit den psychisch erkrankten Menschen un-

beständig, nicht authentisch oder oberflächlich wird deren Person nicht sichtbar.

Ihr Verhalten ist dann geprägt von Copingreaktionen (ihr Schutzbedürfnis ist

sehr hoch) oder langjährige Klienten haben ein Repertoire programmierter

Handlungen und Äußerungen, mit dem sie schon viele Therapeuten zufrieden

gestellt haben.

2 Praxisbericht 14

2.4 Die Person

Ausgerüstet mit dem Gedankengut der Logotherapie und meiner Person geht

es mir nun hauptsächlich in meiner Arbeit darum, die Person der Klienten zu

stärken.

Doch was ist Person?

Ist jeder Mensch eine Person und infolgedessen auch eine Persönlichkeit?

Frankl formuliert es wie folgt:

„Während ich das Schicksal gestalte, gestaltet die Person, die ich bin, den Cha-

rakter, den ich habe, und dadurch gestaltet sich die Persönlichkeit, die ich wer-

de.“ [4] Frankl

Demnach ist jeder Mensch Person und stets werdende Persönlichkeit, die zum

Ausdruck bringt, wie der Mensch die Gegebenheiten mit seinen Möglichkeiten

gestaltet.

2.4.1 Philosophischer Exkurs zum Begriff der Person

In der Semantik hat der Begriff der Person mehr als eine Bedeutung. Im norma-

len Sprachgebrauch ist damit das menschliche Einzelwesen gemeint oder ein

Träger von Rechten und Pflichten (z.B. die juristische Person).

In der Philosophiegeschichte wird jedoch mit dem Begriff Person die Frage nach

dem Selbstverständnis eines vernunftbegabten Individuums gestellt.

Existenzphilosophen sprechen vom ‘wahren Ich’, das jede Maske durchtönt (lat.

personare) oder vom ‘Selbst-Sein’.

Annemarie Pieper fasst ihre Erkenntnisse wie folgt zusammen:

„Person ist vielmehr ein ganzheitlicher Vollzug, der unter einer Bedingung steht,

die dem Vollzug seine Richtung und damit einen Sinn gibt […] Zur Person

macht man sich jedoch selbst – in Gemeinschaft mit anderen Personen, von

2 Praxisbericht 15

denen man sich zugleich abgrenzt. […] Im personalen Selbstvollzug vermittelt

demnach das Individuum sich mit sich selbst über die Menschheit […] Person

ist somit ein normativer Begriff, der Verpflichtungscharakter hat. Man kann nicht

beliebig Person sein, aber man ist auch nicht unausweichlich gezwungen Per-

son zu sein. Da mit ‘Person’ ein Freiheitsvollzug angemahnt wird, der autonom

erfolgen soll, muss sich das Individuum einem Gesetz unterstellen, dem es per-

sonbildende Kraft zuschreibt.“ [5] Pieper, 2001, 164

Klarer wird der Personbegriff durch das erweiterte Menschenbild von Viktor

Frankl, wonach der Mensch nicht nur durch Körper und Psyche lebt sondern

auch durch einen Geist, einer existentiellen Dimension, aus der heraus er seine

Entscheidungen trifft, die sein Leben prägen. [6] vgl. Frankl 1983, 3

Die Person als geistige Kraft hat die Freiheit sich zu sich selbst und zur Welt zu

verhalten. Bezüglich des Umgangs mit sich selbst spricht er sogar von der

„Trotzmacht des Geistes“: Das Geistige kann sich mit dem Leiblichen und See-

lischen auseinandersetzen und sich davon distanzieren (Selbstdistanzierung).

[7] vgl. Frankl, 1983, 96

Person steht demnach sowohl für Individualität als auch für In-Beziehung-

stehen. Sie ist nichts Statisches oder Substantielles und wird nur im Vollzug

sichtbar. Treffend formulierte der Dialog-Philosoph Martin Buber: „Der Mensch

wird am Du zum Ich.“ [IN 1]

Im gegenwärtigen Personverständnis der Existenzanalyse lebt der historische

Doppelaspekt des Personbegriffs fort, so Helmuth Vetter: „Person als Individua-

lität im Prozess der Selbstfindung und Selbstwerdung und als Relationalität in

der Öffnung zur Welt als In-der-Welt-sein.“ [8] Vetter, 1998, 15

Alfried Längle erweiterte das Personenkonzept, indem er den zweiten Aspekt

der Tradition akzentuierte. Er geht vom Verständnis der Person als „dem in mir

Sprechenden“ aus, zu dessen Wesensbestimmung der Dialog gehört: ange-

sprochen werden, Stellung nehmen und antworten. Dies findet beim Menschen

im Zwiegespräch mit sich selbst statt und in der Beziehungsaufnahme zur Welt.

2 Praxisbericht 16

Philosophisch gesehen ist also der Begriff der Person nicht gut ins Alltagsleben

umsetzbar. Das, was ‘Person’ ausmacht, wird wie bereits erwähnt im Vollzug

sichtbar. Existenzanalytisch konnten aber daraus durchaus konkrete Wesens-

merkmale herausgestellt werden, die sich in Viktor Frankls Thesen über die

Person wieder finden:

Die Person ist geistig. Sie lässt sich nicht objektivieren und ist somit weder zeit-

lich noch räumlich festzumachen. Wir können sie nicht be-greifen, sondern nur

verstehen. Zum Verstehen bedarf es jedoch des Ausdrucks. Hier ‘bedient’ sich

die Person des Psychophysikums.

Durch Soma und Psyche kommt sie zum Vollzug. In ihrer Eigenständigkeit steht

sie mit Körper, Intellekt und Emotionen im Dialog, kann sich aber von deren Be-

findlichkeiten distanzieren und sich dazu frei verhalten. Die Person ist der Steu-

ermann im menschlichen Gefüge.

In dieser Freiheit grenzt sie sich auch ab von den organischen Eigenschaften

des Gesund- bzw. Krankseins. Sie ist immer ein Ganzes, nicht defizitär, nicht

leistungsorientiert, nicht bewertbar. Sie fühlt nicht und denkt nicht – sie spürt:

Wahrheit und Irrtum, Recht und Unrecht, Erfüllung und Verzweiflung.

Ebenso steht die Person im Dialog mit der Welt. Auch hier kann sie sich frei

verhalten. Aus dieser Freiheit gegenüber den Bedingtheiten (biologisches, so-

ziologisches und psychologisches Schicksal) erwächst die Verantwortlichkeit für

die Antwort auf Lebensfragen.

Ist die Dialogfähigkeit der Person mit ihrer Welt nicht gehemmt oder fixiert, sind

die individuellen Antworten auf die Gegebenheiten ein Kennzeichen für die Dy-

namik der Person und machen sie in ihrem So-sein und Da-sein unverwechsel-

bar und unvergleichbar. Wenn die Person zum Vollzug kommt, wird der Mensch

lebendig.

[9] vgl. Frankl, 1991,108; Kolbe, 2001, 54

Auf dieser Grundlage Frankls hat Alfried Längle den Begriff ‘Person’ in der Per-

sonalen Existenzanalyse mit dem Fragen nach den Voraussetzungen für eine

personale Existenz noch ‘persönlicher’ gefasst.

2 Praxisbericht 17

Längle richtet das Augenmerk auf den notwendigen Prozess, der dem sinnvol-

len Existenzvollzug vorausgeht. Durch ein phänomenologisches Vorgehen rückt

er die „subjektive Erlebnisweise des Personseins“ in den Vordergrund. Chris-

toph Kolbe beantwortet die Frage „Wie erlebe ich Person-sein?“ wie folgt:

„Frankl arbeitete mit seiner kopernikanischen oder existentiellen Wende heraus,

dass der Mensch ein vom Leben Befragter ist und im Beantworten der je eige-

nen Lebensfragen seine Existenz vollzieht. Das heißt unter anderem, dass der

Mensch angesprochen wird von der Welt, vom Leben, und das wiederum heißt:

Der Mensch ist ansprechbar. Von hierher könnten wir auch sagen: Ich will an-

gesprochen werden. Dabei spüre ich, dass es unverwechselbar um mich geht.

Ich will aber nicht nur angesprochen werden, ich will- zweitens - auch verstan-

den werden. Und drittens: Ich will, dass auf mich eingegangen wird, dass ich

nicht nur verstanden werde, sondern auch – im Eingehen auf mich – Antwort

erhalte. Zum Person-sein gehört nun nicht nur, dass ich diesen Dreischritt erle-

be, sondern, dass ich ihn auch selbst vollziehe, indem ich anspreche, verstehe

und antworte.“

Der Vollzug der personalen Existenz führt also über

den emotionalen Eindruck, den der Mensch als Wertberührung verspürt

das Selbst-bewusst-sein durch die Stellungnahme zum Eindruck unter

Berücksichtigung der Gesamtheit der Wertbezüge (Selbstdistanzierung)

das Erleben der Vollzugswirklichkeit im Ausdruck als Hinwendung zur

Welt (Selbsttranszendenz)

[10] Kolbe, 2000, 39

Dieser Prozess findet auf dem Nährboden der Grundmotivationen statt. Je

nachdem wie gut der Boden mit Vertrauen, Lebensfreude und Selbstbe-

wusstsein angereichert wurde, wird die Person durch das Gestalten der Gege-

benheiten wachsen können und ein erfülltes Leben ernten. Bei ‘Wachstumsstö-

rungen’ wird die Person gestärkt durch die Hinführung zu einem neuen Erleben

und Spüren, das Leben annehmen zu können und das Eigene leben zu dürfen

2 Praxisbericht 18

2.5 Die personale Begegnung als Mittel und Weg, die Person zu bergen und zu

stärken

Für mein Hauptanliegen, die Stabilisierung der Person, müssen wie bereits er-

wähnt die Defizite in den Grundmotivationen aufgespürt und aufgefüllt werden.

Das größte Wirk-Moment hat hierzu die personale Begegnung. Sowohl bei der

Teamarbeit im Café als auch in Einzelgesprächen bieten sich viele kontinuierli-

che Gelegenheiten.

Laut Beda Wicki werden Klarheit, Festigkeit und Halt durch die personale Be-

gegnung vermittelt. Das ist der Boden, um den Klienten darin zu unterstützen,

durch eigenes Erleben von Können, Zuwendung und Selbst-sein-dürfen seine

Fähigkeiten und Kräfte zu mobilisieren. [11] vgl. Wicki, 2006, 54

Um diesen Boden zur Selbstwerdung zu schaffen bedarf es:

eines gemeinsamen Erlebnisses oder einer gemeinsamen Aufgabe

der Beachtung des Anderen

dem Gerecht-werden seines Wesens

der Wertschätzung

der emotionalen Berührung

Das gemeinsame Ziel, das Café zu betreiben, bietet ein optimales Umfeld für

Berührungspunkte. Hier kann durch die Arbeit im Sich-zueinander-verhalten wie

Wagner es ausdrückt ein „lebendiges Lernen“ stattfinden.

[12] vgl. Wagner, 2006, 52

Das Lernen bezieht sich auf die Verrichtung der erforderlichen Tätigkeiten im

Rahmen des Cafébetriebes wie z.B. Kaffee kochen, Speisenzubereitung, das

Servieren, die Bedienung der Kasse oder das Putzen. Gleichzeitig geht es um

das Lernen bzw. das Wieder-erlernen von Höflichkeit, Pünktlichkeit, Zuverläs-

sigkeit und Zusammenarbeit.

In den wöchentlichen Teamsitzungen diskutieren die Mitarbeiter über die Aus-

stattung der Räumlichkeiten und die Hygienevorschriften, die Öffnungszeiten,

die Angebote von Speisen und Getränken und über die Veranstaltungen.

2 Praxisbericht 19

Neben der Klärung von organisatorischen Problemen geht es aber hauptsäch-

lich um die Auseinandersetzung mit den Verhaltensweisen der Teammitglieder.

Dabei werden die Klienten mit ihren Defiziten konfrontiert, sei es durch Kritik

oder durch Lob, durch die Erwartungshaltung der Mitarbeiter oder ihre eigenen

unrealistischen Erwartungen.

An dieser Stelle wird es wesentlich und es findet die logotherapeutisch-

existenzanalytische Begleitung durch den Prozess statt (formulieren der Fakten

- verstehen worum es ‘eigentlich’ geht - verändern oder vertreten). Aus diesem

Geschehen heraus ergeben sich zusätzlich Einzelgespräche, situativ, oder ge-

gebenenfalls längerfristige Gesprächsreihen, wenn der Klient den Wunsch nach

Erklärung und/oder Veränderung hat.

Bei der Gruppenarbeit Ideen zu sammeln und umzusetzen und/oder Probleme

aufzuzeigen und zu meistern, setzt voraus, der einzelnen Person ausreichend

Beachtung zu schenken.

„Die Hauptvoraussetzung zur Entstehung eines echten Gesprächs ist, dass je-

der seinen Partner als diesen, als eben diesen Menschen meint“, sagt Martin

Buber. [13] Buber, 2002, 283

Dazu gehört das Angesprochen-werden und das Sprechen-dürfen in einem laut

Pfanner „fehlertoleranten Klima“. Jeder darf sich zeigen in seiner Wahrneh-

mung, in seinem Denken und Fühlen, ohne Angst haben zu müssen, etwas

„Dummes“ zu sagen. [14] vgl. Pfanner, 2005, 26

Vorstellungen und Erwartungen haben Raum, damit sichtbar werden kann, was

dem Einzelnen wichtig ist. „Mich zu irren, mein unfertiges Denken öffentlich zu

machen, mich in dem zu zeigen, was mich bewegt, obwohl ich es noch nicht

verstehe, gehört zum Wagnis des Lernens.“ [15] Pfanner, 2005, 31

Deshalb bitte ich in den Teamsitzungen um die Stellungnahme jedes Einzelnen

und fordere zum ‘lauten Denken’ auf. Eingeübt werden an dieser Stelle auch

Kommunikationsregeln: den Anderen ausreden lassen, ihm zuhören und ihn

ernst nehmen, um ins Verstehen zu kommen.

Denn, Bezug nehmend auf H.Vetter, sind Zueinander-reden und Aufeinander-

hören wesentliche Bestandteile dessen, was in der Philosophie des Dialogs

‘Begegnung’ heißt. [16] vgl. Vetter, 1998, 20

2 Praxisbericht 20

Und das, was unverblümt zum Ausdruck kommt, ist in diesem Kreis ein Feuer-

werk an primären Emotionen, die sich bei einigen leider aber auch festge-

schrieben haben, nicht in gegenwärtige Wertbezüge eingebunden sind und so-

mit nicht mehr personal sind.

Durch die spontanen Impulse zeigt sich „die Person, die auf Grund ihres Ge-

wordenseins, ihrer Haltungen und Einstellungen, ihrer Persönlichkeitsstruktur

und ihrer Körperlichkeit zu dieser, im eigentlichen Sinn des Wortes ursprüngli-

chen Emotionalität fähig ist.“ [17] Längle, 1991, 47

Jetzt gilt es für den Berater, den ersten Eindruck wahrzunehmen, ihn verständ-

lich zu machen für die betreffende Person selbst und für die anderen Gruppen-

mitglieder, um dadurch dem Wesen der Person gerecht zu werden.

Die Kunst ist es durch eine emotionale Verbundenheit das Teammitglied zu er-

fassen in seinem Können und Wollen und ihm dadurch eine Wertschätzung zu-

teil werden zu lassen. Hierbei erlebt der Klient, dass er wichtig ist und dass er

es wert ist, dass sich jemand für ihn einsetzt (in diesem Fall der Berater, der ihn

darin unterstützt verständlich zu werden).

Wenn dem individuellen So-sein das Dürfen gegeben wird, wird dadurch der

Selbstwert gestärkt. (3.GM)

Emotionales Zugewandt- sein kann sich aus meiner Erfahrung jedoch nicht so-

fort einstellen. Durch ein grundsätzliches Ja zum Anderen beruht die Beziehung

zunächst auf Respekt und Achtung. Ein emotionales Berührt-sein, ein Spüren

des Gegenübers, hat sich jedoch bei mir vor allem in Einzelgesprächen erge-

ben, wenn sich atmosphärisch eine Geborgenheit einstellte, die es dem Klienten

erlaubte nur ‘Ich’ zu sein.

Die personale Begegnung sowohl im Team als auch in Einzelgesprächen bein-

haltet immer auch die Ausrichtung auf einen Wert, auf den eigenen Wert, auf

den Wert des Anderen oder der Aufgabe. Hierbei gilt es die Klienten, wie Milz

es ausdrückt, darin zu unterstützen, sich zu positionieren, sie zu fordern und zu

fördern:

gemäß ihrem Können

in dem, was sie grundsätzlich anspricht

wo sie mit ihren Neigungen und Fähigkeiten als Person gefragt sind und

wo sie etwas tun können, was im Gesamtkontext für sie und andere als

sinnvoll angesehen wird [18] Milz, 2005, 58

2 Praxisbericht 21

2.6 Die Praxis

Die Teammitglieder des Cafés haben unterschiedliche Defizite: sie sind psycho-

tisch, depressiv, alkoholkrank, verhaltensgestört. Einige sind seit langer Zeit da-

bei, andere sind mit dem Sprungbrett des Cafés ins ‘normale’ Leben entlassen

worden, wieder andere kommen immer wieder oder sie werden einmal mehr

von ihrem Krankheitsbild beherrscht. Das, was alle verbindet, ist ihre Erfahrung

bei der Arbeit im Café Erfolg gehabt zu haben durch persönliche Erfüllung.

Erfolg, der erfolgte durch Gesehen- und Gehört-Werden, durch Wertschätzung

ihrer Fähigkeiten, durch Verantwortung, die sie übernommen haben.

[19] vgl. Längle, 2007, 91

Anhand ihres Werdegangs, den ich begleitet habe bzw. begleite (zwischen 1

und 3 Jahren), werde ich veranschaulichen wie logotherapeutisch-

existenzanalytische Beratung bei psychisch kranken Menschen den Kreislauf

ihnen hinreichend bekannter Therapieformen durchbrechen kann, durch einen

anderen Blickwinkel und veränderte Bedingungen in der Beratung.

Der andere Blickwinkel stellt sich dadurch ein, dass die Klienten mehr zu ihrer

Person als zu ihrer Krankheit be- und hinterfragt werden (s. phänomenologische

Haltung des Beraters). Die nicht üblichen Bedingungen in einem logotherapeu-

tisch-existenzanalytischen Beratungsgespräch ergeben sich durch die Freiwil-

ligkeit und dadurch, dass sie selbst vorgeben was als Thema für sie im Hier und

Jetzt wichtig ist. Dadurch haben stereotype Antworten weniger Raum und die

Klienten müssen mehr Verantwortung übernehmen, indem sie den Freiraum

haben, ihr eigenes Ziel zu definieren, und indem sie sich ihrer Möglichkeiten

bewusst werden und Stellung beziehen müssen zu den getroffenen Entschei-

dungen. (Was willst du tun und/oder lassen, damit sich dein Leben gut anfühlt?)

Der Krankheitsaspekt rückt in den Hintergrund. Die Krankheit ist nicht persönli-

ches Kennzeichen, sondern als ein dazugehöriger Teil der Person und gleich

anderen Wesensmerkmalen sowohl begrenzt als auch veränderbar.

2.6.1 Josef

Josef (27) ist mit einer Körpergröße von 1,80 m und einem Gewicht von 130 kg

ein ‘ganzer Kerl’. Wenn er kommt, nimmt er Raum ein, im wahrsten Sinne des

2 Praxisbericht 22

Wortes. Während des Abiturs ist er psychotisch geworden, ist seitdem in Be-

handlung: medikamentös eingestellt, wöchentliche Gesprächstherapie. Von den

Medikamenten hat er stark zugenommen und sein Schlaf-Wach-Rhythmus ist

durcheinander geraten. 12-13 Stunden Schlaf täglich braucht er mindestens. In

den Schlaf findet er jedoch erst in den frühen Morgenstunden, sodass er seine

Tage verschläft. Dieses Leben macht ihn unzufrieden. „Meine Gedanken krei-

sen nur noch um mich selbst und die einzige Ablenkung sind die Nächte in den

Kneipen.“ Seine Therapeutin hat ihm empfohlen durch sinnvolle Arbeit im Café

diesen Kreislauf zu durchbrechen und eine Tagesstruktur aufzubauen.

Die Arbeitszeiten entsprechen seinem jetzigen Lebensrhythmus (16.00 – 22.00

Uhr) und so begegnen wir uns im Frühjahr 2006 zum ersten Mal. Josef wird für

den Thekendienst eingeteilt, in Zusammenarbeit mit mir. Das ermöglicht mir,

Eindrücke zu sammeln, Schwierigkeiten bzw. Förderungsmöglichkeiten zu er-

kennen.

Der erste Eindruck, den Josef hinterlässt, spiegelt das Bild eines ‘ganz norma-

len’ Jugendlichen wider. Die Erkrankung hat –so scheint es- die Zeit stillstehen

lassen: er ist intelligent und reflektiert, humorvoll und sensibel, er philosophiert

gern und flirtet gern – alles auf dem Niveau eines 18- Jährigen. Bei der Arbeit

wirkt er behäbig und neigt zur Faulheit, bei vermehrtem Kundenverkehr behält

er seine stoische Ruhe (zum Leidwesen der Kollegen, die ihn dann bitten, doch

mal ‘einen Schritt schneller’ zu gehen).

Josef wird schnell, wenn es um Musik geht: Keyboard, Gitarre, Gesang. Bei den

monatlichen Karaokeveranstaltungen wird er richtig lebendig, ist dann oft der

Beste des Abends und kann mit einem Preis nach Hause gehen.

In den wöchentlichen Teamsitzungen fällt er dadurch auf, dass er sich für Ande-

re einsetzt, schützend, wenn sie Fehler gemacht haben – aufmunternd, wenn

sie sich nicht trauen ihre eigene Meinung zu sagen.

Nach wenigen Wochen kommt Josef immer öfter verspätet zum Dienst. Er über-

legt, wieder auszusteigen, weil er einen Kopfdruck verspürt. Das wäre ein Zei-

chen dafür, dass ihm die Arbeit wohl doch zuviel sei. Er hätte auch Angst wieder

psychotisch zu werden. „Aber ich weiß jetzt schon: wenn ich hier aufhöre, macht

mich das noch unzufriedener.“

Diese Zerrissenheit zwischen dem Willen nach Veränderung und dem Fallen-

lassen in alte Lebensgewohnheiten – zwischen dem lebendigen Josef und der

von der Welt abgewandten Person (Schlaf/Psychose) – dieser innere Wider-

2 Praxisbericht 23

streit wird für mich die Grundlage für eine intensive Betreuung im Rahmen sei-

ner Mitarbeit.

Nach den Teamsitzungen treffen wir uns wöchentlich zu einem Gespräch und

innerhalb der Möglichkeiten, die das Café bietet, probiert sich Josef ganz prak-

tisch aus.

Seine Beweggründe sich mir anzuvertrauen und sich auf die Arbeit einzulassen,

sind sein beständig ‘schlechtes Gewissen’ und seine Unzufriedenheit, die seiner

Meinung nach durch sein übermäßiges Schlafbedürfnis verursacht wird.

Josefs Haltungen gründen sich u.a. auf folgende Geschehnisse:

Josef wurde in baptistischem Glauben erzogen und seine Wertmaßstäbe sind

überwiegend nach den Wertbezügen der depressiven Mutter ausgerichtet.

Mit 18 wurde er wie bereits erwähnt in der Abiturphase zum ersten Mal psycho-

tisch. Nach bestandenem Abitur begann er eine Ausbildung als Tischler, die er

abbrach, weil ihm das handwerkliche Geschick fehlte. Daraufhin wollte er Musik

studieren, um sein Hobby zum Beruf zu machen. Dieses Ansinnen wurde je-

doch massiv von der Mutter boykottiert, da so ein Berufswunsch nicht ihren

Vorstellungen von einem ‘guten christlichen Sohn’ entsprach. Josef fügte sich,

da er „sie liebte und sie durch ihre Krankheit Rücksichtnahme verdient hatte“. Er

begann ein Bibelstudium, um Prediger in der Gemeinde zu werden. Die Musik

sollte den Gottesdiensten vorbehalten bleiben. Wiederholt wurde er während-

dessen psychotisch und verbrachte mehrere Monate in einer psychiatrischen

Klinik.

Das Studium brach er ab.

Jetzt lebt er fernab von seiner Familie in einer eigenen Wohnung, nimmt regel-

mäßig Medikamente und hat wöchentliche Gesprächstherapie.

Sein Lebensgefühl ist in kindlicher Art und Weise durch die Begriffe angenehm

und unangenehm geprägt. Angenehm ist Bedürfnisbefriedigung (z. B. lange

schlafen, Fastfood essen), in Harmonie mit Gott zu sein, in der Gemeinde auf-

genommen zu sein, zum Wohlgefallen seiner Mutter zu leben. Unangenehm

wird es dann, wenn er sündigt: Bedürfnisse außerhalb dem religiös Zugestan-

denen befriedigt (z.B. in der Sexualität), wenn er Worte der Bibel anzweifelt,

wenn sein Wille unrecht ist, weil er nicht mit Gottes Willen übereinstimmt. Der

Leitspruch der Gemeinde erlaubt den eigenen Willen nur als Ausführungsorgan

2 Praxisbericht 24

für den Willen Gottes: „Gott leitet die Menschen durch den Heiligen Geist zum

rechten Verstehen der Bibel und zum Tun seines Willens.“

Die vermeintliche Sicherheit, die der Glaube bietet, muss erkauft werden durch

die Hergabe des Raumes für das Selbst-sein (3.GM).

Unzufriedenheit und das ‘schlechte Gewissen’ sind somit das vorsätzlich ge-

schaffene immer wackelnde Lebensgerüst für Josef, das die Kirche mit Verge-

bung und Buße stabilisiert und als Halt - Erfahrung der ‘ Liebe’ Gottes zuordnet.

Fazit:

Lebt Josef nach den Glaubensgrundsätzen der Kirche, werden seine Wert-

maßstäbe unterdrückt und seine Person kommt nicht zum Vollzug. Hört er hin-

gegen auf sein Gespür, gibt er seinen intentionalen Gefühlen Raum und nimmt

sich das Recht des Nach-Denkens und Quer-Denkens, fühlt er sich als Sünder,

der sich von Gott entfernt. (Die Verbundenheit mit Gott ist ihm ein hoher Wert.)

Beide Verhaltensweisen schließen also immer ein freies Verhalten seiner Per-

son aus und machen ihn letztendlich unzufrieden. Die Unzufriedenheit ist Kräfte

zehrend, sie macht müde. Reicht der Rückzugsort ‘Schlaf’ nicht aus, flüchtet

Josef in die Psychose (1.GM/Totstellreflex als Schutzmechanismus).

Josefs Ziel ist es zufriedener zu werden, das ‘schlechte Gewissen’ nicht mehr

sein Leben bestimmen zu lassen und eigenes Geld durch Arbeit zu verdienen.

In den Gesprächen reflektieren wir über zuständliche Gefühle (Bedürfnisse) und

intentionale Gefühle (auf einen Wert ausgerichtet). Josef wird sich dessen be-

wusst, dass er nicht, wie er befürchtet, als ‘personifiziertes Bedürfnis’ auftritt.

Bedürfnisbefriedigung findet immer im Kontext seiner Erziehung, seines Wis-

sens und seiner Wertmaßstäbe statt. Dies konnte ich ihm anhand mehrerer Bei-

spiele verdeutlichen. Schwieriger wird es das Gespür für seine authentischen

Wertbezüge zu bergen.

2 Praxisbericht 25

Da uns allen das Gespür für das „Eigene“ in unserem Leben in der Schnellle-

bigkeit des Alltags oft verloren geht, ist mir selbst nachfolgende These von

Frankl in meiner Ausbildung eine große Hilfe mir auf die Spur zu kommen:

“Solange es Angst vor Strafe gibt, die Hoffnung auf Belohnung oder den

Wunsch dem Über-Ich zu gefallen, ist das Gewissen noch nicht zur Sprache

gekommen.“ [20] Frankl

Aus diesem Blickwinkel heraus überprüfen wir gemeinsam Josefs Einstellungen

und Handlungen. Er erkennt Zusammenhänge, kann sich von einigen Einstel-

lungen distanzieren oder Handlungen bewusst zustimmen.

Schwerpunktthema ist in unseren Gesprächen jedoch Josefs Prägung durch die

Religion.

Das Grundvertrauen (1.GM), das durchaus im Glauben verankert sein kann, ist

für jeden Menschen lebenswichtig, um aus der Sicherheit und Geborgenheit des

Gehalten-werdens wachsen zu können.

Der baptistische Glaubensgrundsatz hingegen verkehrt Sicherheit in Indoktrina-

tion und Geborgenheit in Vereinnahmung. Dadurch wird die Person, deren

Hauptwesensmerkmal die Freiheit ist, unterdrückt. Kurzzeitige Entlastung durch

die Möglichkeit Lebensgestaltung und Probleme abgeben zu können, wirkt al-

lerdings verführerisch. Bei Josef zeigt sich indessen ganz deutlich, dass die

Person nicht manipulierbar ist: Unzufriedenheit durch die Unterdrückung des ei-

genen Gespürs für das Wesentliche statt Seelenheil.

Wichtig ist mir deshalb in den Gesprächen aufzuzeigen, dass Religion ein An-

gebot ist einen Schutzraum zu finden, in den der Mensch sich fallen lassen

kann. Doch das eigene Gespür ist immer wieder gefragt zu entscheiden, ob die-

ser Raum die Person umfängt oder einschließt. Josefs Aufgabe wird es sein das

zu überprüfen. Er wird entscheiden müssen, ob die Angst vor „geistiger Ob-

dachlosigkeit“ auszuhalten ist, um seiner Individualität und seiner Selbst-

Werdung gerecht zu werden. [21] vgl. Cammans, 1994, 370

So liegt das wichtigste Ergebnis in der Erkenntnis von Handlungsspielräumen,

die er parallel mit Leben ausfüllt.

Der erste Schritt ist der, dass ich ihn in seinem Vorhaben bestätige, sich inten-

siver mit der Musik zu beschäftigen.

2 Praxisbericht 26

Der Anfang war bereits gemacht. Josef musiziert mit seinem Vater auf privaten

Veranstaltungen von Gemeindemitgliedern. Darauf aufbauend planen wir zur

Weihnachtszeit im Café ein Konzert.

Hierbei geht es nicht nur um den öffentlichen Auftritt, sondern auch um die Ver-

antwortung für die Promotion und die Organisation. Josef kommt ‘in Wallung’.

Der vorher beklagte zu langsame Schritt verwandelt sich in leichtfüßigen Galopp

als es darum geht, Flyer zu entwerfen und zu verteilen, Aufbauten durchzufüh-

ren und Atmosphäre zu schaffen.

Die Konzerteinnahmen und die Einnahmen durch den Verkauf der CD‘s mit dem

Konzertmitschnitt sind neben dem Applaus ein sichtbarer und greifbarer Erfolg

seiner neuen Strategie: Ziel formulieren, Möglichkeiten sehen, Werte abwägen,

Entscheidungen treffen und handeln.

Um seine musikalischen Fähigkeiten weiterhin zum Einsatz bringen zu können,

ermutige ich ihn auch bei seiner Idee Keyboard-Unterricht zu erteilen. Zwei Kin-

der aus seiner Gemeinde nehmen das Angebot sofort an. Hierbei wird für ihn

erlebbar, dass auch in der Gemeinschaft Raum ist für sein Eigenes, dass sein

Eigenes nicht grundsätzlich im Widerspruch zu seinem Glauben steht, sondern

eher die individuelle Einstellung zu Geschehnissen be – bzw. verurteilt.

Josef bleibt auch im Thekendienst im Café und hat keine großen Schwierigkei-

ten die Dienstzeiten einzuhalten (manchmal gibt er doch seiner Faulheit nach).

Seine Belastbarkeit wächst langsam aber stetig.

Die neue Sichtweise der Lebensbedingungen verhilft ihm sogar zu dem Schritt,

sich einer anderen Baptistengemeinde anzuschließen, die seinem Erleben nach

die Auslegung der Bibel weniger streng lebt.

Nach zwei Jahren Arbeit im Café hat Josef einen Arbeitsplatz in den Werkstät-

ten der Institution. Die Arbeitszeit wird von 3 Stunden täglich sukzessive erhöht,

sodass letztendlich ein ‘ganz normaler’ Arbeitstag eingeübt wird. In seiner Frei-

zeit hat sich Josef einer Jazzband angeschlossen und ist nach wie vor der Star

bei Karaoke-Abenden. Zurzeit bemüht er sich um eine gesündere Lebenswei-

se, sprich sich das Rauchen abzugewöhnen und mehr frisches Gemüse anstatt

kalorienreicher Kost zu sich zu nehmen. Unsere Gespräche finden weiterhin je-

doch in größeren Abständen statt.

In kleinen Schritten erfolgen Erfolge durch die Ausrichtung auf das Eigene, auf

das Wert- und Sinnvolle.

2 Praxisbericht 27

2.6.2 Walter

Walters Lebensraum ist das Café. Es ist für ihn Familienersatz, Arbeitsstätte

und Hobbyraum. Walter ist 42 Jahre alt, 1,60 m groß, ein wenig rundlich. Die

meiste Zeit des Tages verbringt er im Café, um zu arbeiten oder als Gast. Er

kennt viele Gäste persönlich, bietet ihnen hier Gitarrenkurse an oder unterhält

sie zur Gitarre mit selbst komponierten Liedern. Ich erlebe ihn als fleißig, zuver-

lässig, hilfsbereit und immer gut gelaunt. Aufgrund seiner Krankheit nimmt er

regelmäßig Medikamente und lebt im Rahmen des Betreuten Wohnens in einer

eigenen Wohnung.

Nach ICD 10.61.0 liegt bei ihm eine dissoziale Persönlichkeitsstörung vor: labi-

les Persönlichkeitsbewusstsein, spontane Bedürfnisbefriedigung und intellek-

tuelle Minderbegabung. „Diese Art von Persönlichkeitsstörung gehört zu dem

gesetzgeberischen Begriff der seelischen Abartigkeit.“, heißt es in einer Beurtei-

lung der Psychiatrie, die ihm als Aktennotiz mitgegeben wurde auf seinen Weg

in die Freiheit. Freiheit hieß für ihn vor drei Jahren: Entlassung aus der Psy-

chiatrie nach dreizehn Jahren, weil er keine Gefahr für die Umwelt darstelle.

Normalerweise interessiere ich mich nicht so detailliert für die Krankengeschich-

te der Klienten. Ich erlebe die Menschen im Hier und Jetzt, in ihren Meinungen

und Handlungen. Sehr interessiert bin ich an dem, was ihnen heute wichtig ist.

Oft zur großen Verwunderung der Klienten, die bisher nur erlebt haben, dass

sie im Zusammenhang mit psychologischer Betreuung als erstes durch Akten

beschrieben und erklärt werden. Die Akte von Walter ‘musste’ ich im Rahmen

einer Gesprächsreihe lesen. Aber dazu später mehr.

Walters Position im Team des Cafés ist die des selbsternannten Hausmeisters,

wobei seine Betonung auf Meister liegt, manchmal durchaus ersetzbar durch

das Wort Chef.

Sein Aufgabenbereich erstreckt sich auf folgende Tätigkeiten: er erledigt die

Einkäufe, er versorgt die Bands, die im Café auftreten, mit technischem Equip-

ment und mit Verpflegung, er verteilt Flyer, und ist der Karaoke-Discjockey.

Wenn Personal fehlt, macht er zusätzlich Thekendienst und gegen einen klei-

nen Obolus putzt er am Wochenende die Räumlichkeiten.

Problematisch wird es, wenn er innerhalb dieser Tätigkeiten andere Teammit-

glieder kontrolliert und kritisiert, wenn er im Alleingang Entscheidungen trifft, die

ins Plenum gehören und wenn er Stellung nimmt zu Vorgängen, deren Beurtei-

lung der Leitung vorbehalten sein sollte.

2 Praxisbericht 28

Im Umgang mit ihm fällt mir auf, dass unsere Kontakte immer flüchtiger Art sind.

Er ist sehr impulsiv in seinen Handlungen, kommt schwer in den Dialog, indem

er oft nicht darauf achtet, ob sein Gegenüber ihm überhaupt zuhört respektive

zuhören kann.

Ende letzten Jahres bat Walter mich um Gespräche. Zu diesem Zeitpunkt hatte

er durch seinen Kontrollzwang und dadurch, dass er sich ungebetener weise

massiv in Leitungsaufgaben einmischte, das Gefühl sich immer rechtfertigen zu

müssen. Dies löste in ihm einen Zwiespalt aus: einerseits spürte er die Disso-

nanz zwischen ihm und den Teammitgliedern bzw. der Leitung – andererseits

war er der Meinung, dass sein Verhalten durchaus gerechtfertigt war. Er wollte

schließlich nur Gutes tun: der Betrieb sollte einwandfrei geführt werden, des-

halb hat er die Kollegen auf fehlerhafte Arbeiten aufmerksam gemacht und uns

wollte er unterstützen im Umgang mit den Anderen mittels ‘seines Gespürs für

kriminelle Energie’.

Wir vereinbaren wöchentliche Termine. Die Gesprächsführung gestaltet sich

anfangs schwierig. Walter wirkt nervös, hält keinen Blickkontakt, schweift vom

Thema ab und lässt mich gar nicht zu Wort kommen. Es gibt keinen Moment

des Verweilens weder optisch noch akustisch. Kein Halt. Keinen Dialog. Das

Beratungsgespräch gerät außer Kontrolle.

Dies ist der erste Ansatzpunkt für Veränderung. Bei den nachfolgenden Ge-

sprächen gebe ich die Sitzposition vor: wir sitzen einander gegenüber, ein Tisch

zwischen uns. Ich bitte ihn, mich während des Gesprächs anzusehen und spre-

che bewusst leise und langsam. Dieses Setting vermittelt ihm Halt (1.GM). Wir

kommen in den Dialog.

Das vordergründige Thema, seine Not sich immer rechtfertigen zu müssen, wird

schnell abgelöst durch die Thematisierung seiner Zeit in der Psychiatrie und der

sich daraus ergebenen Gefühle und Verhaltensweisen. Nach einer traumati-

schen Kindheit landet Walter verwahrlost auf der Straße. Er arbeitet als Strich-

junge und kommt wegen Betrugsdelikte und wiederholten Fahrens ohne Füh-

rerschein erst ins Gefängnis, später in die Psychiatrie aufgrund mangelnden

Unrechtbewusstseins. Dort wird er nach eigener Aussage für sein jetziges Le-

ben geschult. Er fühlt sich in der Psychiatrie ‘dem Abschaum der Gesellschaft

zugehörig’, da seine Mitinsassen auch Mörder und Sexualverbrecher sind. Er

fühlt sich ständig beobachtet und kontrolliert, als Person nicht gesehen und

nicht verstanden. Immer wieder hätte es Anhörungsverfahren gegeben, in de-

2 Praxisbericht 29

nen er auf Entlassung gehofft hatte. Da wäre dann aber jahrelang nach Akten-

lage entschieden worden, ohne genauer hinzuschauen inwieweit er sich verän-

dert hatte. Denn diese harte Schule hat ihn doch auf den richtigen Weg ge-

bracht – davon ist Walter überzeugt. Nur diese Beurteilungen, die ihn verurtei-

len, verunsichern ihn immer wieder. Walter zeigt mir seine Akte, in der seine

seelische Abartigkeit diagnostiziert wurde. (wie bereits erwähnt) Er möchte

dieses Schriftstück mit mir verbrennen. Er habe doch in den letzten drei Jahren

bewiesen wie gut er mit dem normalen Leben zurechtkommt, was ihm damals

keiner zugetraut habe.

Gemeinsam formulieren wir das Ziel um: nicht die Akte muss verbrannt werden,

sondern seine Einstellung zum angeblich Fest-geschriebenen. Dies versteht er.

Im Verlauf unserer Gespräche stellt sich heraus, dass ihm die Zeit in der Psy-

chiatrie fraglos dazu verholfen hat, sich seiner strafbaren Handlungen bewusst

zu werden. Er ist in den letzten Jahren nicht rückfällig geworden. Im Kontext

seiner Lebensgeschichte hat aber auch das Erleben des damaligen Freiheits-

entzugs massive Auswirkungen auf sein heutiges Lebensgefühl.

Für ihn sind feste Tagesstrukturen und feste Bezugspersonen sehr wichtig. Das

vermittelt ihm Halt und Vertrauen (1.GM). Entsteht darin ein Mangel, kommt es

zur zwanghaften Kontrolle seines Umfelds, damit seine Realität verlässlicher

wird. Wenn jedoch das Sicherheitsempfinden in ausreichendem Maße vorhan-

den ist, bricht das mangelnde Selbstwertgefühl auf (3.GM). Dann neigt er zur

narzisstischen Selbstbeschwörung.

All diese Erkenntnisse werden im alltäglichen Umgang miteinander umgesetzt:

Hatte er mir vorher, kaum dass ich das Café betreten hatte, mal ganz schnell

etwas ganz Wichtiges erzählt, so lässt er mich heute erst mal ankommen: Ja-

cke ausziehen, Tasche verstauen, Blickkontakt aufnehmen. In den Teamsit-

zungen achte ich darauf, dass er den Anderen ausreden lässt und zuhört ohne

Zwischenrufe. Mit Humor verweise ich ihn auf seine Position, wenn er seinen

Kollegen Anweisungen geben will oder ihr Verhalten aufgrund seiner langjähri-

gen Erfahrung aus ‘psychologischer Sicht’ interpretiert. Sein zwanghaftes Kont-

rollieren wird gezügelt durch das Regelwerk für die Teamarbeit. Das besagt,

dass derjenige, der nicht im Dienst ist, keinen Zutritt zu Thekenbereich und Kü-

che hat. Regeln kann Walter akzeptieren. Für die Stärkung seines Selbstwert-

gefühls trägt wesentlich das Erleben dazu bei, dass er für seine Leistungen ge-

lobt wird und für seinen Einsatz Dankbarkeit erfährt.

2 Praxisbericht 30

Die Situationen, in denen Walter von der Leitung ein rigoroseres Vorgehen ge-

genüber fehlerhaftem Verhalten einfordert, sind immer wieder Thema unserer

Gespräche. Sein Anliegen ist dabei, uns vor Missbrauch unserer Gutgläubigkeit

zu schützen und dem Verursacher durch Bestrafung auf den rechten Weg zu

verhelfen. An dieser Stelle frage ich sein Vertrauen uns gegenüber an, ob er

uns zutraut, dass wir bewusst handeln. Desweiteren versuche ich mit ihm zu

klären, ob die eingeforderte Bestrafung seiner Einstellung entspricht oder ob es

eher um eine Identifikation mit den damaligen Aufsehern gehe, den vermeintli-

chen Gut-Menschen, jenseits des ‘Abschaums’.

Es geht fortwährend darum, die Person Walter zu bergen, das Ich zu stärken.

Wie bei Josef wird seine Person sichtbar, wenn er sich musikalisch ausdrücken

kann. Das Selbst-sein kommt ebenfalls sichtbar zum Ausdruck, wenn er still

wird und sich traut Gefühle aufkommen zu lassen.

In unseren Gesprächen kann ich ihm die Sicherheit geben, dass er bestimmen

kann wie weit er sich offenbart und wie lange er belastende Gefühle aushalten

kann. Dadurch kann er Trauer und Wut in kleinen Schritten verarbeiten. Außer-

dem reflektieren wir gemeinsam, an welchen Stellen er sich über seine Arbeit

und Position definieren muss, um sich seiner selbst bewusst zu sein.

Mit der Ermutigung zum Selbst-sein-dürfen und dem Bewusstmachen vom

Entwicklungspotential seiner Person werde ich Walter weiter begleiten.

Walters Erfolg liegt in der Wahrnehmung, dass seine Fähigkeiten anerkannt

werden und dass er selbst stolz darauf sein kann. Er hat seine Möglichkeiten

gefunden mit den Bedingungen seines Lebens umzugehen. Die Person Walter

kann sich zum Schicksal frei verhalten und somit wird er weiter wachsen kön-

nen und ist kein festgeschriebenes Krankheitsbild.

Dies wird daran deutlich, dass er schneller Grenzüberschreitungen innerhalb

seiner Tätigkeitsfelder registriert und ihm manchmal schon selbst bewusst wird,

dass er sein Mitteilungsbedürfnis „entschleunigen“ muss. Außerdem hat er eine

Stelle als Karaoke-Discjockey außerhalb der Einrichtung angenommen, ein

kleiner Schritt ins „normale“ Leben.

3 Zusammenfassung 31

3 Zusammenfassung

Psychisch kranke Menschen wirkten in der ersten Begegnung befremdlich auf

mich. Krankheitsbilder, die mir im Kopf herumschwirrten vermischten sich mit

Bildern aus Film und Fernsehen, mit Berichten über Straftäter. Doch je öfter wir

uns begegneten und je mehr ich Vorstellungen und Erwartungen ausklammern

konnte, desto vertrauter wurden mir die Menschen und der Umgang mit ihnen

selbstverständlich.

Ich fand mich in ihnen wieder, in ihrem Denken und Fühlen und in den Verunsi-

cherungen in den Grundmotivationen. Wie bei jedem Menschen gibt es auch bei

mir Defizite. Der landläufig als gesund bezeichnete Mensch ist jedoch im Ge-

gensatz zu dem Kranken fähig, damit umzugehen, ohne dass sein Lebensvoll-

zug maßgeblich beeinträchtigt wird. Psychisch Kranke haben massive Störun-

gen in den Grundmotivationen und durch die Erkrankung wenig abrufbare Res-

sourcen, um diese aufzufangen.

Sie bekommen Hilfe durch Medikamente und Therapien. Für langjährige Klien-

ten gehören die Medikamenteneinnahme und die therapeutischen Gespräche

zum Alltag. Und so wie bei den Arzneien sind auch bei den Therapien ‘Abnut-

zungserscheinungen’ festzustellen. Die Logotherapie/Existenzanalyse bietet in

diesem Fall einen neuen Zugang zum Klienten.

Durch die Fokussierung auf die Person eröffnen sich dem Menschen mehr Frei-

heit, Eigenverantwortung und Handlungsspielraum. Die logotherapeutisch-

existenzanalytische Beratung und Begleitung ist deshalb eine ideale Ergänzung

zu den bewährten Psychotherapien. Obwohl der Zeitrahmen der Begleitung re-

lativ kurz war, konnte ich spürbare und sichtbare Veränderungen wahrnehmen.

Rückblickend auf meine Arbeit mit den Menschen, die ich beratend begleitet

habe, möchte ich noch folgenden Erfahrungswert hervorheben:

Im Hinblick auf die Klienten war und ist in der Beratung der Balanceakt zwi-

schen Nähe und Distanz besonders bedeutsam. Durch die phänomenologische

Haltung des Beraters entsteht für sie eine wohltuende Nähe, die dazu verführen

kann den Berater als Elternteil oder Freund zu sehen. Dies erfordert große

Achtsamkeit darauf, genügend Distanz zu wahren. Das Ziel, diesen Menschen

zur Eigenständigkeit zu verhelfen, darf nicht gefährdet werden.

3 Zusammenfassung 32

Die Quintessenz meiner Beobachtungen ist, dass psychische Erkrankungen oft

nicht nur einen medizinischen Hintergrund haben sondern auch Hinweisschilder

auf nicht gestillte Bedürftigkeiten sind. Die Lebensqualität kann sich jedoch

trotz Handicap steigern, wenn das, was der Person zu Eigen ist, gelebt werden

kann.

Wenn die psychisch erkrankten Menschen mit der Kraft ihrer Person in Berüh-

rung kommen, spüren sie, dass Veränderung durch die Freiheit des Werdens

immer möglich ist und sie somit wie Frankl „trotzdem Ja zum Leben sagen“

können.

Literaturverzeichnis 33

Literaturverzeichnis

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[16] Vetter Helmuth, 1998, Themenschwerpunkt Existenzanalyse, Was heißt Per-

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Bildnachweis

Literaturverzeichnis 35

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